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Von Hans Faust Ohne Matura
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Vollendete Autobiographien: 176
 
Hans Faust
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Verzeichnis

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Vorwort
1.
Meine Eltern
1.1.
Mein Vater
1.2.
Meine Mutter
2.
Meine Kindheit
3.
Unser Haus
4.
Unsere Nachbarschaft
5.
Das Leben im Dorf
6.
Das christliche Leben und Bräuche im Dorf
7.
Das christliche Leben und Bräuche im Dorf
7.1.
Der Kindergarten
7.2.
Die Primarschule
7.3.
Die Sekundarschule
7.4.
Sekundarklasse oder das Welschlandjahr im Clos-Rousseau in Cressier
8.
Meine Freizeit und Ferien
9.
Die Berufslehre
9.1.
Die Spenglerlehre  (6. Mai 1957 – 06. November 1960)
9.2.
Die Sanitär-Zusatzlehre  (07. November 1960 – 10. November 1961)
10.
Lehr- und Wanderjahre
10.1.
In Lachen beim Vater (02.12.1961 – 15.01.1962)
10.2.
Die Rekrutenschule in Bülach (5. Februar – 2. Juni 1962)
10.3.
F.lli Märki, Impianti termici ed idraulici, Muralto-Locarno (21.08.1962 – 30.3.1963)
10.4.
Università Italiana per Stranieri, Perugia, Italia (1. April – 31. Mai 1963)
10.5.
F.lli Märki, Impianti termici ed idraulici, Muralto-Locarno (01.07.– 27.09.1963) 
10.6.
In Lachen beim Vater 28.09.1963 – 15.02.1964
10.7.
Benz und Co. AG, Zürich (16.02.– 26.03.1964)
10.8.
Service Civil International (SCI), Tlemcen, Algerien 01.04.– 31.08.1964 
11.
Die Heimreise und Aufenthalt in der Schweiz (01.09.– 28.09.1964)
11.1.
EK/WK in Schwyz (3.10 -24.10. 1964)
11.2.
Walter Matter, Bern (16.11.1964 – 30.09.1965)
11.3.
In Lachen beim Vater (01.10.1965 – 09.01.1966)
12.
Ausbildungskurs für den Einsatz in Rwanda (10.01. – 09.03.1966)
13.
Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967)
13.1.
Das Land
13.2.
Die Schweizer Entwicklungshilfe
13.3.
Das Projekt
13.4.
Die Reise nach Kigali und meine Unterkunft
13.5.
Die Aufteilung der Aufgaben auf der Baustelle
13.6.
Die Fahrt mit Heimo’s nach Kampala
13.7.
Die tägliche Arbeit auf dem Bau
13.8.
Die Freizeit
13.9.
Die Entdeckungsreisen
13.10.
Der Abschied und die Heimreise (27.7. – 25.8.1967)
14.
Die Meisterschule in Bern (09.10.1967 – 15.03.1968)
14.1.
Die Meisterprüfung in Obfelden ZH (18. – 23. März 1968)
15.
Gebr. X. und F. Bregy, Steg im Wallis (15.04.1968 – 30.06. 1969)
16.
Collège officiel de Kigali, Rwanda (zweiter Aufenthalt) (01.07. – 31.12.1969)
16.1.
Expedition in den Samburu (23.12.1969 -01.01.1970)
16.2.
Erholung in Mombasa
17.
Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977)
17.1.
Vorbereitung für Einsatz in Indonesien
17.1.
Hast du je ein eigenes Unternehmen gegründet oder selbständig gearbeitet? Falls nicht, bereust du, es nicht versucht zu haben?
17.1.
Wie hiess dein Unternehmen, und worin bestand die Tätigkeit?
17.1.
Wie ging der Aufbau dieser Unternehmen vor sich?
17.1.
Welches waren deine Erfolge oder Misserfolge? Wie bist du damit klar gekommen?
17.1.
Welches waren die grössten Schwierigkeiten/Rückschläge, und wie hast du sie überwunden?
17.1.
Welche Weggefährten waren für dich besonders wichtig?
17.1.
Sind deine Erwartungen ans eigene Unternehmersein erfüllt worden? Inwiefern und inwiefern nicht?
17.1.
Wie und wann hast du dich das erste Mal beruflich verändert?
17.1.
Was waren die Folgen dieser Veränderung oder späterer Veränderungen?
17.1.
Bei welcher Arbeit bzw. bei welchem Arbeitgeber hast du dich am wohlsten gefühlt?
17.1.
Falls du noch arbeitest, gibt es noch berufliche Ziele, die du erreichen möchtest?
17.1.
Falls du im Ausland warst, wo überall hast du gearbeitet und was?
17.1.
Wie war das bei deiner Ankunft im Gastland?
17.1.
Was sind deine wertvollsten Erfahrungen und Lehren?
17.1.
Welche Erfahrungen hast du mit den Menschen gemacht? Wie wurdest du als Ausländer aufgenommen? Ergaben sich Freundschaften?
17.1.
Inwiefern hat deine Zeit im Ausland deinen späteren Berufsweg beeinflusst?
17.2.
Die Ankunft
17.3.
Die Unterkunft
17.4.
Die ersten Monate in Jakarta
17.5.
P.T. Ciba-Geigy Pharma Indonesia (1.2.1971 –31.07.1976)
17.6.
Die Ausführung des Projektes
17.7.
P.T. Chandra Sari (1.8.1976 – 15.3.1977)
17.7.
Welche Auf- und Abwärtsbewegungen gab es in deiner beruflichen Laufbahn?
17.7.
Vielleicht musstest du auch einmal wieder von vorne anfangen? Wie war das genau?
17.7.
Wie reagierte deine Umfeld auf solche Aufs und Abs? Speziell deine Lebenspartner(in)?
17.7.
Warst du einmal wirklich verzweifelt? Wie gingst du damit um und hast das überwunden?
17.7.
Hast du deine Berufsziele erreicht? Welche? Welche nicht?
17.7.
Welche Chancen hast du nicht genutzt?
17.7.
Gibt es etwas, das du beruflich bereust?
17.7.
Worauf bist du besonders stolz? Gibt es eine Leistung, die dich überleben wird?
17.7.
Wo stand dir das Glück zur Seite? Oder war es etwas Anderes?
17.7.
Gab es rückblickend entscheidende Weichenstellungen?
17.7.
Worauf bist du rückblickend in deinem Berufsleben weniger stolz?
17.7.
Hattest du auch Pech?
17.7.
Hat dir jemand übel mitgespielt? Hast du das verkraftet? Wie?
17.7.
In welchen Schritten ging es lohnmässig aufwärts?
17.7.
Hast du jemals über deine Verhältnisse gelebt?
17.7.
Wie stark hat dich Geld in deinen beruflichen Entscheiden beeinflusst?
17.7.
Hast du finanziell das Maximum erreicht?
17.7.
Falls du pensioniert bist, was vermisst du am meisten? Kannst du deine Kenntnisse noch brauchen?
17.7.
Was hat dir die Arbeit alles in allem gegeben?
17.7.
Von wem oder was bist du am meisten enttäuscht worden?
17.8.
Die Freizeit und Ferien
17.8.
Hast du bewusst versucht, Arbeit und Zeit für Familie und Freizeit zu trennen? Wie hast du das geschafft – oder eben nicht?
17.8.
Gab es Perioden in deinem Berufsleben, in denen du unter Stress gelitten hast?
17.8.
Kam dein privates Umfeld wegen deiner Arbeit zu kurz?
17.8.
Wofür und wie hast du deine Freiräume und Freizeit genutzt?
17.8.
Was haben dir deine Freizeitbeschäftigungen in beruflicher Hinsicht gebracht?
17.9.
Das Land der Badui.
17.10.
Das Land der Torajas und Bali.
17.11.
Kreuzfahrt um Sumatra.
17.12.
Heimaturlaube
17.13.
Die Geisterwelt in Indonesien und anderes Kurioses.
17.14.
Der Abschied und die Heimreise
18.
Brasilien
18.1.
Die ersten Wochen
18.2.
CIBA-GEIGY QUIMICA. S.A. São Paulo
18.3.
Die Freizeit
19.
Philippines
19.1.
Zurück in Südostasien
19.2.
Das Projekt in Manila.
19.3.
Was mich auf der Baustelle weiter erwartete.
19.4.
Meine Mitarbeiter
19.5.
Meine Freizeit und Veränderungen
19.6.
Die Abschiedsparty und zurück in der Schweiz
19.6.
Falls ihr Kinder habt, war das ein gemeinsamer Wunsch?
19.6.
Welche Erinnerungen hast du an die Schwangerschaft(en) und die Geburt(en)?
19.6.
Wie habt ihr euch in den ersten Jahren organisiert? Gab es eine Arbeitsteilung?
19.6.
Wie waren die Auswirkungen der Kinder auf deine Ehe?
19.6.
Wie veränderte sich durch die Kinder eure Beziehung zu euern Eltern bzw. Schwiegereltern?
19.6.
An was für unvergessliche Momente die Kinder betreffend magst du dich zu erinnern?
19.6.
Wie waren eure gemeinsamen Ferien?
19.6.
Wie waren deine Kinder in den verschiedenen Lebensphasen?
19.6.
Wie würdest du euer Familienleben beschreiben?
19.6.
Verfolgtet ihr klare Erziehungsprinzipien? Warst du damit erfolgreich?
19.6.
Warst du ein strenger Vater bzw. eine strenge Mutter?
19.6.
Hattest du das Gefühl, dass dir deine Kinder alles anvertraut haben?
19.6.
Wie wurde das Spielen, Fernsehen oder Computerspielen geregelt?
19.6.
Welche Vorschriften gab es für den Ausgang?
19.6.
Was wusstest du über die Freunde und Freundinnen deiner Kinder?
19.6.
Wie stark seid ihr auf Wünsche eurer Kinder eingegangen?
19.6.
Wie ist dein Verhältnis zu deinen Enkelkindern?
19.6.
Was unternehmt ihr gemeinsam?
19.6.
Hast du in irgendeiner Weise für sie vorgesorgt?
19.6.
Welches Verhältnis hast du heute zu deinen Kindern?
19.6.
Hast du die Hausaufgaben deiner Kinder kontrolliert? Hast du ihnen geholfen?
20.
WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997)
20.1.
Zurück in meiner Heimat, oder wenigstens fast.
20.2.
Der Start in eine neue Arbeitswelt.
20.3.
Die ersten Schritte in eine neue Aufgabe.
20.4.
Die Stabilität der empfohlenen Zusammensetzung von ORS
20.5.
Die bestehenden Projekte für die lokale Produktion von ORS
20.6.
Ein Handbuch für die lokale Produktion von ORS
20.7.
Die weltweite Empfehlung von ORS
20.8.
Neue Aufgaben
20.9.
Die lokale Produktion von ORS etabliert sich weltweit.
20.10.
Besonders prägende Erinnerungen
20.11.
Das Ende einer Erfahrung.
21.
Die Zeit danach
Vorwort
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  Vorwort


Ich habe diese Zeilen geschrieben um jungen Leuten zu beweisen, dass man auch ohne Matura im Leben etwas erreichen kann und um sie zu ermuntern mit etwas Mut und Abenteuerlust das Gleiche zu tun.

Meine Eltern
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1.  Meine Eltern




(1) Das Familenwappen

Das Familenwappen

Meine Eltern waren kein ideales und glückliches Ehepaar. Was sie zusammenhielt war vor allem ihre Mühe die Familie ernähren zu können, besonders während den Kriegsjahren. Ihr Leben war geprägt von harter Arbeit, wobei Ferien kaum zu ihrem Wortschatz gehörten.

 

 

Mein Vater
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1.1.  Meine Eltern – Mein Vater.


(1) Mein Vater

Mein Vater


Mein Vater
wurde am 5. Dezember 1905 in Basel-Stadt als Sohn des Johann Heinrich und der Mathilde Faust-Grimm geboren. Er war die fünfte Generation einer Basler Handwerkerfamilie die seit 1780 schriftlich belegt ist. Bis zur zweiten Primarklasse besuchte er zusammen mit seiner Schwester Klara die Schule in Basel. Im November 1913 zog die vierköpfige Familie nach Zug, wo sein Vater, also mein Grossvater (geb. 6. Mai 1881), eine Stelle als Meister bei der Verzinkerei Zug gefunden hatte.



(2) Meine Grosseltern Johann Heinrich und Mathilde Faust-Grimm mit ihren Kindern Hans und Klara

Meine Grosseltern Johann Heinrich und Mathilde Faust-Grimm mit ihren Kindern Hans und Klara


In Zug besuchte mein Vater weiter die Primarschule und später die Sekundarschule. Da er sehr viel künstlerisches Talent hatte, trat er nach der Konfirmation eine Lehre bei einem Bildhauer an. Mein Vater erzählte viel aus dieser Zeit, vor allem von einem Bächlein hinter dem Haus und den Enten die er heiss liebte. Ich glaube er verbrachte, zusammen mit seiner Schwester, eine sehr glückliche Kindheit und Jugend in Zug. 


(3) Mein Grossvater, Vater und zwei Arbeiter mit Ventilationsrohren für eine Möbelfabrik vor unserem Geschäft an der Marktstrasse

Mein Grossvater, Vater und zwei Arbeiter mit Ventilationsrohren für eine Möbelfabrik vor unserem Geschäft an der Marktstrasse


Im Frühling 1921 kaufte sein Vater, das Haus „zum „Eckstein“ in Lachen, wo er ein Spenglerei gründete. Anfangs fertigte er aber vor allem Lüftungsanlagen für die florierende Möbelindustrie. Dank seinem Humor und seinem gemütlichen Wesen war er im Dorf bald integriert und beruflich geschätzt. Für meinen Vater waren die neuen Umstände allerdings weniger beglückend, denn sie zwangen ihn schweren Herzens seine Ausbildung als Bildhauer aufzugeben und bei seinem Vater als Lehrling ins neue Geschäft einzutreten. Damit waren seine Zukunfts-Träume plötzlich entschwunden und er wurde zu einem Beruf gezwungen den er selbst wohl nie freiwillig gewählt hätte. Ich glaube er litt deswegen sein ganzes Leben lang. Aber zur damaligen Zeit hatte er als einziger Sohn eines selbständigen Handwerkers ja gar keine andere Wahl. Um seine beruflichen Kenntnisse nach dem Abschluss seiner Lehre zu erweitern, besuchte er dann im Jahre 1925 die Fachschule für Spengler und Sanitär-Installateure in Bern. Im Jahre 1932 verschied sein Vater mit nur 51 Jahren nach einer Blinddarmoperation und nachfolgender Lungenentzündung. So musste mein Vater schon in jungen Jahren das Geschäft übernehmen. Dies war für ihn eine riesige Herausforderung, denn schon damals war die Konkurrenz unerbittlich und jeder Handwerker kämpfte ums Überleben seines Betriebes.



(4) Schriftzug aus Kupfer über dem Eingang des Geschäftes von Frau Kellenberger

Schriftzug aus Kupfer über dem Eingang des Geschäftes von Frau Kellenberger

 

(5) Schriftzug aus Kupfer über den Schaufenstern des Konsums im Oberdorf

Schriftzug aus Kupfer über den Schaufenstern des Konsums im Oberdorf


Mit seiner künstlerischen Begabung, begann er deshalb Schriftzüge aus Kupfer für verschiedene Geschäfte anzufertigen. Nach dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges wurde es noch schwieriger, denn nun musste er zusätzlich noch als Wachmeister der lokalen Luftschutzkompanie amtieren, was für ihn natürlich Ausfall von Einkommen bedeutete. Überdies war schon zu dieser Zeit das Zusammenleben mit seiner Mutter und Schwester im gleichen Haushalt alles andere als harmonisch.


(6) Hochzeitsfoto meiner Eltern

Hochzeitsfoto meiner Eltern


Nach 33 Jahren Junggesellenleben fand mein Vater durch ein Zeitungsinserat schliesslich meine Mutter (die vorher niemals einen Basler heiraten wollte) und konnte so endlich seine eigene Familie gründen. Sie heirateten im Jahre 1939, also noch während den Kriegsjahren. Doch die Spannungen zwischen ihm und seiner Mutter sowie seiner Schwester waren damit nicht aus der Welt geschafft. Im Gegenteil, das Zusammenleben unter demselben Dach wurde für die Neuvermählten zu einer aufreibenden Herausforderung. Zudem waren ja Beide für die Einheimischen nur „Zuzügler“ im Dorf und zudem noch Protestanten. Sich in einem streng katholischen Ort zu beweisen war damals nicht einfach. Vielleicht aus diesem Grund äusserte er sich auch politisch nie. Aber sie verstanden es sich zu behaupten und mit sorgfältiger Arbeit und gewissenhaftem Geschäftsgebaren das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Mein Vater litt viele Jahre an starkem Ekzem mit Bläschenbildung an beiden Händen. Da die Bläschen juckten und bei der Arbeit extrem lästig waren, versuchte er alles Mögliche um das Ekzem zu kurieren; aber nichts schien zu helfen. Er ging sogar ein paar Mal zu einem Heiler ins Appenzellerland, der ihm eine schwarze Salbe mitgab. Die Hände mussten nach der Anwendung verbunden bleiben, was die tägliche Arbeit noch mehr einschränkte. Aber auch damit blieb eine heilende Wirkung aus. Man konnte auch nicht feststellen ob es sich um eine Berufskrankheit handelte, oder ob der Grund eher die grosse berufliche Belastung sowie die ständige Spannung zu Hause war. Als er älter wurde verschwand das Ekzem. Meine Grossmutter, also seine Mutter, starb am 24. Juni 1957 und seine Schwester, Tante Clara, am 09. Juli 1983.

In der begrenzten Freizeit suchte er Ausgleich mit Zeichnen oder mit der Kreation von Kannen, Vasen und anderen Gegenständen aus Kupfer. Er war Mitglied des Spenglermeisterverbandes des linken Zürichseeufers. Über viele Jahre war er ein aktives Mitglied der freiwilligen Feuerwehr. Aber liebe und treue Freunde fand er hauptsächlich im Männerchor, Freunde die ihn bis in den Tod begleiteten. Die Proben des Männerchors besuchte er immer pünktlich und fehlte selten. Die Höhepunkte waren aber die Konzerte im Dorf und die Auftritte an Sängerfesten.


(7) Mein Vater als Clown.

Mein Vater als Clown.


Wie sein Vater hatte er gerne Spass und so erschien er einmal als Clown für die Ansagen am „Sängerbund“ Abend im Hotel Bären. Nebst dem Männerchor sang er manchmal auch im Evangelisch-Reformierten Kirchenchor. Er war auch einmal Obernarr bei der der Narrhalla, der Fasnachtgesellschaft in Lachen, für die er sich ausserordentlich einsetzte. Er wurde ja schliesslich in Basel geboren und hatte somit das Fasnachts-Blut mit in die Wiege mitbekommen.



(8) Theateraufführung im Hotel Bären. Vater am Tisch und ich als Statist auf dem Sofa.

Theateraufführung im Hotel Bären. Vater am Tisch und ich als Statist auf dem Sofa.


Manchmal übernahm er auch eine Rolle in Theaterstücken die an Vereinsabenden („Kränzli“) vorgeführt wurden, einmal sogar mit mir als Statist. Er liebte auch den See und hatte sich sogar ein Paddelboot gänzlich aus Blech angefertigt.



(9) Mein Vater mit seinem selbst gefertigten Paddelboot im Hafen von Lachen.

Mein Vater mit seinem selbst gefertigten Paddelboot im Hafen von Lachen.


Nachdem er das Geschäft aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben musste, begann er wieder zu ziselieren. Dies ist eine Form der Metallbearbeitung, bei der das Metall (meistens Kupfer) über einer weichen Unterlage (Ziselierkitt) mit einem Ziselierhammer „getrieben“ wird um reliefplastische Formen oder Verzierungen in der Oberfläche zu erreichen.Aber er nahm sich auch Zeit um Ausfüge zu machen und sich einem neuen Hobby, der Bauernmalerei, zu widmen. Am 9. September 1978 nahm ihm aber dann der Tod seine Arbeiten für immer aus seinen Händen und so verliess er uns nach einem Herzinfarkt und einer nachfolgenden Lungenentzündung im Alter von 73 Jahren.



(10) Das letzte Hobby meines Vaters : die Bauernmalerei.

Das letzte Hobby meines Vaters : die Bauernmalerei.

 

Meine Mutter
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1.2.  Meine Eltern – Meine Mutter.



(1) Meine Mutter hiess vor der Heirat Sophie Margaritha Vontobel

Meine Mutter hiess vor der Heirat Sophie Margaritha Vontobel


Meine Mutter
wurde am 5. Juni 1909 auf dem Flumser Berg als Tochter von Albert Vontobel und Albertina Jaberg geboren. Ihr Vater, sowie seine Brüder, waren sehr unternehmerisch und reisefreudig. Schon als junger Mann holte er sich Fachwissen im Bereich Elektrizität in England. Mit diesem Wissen wurde er im Jahre 1897 in die Technische Kommission des Projektes «Erstellung einer elektrischen Beleuchtungszentrale» in Rüti, ZH aufgenommen. Später erstellte er ein eigenes, kleines Elektrizitätswerk auf dem Flumserberg und führte eine Sägerei.



(2) Die Eltern meiner Mutter, Albertina Jaberg und Albert Vontobel

Die Eltern meiner Mutter, Albertina Jaberg und Albert Vontobel


Ihre Mutter kam ursprünglich aus dem Kanton Bern und ihr Vater von Wald im Kanton Zürich. Somit war Wald auch der Heimatort meiner Mutter und dies erwähnte sie immer wieder, denn aus unerklärlichen Gründen wollte sie einfach keine St. Gallerin sein. Die Eltern meiner Mutter wohnten auf dem Flumserberg. Leider verstarb ihre Mutter sehr jung und hinterliess ihrem Mann vier kleine Mädchen: die Albertina (die sehr jung an Krebs starb), meine Mutter Sophie Margaritha (1909), Bertha (1912) und Hanna (1916).


(3) v.l.n.r. meine Mutter, Bertha und Albertina

v.l.n.r. meine Mutter, Bertha und Albertina


Überfordert mit der Situation suchte sich ihr Vater eine Haushälterin, die er dann schliesslich, wie damals üblich, heiratete. So wuchsen die vier Mädchen mit einer Stiefmutter auf. Sie nannten sie aber nie Mutter, sondern einfach nur „Adele“. Leider verstanden sich die vier Mädchen überhaupt nicht mit ihrer neuen Mutter und so hatten sie eine sehr schwierige, ja schlimme Jugend. Sie wurden geschlagen, ohne Essen eingesperrt und mussten immer viel arbeiten. Das Essen war spärlich und so schickte sie ihre Stiefmutter oft in den Wald um Beeren und Pilze zu suchen. Aber diese Tätigkeit war für sie keine Strafe, denn es erlaubte den Mädchen für einen Moment der Unbill ihrer Stiefmutter zu entkommen. Da es am Flumserberg keine Schule gab, mussten die Kinder jeden Tag und bei jedem Wetter zu Fuss ins Dorf hinunter und abends wieder zurück. Als meine Mutter erwachsen wurde suchte sie Arbeit und fand eine Stelle bei einer jüdischen Familie in Zürich. Diese erste Stelle schien sie sehr geprägt zu haben, denn sie erwähnte diese Zeit später immer wieder. Sie sagte, dass sie bei diesen reichen Leuten vor allem sparen gelernt habe und dass das Sprichwort «Bei den Reichen lernt man sparen!» wohl seine Richtigkeit habe. Da sie für die damalige Zeit schon ein sehr avantgardistisches Gedankengut hatte, suchte sie bald Veränderung und fand erst Arbeit im Grand Hotel auf dem Bürgenstock, dann bei den gleichen Besitzern im Hotel Orselina im Tessin, wo sie sehr glücklich war, und schliesslich in Genf.


(4) v.l.n.r. Meine Mutter, ihr Vater und Hanna ihre Schwester auf dem Flumserberg

v.l.n.r. Meine Mutter, ihr Vater und Hanna ihre Schwester auf dem Flumserberg


Nach dem Tod von „Adele“ wurde die Sägerei und das kleine Elektrizitätswerk für ihren Vater immer mehr zur Belastung. Der produzierte Strom fand wohl Absatz bei den Bauern am Berg, aber meistens hatten diese kein Geld und bezahlten mit Eiern oder anderen Naturalien, oder eben gar nicht. Und so rief sie Ihr geliebter Vater immer wieder zurück nach Hause und bat sie um Mithilfe im Betrieb und im Haushalt. Er konnte sich auch nicht mehr um Hanna, seiner jüngsten Tochter, kümmern und so wurde sie vom Grossvater und seiner Frau aufgenommen. Der Grossvater hatte eine Web-Schiffchen Fabrik in Flums und so konnte sie die ganze Jugend unten im Dorf verbringen. Da meine Mutter auf die Dauer ihrem Vater nicht zur Seite stehen konnte, suchte sich ihr Vater wieder eine Haushalthilfe die er dann auch gleich heiratete. Sie hiess Theresia Margrit Minning und gebar ihm nochmals zwei Töchter, die Theresia Margrit (1941) und die Ruth Ana (1943). Leider hatte er noch vor der Geburt des zweiten Mädchens, der Ruth, einen tödlichen Motorradunfall.



(5) Meine Mutter bereit für eine Ausfahrt mir ihrem Vater

Meine Mutter bereit für eine Ausfahrt mir ihrem Vater


Meine Mutter hatte grosse Mühe den Tod ihres geliebten Vaters und seine dritte Heirat zu akzeptieren. Als dann noch Erbprobleme die Situation vergifteten, brach meine Mutter den Kontakt mit der letzten Frau ihres Vaters und deren Mädchen ab. Nach der Heirat mit meinem Vater zog sie nach Lachen und machte da nicht nur den Haushalt, sondern teilte mit ihm den Betrieb wo sie konnte. Sie übernahm die Büroarbeiten und führte zudem ein Laden mit Haushaltartikeln.

Da meine Mutter in den Bergen aufgewachsen war liebte sie die Natur, wanderte gerne, ging aber auch gerne ins Theater und war schon als Ledige an der Welt-Politik interessiert. Sie liebte und schätzte ihr Land und so kaufte sie beim Ausbruch des 2. Weltkrieges im Jahre 1939 mit ihrem hart ersparten Geld eine Wehranleihe von CHF 100.--, was damals sehr viel Geld war. Der Sinn der Anleihe war die Landesverteidigung zu stärken. Dafür bekam sie vom Bundesrat eine Dankesurkunde für ihr „Opfer im Namen des Vaterlandes“.Sie schätzte die Bücher von Gottfried Keller und teilte seine differenzierte Weltanschauung. Dabei störte sie besonders die Geldgier gewisser Leute und die grosse Armut und Ungerechtigkeit in der Welt. Auch erwähnte sie oft die gedankenlose Abholzung der Wälder und meinte der Mensch werde dafür einmal büssen müssen.


(6) Die Dankesurkunde für die „Opfer im Namen des Vaterlandes“.

Die Dankesurkunde für die „Opfer im Namen des Vaterlandes“.


Sie legte auch immer sehr viel Wert auf Arbeiten die von Hand gemacht wurden und so entschied sie sich kurz nach der Heirat die Teppiche für das Schlafzimmer mit grober Wolle selbst zu knüpfen. So entstanden wunderbare „Smyrna“-Teppiche denen sie das ganze Leben lang treu blieb. Auch Stricken und Nähen waren ihre Stärke. Es war ihr Wille und Stolz, wenn immer möglich die Wollsachen und Kleider für uns Kinder, trotz viel Arbeit im Betrieb, selbst zu fertigen. Sie machte auch Lederarbeiten und hatte sich für gewisse Anlässe sogar ihre ganz persönlichen Handtaschen kreiert. Während ihre Schwestern und auch die Schwägerin sich Sekten zuwendeten, interessierte sie sich für Alternativen zur modernen Medizin und für eine natürliche Lebensweise. Sie schloss sich dem damaligen Verein "Volksgesundheit Schweiz" an, über den man sich damals lustig machte und die Mitglieder wegen den Atemübungen „Schnüüfeler“ nannte. Heute heisst der Verein „Vitaswiss“. Überzeugt von den natürlichen Heilmethoden holte sie sich Information über mögliche homöopathische Anwendungen gegen Krankheiten wie Kopfschmerzen, Migräne, Allergien, Rheuma, usw. Dazu hatte sie sich eine kleine Sammlung von Publikationen und Bücher angelegt. Unter diesen befanden sich auch solche über Krankenpflege, gesundes Essen, Fitness, Blutwellübungen und vieles mehr. Zudem versuchte sie mit der „Methode Coué“, des Vereins für positive Lebensgestaltung, ihr hartes Leben mit Autosuggestion zu meistern. Gleichzeitig war sie aktiv im Samariterverein, im Vogelschutzverein und später im Altersturnen. Was ihr weniger lag waren die Massenveranstaltungen. Nach dem Umzug in das neue Haus an der Speerstrasse machte ihr vor allem der Garten grosse Freude. Auch ihr Leben war, wie das meines Vaters, vor allem mit Arbeit ausgefüllt. Mit fast 90 Jahren starb sie am 22. Januar 1999 nach einer Magenoperation und zwei Oberschenkelbrüchen im Altersheim in Lachen.



(7) Am 80. Geburtstag meiner Mutter

Am 80. Geburtstag meiner Mutter

 

 

 

 

Meine Kindheit
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2.  Meine Kindheit




(1) Der Verfasser der Biographie im Alter von ungefähr einem Jahr.

Der Verfasser der Biographie im Alter von ungefähr einem Jahr.


Ich wurde im Sommer des Jahres 1941 an einem Sonntag um 13.10 Uhr im Bezirkspital Lachen im Sternkreiszeichen des „Löwen“ geboren. Damals war mein Gewicht nur 3.480 kg! Man sagte zu jener Zeit, dass Sonntagskinder im Leben viel mehr Glück hätten als andere Kinder. Meine Mutter freute sich darum sehr und war auch stolz einen Knaben geboren zu haben. Sie hat das später immer wieder erwähnt. Was mein Vater dazu meinte weiss ich nicht. Dafür wollte er unbedingt, dass ich Hans heisse. Schliesslich waren mein Vater, mein Grossvater und andere Vorfahren schon auf diesen Namen Hans getauft worden. Diese Tradition konnte man doch nicht einfach fallen lassen! Meine Mutter hätte mich lieber auf den Namen Werner getauft, aber mein Vater wollte nichts davon wissen. Nicht einmal als zweiter Vorname wollte er einwilligen und so wurde ich am 28. September 1941 von Pfarrer A. Meier in der Evangelischen Kirche in Siebnen auf den Namen Hans getauft. Meine Taufpatin war meine Tante Bertha Vontobel und der Taufpate Hans Abegg.

Scheinbar war ich ein problemloses Kind, weinte nicht viel und konnte mich mit mir selbst beschäftigen. Das war für meine Eltern eine grosse Entlastung, denn wir hatten eine Spenglerei, machten auch sanitäre Anlagen und meine Mutter hatte ja den Laden mit Haushaltartikeln. Somit hatten meine Eltern nicht viel Zeit für mich. Aber vielleicht war es gerade diese Situation die mich daran gewöhnte allein zu sein und selbständig zu werden. An einigen Nachmittagen durfte ich zu meiner Tante Adelheid und Onkel Heiri Diethelm. Eigentlich waren sie weder meine echte Tante oder Onkel, sondern einfach gute Bekannte meiner Eltern. 



(2) Tante Adelheid Diethelm-Roos, die wie eine echte Tante immer für mich da war.

Tante Adelheid Diethelm-Roos, die wie eine echte Tante immer für mich da war.

  

(3) Onkel Heiri, der Kunstmaler, der für mich immer ein wahrer Onkel war.

Onkel Heiri, der Kunstmaler, der für mich immer ein wahrer Onkel war.


Aber Tante Adelheid war die beste Freundin meiner Mutter, und da sie selbst keine eigenen Kinder hatten wurde ich ganz einfach Teil dieser Familie. Da war auch noch die Mutter von Tante Adelheid, die Frau Roos. Sie kochte jeden Abend auf dem Feuerherd in einer grossen Pfanne Bohnen-Kaffee. Zuvor nahm sie die hölzerne Kaffeemühle vom Gestell, nahm sie auf ihren Schoss und füllte sie mit der nötige Menge Kaffeebohnen. Dann schüttete sie das Pulver mit ein bisschen Zichorie in das kochende Wasser und rührte einige Male um. Damit entwickelte sich ein unvergesslicher Kaffee-Duft der schliesslich das ganze Haus erfüllte. Dies war gleichzeitig der Hinweis an alle im Haus, dass das Nachtessen bald bereit sein wird.

Ja, ich fühlte mich sehr wohl und behütet bei meinen drei „Babysittern“. Meistens war ich nur am Nachmittag bei ihnen und machte dann erst einmal ein Schläfchen. Dann schaute ich „Frau Roos“ bei ihren Handarbeiten zu oder ging ins Atelier von Onkel Heiri Diethelm. Er war Kunstmaler und machte zu jener Zeit sehr viele Portraits und Bilder mit Chrysanthemen in allen Farben. Während diesen Nachmittagen malte er sogar ein Portrait von mir, auf das ich immer sehr stolz war.



(4) Mein Porträt, Autor Heiri Diethelm, Kunstmaler

Mein Porträt, Autor Heiri Diethelm, Kunstmaler


Er hatte meistens ein spitzbübisches Lächeln in Gesicht und war immer zu einem Witz bereit. Manchmal gestaltete er mit einer Prise Komik und Satire auch Postkarten. Mit seinen amüsanten Zeichnungen machte er sich vor allem über den Luftschutz und das schwierige Leben während des Krieges lustig. Einmal zeichnete er auf einer Karte Männern aus allen Schichten der Bevölkerung. Jeder hatte seine rechte Hand in der Hosentasche des Vordermannes. Darunter stand: „Einer lebt vom Andern“. Natürlich verstand ich damals den Sinn der Zeichnung noch nicht, aber sie war so farbenfroh und lustig, dass ich sie nie vergass. Meine Eltern hingegen brauchten sie manchmal um gewisse Kunden mit ein bisschen Humor an ihre unbezahlten Rechnungen zu erinnern.



(5) Eine der Satire Postkarten von Onkel Heiri.

Eine der Satire Postkarten von Onkel Heiri.


Tante Adelheid war meistens in der Küche oder dann im Garten wo sie mit Leidenschaft Chrysanthemen züchtete, die dann eben wieder Motive für Onkel Heiris Bilder wurden. Der Geruch von Öl-Farben, Leim und anderen Mal-Utensilien machte mir bewusst, dass ich in einem Haus eines Künstlers war, was ich als grosse Ehre empfand. Das entfachte auch in mir das Interesse für Kunst und alles Kreative. Es war einfach schön in diesem harmonischen Haus zu sein. Vor dem Nachtessen ging ich dann nach Hause; natürlich zu Fuss und ganz alleine. Damals war der Verkehr auf der St. Gallerstrasse noch unbedeutend und so machten sich meine Eltern und meine „Babysitter“ keine Sorgen, dass etwas passieren könnte. Da es damals auf dieser Strasse noch kein Trottoir gab, lief ich immer im Strassengraben. Obwohl unbequem, es war mein ganz privater Weg und ich redete mir immer ein auf diese Weise vor dem Verkehr in Sicherheit zu sein. Und tatsächlich, in all den Jahren passierte mir nie etwas. Aber vielleicht hatte ich mir das damals nur eingeredet und war ungefährdet nur weil ich einen Schutzengel hatte oder Sonntagskind war? Diese ganz speziellen und unbeschwerten Nachmittage nahmen dann leider mit dem Eintritt in den Kindergarten und später mit dem Schulbeginn ein Ende. Aber Tante Adelheid und Onkel Heiri blieben immer ein Eltern-Ersatz und waren auch später da, wenn mich Probleme plagten und nahmen sich Zeit um mir zuzuhören, wenn ich mein Herz ausschütten musste.

Wo es auch war, ich spielte immer gerne am Boden. Am liebsten zu Hause in der Stube, vorne bei der Balkontüre, denn da konnte ich mich zusätzlich hinter dem Vorhang verstecken. In meiner Fantasie machte ich Theatervorstellungen und zog dann den Vorhang hin und her. Mein Vater spielte ja auch manchmal bei einem „Kränzli“ Theater und das inspirierte mich. Aber der Vorhang diente mir auch um mich zu verstecken und mich in Sicherheit zu fühlen. Aber vielleicht war es auch um ein Bisschen Aufmerksamkeit und Zuneigung meiner Eltern zu ergattern. Manchmal legte ich mich sogar auf die Stühle unter dem Stubentisch. So war ich vom Boden „verschwunden“ und hoffte damit, dass mich meine Eltern suchen würden. Aber der Versuch gelang nur einmal und begeisterte leider niemanden. Den Drang mich unsichtbar zu machen hatte ich auch in der Stube meiner Grossmutter, die Kürschnerin war. Auch bei ihr versteckte ich mich unter dem Stubentisch. Sie hatte einen wunderschönen Holztisch und darunter schienen mir die Halb- und Stundenschläge ihrer Wanduhr noch viel faszinierender zu sein. Ein besonders Highlight war für mich aber das Verschwinden hinter dem Sofa das vor einem immer geschlossenen Fenster stand. Vor dem Fenster war ein Vorhang und dahinter eine Menge Felle aller Art gelagert. Und so bat ich meine Grossmutter um ein Nickerchen auf dem Sofa. Nach einer Weile liess ich mich dann einfach hinter dem Sofa langsam auf die Felle gleiten und verschwand so in meiner Phantasie aus ihrer Stube. Aber auch sie war meistens so stark mit ihrer Arbeit beschäftigt, dass sie mein Verschwinden gar nicht bemerkte und so musste ich mich meistens wieder selbst aus dem staubigen Abgrund befreien um von meiner Traumwelt ins reale Leben zurück zu kehren.

Wenn meine Mutter in der Küche war wollte ich ihr immer beim Kochen helfen. Doch ich war damals noch zu klein und so durfte ich nur einfache Arbeiten machen; zum Beispiel die mit Teig belegten Kuchenbleche mit Früchten auslegen. Das liebte ich sehr, denn es war ja gleichzeitig auch eine kreative Beschäftigung. Eines Tages wurde sie, so wie oft, beim Kochen gestört und musste weg vom Herd um im Laden Kunden zu bedienen. Sie hatte gerade einen grossen Topf mit Hafersuppe gemacht, ihn aber auf den Herd gelassen. Mit meinem Drang zu helfen wollte ich während ihrer Abwesenheit in der Suppe rühren. Da ich nicht in den Topf sah, zog ich ihn gegen mich und schüttete dabei den kochenden Inhalt über mich. Meine Mutter erzählte mir später, dass sie mich nach ihrer Rückkehr aus dem Laden als eine einzige Blase vorfand. Sie hatte mich zum einem Arzt gebracht der mich in eine Mumie verwandelt hatte. Wieder zu Hause rief meine Mutter zusätzlich zu der medizinischen Behandlung einen Mann mit heilenden Kräften an. Sie legte mich in der Stube auf das Kanapee und musste dann wieder in den Laden. Als sie am Nachmittag nach mir schauen wollte war ich nicht mehr in der Stube auf dem Sofa. Erschreckt suchte sie überall bis sie mich auf dem Balkon fand. Während meine Verbände in einem wilden Durcheinander an meinem Körper herunter hingen, schaute ich durch die Ritzen der Verschalung und beobachtete das Leben auf der Marktstrasse. Ich hatte keine Blasen mehr und keine Spur von Verbrennungen. War dies nun ein Wunder und hatten wir dies tatsächlich dem Gesundbeter zu verdanken? Meine Mutter war dessen überzeugt und war sehr froh, dass sie den Mann mit den heilenden Kräften um Hilfe gebeten hatte. Damals war ich mir noch nicht bewusst, dass ich durch dieses Wunder vor lebenslänglichen, scheusslichen Brandnarben verschont wurde. Trotzdem fragte ich mich später oft ob es nicht doch eher mein Schutzengel war der mir beigestanden war oder dass ich als Sonntagskind einfach mehr Glück hatte?

Für meine Mutter war es wichtig, dass die Mahlzeiten immer gemeinsam eingenommen wurden. Es war auch normal, dass vor dem Essen ein kurzes Gebet gesprochen wurde und dass man immer wartete bis der Vater am Tisch sass. Er selbst war meistens in Eile und ass sehr schnell. Am Abend gab es meistens Milchkaffee. Meine Mutter bereitete den Kaffee jeden Tag frisch mit einem MELITTA Filter zu und so kam der Milchkaffee natürlich heiss auf den Tisch. Für meinen Vater war er aber immer zu heiss, denn er wollte gleich wieder weg. So goss er den Milchkaffee portionenweise in die Untertasse, von wo er ihn lautstark ausschlürfte. Dies konnte meine Mutter nicht ausstehen und konnte es nicht lassen immer wieder missmutige Bemerkungen zu machen. Es war auch normal, dass ständig entweder das Telefon oder die Laden-Glocke läutete und wir beim Essen gestört wurden. Jedes Mal musste dann entweder mein Vater oder meine Mutter ans Telefon oder dann in aller Eile die zwei Stockwerke hinunter rennen um die Kunden nicht mit langem Warten zu verärgern. Somit war ich schon bevor ich gehen konnte oft mir selbst überlassen, zum Beispiel auch wenn ich „mein eigenes Geschäft“ nicht erledigt hatte und man mich auf dem Nachttopf sitzen liess. Aber das störte mich nicht und so rutschte ich mit meinem „Nachthafen“ bis zu ihrer Rückkehr auf dem dunkelgrünen Linoleum-Boden in der ganzen Stube herum. Mein Aktionsradius war allerdings beschränkt, denn die Türen hatten Schwellen und so konnte ich nicht ausreissen. Aber das schien mir nichts auszumachen, denn entweder „studierte“ ich die Ornamente des Bodenbelages und der schönen Kassettendecke oder dann fand ich etwas anderes um mich zu beschäftigen. Vielleicht entfachte gerade dieses Alleinsein meinen Trieb zur Fantasie und schliesslich Selbständigkeit.

Obwohl es in unserer Stube sehr eng war, stand in einer Ecke eine ziemlich grosse Zimmerlinde. Damals war eigentlich der Gummibaum grosse Mode und alle hatten eine solche Pflanze zu Hause. Aber meine Mutter wollte diesen Trend nicht mitmachen und kaufte sich stattdessen eine Zimmerlinde. Die Pflanze hatte grosse, zarte Blätter. Wahrscheinlich litt sie unter zuwenig Licht, denn ich sah wie meine Mutter immer wieder dürre Blätter abschnitt oder am Boden auflas. Mit meinem Beschäftigungsdrang wollte ich ihr eines Tages einen Gefallen tun und mich wie sie um diese Pflanze kümmern. Ich fand eine Schere und begann die Blätter eines nach dem anderen von unten her abzuschneiden. Wie ein Wunder kam plötzlich meine Mutter in die Stube und verhinderte so einen Kahlschlag. Sie war sich natürlich bewusst, dass ich es ja im Grunde genommen nur gut gemeint hatte und nur helfen wollte, aber eine moderate Schelte bekam ich trotzdem. Auch die Zimmerlinde war mir nicht böse und liess bald wieder neue Blätter spriessen.

Natürlich wollte ich schon als kleiner Knirps von 3 Jahren die Welt entdecken und schlich bei jeder Gelegenheit aus dem Haus. Da ich weder ein „Gampiross“ noch ein Dreirad-Velo hatte, baute mir mein Vater eine Mini-Dampfwalze. Sie war gerade gross genug um mich darauf zu setzen. Er hatte sie aus verschiedenen Eisenteilen zusammengeschweisst und dann bunt bemalt. Die Walze machte einen furchtbaren Lärm auf der Strasse und so wusste man immer wo ich mich herumtrieb. Eigentlich war sie viel zu schwer und unbeweglich für mich. Ich konnte deshalb nur ausserhalb des Hauses mit ihr spielen. Man konnte nur geradeaus fahren und musste ständig mit den Beinen angeben. Zudem war sie mit den vielen Kanten nicht ungefährlich, gab kaum Anreiz zur Kreativität und ich wusste nie wo ich während der Fahrt meine Füsse aufsetzen sollte. Trotzdem wollte ich sie mit niemandem teilen und wenn ich einmal einwilligte, dann nur unter meiner strengen Aufsicht. Abgelenkt durch interessantere Sachen, liess ich sie aber trotzdem oft irgendwo stehen und so musste mein Vater das begehrte Objekt schlussendlich im ganzen Dorf suchen. Wo und wie dieses kleine Kunstwerk meines Vaters endete ist nicht bekannt.



(6) Immer zu einem Scherz bereit.

Immer zu einem Scherz bereit.


Meine Mutter war für die damalige Zeit sehr avantgardistisch und emanzipiert. Sie sagte, dass sie neben der vielen Arbeit auch mal eine Abwechslung brauche und kaufte sich ein Saison-Abonnement des Opernhauses in Zürich. Ganz alleine fuhr sie während der Wintersaison einmal im Monat zur Oper. Während ihrer Abwesenheit passte mein Vater auf mich auf. Er gab mir das Nachtessen und dann nahm er mich mit ins Büro. Dort durfte ich bei ihm auf dem Schoss an seinem Pult sitzen und seiner Arbeit zusehen. Er erzählte mir aus einem Bilderbuch von Wilhelm Busch und zeichnete im Licht einer Lampe über dem Pult allerlei Ornamente auf ein Stück Papier. Schon damals sprach er von subjektiver Wirklichkeit und bewies es gleich mit einer zeichnerischen Illusion. Das faszinierte mich und entfachte wahrscheinlich später die Freude am Zeichnen in der Schule. Diese seltenen und wundervollen Momente waren ganz speziell für mich, denn für einmal war mein Vater entspannt und hatte Zeit für mich. Es war als ob er die Abwesenheit meiner Mutter brauchte um mir vollends zu zeigen, dass er mich liebte und mein Vater war. Wenn ich schläfrig wurde brachte er mich sanft ins Bett. Am nächsten Tag erzählte mir dann meine Mutter ganz glücklich von der schönen Oper oder Operette die sie gesehen hatte. Als ich etwas älter war, durfte ich mit ihr vor Weihnachten sogar an eine Kindervorstellung im Opernhaus Zürich. Auch dies entfachte in mir Interesse an Theater und Kunst.


(7) Einer der seltenen Momente auf dem Arm meines Vaters.

Einer der seltenen Momente auf dem Arm meines Vaters.


Zusammen unternahmen meine Eltern aber nur selten etwas. Die Ausnahme war die Generalversammlung des Spengler- und Installateuren Verbandes, die einmal im Jahr stattfand. Sie war jedes Jahr an einem anderen Ort und dauerte meistens zwei Tage. Während diesen Versammlungen lernten sie viele Berufskollegen kennen mit denen sie auch nachher noch in Kontakt blieben. Ich war überzeugt, dass ihnen diese Abwechslung immer gut tat. Natürlich hatten meine Eltern dann immer ein schlechtes Gewissen mich Tante Adelheid und Onkel Heiri überlassen zu haben und so brachten sie mir jedes Mal eine kleine Erinnerung mit nach Hause. Einmal als sie in Bern waren bekam ich einen kleinen, aus dunklem Holz geschnitzten Bär den ich sehr verehrte und bei meinem Bett aufstellte. Die nächsten Male bekam ich eine Musikdose die eine zarte Melodie spielte, eine Weidenpfeife auf der ein farbiger Vogel sass oder eine Glaskugel die beim Schütteln Schneefall über eine Miniatur-Landschaft bewirkte.


(8) Mein allererstes Kässeli, das mich zum Sparen antrieb.

Mein allererstes Kässeli, das mich zum Sparen antrieb.


Schliesslich bekam ich auch ein knallrotes Kässeli aus Holz das mich zum Sparen anspornen sollte. Und das tat es dann auch! Obwohl ich das Kässeli eigentlich ganz leicht hätte öffnen können, war mir das Ersparte viel zu wertvoll um es auszugeben. Später als ich älter wurde eröffneten meine Eltern ein „Sparbüchlein“ bei der Leih- und Sparkasse vom Linthgebiet, wo ich meine Batzen regelmässig und ganz alleine einzahlte. Die Bank befand sich gegenüber unserem Haus. Eines Tages war draussen plötzlich Lärm zu hören. Ich schaute aus dem Fenster und sah wie gerade ein Räuber aus der Bank rannte und die Polizei hinterher. Ich weiss nicht ob man den Übeltäter fassen konnte. Ich erinnere mich nur noch, dass ich mir Sorgen um mein hart Erspartes auf der Bank machte. Aber bald war wieder Ruhe im Dorf und ich erfuhr bei der Bank, dass meine Batzen nicht als Teil der Raubbeute verloren gingen.

Zu dieser Zeit herrschte ja Krieg rund um die Schweiz und manchmal mussten wir nachts bei einem Bombenalarm die Fenster verdunkeln. Mein Vater hatte vorsorglich mit Holzlatten Rahmen gemacht und darauf Dachpappe genagelt. Das ergab einen sicheren Lichtschutz den man einfach und schnell vor den Fenstern montieren konnte. Immer wenn nachts die Sirenen heulten installierte mein Vater diese Rahmen. Trotz dieser Vorkehrung wollte mein Vater nicht, dass in der Stube Licht gemacht wurde. So sassen wir mit einer Kerze im Dunkeln und hörten Radio oder gingen ins Bett. Einmal, nach einer grossen Detonation, rief mich mein Vater auf den Balkon von wo man am Himmel eine Flamme sah. Er sagte mir, dass ein Flugzeug abgeschossen worden sei und dass es nun zu Boden fallen würde. Im Radio hörten wir dann, dass das Flugzeug in der Nähe des Bodensees abgestürzt war. Meine Mutter wollte unbedingt, dass wir uns im Keller in Sicherheit bringen. Sie hatte Angst, dass noch mehr Flugzeuge kommen würden und dann unser Dorf bombardieren könnten. Doch mein Vater wollte nicht in den Keller und so stritten die Beiden für eine Weile bis wieder Ruhe eingekehrt war; auch in unserem Haus. Ich war froh, dass wir nicht in den Keller mussten, denn da war es im Winter ja so unheimlich und kalt.


(9) Der Ferien-Bub Maurice oder „Gigi“ aus Frankreich und der Autor, damals „Gogi“ genannt.

Der Ferien-Bub Maurice oder „Gigi“ aus Frankreich und der Autor, damals „Gogi“ genannt.


Während diesen Jahren organisierte das Rote Kreuz für Kinder aus Frankreich Ferien in der Schweiz. Die SBB holte diese Kinder an den Grenzen ab und verteilte sie dann in der ganzen Schweiz. Die meisten Kinder waren sehr abgemagert, kränklich und verstört. In unserem Dorf hatten fast alle Familien ein französisches Ferienkind aufgenommen. Im Jahre 1945 bekamen wir Maurice einquartiert. Er kam von Audincourt, war älter als ich, und konnte natürlich kein Wort Deutsch. Ich begann damals erst zu sprechen und konnte seinen Namen nur mit Schwierigkeiten aussprechen. Deshalb nannte ich ihn einfach „Gigi“ und ich wollte nicht Hans, sondern „Gogi“ genannt werden. Da ich bis anhin alleine war, hatte ich etwas Mühe nun plötzlich alles mit jemanden teilen zu müssen. Da Maurice älter war, wollte er mir überall beistehen und helfen. Und genau dies konnte ich nicht ausstehen. Ich war dies eben nicht gewohnt, denn ich musste mich ja bis anhin alleine behaupten. So wurden seine Hilfeangebote oft mit einem energischen „Gogi selber!“ erwidert. Dies verletzte den hilfsbereiten Franzosen oft sehr und so war unsere Beziehung nicht immer superharmonisch. Maurice hatte einen jüngeren Bruder der bei unseren Nachbarn, den Noser’s, untergebracht war. Er hiess Robert. Wenn ich Maurice zu stark nervte, ging er einfach zu seinem Bruder. Da konnte er sich wenigstens mit jemandem in seiner Sprache verständigen. Aber damit verärgerte er meine Mutter, besonders wenn er ohne etwas zu sagen verschwand.

Die Ferienkinder blieben 5 Wochen während den ganzen Sommerferien, dann mussten sie wieder mit der Bahn zurück nach Frankreich zu ihren Eltern. Robert kam während mehreren Jahren jeden Sommer zurück zu unseren Nachbarn. Schliesslich blieb er sogar ein ganzes Jahr und durfte sogar die Schule besuchen. Maurice kam nie mehr ins Dorf zurück. Wahrscheinlich hatte ich ihm mit meiner tonangebenden Art die Lust genommen oder dann war ihm das Lernen der deutschen Sprache einfach zu mühsam. Meine Mutter hingegen fand den Aufenthalt von Maurice und den anderen Kindern sehr bereichernd. Sie sagte mir später immer wieder, dass ich während des Aufenthaltes von Maurice genügend Französisch gelernt habe um mich schliesslich mit ihm zu verständigen. Um mit ihm zu rivalisieren und mich verbal verteidigen zu können blieb mir aber vielleicht damals gar nichts anderes übrig als seine Sprache zu lernen. Ich kann mich erinnern, dass er mir oft sagte: „Was Du sagst bist Du selbst…!“ Als Maurice dann wieder zurück in Frankreich war fehlte er mir plötzlich. Und so bat ich meine Mutter immer wieder im Himmel einen Bruder zu bestellen und erwähnte diesen Wunsch auch in meinen Gebeten. Erst als ich erwachsen wurde gestand meine Mutter, dass meine Bitte erfüllt worden war und sie später tatsächlich einen Bruder geboren hatte. Leider war er tot auf die Welt gekommen.

Unser Essen war bescheiden und lange Zeit von Rationierungsmarken abhängig. Der Grund für die Ausgabe dieser Marken war die landesweite Versorgungskrise. Nur mit diesen Rationierungsmarken konnte man, sofern vorhanden, die individuell zugeteilte Menge an Lebensmitteln, Toilettenartikel, Textilien, Schuhen, etc. kaufen. Dabei entwickelte sich ein reger Tauschhandel. Auch meine Mutter tauschte Marken für Butter gegen solche für Fleisch, Zucker gegen Mehl oder Eier. Zur Reifezeit der Früchte gab es eine Extra-Zuteilung für Einmachzucker. Meine Mutter nahm dann das Fahrrad und fuhr mit dem Anhänger nach Wangen zu einem Bauern den sie durch das Geschäft kannte. Einmal kaufte sie nebst anderen Früchten einen ganzen Korb voll frisch gepflückter Kirschen. Sie setzte mich neben den Korb im Anhänger und sagte ich solle auf die Kirschen aufpassen. Als wir zu Hause ankamen war ein grosser Teil der Kirschen verschwunden. So gab es halt am Abend keinen „Chriesibrägel“ und die Mutter nahm mich nur noch unter strenger Kontrolle mit zum Bauern. Trotzdem liebe ich Kirschen noch bis heute sehr!

Mit der Versorgungskrise wurden die Leute sparsam und erfinderisch. Das Wegwerfen von Brot wurde zur Sünde, von dem ich auch bis heute noch fest überzeugt bin. Auch hartes Brot wurde noch verzehrt oder anders verwertet. Sofern man es sich damals leisten konnte, musste man sich Notvorräte anschaffen. Gleichzeitig ordnete die Regierung die sogenannte „Anbau-Schlacht“ an. Das hiess, dass überall auf offenen Grünflächen Kartoffeln gepflanzt werden mussten. Auch unsere Gemeinde stellte den Bürgern Land zur Bepflanzung zur Verfügung. Somit bekam auch mein Vater ein Stück Land wo wir Gemüse, Mais und Kartoffeln pflanzten. Einmal hat mich meine Mutter auf den „Pflanzblätz“ mitgenommen. Sie liess mich in der kleinen Gerätehütte im Schatten zum Mittagsschläfchen. Als ich erwachte entdeckte ich neben mir eine Flasche. Da ich Durst hatte trank ich von dem „kalten Tee“ den meine Mutter für meinen Vater vorbereitet hatte. Ein wenig später bemerkte meine Mutter, dass ich nicht mehr schlief und auf dem Feld herumtorkelte. Sie hatte dem Tee einen „Gutsch“ Schnaps beigefügt und somit hatte ich im zarten Alter von 3 Jahren meinen ersten „Schwips“!


(10) Blick vom "Planzblätz" an der Alpenblickstrasse gegen die Wägitalerberge. (Oelgemälde von Heiri Diethelm)

Blick vom "Planzblätz" an der Alpenblickstrasse gegen die Wägitalerberge. (Oelgemälde von Heiri Diethelm)


Als ich älter wurde durfte ich auf dem „Pflanzblätz“ mithelfen. Mein Vater hatte einen Wassertank aus galvanisiertem Blech gemacht. Der war so angefertigt, dass er auf einen Leiterwagen montiert werden konnte. Oben hatte er eine trichterförmige Öffnung wo man das Wasser einfüllen konnte und hinten war ein grosser Hahnen mit dem ich die Giesskannen füllen durfte. Ich füllte den Tank hinter unserem Haus im Dorf und durfte ihn dann auf dem Leiterwagen auf das Feld bringen. Das Giessen der Gemüse übernahmen dann meine Eltern. So war ich als kleiner Knirps schon für die Wasserversorgung verantwortlich. Einmal hatte ich etwas zu Hause vergessen und so rannte ich blindlings und so schnell ich konnte ins Dorf. Der Weg war einfach und schnurgerade, aber ich musste die Seidenstrasse und dann die Marktstrasse überqueren. Und so rannte ich kurz vor dem Ziel in die Seite eines von links kommenden Autos. Zum Glück fuhren die Autos damals nicht so schnell wie heute und kam so mit grossem Schrecken aber ohne Verletzung davon. Der Fahrer schien genau so erschrocken wie ich, denn er hatte mich ja nicht kommen sehen. Wäre ich eine Sekunde schneller gewesen, wäre ich mit Bestimmtheit vor das Auto gerannt und hätte dann meinen Eltern kein Wasser mehr auf den „Pflanzblätz“ bringen können. Ich habe diesen Moment nie vergessen und es wurde mir erneut bewusst, dass ich einen Schutzengel hatte! Ich bin ihm heute noch dankbar. So viel ich mich erinnern kann, habe ich meinen Eltern nie von diesem Todesschreck erzählt. Sie hatten mir ja vorher schon hunderte von Malen eingebläut, dass ich mich umsehe bevor ich eine Strasse überquere und so schämte ich mich für meine Unfolgsamkeit. Aber es war eine Lektion die ich nie vergessen habe und so vergewissere ich mich noch immer bevor ich eine Strasse überquere ob der Weg wirklich frei ist.

Was wir auf dem „Pflanzblätz“ ernteten wurde dann nach Hause gebracht und für den Verzehr im Winter aufbewahrt. Den Mais brachte mein Vater in eine Mühle in Siebnen. Die Mutter machte damit nicht nur Polente, sondern an Feiertagen auch einen ausgezeichneten Maiskuchen mit Sultaninen. Die Kartoffeln kamen in den Keller und reichten bis in den Frühling wo sie auch nach dem Auskeimen noch gegessen wurden. Mit den Beeren und Früchten machte meine Mutter Konfitüre oder sterilisierte sie in Gläsern. Da die Hühner im Winter keine Eier legen, legte meine Mutter frische Eier schon im Herbst in einen, mit „Wasserglas“ gefüllten, irdenen Topf. Die Eier mussten immer mit Wasserglas gedeckt sein, denn die Wirkung dieser Konservierungsmethode basiert darauf, dass die Poren der Eierschale aufgefüllt werden, sodass das Ei vor dem Eindringen von Wasser, Luft und Mikroorganismen geschützt wird. Auf den Hurden lagerten Äpfel und Birnen. All das Eingekellerte erlaubte meiner Mutter eine gewisse Abwechslung beim Gestalten des Winter-Menuplans. Die Stangenbohnen wurden im Ofen gedörrt und dann mit Speck und Kartoffeln im Winter gegessen. Doch im Keller wohnten auch Mäuse und die hatten ja auch Hunger. Damals hatten die Konfitüre Gläser keine Deckel und man versiegelte sie nach dem Abfüllen mit Cellophan-Folie. Dieser Schutz war aber gegen Mäuse ungenügend und so fertigte mein Vater Blechstücke die man auf jedes “Gomfi-Glas“ legen musste. Nach einer gewissen Zeit entwickelte sich in allen Gläsern eine weiss-blau-grüne Schimmelschicht. Doch das war kein Gesundheitsproblem. Man musste einfach den „Filz“ ganz säuberlich entfernen vor Gebrauch.

In den Seeanlagen, direkt am See, gab es einige Linden die während der Blütezeit im Frühling immer wunderbaren Duft verbreiteten. Diesem Duft konnte meine Mutter nicht widerstehen und so nahm sie den Handwagen, legte eine Leiter darauf und ging damit Richtung See. Manchmal waren die Linden bereits schon von anderen Leuten „besetzt“ und so versuchte sie sich mit ihnen zu arrangieren. Alle kamen mit dem Ziel möglichst viele Lindenblüten nach Hause zu bringen. Eigentlich war das Pflücken von Lindenblüten im öffentlichen Raum nicht erlaubt und so waren wir immer darauf gefasst von Gemeindearbeitern oder dem Wachtmeister weggejagt zu werden. Es gab ja immer Leute die sinnlos Äste vom Baum rissen, die Blüten dann bequem am Boden pflückten und die zerzausten Äste wie Abfall einfach liegen liessen. Durch diese Art von Pflücken hatten gewisse Bäume arg gelitten und ihre natürliche, schöne Form verloren. Da meine Mutter die Natur liebte, zeigte sie mir wie man die Blüten ohne Schaden direkt am Baum pflücken konnte. Ich durfte sogar auf die Leiter steigen und die Blüten selbst abnehmen. Zu Hause wurden die Blüten getrocknet und in einem eigens dafür hergestellten Stoffsack aufbewahrt. Im Sommer machte dann meine Mutter fast jeden Tag einen Lindenblütentee mit Pfefferminze, ein erfrischendes Getränk das auch mein Vater sehr liebte und erst noch hundertprozentige Bio Qualität war. Im Winter war es ein wichtiges Heilmittel gegen Fieber und bei Grippe.

Zu dieser Zeit waren viele Männer im Militärdienst an der Grenze. Mein Vater war beim Luftschutz eingeteilt und konnte so wenigsten den Betrieb weiterführen. Allerdings gab es nicht viel Arbeit denn die Leute hatten wenig Geld und so schätzte man jeden Kunden. Meistens brachten die Leute auch nur Sachen zur Reparatur, zum Beispiel Giesskannen, Waschzuber (Gelten), Pfannen, etc. In unserer Werkstatt gab es deshalb Berge von reparierten Artikeln. Mein Vater nannte sie „Flick“. Oft vergassen die Leute ihre Reparatur und so musste mein Vater diese „Flicks“ monatelang hüten bis sich vielleicht doch noch jemand daran erinnerte und sie abholte. Und wehe, wenn er sie in dem grossen Haufen nicht mehr sofort finden konnte…! Für die Bezahlung dieser Reparaturen hatte mein Vater auch ein Kässeli. Es war eine kleine, runde Dose die er einmal beim Kauf von Hustenbonbons bekommen hatte und die er in einer unverschlossenen Schublade unter der Werkbank aufbewahrte. Er verlangte nicht viel für eine Reparatur, manchmal nur 50 Rappen. Und trotzdem jammerten die Leute und sagten der Preis sei unverschämt. Ich war noch sehr klein und konnte das nicht verstehen. Aber ich kann mich errinnen, dass meine Mutter immer sagte man müsse froh sein, wenn man Arbeit habe. Wenn mal grössere Arbeit anfiel dann durfte man nicht „nein“ sagen, auch für Arbeiten nachts oder sonntags nicht. Für alle Arbeiten schrieb meine Mutter eine Rechnung. Die Bauern, besonders diejenigen die vom Bräggerhof, bezahlten die Rechnungen meistens bar und an Sonntagen nach der Kirche. Sie kamen zu uns nach Hause und es war üblich sie bei dieser Gelegenheit zu einem Schnaps in die Stube einzuladen. Dabei wurden Neuigkeiten diskutiert und natürlich viel geraucht, meistens „Stümpen“ oder „Brissago“. Mein Vater rauchte Zigaretten und so störte ihn die lästige Raucherei nicht. Ich aber hatte immer das Gefühl wir hätten starken Nebel in der Stube, besonders im Winter bei geschlossenem Fenster und so wurde es mir oft übel. Lüften war keine Option, sonst hätten die geschätzten Kunden ja gefroren und zudem war das Holz für den Stubenofen auch nicht billig. Erst als alle zum Mittagessen nach Hause gingen konnte meine Mutter die Balkontüre kurz öffnen und frische Luft rein lassen.

Die Jahre nach dem Kriegsende waren für meine Eltern nicht einfacher geworden, doch davon merkte ich als Kind eigentlich nicht viel und lebte unbeschwert. Man war mit dem zufrieden was man hatte, lebte einfach und fand sich damit ab. Ausserdem kannte man ja gar nichts Anderes. Spielsachen waren damals rar und so vertrieb ich meine Freizeit hauptsächlich draussen mit Kindern im Dorf oder mit dem Holzbaukasten, Stoffresten und einigen Holzkühen die ich einmal auf Weihnachten erhalten hatte. Dies stimulierte bei mir Kreativität und ich konnte damit stundenlang auf dem Stubenboden spielen. Erst als ich viel älter wurde kaufte mir mein Vater erst einen „Mecano“ Baukasten und später eine elektrische Eisenbahn; eine WESA. Für den Aufbau der Geleise brauchte ich oft einen grossen Teil des Stubenbodens. Einmal aufgebaut und funktionierend, wollte ich die Anlage natürlich nicht sofort wieder demontieren. Das nervte meine Mutter, denn sie musste immer aufpassen, dass sie in der kleinen Stube nicht auf die Gleise trat. Mein Vater war verständiger, denn es war ja auch ein wenig „seine Eisenbahn“ und er half mir auch immer, wenn ich Probleme mit dem elektrischen Strom hatte. Zudem war allen klar, dass mein Zimmer ungemütlich war und ein anderes Zimmer in unserer Wohnung dafür nicht existierte.

Als ich etwas grösser wurde und schliesslich in die Schule musste wurde es selbstverständlich, dass ich den Eltern nach der Schule bei der Arbeit half. Die klassische Mithilfe war das tägliche Abtrocknen und Versorgen des Geschirrs. Auch beim Kochen gab es immer Arbeiten, die sogar ein kleiner Bube verrichten konnte, zum Beispiel Gemüse rüsten, Äpfel für eine Wähe schälen, etc. Es kam aber auch vor, dass meine Mutter sehr beschäftigt war und ich ein einfaches Gericht wie „Ghackets und Hörnli“ ganz alleine zubereitete. Auch die Herstellung von Butter oder „Anke“ war oft meine Aufgabe. Zuerst musste ich ganz sorgfältig „d’Nidle“ von der Milch abschöpfen, die in einem grossen flachen Becken im „Frigo“ gekühlt wurde. Als Folge tranken wir dann die so behandelte Milch schon damals als Variante „Light“. Dann durfte ich diesen Nidel in der Buttermaschine so lange schlagen bis er Butter wurde.


(11) Buttermaschine

Buttermaschine


Zum Abschluss wurde der Butter in eine Holzform mit einem Muster gegeben und dann gestürzt. Das gab ein schönes „Mödeli“ mit dem man auf einfache Weise Geld sparen konnte. Auch beim Zubereiten von Joghurt hatte ich meiner Mutter zugeschaut und bald schmeckten die von mir gemachten natürlich viel besser! Meine Mutter kaufte jeden Tag 1 ½ Liter frische Milch direkt vom „Milchmann“. Dieser machte seinen Direktverkauf auf der Strasse vor dem Haus und war immer mit Ross und Wagen unterwegs. Die Kunden mussten einen Milchkessel mitbringen und dann holte er mit einem Litermass die Milch aus einer der mitgeführten Tausen (Schweizer Volumenmass für Flüssigkeiten) und schüttete sie in das mitgebrachte Gefäss. Jedes Mal, wenn meine Mutter den „Milchmann“ verpasst hatte, musste ich die Milch mit dem Milchkessel zu Fuss in der Molkerei Röthlin holen. Die Heimkehr war immer tückisch, denn es durfte ja kein Tropfen verloren gehen und vor allem durfte ich nicht stolpern. Manchmal durfte ich auch kleinere Einkäufe machen: einen Zweipfünder beim Beck, ein Kilo Bintje Kartoffeln im „SIMON“ oder ein halbes Pfund gehaktes Rindfleisch beim Metzer Mächler. In die Metzgereien oder in die Molkerei ging ich am liebsten, denn da bekam ich immer ein „Rädlein“ Wurst oder ein Stück Käse.

Wenn meiner Mutter das Salz ausging, dann schickte sie mich zu Fräulein Rickenbacher an die Herrengasse. Zwischen dem Modehaus Zimmerli und dem Gasthaus Schwanen führte die hagere Frau ein kleines Geschäft mit Lebensmitteln und Tabakwaren. Sie war die Einzige im Dorf, die das Monopol für den Verkauf von Salz hatte. Damals lag das Schweizer Salzregal, also das Hoheitsrecht auf den Salzhandel, noch ausschliesslich bei den Kantonen. Mitten im Laden war auf dem Boden eine grosse Holzkiste in der das Salz gelagert wurde. Darüber hing eine grosse Hebelwaage, mit der das Salz abgewogen und dann in eine Papiertüte geschüttet wurde. Oft war das Salz hart geworden und Fräulein Rickenbacher, oder ihr Bruder, musste dann mit viel Mühe das Salz klein schlagen oder abraspeln. Noch etwas früher waren ja auch der Tabak und sogar die Zündhölzer mit einem Monopol belegt und nur an bestimmten Orten erhältlich.

Oft musste ich für meine Mutter einem Brief zur Post bringen oder dann sogar Einzahlungen machen. Das Letztere verlangte von meiner Mutter schon etwas mehr Vertrauen und so war sie immer in Sorge bis ich wieder zurück war. Eines Tages, es war zur Chilbi-Zeit, hatte ich meine Einzahlungen bei der Post bereits gemacht und war ganz brav auf dem Heimweg. Ich wusste, dass ich das Geld der Post gegeben hatte und mir niemand das Geld meiner Eltern mehr nehmen konnte. Doch da kam mir plötzlich in den Sinn, dass am kommenden Wochenende Chilbi war und dass ich einige Schausteller bei ihrer Ankunft gesehen hatte. Wie behext machte ich mich sofort auf einen unbewilligten und unerlaubten Umweg nach Hause. Beim „Jurt-Ecken“ bog ich links in die Herrengasse ab und ging stracks bis zum Hotel Ochsen am See. Und siehe da, eine „Rössliritti“ (Rösslispiel) war genau vor der Kanzlei im Begriff Gestalt anzunehmen. Das Aufstellen von Karussells konnte mich so faszinieren, dass ich alles vergass um mich herum. Und so verfolgte ich äusserst aufmerksam wie die vielen Teile zusammengebaut wurden. Es war so interessant, dass ich die Zeit total vergass und fast wie in Trance dastand. Als dann beim Sonnenuntergang endlich die Karussellfiguren, hölzerne, weisse „Rössli“, ausgepackt und auf dem Karussell montiert wurden, stand plötzlich mein Vater neben mir. Er war ausser sich vor Wut und schrie mich so laut an, dass alle Leute im Umkreis sich umkehrten um zu schauen was passiert war. Da ich mit Geld unterwegs war, hatte sich natürlich auch er grosse Sorge gemacht und mich im ganzen Dorf gesucht. Zu Hause hörte ich dann eine ähnliche Predigt nochmals von meiner Mutter. Ich wusste, dass meine Eltern recht hatten, denn ich hatte ihnen Sorge gemacht. Aber der Drang den Zusammenbau der „Rössliritti“ zu verfolgen war einfach zu gross gewesen. Das gleiche Verlangen und das gleiche Interesse für den Aufbau übernahmen mich dann jeweils auch vor der Chilbi bei der Ankunft der „Berg- und Talbahn“, der Schiffschaukel, dem Kettenkarussell oder der „Autobahn“ der Familie Häseli mit der fast himmlischschönen Orgel wo zwei Engel den Takt angaben. Diese Arbeiten konnte ich allerdings meistens ohne Angst vor meinem Vater aus dem Schulhausfenster heraus beobachten, sofern die Lehrer nicht vorbeugend die Sonnenstoren runterliessen.

Am Freitag war immer Putztag und da bekam auch ich immer eine Arbeit zugeteilt. Meistens war es die Reinigung des Treppenhauses. Da man oft mit schmutzigen, ja sehr schmutzigen Schuhen die Treppe rauf und runter ging, musste ich jede einzelne Stufe zuerst mit Stahlwolle „spönle“, dann mit einem Besen reinigen und schliesslich mit Bodenwichse glänzen. Ich hasste diese Arbeit, denn sie war nicht nur mühsam, sondern auch undankbar. Kaum war ich jeweils fertig mit der Arbeit, da kam schon wieder jemand mit schmutzigen Schuhen und machte meine ganze Mühe zunichte. Damals brauchte man kein Toilettenpapier, ja es war geradezu verpönt und zudem zu teuer. Damals brauchten alle Leute Zeitungspapier das vorher kleingeschnitten wurde. Auch diese Arbeit wurde immer an mich delegiert. War kein Zeitungspapier vorhanden war, brauchten wir auch alte Telefonbücher oder ein „Heftli“ die man an einer Schnur aufhängen konnte. So konnte man in aller Ruhe die interessantesten Seiten lesen und sogar aus dem „Heftli“ herausreissen. Leider war dieses Papier sehr glatt und deshalb nicht saugfähig. Zudem verstopfte dieses harte Paper das WC, was meinen Vater immer sehr irritierte.

Als ich kräftiger wurde musste ich Lieferungen, die mit der Bahn kamen, mit dem Leiter- oder Handwagen beim Güterschuppen am Bahnhof abholen und dann die leeren Retour-Kisten wieder zur Bahn bringen. Meistens waren es Lieferungen für meine Mutter, das heisst Haushaltartikel. Natürlich musste ich ihr helfen die verschiedenen Artikel aus der Holzwolle herauszuholen und dann mit dem Lieferschein prüfen ob auch wirklich alles geliefert und angekommen war. Danach kam die Holzwolle wieder in die Kiste. Die gebrauchten, krummen Nägel wurden auf einer Stahlplatte in Vaters Werkstatt gerade geschlagen (rezykliert) und anschliessend zum Verschliessen der Kiste mit der Holzwolle wieder gebraucht.




(12) Was für eine Überraschung, plötzlich war eine Schwester da!

Was für eine Überraschung, plötzlich war eine Schwester da!


Am 11. Januar 1946 wurde ich mit der Geburt meiner Schwester überrascht. Obwohl ich mir eigentlich einen Bruder gewünscht hatte, freute ich mich natürlich riesig, denn nun war ich nicht mehr alleine. Sie wurde Margrit getauft wie meine Mutter. Da meine Mutter Sophie Margaritha hiess, hätte sie gerne den Namen Sophie an meine Schwester weitergeben wollen, aber scheinbar hatte mein Vater auch dafür kein Gehör. Man hatte in der Familie nie zwei Vornamen gehabt und so gab es für uns Kinder nur einen Vornamen. Ich weiss nicht warum, aber schliesslich nannte man meine Schwester später zu Hause nicht Margrit sondern „Maite“. Da meine Mutter vom Flumserberg kam war es wahrscheinlich ein Flumser-Kosename. Für mich war aber meine Schwester die „Mädes“. Wieso ich sie so nannte weiss ich nicht, aber es war auch so etwas wie ein Kosename, denn ich vergötterte meine kleine Schwester. Unerklärlicherweise weinte sie als Kleinkind die ganze Zeit, was meine Mutter zum Verzweifeln brachte und meinen Vater oft in Zorn versetzte. Trotzdem entwickelte sich eine Vertrautheit zwischen den Beiden und so durfte nun meine Schwester bei meinem Vater auf dem Schoss sitzen und ich hatte das Nachsehen. Sie wurde sein Schützling und konnte sich Sachen erlauben die mir nie erlaubt waren. Damit änderte sich meine Beziehung zum Vater und so hatten wir uns schliesslich fast nichts mehr zu sagen. Er hatte für meine Schwester einen Kindersitz gemacht der am Küchentisch angeschraubt war. Aber auch am Tisch weinte meine Schwester die ganze Zeit und wollte zudem nicht essen. Wenn es meine Mutter einmal fertigbrachte, dass sie etwas getrunken oder gegessen hatte, erbrach sie plötzlich das Ganze wieder in einem grossen Bogen über den ganzen Küchentisch. Als ich älter wurde fühlte ich mich noch mehr für sie verantwortlich. Aber damit entstand eine Situation wie sie Maurice mit mir erlebt hatte. Auch sie wollte keine brüderliche Bemutterung und schlug meine gutgemeinten Belehrungen oder Hilfe meistens energisch ab. Sie hatte sogar Freude mich zu ärgern und so schlug sie während dem Essen gerne mit den Füssen gegen die Besteckschulblade unter dem Küchentisch, sodass die Gabeln zu den Löffeln oder Messer oder umgekehrt hüpften. Dabei zeigte sie auf mich und ich bekam prompt von meinem Vater eine Ohrfeige. Interessanterweise weinte sie während einer solch ungerechten Behandlung nicht, sondern schien sich dabei köstlich zu amüsieren und mich im geheimen sogar genüsslich auszulachen.

Bis zur Geburt meiner Schwester schlief ich im Schlafzimmer meiner Eltern. Es war ein grosses Zimmer mit einem kleinen Ofen, mit dem aber nie geheizt wurde. Somit war es im Winter in diesem Zimmer immer sehr kalt. Manchmal öffnete meine Mutter vor dem „ins Bettgehen“ die Türe zur Stube um von da etwas Wärme hinein zu lassen. Mit der Kälte im Zimmer und der Tatsache, dass das WC ein halbes Stockwerk tiefer im Treppenhaus war, hatten wir Nachttöpfe unter dem Bett. Da mein Vater seine nächtliche „Urinproduktion“ nicht jeden Tag entsorgte, war der „Nachhafen“ manchmal randvoll, was meine Mutter sehr aufbrachte. Es war ja immer ein Kunststück das volle Gefäss ohne „Unfall“ die Treppe hinunter bis zum WC zu tragen.

Da es für meine Schwester keinen Platz in diesem Zimmer hatte, stellten meine Eltern den Stubenwagen mit meiner Schwester in die Stube. Diese Situation duldete aber meine Mutter nicht lange und bald drängte sie auf mehr Platz. Schliesslich erhielten wir von meiner Grossmutter ein Zimmer neben dem Schlafzimmer meiner Eltern, das aber nur einen Zugang von ausserhalb der Wohnung hatte. Um den Zugang zu vereinfachen machte mein Vater ein Loch in die Wand des Elternschlafzimmers und erstellte so direkten Zugang zu dem neuen Zimmer; meinem Zimmer. Es gab aber keine Türe, sondern nur einen dunkelroten Vorhang der die zwei Zimmer trennte. Mit diesem Vorhang kam keine Wärme von der Stube in mein Zimmer und so glaubte ich mich im Winter wie in einem Eisschrank. Dieser Vorhang garantierte auch keine Schalldämmung und so kam es, dass ich eines Nachts erwachte, weil ich im Elternschlafzimmer so seltsame, balgende und stöhnende Geräusche hörte. Ich glaubte mein Vater würde meine Mutter plagen und so stand ich auf, ging in ihr Schlafzimmer und fragte warum sie sich stritten. Aber offensichtlich hatte ich die Beiden in einem ganz dummen Moment erwischt und so beteuerten sie mir ganz verwirrt, dass alles in Ordnung sei und ich doch zurück ins Bett gehen soll. Obwohl ich damals noch sehr klein war wurde mir bewusste, dass ich mit meiner kindlichen Sorge um meine Mutter meine Eltern für Jahre traumatisiert haben könnte. Jedenfalls hörte ich diese Geräusche nachher nie mehr!

Mein Zimmer war ein äusserst hässliches Zimmer. Es war blau-grün gestrichen und hatte an den Wänden seltsame, abstrakte Ornamente die ich nie verstehen konnte obwohl ich sie jeden Abend ansehen musste und sie zu entziffern versuchte. Ich war nicht glücklich in diesem Zimmer und nässte das Bett fast jede Nacht. Jeden Morgen erwachte ich in einem feuchten Bett und schämte mich dann den ganzen Tag. Meine Eltern schimpften und ich war mir bewusst, dass ich meine Mutter, nebst ihrer täglichen Arbeit, zusätzlich mit Arbeit belastete. Manchmal hatte sie keine Zeit um die Leintücher zu wechseln und so liess ich sie und das Pyjama einfach im Zimmer trocknen. Ich war deshalb oft traurig und wusste mir nicht zu helfen. Ich konnte ja auch mit niemandem darüber sprechen, denn Bettnässen war doch eine grosse Schande und hatte vielleicht sogar etwas mit einer Erbsünde zu tun…! Schliesslich brachte mich meine Mutter zum Arzt der mir Pillen verschrieb, leider Pillen die mich von dem Leiden nicht erlösten. Als ich älter wurde hörte die Mühsal endlich auf und ich musste keine Angst mehr haben, dass mich jemand wegen leichtem Geruch von Urin lächerlich machen könnte

Mein Zimmer war auch kalt und feucht. Es gab keine Heizung und im Winter hatte es Eisblumen an den Fenstern. Dies war sicher ein Grund wieso ich einmal eine Brustfellentzündung hatte. Damals ging man nicht wegen jedem Husten zum Arzt und man versuchte es zuerst mit alten Hausmitteln. So wurde vorerst einmal mit Kohl- oder Zwiebel-Wickel probiert. Ich konnte mich für diese Behandlung nie begeistern. Erstens fühlte sich der Wickel nass an und wurde im Winter sehr schnell kalt. Zudem entfachte er einen Geruch der mich dann lange treu begleitete. Als es schlimmer wurde brachte mich meine Mutter schliesslich zu Dr. Steinegger, der gleich neben uns seine Praxis hatte. Er verschrieb mir ein pulverförmiges Medikament, das er vorher selbst in ganz kleinen Dosen in Mini-Papiertüten abgefüllt hatte. Damit ging es mir schnell wieder besser und ich durfte später sogar ganz alleine zur „Sprechstunde“ gehen. Diesmal gab mir der Arzt aber keine kleinen Papiertüten, sondern Kapseln. Ich hatte noch nie Kapseln gesehen und war deshalb überzeugt, dass dies nun eine neue Art von Verpackung sei. So öffnete ich zu Hause jede Kapsel (was nicht einfach war), schüttete das scheussliche Pulver in meinen Mund und spülte es mir Wasser runter. Da ich überzeugt war, dass die Kapsel aus Kunststoff war, warf ich sie nachher in den Abfall. Beim nächsten Arztbesuch beklagte ich mich beim Arzt über die komplizierte Einnahme des Medikamentes. Erst jetzt erklärte er mir, dass die Kapsel aus Gelatine sei und sich im Magen total auflösen würde. Natürlich wurde ich rot im Gesicht und schämte mich für meine Ignoranz. Dieses Erlebnis half mir aber später bei meiner Arbeit in Entwicklungsländern wichtige Informationen klar zu beschreiben, die lokalen Realitäten wahrzunehmen, sie entsprechend zu formulieren und weiter zu geben. Nicht alles was für uns normal ist, wird von anderen Menschen ebenso wahrgenommen und verstanden.

Das Haushaltgeschäft meiner Mutter war an der Markstrasse und hatte ein grosses Schaufenster. Im Laden war es ziemlich chaotisch und so gab es dort immer etwas für mich zu tun. Da wir keine Zentralheizung hatten, bat sie mich im Winter oft zuerst einmal den Ofen im Laden einzuheizen. Dazu brauchte ich meistens Holzwolle und anderes Packmaterial. Von diesem Material hatte es immer genügend im Laden. Da der Ofen total umringt mit Holzgestellen und Haushaltartikel war, musste ich immer aufpassen, dass er nicht zu heiss wurde und nichts in der Nähe Feuer fing.

Meine Mutter war sehr fortschrittlich und hatte in ihrem Verkaufsortiment immer Neuigkeiten. So verkaufte sie schon damals Geschirr aus „Bakelit“, dem ersten, industriell hergestellten Kunststoff. Doch sie war zu beschäftigt um diese Artikel den Kunden entsprechend zu präsentieren, zum Beispiel im Schaufenster. Nach meinem Begriff hatte genau diese Auslage ein Potenzial im Konkurrenzkampf mit anderen Geschäften. Obwohl ich noch ein kleiner Bursche war, liess mich deshalb die Versuchung nicht los, die Gestaltung des Schaufensters selber etwas attraktiver zu gestalten. Nach einigen Versuchen gelang es mir zuerst wenigstens die Anzahl der ausgestellten Artikel zu reduzieren und sie etwas geordneter auszustellen. Erstaunlicherweise war mein Vater bereit mir dabei zu helfen und den hässlichen, dunkelgrünen Linoleumboden mit drei verstärkten Sperrholzplatten zu überdecken. Dabei wurde die Ausstell-Fläche auf Fensterhöhe angehoben. Irgendwo konnte ich dann noch schwarzen Stoff aufreiben und so belegte ich den neuen Holzboden damit. Auf der nun schwarzen, angehobenen Fläche kam die Ware jetzt viel besser zu Geltung. Aber damit war ich noch nicht zufrieden. Ich wollte, dass meine Mutter die ausgestellten Artikel viel öfter wechselt, zum Beispiel im Frühling mit Artikeln die man in der Waschküche brauchte, im Sommer Einmachgläser und im Winter Backutensilien und Artikel die sich als Geschenke eigneten. Um das Fenster immer wieder neu zu gestalten, holte ich mir Ideen bei anderen Geschäfts-Auslagen und versuchte immer mit einem speziellen Blickfang die Aufmerksamkeit der Passanten auf das Fenster zu richten.

Da mir diese kreative Arbeit sehr gefiel, sagte ich meiner Mutter eines Tages, dass ich später in meinem Leben einmal Schaufenster-Dekorateur werden wollte. Sie sah mich verstört an und sagte äusserst barsch „nein“! Dann ergänzte sie ihre Äusserung und meinte, dass dies ein Beruf für Schwule sei. Ihre Antwort verwirrte mich ausserordentlich und ich verstand eigentlich gar nicht was sie damit sagen wollte und was ich damit anfangen soll. Dachte sie ich sei schwul nur weil ich gerne dekorierte und kreativ tätig war? Damals war Homosexualität eine Riesenschande und im Dorf kannte man jeden beim Namen die so veranlagt waren. Ich begann mich zu fragen was sich andere Leute wohl denken, wenn sie mich Schaufenster dekorieren sahen. Vor allem fragte ich mich was denn eigentlich so schlimm war an der ganzen Sache. Aber ich bekam keine Antwort, denn über so ein Tabu wurde damals nicht gesprochen. Und so blieb ich mit meinen Fragen ganz alleine und machte mir schliesslich keine Gedanken mehr darüber. Natürlich half ich meiner Mutter trotzdem weiterhin ihr Schaufenster etwas auffallend und schön zu gestalten, denn schliesslich machte mir diese Arbeit grossen Spass.

Als ich älter wurde nahm ich mich sogar unserem Schaufenster am Gangyerweg an. In diesem Fenster stellte mein Vater sanitäre Apparate, Waschhafen, Zentrifugen, etc. zur Schau. Für mich war es ein Fenster wo man achtlos vorbeiging. So versuchte ich die Artikel wenigstens ein bisschen attraktiver zu platzieren und mit farbigen Plakaten auf die Ware aufmerksam zu machen. Als der Vertreter der Hans U. Bosshard AG (HUB), damals ein Grossist für Sanitäre Apparate in Zürich, meine Bemühungen entdeckte, war er ganz begeistert. Er schlug vor für eine kurze Zeit ein Teil einer Badezimmerwand aus der Ausstellung in Zürich bei uns im Schaufenster zu zeigen. Zuerst war ich sprachlos, dass so etwas überhaupt möglich war. Aber dann freute ich mich riesig in unserem Dorf etwas Modernes und Auffälliges zu zeigen, denn diese Wand war nicht mit Kacheln, sondern mit Chintz bezogen. Chintz ist ein mit Wachs überzogenes, dünnes, glänzendes Baumwollgewebe in einer Leinwandbindung, welches damals ein äusserst trendiger Dekostoff war. So wurde unser armseliges Schaufenster mit einem Mal eine Attraktion und ich genoss den Anblick, besonders abends, wenn die Wandlampen eine äusserst elegante Atmosphäre ausstrahlten.


(13) Mein grosser Stolz, ein modernes Badezimmer in unserem Schaufenster vor Weihnachten.

Mein grosser Stolz, ein modernes Badezimmer in unserem Schaufenster vor Weihnachten.


Manchmal durfte ich auch meinem Vater in der Werkstatt helfen. Auf der Schlagschere durfte ich Streifen aus Aluminium schneiden. Die Arbeit musste immer sehr exakt sein, denn die Streifen wurden später an Herrn Bucher geliefert. Er produzierte Schubladen-Einlagen. Die Aluminiumstreifen wurden mit Filz überzogen und dann als Besteck-Halter in den Schubladen eingebaut. Oft waren es sehr viele Streifen die geschnitten werden mussten; so viele, dass mein Vater oder Albert Pfister, unser einziger Arbeiter, den Rest oft selber fertig schneiden mussten. Albert war ein sehr ruhiger, geduldiger Mann der meine Kunstwerke die ich meist am Werkstattboden aus Holz bastelte nie kritisierte. Er beschwerte sich auch nie, wenn er manchmal meine hinterlassene Unordnung aufräumen musste. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er es nicht immer einfach hatte mit meinem Vater, denn dieser konnte sehr aufbrausend sein. Wahrscheinlich steckte in meinem Vater eine sehr grosse Frustration, weil ihn sein Vater gezwungen hatte seine Bildhauer-Lehre aufzugeben. Irgendwie hatte ich deshalb für seine Ausbrüche Verständnis und er tat mir sogar leid, denn er hatte damals keine andere Wahl als sein Schicksal zu akzeptieren. Die Stimmung war deshalb auch in der Familie oft unausstehlich und so konnte ich nur hoffen, dass ich in meinem Leben nie in eine solche Situation gedrängt würde.

Ab und zu nahmen sie mich mit auf eine Baustelle wo ich kleine Handreichungen machen konnte. So durfte ich einmal mit ihnen auf das Dach der Pfarrkirche steigen. Mein Vater hatte bei der Renovation der Bedachung eine grössere Arbeit bekommen und so wollte er mir zeigen was er alles gemacht hatte. Danach stiegen wir hinauf zu den beiden Kuppeln, die von einer anderen Firma im Dorf neu mit Kupfer eingekleidet wurden. Von da hatte man eine wunderbare Aussicht über das ganze Dorf. Diese Arbeit war nicht die Erste an einer katholischen Kirche, denn schon früher durfte er die Türen der Martinskirche in Galgenen mit zwei stehenden Engeln schmücken. Mit viel Hingabe hatte er die Engel mit ihren grossen Flügeln auf Kupferblech-Tafeln ziseliert und welche dann die Eingangs-Türen beschützten. Im Sommer musste er manchmal Flachdächer reparieren oder den Belag ersetzen. Dazu brauchte er flüssigen Teer der in einem alten Waschhafen geschmolzen wurde. Ich war verantwortlich, dass immer genug flüssiger Teer zur Verfügung stand und dass das Feuer nicht ausging. Die Arbeit war nicht ungefährlich, denn man konnte sich mit dem heissen Teer sehr stark verbrennen.

Eigentlich war Blech kein Werkstoff den ich liebte, das Material war mir zu kalt, eigenwillig und gefährlich. Man konnte sich beim Hantieren mit Blechtafeln ganz schön verletzen. Stattdessen kam ich oft in die Werkstatt um etwas aus Holz zu basteln. Einmal hatte ich beim Einkauf von Käse bei Deubers gesehen, dass sie einen ganz neuen und modernen Ladenkorpus hatten. Vorne hatte der Ladentisch in kurzen Abständen vertikale, abgerundete Leisten. Das sah für mein damaliges ästhetisches Empfinden ausserordentlich modern und elegant aus. Sofort entschied ich mich meiner Schwester einen solchen Ladentisch zu bauen. Ich ging zur Parkettfabrik und Holz-Baufirma Benedikt Kälin oder „Käli Bäni“ an der Rosengartenstrasse und suchte mir im Holzlager das nötige Material. In kurzer Zeit hatte ich den Verkaufstisch angefertigt und in der Stube platziert. Natürlich passte er nicht zu den Möbeln in die kleine Stube. Zudem war er viel zu gross, aber ich fand ihn trotzdem schön und eine Bereicherung. Meine Eltern hatten leider weniger Freude daran und meine Schwester konnte überhaupt nichts damit anfangen. Sie wollte nicht „Verkäuferlis“ spielen. Der Tisch blieb darum manches Jahr unbenützt in seiner Ecke stehen bis ihn mein Vater eines Tages verschwinden liess. Ich habe keine Ahnung was er damit angefangen hat.

Neben all ihrer Arbeit im Geschäft und im Haushalt nahm sich meine Mutter immer noch Zeit um einen grossen Teil unserer Kleider selbst zu schneidern oder zu stricken. Für meine Schwester machte meine Mutter einmal sogar einen Jupe, den sie mit einer Endlos-Nadel gestrickt hatte. Ich fand diese „Lismätä“ etwas ganz besonders und durfte manchmal selbst eine kleinen „Blätz“ stricken. Dieses Stück wurde dann mit anderen, aus Restwolle gestrickten Stücken, zusammengenäht. Die ca. 15 x 15 Zentimeter grossen „Blätze“ ergaben so eine grosse Blätz-Decke die im Winter sehr geschätzt war. Meine Mutter hatte eine Riesenzahl von Strickmustern und Zuschneid-Vorlagen. Die Wolle und Stoffe kaufte sie jeweils bei Frau Flepp in der Herrengasse. Manchmal durfte ich sie begleiten und meine Meinung über Farbe, Strickvorlage, etc. abgeben, was aber nicht bedeutete, dass sie meinen Ratschlägen folgte. Sie strikte für mich Pullover die man sehr leicht jedes Jahr meinem Wachstum anpassen konnte. Das hiess natürlich, dass ich dem Pullover sehr grosse Sorge tragen musste, denn er wurde ja nicht nur für einen Winter gestrickt. So ging ich jahrelang mit dem gleichen Pullover zur Schule, einem Pullover bei dem man nur die Farb-Nuancen der Verlängerungen an den Ärmeln und am unteren Ende zu zählen brauchte um zu wissen wie alt er war. Die Schuhe kaufte mir meine Mutter immer beim Dosenbach, ein Geschäft das sich zwischen dem „Sport-Marty“ und dem „Coiffeur Pfister“ an der Zürcherstrasse befand. Einkaufen war für mich immer langweilig, aber in dieses Schuhgeschäft ging ich immer gerne. Es hatte dort ein Kinder-Karussell, das man mit einer runden Platte in der Mitte drehen konnte. Meistens beschleunigte ich es so stark, dass es mir schon bald übel wurde. Während ich mit dem Karussell beschäftigt war, konnte sich meine Mutter in aller Ruhe eine Auswahl Schuhe zeigen lassen. War die Entscheidung oder eine entsprechende Auswahl getroffen, musste ich die Schuhe anziehen und ein paar Schritte in Laden herumgehen. Um ganz sicher zu sein, dass die Schuhe auch wirklich passten, wurden sie dann samt meinen Füssen in einen Apparat, ein Pedoskop, „durchleuchtet“. Oben am Apparat hatte es drei Sichtfenster die es mir, meiner Mutter und der Verkäuferin gleichzeitig erlaubten einen Blick in den quadratförmigen Holzkasten zu werfen. Da konnte man in einem grünlich schimmernden Licht das Schuhwerk mit seinen Nägelen und meine Fussknochen sehen. Neben dem Karussell war dieser Apparat immer das Interessanteste für mich. Er war so faszinierend, dass es mir egal war, wenn ich mehrere Male Schuhe „probieren“ musste. Immer wieder wollte ich die vielen Knochen meiner Füsse sehen. Die damals kaum fragwürdige Prüfmethode mit einem Röntgengerät ist heute verschwunden.



(14) Das Pedoskop, mit dem ich die vielen Knochen meiner Füsse sehen konnte.

Das Pedoskop, mit dem ich die vielen Knochen meiner Füsse sehen konnte.


Während der Schulzeit trugen die Buben auch im kalten Winter nur kurze Hosen. Um keine kalten Beine zu haben, strickten die Mütter lange Wollstrümpfe die bis zum Oberschenkel reichten. Diese Strümpfe wurden mittels eines elastischen Bands mit dem „Gschtältli“ verbunden und jeweils an Knöpfen festgemacht. Das „Gschtältli“ wurde auf Brusthöhe unter dem Hemd getragen und hatte die Form eines heute bei Mädchen modischen „Top“ mit Strips. Also waren wir eigentlich schon damals punkto Mode super modern. Aber für die Burschen war so eine weibische Montur damals absolut asexuell und konnte, im Gegenteil, furchtbar beschämend sein. Je nach Art und Qualität der Wolle, bissen zudem die Strümpfe den ganzen Tag und man war abends froh sie los zu werden. Anstatt dieser „Gschtältli“-Montur konnte man sich im Winter auch für ein „Combinaison“ entscheiden. Es war am Morgen viel schneller und einfacher angezogen, denn die langen Unterhosen und das Unterhemd waren als ein einziges Kleidungsstück angefertigt. Es wurde vorne mit Knöpfen vom Hals bis ganz unten zugemacht. Die vielen Knöpfe waren schon etwas mühsam und das „Combinaison“ für einen allfälligen Toilettenbesuch ziemlich ungeeignet. Natürlich hatte der „Designer“ die nötige Vorkehrung getroffen und das „Combinaison“ hinten mit einem Schlitz ausgestattet. Den Schlitz konnte man mit einem Knopf schliessen, aber Durchzug gab es trotzdem. Man musste fest annehmen, dass der Schöpfer dieses Kleidungsstückes es nie selbst getragen hatte und deshalb die Panik bei einem „Notfall“ nie selbst erleben durfte. Wenn es im Winter einmal sehr kalt wurde konnte man die kratzigen Wollstrümpfe auch über die Beine des „Combinaison“ und das „Gschtältli“ über das Unterhemd anziehen. Allerdings wurde es dann in einer „Bedürfnisanstalt “ noch viel komplizierter. Wenn es regnete oder schneite trugen alle Buben eine schwarze Wollstoff-Pelerine die weder warm gab noch wasserdicht war. Wir sahen alle wie „Samichläuse“ aus. Schirme waren dazumal unter uns Buben verpönt; man hatte ja an der Pelerine eine Kapuze und das sollte genügen. Da hatten es die Mädchen besser, die hatten zwei Möglichkeiten sich gegen den Regen zu schützen: den Schirm und farbige Pelerinen. Nach intensivem Drängen kaufte mir meine Mutter viel später einen jagdgrünen „Chlüperlisack“. Endlich etwas nicht selbst Genähtes und damals erst noch Top modern! Ich war stolz auf diesen Mantel und trug ihn freiwillig viele Jahre bis auch er aus der Mode geriet.

Jahrelang trug ich im Winter den gleichen von meiner Mutter gestrickten Pullover, dem ich natürlich immer äusserste Sorge tragen musste. Die nachträglich angestrickten Zentimeter hatten natürlich nicht mehr die Originalfarbe und so war die Sparsamkeit meiner Mutter für alle sichtbar. Aus diesem Grund war ich immer eifersüchtig, wenn ich sah wie Schulkameraden aus ärmlichen Verhältnissen an jeder Weihnacht vom Frauenverein ein nagelneuer, wunderbarer Pullover sowie andere Kleider erhielten. Noch viel frustrierender wurde es aber für mich nach dem Neujahr, wenn jene beschenkten Buben mit total verschmutzen und teilweise schon verlöcherten „neuen“ Pullover zu Schule kamen. Erst als ich viel älter wurde verstand ich die Tatsache, dass etwas das nichts kostet auch keinen Wert haben kann und somit nicht geschätzt wird!

Eine ähnliche Ungerechtigkeit verdross mich später während den zwei Jahren in der Sekundarschule. Immer wieder musste ich zusehen wie Buben die von den Eltern Sackgeld erhielten sich in der Pause ein „Pürli und ein Brügeli“ beim Beck Bähler holen konnten. Ich aber hatte kein Geld und bekam für Schleckereien auch keines. Und wenn ich zu Hause jammerte, sagte meine Mutter ich könne ja einen Apfel mitnehmen, wenn ich in der Pause Hunger hätte, was übrigens viel gesünder sei als Schokolade! Aber für mich war das keine Alternative, ich wollte so wie die Anderen sein. Wieso konnten sich all die Kinder von Fabrikarbeitern ein „Znüni“ leisten und meine Eltern, Inhaber eines Geschäftes, gönnten mir nur einen Apfel? Oft schämte ich mich und hielt mich im Hintergrund. Später aber musste ich einsehen, dass meine Eltern mir Selbstzügelung und Genügsamkeit beigebracht hatten und zudem meine Zähne vor Zahnfäule geschützt hatten. Sie waren überzeugt, dass ich alles Nötige zu Hause bekomme und somit kein Sackgeld brauche. Natürlich hatten sie recht, aber manchmal wäre ich gerne ein bisschen selbständiger gewesen und nicht immer vom Betteln bei den Eltern abhängig. So suchte ich nach einer alternativen Einkommensquelle.



(15) Ein Apfel und ein Stück Brot zum Z’üni anstatt Süssigkeiten, war das Prinzip meiner Mutter.

Ein Apfel und ein Stück Brot zum Z’üni anstatt Süssigkeiten, war das Prinzip meiner Mutter.


Links von unserem Haus wohnte ein junges, sehr modernes und kinderloses Ehepaar das Zibung hiess. Sie wollten nicht einfach mit Lebensmitteln handeln so wie alle anderen im Dorf, sondern nach dem Kriegsende sofort eine Marktlücke schliessen. Aus diesem Grund hiess ihr Geschäft ganz elegant „Comestibles“. Und tatsächlich konnte man bei ihnen Sachen kaufen die man früher noch gar nie im Dorf gesehen hatte. Im Schaufenster konnte man Hummer, getrocknete Aale und andere Fische bewundern. Dann gab es neben Ananas und Bananen viele andere bis anhin unbekannte Früchte aus tropischen Ländern. Was anfänglich im Dorf Kopfschütteln auslöste, wurde schliesslich ein Renner und der Laden war trotz stolzen Preisen immer voll. Nicht nur wohlhabende Leute kauften dort ein, sondern auch Leute die einfach aus Neugier einmal etwas anderes kaufen und essen wollten. Natürlich faszinierten auch mich all die interessanten Produkte und so fragte ich eines Tages Herrn Zibung ob er gelegentlich eine Hilfe brauchen könnte. Da ich kein Sackgeld von meinem Vater erhielt, sah ich eine Möglichkeit einige Rappen zu verdienen. Er war ein sehr schlauer Mann und er witterte sofort einen neuen Kundenservice (Hauslieferdienst). Und so wurde ich zum Laufbuben und musste die Einkäufe der betuchten Kunden nach Hause bringen. Ich hoffte natürlich auch, dass mir dieser Dienst neben einem kleinen Entgelt auch noch etwas Trinkgeld einbringen würde, aber dem war nicht so. Mit den hohen Preisen bei Zibung nahmen die Leute an, dass dieser Service bereits inbegriffen sei. Einmal musste ich am heiligen Abend zu einer wohlhabenden Familie im Rotbach. Es war aussergewöhnlich viel Ware und so nahm ich meinen Schlitten um die Ware nicht tragen zu müssen. Aber es hatte so viel Schnee, dass der Weg auch auf diese Weise äussert mühsam war. Als ich schliesslich dort ankam wurde mir die Ware kaltschnäuzig von der Hausherrin an der Haustüre abgenommen. Dann schloss sich die Türe wieder und zwar ohne Weihnachtsgruss oder einem „Christchindli-Batzen“. Aber auch bei Zibung’s ging es nicht grosszügiger zu und her. Einen Lohn oder ein Entgelt bekam ich nie und ich konnte froh sein, wenn ich ausnahmsweise einmal einen Apfel oder eine überreife Frucht erhielt. Das war meine erste, echte Enttäuschung in meinem Leben. Aber diese Erfahrung war mir trotzdem viel wert, denn ich hatte gemerkt, dass man sich von schlauen Leuten nicht ausbeuten lassen soll. Und so verkündigte ich den „modernen“ Zibung’s bald darauf, dass ich zu viele Schulaufgaben hätte um noch weiter Frondienst leisten zu können. So etwas hatten sie dem braven, gutwilligen Burschen natürlich nicht zugetraut und schauten mich fassungslos an. Ich weiss nicht wer ihnen danach den Laufburschen machte, aber das war mir dann schliesslich egal. Meine Eltern waren über meine Entscheidung sehr froh, denn sie hatten mich schon lange vor Zibung’s Gebaren gewarnt und fanden ich sollte mich erst einmal auf die Schulaufgaben konzentrieren.

Trotz dieser schlechten Erfahrung war mein Drang nach „finanzieller Unabhängigkeit“ noch nicht verschwunden. Immer wieder suchte ich neue Möglichkeiten um etwas zu verdienen. Durch Zufall ergab sich, dass jemand das Austragen der Zeitschrift „Leben & Glauben“ aufgeben musste und ich davon erfuhr. Sofort bewarb ich mich und verteilte dann das religiöse Blatt pflichtbewusst jede Woche bei Wind, Regen und Schnee an die wenigen Protestanten im Dorf. Der Erlös war nicht riesig und entsprach kaum meinem Aufwand. Aber wenigstens hatte ich jeden Monat einige Franken die ich für mich behalten konnte. Natürlich suchte ich nach weiteren Geldquellen. So fand ich zum Beispiel an der Weihnachtsausstellung in der Turnhalle einen Posten als „Lösli-Verkäufer“. Auch dies war nicht sehr einträglich und verlangte lange Stunden Ausdauer im Lärm der Ausstellung bis schliesslich so ein Bund Lösli verkauft war. Zudem gab es noch weitere Verkäufer und so war ich speziell gegenüber den charmanten, aber sehr aggressiven Mädchen im Nachteil. An den Weihnachtsausstellungen hatten auch meine Eltern immer einen Stand, anfangs mit Haushaltartikeln und später auch Waschmaschinen, Zentrifugen, etc. Manchmal musste ich an Stelle meiner Mutter den Stand „hüten“, was ich immer todlangweilig fand und dabei erst noch nichts verdiente.



(16) Unser Stand an der Weihnachts-Ausstellung

Unser Stand an der Weihnachts-Ausstellung


Eine weitere Art um an Geld zu kommen war für uns Buben im Frühling das Sammeln von Maikäfern. Sehr früh morgens, bevor die Sonne aufging, gingen wir auf die Suche nach Bäumen die von Maikäfern als Nachtquartier benutzt wurde. Schnell legten wir die mitgebrachten Tücher auf den Boden und begannen die Äste zu schütteln. Die schlaftrunkenen Käfer fielen wie tot auf die Tücher von wo wir sie dann in die mitgebrachten Kübel schütteten. Oft war die „Ernte“ gering, aber wir brachten die Käfer trotzdem zur Sammelstelle, wo wir den verdienten Erlös erhielten. Paradoxerweise gönnte ich mir nach all der Mühe einige Rappen zu verdienen meistens nichts und warf die wenigen „Batzen“ in mein knallrotes Holz-Kässeli, das mir meine Eltern geschenkt hatten. Nachdem es sich etwas gefüllt hatte, brachte ich das Geld immer auf die Linth Bank, wo meine Eltern ein Sparheft für mich eröffnet hatten.

Als Sohn eines Handwerkers wurde ich von einigen Buben im Dorf beneidet. Da wir ein Auto hatten glaubten sie wir seien reich und ich hätte mehr Spielsachen als sie. Dabei brauchte ja mein Vater das Auto für die Arbeit und es wurde selten zum Ausfahren am Sonntag gebraucht. Leider wussten sie nicht, dass bei uns immer gespart werden musste und sich meine Eltern immer drei Mal überlegten ob eine nötige Ausgabe überhaupt gemacht werden konnte. Sie hatten auch nicht gemerkt, dass ich nie Sackgeld hatte und deshalb nach Möglichkeiten suchte etwas zu verdienen. Sie hatten auch nie meinen Vater gehört der mir immer sagte: „Wenn Du etwas kaufen willst, dann verdiene zuerst das Geld dafür! Natürlich war dies für mich oft nicht einfach zu verstehen, aber mit der Mühe etwas selbst zu verdienen lernte ich das Geld zu schätzen und dies hat mich schliesslich für das ganze Leben geprägt. Es hat mich aber nicht traumatisiert, sondern überlebensfähig gemacht. Eine solche Erfahrung konnten nachfolgende Generationen meistens nicht mehr machen, denn die Eltern wollten den Kindern unbedingt ein viel besseres Leben bieten und erfüllten ihnen sämtliche Wünsche kompromisslos. Dabei merkten sie selten, dass sie den Kindern damit keinen Dienst erwiesen und sogar verhinderten, dass sie unabhängig und selbständig wurden. Zudem wurden ihre Anstrengungen von den Kindern meistens nicht einmal entsprechend geschätzt.

Etwas was mich allerdings während all der Jahre der Kindheit überschattete, ja vielleicht sogar ein bisschen traumatisiert hatte, war die ständige Spannung in der Familie. Einerseits war dies die schwierige Beziehung zwischen meinem Vater und seiner Mutter, sowie seiner ledigen Schwester. Ich weiss nicht wieso die Drei ein so kompliziertes Verhältnis miteinander hatten. Durch die Heirat mit meinem Vater wurde meine Mutter unweigerlich Teil dieser unerträglichen Situation. Die Grossmutter und die Schwester meines Vaters konnten meine Mutter mit ihren emanzipierten Ansichten nicht ausstehen und so wurde sie von den Beiden nie akzeptiert. Sie kritisierten sie ständig und mischten sich überall in ihre Angelegenheiten ein. Einmal erzählte mir meine Mutter, dass meine Grossmutter an einem Sonntagmorgen, also an einem Tag an dem sie sich ausnahmsweise einmal etwas Ruhe gönnten, die Türe des Schlafzimmers meiner Eltern aufriss und schrie: „Raus aus dem Bett ihr faulen Schweine!“ Solche Szenen haben meine Mutter natürlich ausserordentlich schockiert und traumatisiert. Ein weiteres Mal sagte sie mir, dass sie ihr zweites Kind wahrscheinlich wegen des unaufhörlichen Psycho-Terrors und Ärger verloren hatte. Durch all diese Erlebnisse wurde meine Mutter extrem verbittert und verbot uns Kindern schliesslich mit den Beiden im unteren Stock in Kontakt zu sein. Dies wiederum verletzte meinen Vater und belastete schliesslich ihre Ehe. Dabei blieb verschwiegen, dass mein Vater einen Beruf ausübte der ihm nicht entsprach und ein Geschäft führen musste das er gar nie wollte. Diese Situation schien mir manchmal auch der Grund für seine verzweifelten Wutanfälle zu sein. Einmal hörte ich ihn so ausserordentlich erzürnt, dass er die beiden „Tabourets“ (Hocker) auf dem Küchenboden zerschmetterte. Da nun die zwei Sitzgelegenheiten in der Küche fehlten und man sich keine neuen „Tabourets“ leisten konnte, sah ich meinen Vater nachher mit den verschieden Holzteilen hinunter in die Werkstatt verschwinden. Die Reparatur war sehr eindrücklich denn er verstärkte die Sitze mit Rundeisen die diagonal unter der Sitzfläche mit Schrauben verbunden waren. Ich fragte mich ob nun die „Tabourets“ resistent genug für den nächsten Wutanfall waren und war gleichzeitig amüsiert? Da zertrümmert mein Vater die Hocker und muss sie wie zur Strafe dann selbst wieder zusammenflicken. Irgendwie tat mir mein Vater aber leid denn ich fühlte, dass er im Geheimen an irgendetwas litt. Vielleicht fehlte ihm eine ehrliche Anerkennung für seine Arbeit oder dann sogar Zuneigung? Ich sah nämlich meine Eltern nie in zärtlicher Zweisamkeit oder dass sie sich spontan einen Kuss gegeben hätten. Aber damals war es halt einfach so, man zeigte seine Gefühle nicht. Alle mussten eine gewisse Härte vorspielen, sogar wir Buben. Man prägte uns zum Beispiel ein, dass ein Bursche nie weinen darf und wenn er es tut dann ist er ein „Weichling“ und wird ausgelacht. Natürlich färbten sich diese Gegebenheiten auf meine Kindheit und später meine Jugend ab. Manchmal hatte ich grosse Lust wegzulaufen und in Gedanken fragte ich mich vor dem Einschlafen mit welcher Familie an der Markstrasse ich wohl am liebsten tauschen würde. Ich ergründete jede Familie an der Marktstrasse vom Rathaus bis zum Brunnen auf dem Joachim-Raff-Platz; fand aber keine bessere Alternative. Überall wurde gestritten und so musste ich traurig feststellen, dass zu dieser Zeit meine Eltern mit ihren unlösbaren Problemen keine Ausnahme waren. Aber meine Sehnsucht nach glücklichen Eltern und Harmonie in der Familie erlöschte nie. Entgegen dem Verbot besuchte ich deshalb trotzdem heimlich meine Grossmutter und meine Tante Klara, denn sie hatten mir ja persönlich nichts zu Leide getan. Aber auch da fand ich keine echte Harmonie oder Frieden, etwas das in unserer Familie nicht einmal nach dem Tod meiner Grossmutter im Juni 1957 und meiner Tante einkehrte. Dabei waren alle meine 3 Tanten sehr religiös, aber jede war in einer anderen Sekte! So blieb mir nichts anderes übrig als zu hoffen, dass es mir im Erwachsenenalter gelingen wird dieser Konstellationen zu entrinnen und wenigstens für mich selbst ein harmonisches Umfeld zu schaffen.

Für den Begriff „Kindheit“ wird vom Bundesamt für Gesundheit BAG der Zeitraum von der Geburt bis zur Pubertät oder bis zum Jugendalter eines Menschen definiert. Wann ich ins Jugendalter übertrat war mir nicht bewusst. Aber es war offensichtlich, dass während meiner „Kindheit“, sowie im Jugendalter, wir alle ein einfaches, aber naturgemässes Leben führten. Wir hatten keine andere Wahl als „Saison-Gemüse“ zu essen! Wir wussten, dass wir in der Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern Europas keinen Grund hatten uns zu beklagen. Zudem verloren wir Kinder damals keine Zeit mit Fernsehen und wurden nicht von sozialen Medien beeinflusst, sondern spielten meistens miteinander im Freien. Für meine Eltern war es gewiss nicht immer einfach gewesen. Aber trotz all dem Erlebten war mir und allen Kindern schliesslich eine unbeschwerte und gute Kindheit vergönnt.

Ein weiser Gärtner weiss, dass ein junger Baum einen Pfosten braucht, damit er sicher stehen und gut gedeihen kann. Diese Sicherung am Pfosten hilft dem Baum gleichzeitig seine Wurzeln gut im Boden zu verankern, sodass er bei starkem Sturm nicht umkippt. Genauso versuchen Eltern und andere Erzieher junge Menschen zu führen und das nötige Wissen zu vermitteln um sie später im Leben stark und ehrenhaft zu wissen. Dieses Bestreben wurde von vielen Jungen oft lästig empfunden und sie erkannten dessen Sinn erst viel später, was natürlich auch bei mir der Fall gewesen war. Mit der aufkommenden anti-autoritären Erziehung wurde dann diese sichernde Stütze leider oft bewusst verkannt und die Jungen begannen sich nach ihrem eigenen Gutdünken zu entwickeln. Dies führte unweigerlich zu weniger Respekt gegenüber den Eltern, den Lehrern, der Obrigkeit und der Gesellschaft im Allgemeinen, eine traurige Wende die niemand zu hinterfragen scheint.


(17) Aus dem Zeichnungsheft der 2. Klasse

Aus dem Zeichnungsheft der 2. Klasse

 

 

Unser Haus
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3.  Unser Haus



(1) Der "Eckstein" unser Haus an der Marktstrasse

Der "Eckstein" unser Haus an der Marktstrasse


Unser Haus war viereckig und hatte ein ähnliches Aussehen wie die eines Würfels; die vier Seiten und die Höhe mit etwa gleichen Massen. Zudem hatte es eine Art Flachdach, war grün gestrichen und hatte Fenster mit knallroten Fensterläden. Ein grünes Wohnhaus war zur damaligen Zeit aussergewöhnlich und deshalb an der Ecke der Marktstrasse zum Gangynerweg kaum übersehbar. Vielleicht war dies der Grund wieso man das Haus und die „Beiz“ im Parterre „Eckstein“ nannte. Der Eingang zum Haus war an der Marktstrasse und über eine Doppeltreppe erreichbar. Nach dem Öffnen der schweren Haustüre aus Holz sah man einem langen Gang der durch das ganze Haus bis hinten zum Treppenhaus führte. An zwei Stellen war er mit Glastüren unterteilt, die aber immer offenblieben, sodass jedermann Zugang zum ganzen Haus hatte. Gleich rechts nach dem Haupteingang befand sich die Türe zur Gaststube. Offiziell wurde sie von Herrn und Frau Michel geführt wurde, doch eigentlich machte Frau Michel die ganze Arbeit alleine. Schon früh am Morgen war sie auf den Beinen und wischte die Doppeltreppe vor dem Hauseingang und dann meistens auch noch das ganze Trottoir vor dem Haus an der Marktstrasse. Dann wässerte sie die drei viereckigen Töpfe vor dem Haus in denen sie zwei rote Oleander- und einen Lorbeerstock gepflanzt hatte. Im Herbst wurden die Pflanzen im Keller überwintert. Der Wirt war kahlköpfig, kleinwüchsig und meist etwas angesäuselt. Man sah ihn sehr selten ausserhalb des Hauses und bei irgendeiner Tätigkeit schon gar nicht. Oft blieb er den ganzen Tag im Bett und erweckte so den Eindruck schwer krank zu sein. Allerdings glaubten wir seinem Gejammer schon lange nicht mehr, denn man hörte ihn zu oft nach seiner Frau schreien. Meistens musste sie ihm dann sofort frische Kalbsleber und ein Glas Wein ans Bett zaubern, etwas das meine Mutter immer sehr aufbrachte. Sie hatte Bedauern mit Frau Michel, konnte aber gleichzeitig nicht verstehen warum sie sich wie eine Sklavin behandeln liess. Wenn Herr Michel mich irgendwo traf, versuchte er mir meistens Angst zu machen indem er auf ein rundes Loch ganz oben am Dach zeigte. Immer wieder wollte er mich überzeugen, dass da oben ein „Böhlima“ wohne, einer der mich auffrisst sobald ich in den Estrich steigen würde. Interessanterweise machte mir seine Angstmacherei nie Eindruck.

Die Gaststube, oder eher ein „Schpuntä“, war nicht sehr gross, hatte aber zwei Eingänge. Man konnte sie durch den Hauseingang oder direkt von aussen über eine Treppe vom Gangynerweg her erreichen. Rechts und links von dieser Treppe wuchsen zwei riesige Lebensbäume oder Thujen. Die zwei immergrünen Bäume waren schlank und reichten fast bis zum Dach unseres Hauses. Mein Vater sagte, dass die Spezies ausgesprochen langsam wachsen und das Holz deshalb sehr hart sei. Dann fügte er hinzu, dass das Holz eigentlich ideal für die Herstellung von Holzhämmern wäre. Da die Holzhämmer in unserer Werkstatt nicht nur alt, sondern ziemlich „überarbeitet“ aussahen hoffte ich immer, dass er deswegen die Bäume nicht eines Tages fällen würde. Neben dieser Treppe und den Bäumen war ein kleiner Eckgarten den meine Tante pflegte. Es wuchsen dort ausschliesslich rosa Hortensien die nachts von den heimkehrenden Gästen von den zwei Eckseiten her gerne grosszügig begossen wurden. Ich fragte mich deshalb wieso die Blumen nicht gelb waren. Vielleicht war dies einer der Gründe warum meine Mutter diese Blumen hasste. In der Hausmauer über diesem kleinen Garten war ein riesiger Ventilator der den Rauch aus der Gaststube ins Freie blies. Dieses Loch in der Mauer bot sich im Winter als beliebte Zielscheibe der „Nachtbuben“ für Schneebälle. Traf einer der Buben genau in den Ventilator dann schneite es in der Gaststube! Während Frau Michel schreiend ins Freie kam, lachten sich die Jünglinge auf der Strasse halb tot. Um die Gäste in Zukunft vor solchen Streichen zu schützen, montierte mein Vater an der Aussenwand eine flexible Klappe vor den Ventilator. Für meine Schwester und mich war die Gaststube irgendwie tabu und so getrauten wir uns selten hinein. Es war halt ein Ort wo Männer sich betranken, beim Kartenspiel viel rauchten, schrien und fluchten, etwas das meine Eltern nie taten. Für sie war es schlicht ein Ort wo Kinder nicht hin gehörten. Wenn ich Frau Michel unbedingt etwas mitteilen musste, dann klopfte ich immer zuerst an der Küchentüre. Ich wollte sie nicht bei der Arbeit stören. Erst wenn sich da niemand meldete, machte ich mir Mut und klopfte an die Türe der Gaststube.

Im Hausgang links nach dem Eingang, genau gegenüber der Gaststube, befand sich die Türe des Ladens meiner Mutter. Sie verkaufte allerlei Haushaltartikel die man damals brauchte und so war der Raum immer übervoll mit Stahl- Aluminium- und Kupferpfannen für Feuer-, Gas-, und Elektroherde, Kaffeekannen, Buttermaschinen, Brotkästen, Essträger, emailliertem Essgeschirr, Besteck aus Aluminium, Thermosflaschen, Dochten für Petrollampen, Waschbretter, Waschgelten, Waschstöpsel, Spritzkannen, Kupfer Cachepots, etc. Ganz links beim Eingang stand ein grosses Metallgestell das die Form eines Christbaumes hatte. An den vielen Haken wurden die Deckel für die verschiedenen Pfannen aufgehängt und so zur Schau gestellt. Ganz oben auf dem konischen Gestell stand ein aus Zinkblech gestanzter Hahn den ich immer bewunderte. Da meine Mutter nicht immer im Laden sein konnte, bat man die Kunden bei geschlossener Türe auf einen Knopf am Türrahmen zu drücken. Manchmal gab es Leute die äusserst ungeduldig waren und versuchten mit andauerndem läuteten meine Mutter anzuspornen noch schneller die Treppe hinunter zu rennen, was meine Mutter auch meistens mit unterdrücktem Unmut tat. Aber schliesslich war damals der Kunde „König“ und so wollte man doch niemandem wegen langem Warten verlieren…! Hinter dem Laden war ein „Säli“ das zur Wirtschaft gehörte, das aber meistens unbenützt blieb. Auf der anderen Seite des Ganges war die Küche der Gaststube. Sie war nur mit einem Holzherd und einem „Schüttstein“ ausgestattet. Um frische Lebensmittel vor Fliegen und Ungeziefer zu schützen, wurden diese in einem Gitterschrank aufbewahrt. Ich fragte mich oft wie Frau Michel mit dieser primitiven Einrichtung eine Mahlzeit zubereiten konnte.

Ein halbes Stockwerk tiefer befand sich die Toilette der „Beiz“ mit WC und Pissoir, die aber auch für von den Arbeitern des Spenglerbetriebes genutzt wurde. Es war das geruchvollste und unappetitlichste „stille Örtchen“ im Haus. Da mein Vater sanitäre Installationen machte, konnte ich nie verstehen, dass so ein Schandfleck in unserm Haus überhaupt existieren konnte. Neben dem „stillen Örtchen“, das bei erhöhtem Alkoholkonsum der Gäste nicht immer so „still“ war, ging es dann auf einer wackligen Holztreppe noch ein halbes Stockwerk tiefer in den Keller und in die Waschküche, welche gleichzeitig auch als Badezimmer diente. So hatte es in diesem Raum nicht nur einen Doppel-Spültrog, einen mit Feuer beheizten Waschherd und eine mit Wasser angetriebene Zentrifuge, sondern auch eine freistehende Badewanne, die alle Bewohner im Hause nach Absprache benützen konnten.

An das Haus angebaut, auf der gleichen Höhe wie das „Gäste-WC“, war die Werkstatt meines Vaters. In der Mitte des Raumes stand ein Holzofen der im Winter die ganze Werkstatt heizen musste. Da man damals noch keine Fenster mit Doppelverglasung hatte, war der arme Ofen oft überfordert um immer eine angenehme Temperatur im Raum zu garantieren. Links vom Ofen war die Schlagschere und rechts davon die grosse, horizontale Biegemaschine. An der Decke neben der Schlagschere hatte mein Vater eine Schaukel „Seiliritti“ montiert, doch die Benützung kam nur mit der Bewilligung meines Vaters in Frage und wenn es die Arbeiten in der Werkstatt nicht störte. Die Werkstatt wurde früher einmal mit einem Lagerraum und einem Schaufenster gegen den Gangynerweg erweitert.


(2) Das Schaufenster am Gangynerweg

Das Schaufenster am Gangynerweg


Über diesem Raum war das Fitting-Lager, das man aber nur über eine schwere, „klobige“ Leiter erklimmen konnte. Einmal oben angekommen brauchte es athletische Fähigkeiten um weiterzukommen. Zudem war es da oben so niedrig, dass man sich nur kriechend bewegen konnte. Im Freien, zwischen dem Nachbarhaus „SIMON“ und unserem Haus, wurden die Leitern gelagert. Auf der anderen Seite der Werkstatt, also auch im Freien, wurde allerlei Material wie Wasserleitungsröhren, Profileisen, etc. aufbewahrt. Unter einem kleinen Vordach befanden sich die Esse, der Amboss und der Ofen mit dem man Asphalt flüssigmachte. Hier befanden sich auch die Ställe der Kaninchen meines Vaters. Wir hatten eine wunderschöne braune Kaninchen-Rasse die „Havanna“ hiess. Ich war für das Füttern verantwortlich, das heisst ich musste jeden Tag nach der Schule ausserhalb des Dorfes „grasen“, also Gras an den Wegrändern abreissen. Wenn es vorkam, dass ich das Füttern oder auch das Auffüllen von Wasser vergessen hatte, bekam ich von meinem Vater eine harte Schelte. Natürlich verstand ich seinen Unmut und hatte ja später auch Bedauern mit den hungernden Kaninchen. Mit einem „Rüebli“ oder sonst einem frischen Gemüse versuchte ich dann bei den Kaninchen meine Nachlässigkeit wiedergutzumachen.

Im 1. Stock des Hauses gab es vier Zimmer und eine Küche. Zwei Zimmer waren dem Wirte-Ehepaar zugeteilt und ein Drittes der Serviertochter. Das vierte Zimmer war die Stube und gleichzeitig das Kürschner-Atelier meiner Grossmutter. Die Kücheneinrichtung bestand aus einem Holzherd, einem „Schüttstein“ und einem Küchenbüffet. Diese Küche gehörte meiner Grossmutter und meiner Tante. War die Küchentüre einmal ein Spalt offen, dann entwich immer ein undefinierbarer, übler Geruch in das Treppenhaus. Ein Bad gab es nicht und so machte man die tägliche „Katzenwäsche“ in der Küche. Die Serviertöchter mussten sich allerdings für ihre persönliche Hygiene mit einem Waschbecken und einem Wasserkrug auf ihrer Kommode zufriedengeben. Sie beklagten sich nie, denn damals wurde dies schon fast als Hotelkomfort angesehen. Natürlich gab es für alle die Möglichkeit in der Waschküche ein Bad zu nehmen. Um mit warmem Wasser baden zu können, musste man aber immer erst den Waschherd aufheizen. Für ein tägliches Bad war ein solcher Aufwand natürlich zu gross. Für die Bewohner des ersten Stockes gab es nur ein einziges, gemeinsames WC, das sich ein halbes Stockwerk tiefer im Treppenhaus befand.


(3) Der alte "Eckstein" vor der Aufstockung

Der alte "Eckstein" vor der Aufstockung


Um mehr Raum zu erhalten, entschied mein Grossvater kurz nach dem Erwerb des Grundstückes das Haus mit einem 2. Stockwerk zu vergrössern. Meine Eltern erhielten auf diesem Stock eine Stube, ein Schlafzimmer, ein kleines Büro und die Küche. Die anderen drei Zimmer wurden von meiner Tante und meiner Grossmutter benutzt. Leider wurden die Räume äussert schlecht unter den Bewohnern aufgeteilt. So musste meine Tante immer durch unsere Wohnung und das Büro meines Vaters gehen um in ihr Zimmer zu gelangen. Man grüsste sich nie und wich sich, wenn möglich immer aus. Ein harmonisches Zusammenleben zwischen meinen Eltern, meiner Tante und meiner Grossmutter habe ich deshalb nie erlebt. Unsere Küche war etwas besser eingerichtet. Es gab einen „Schüttstein“, einen Holzherd sowie einen elektrischen Kochherd, eine Eckbank und sogar einen Kühlschrank (oder Frigidaire wie man ihn damals nannte). Die Aussenwände der Küche waren nicht isoliert und so kam es, dass im Winter Kondenswasser an den Wänden runter lief. Dieses verursachte schliesslich Schimmel fast auf der ganzen Wand. Ich durfte mich mit dem Rücken nie an die Wand lehnen, sonst wurden meine Kleider nass. Ausser meiner Mutter schien sich niemand daran zu stören. Es war halt einfach so und da konnte man nichts ändern! Vielleicht verursachte damals diese feuchte Wand meine Brustfellentzündung. Der einzige Luxus den wir damals in unserer Wohnung hatten war das eigene Badezimmer. Man konnte es nur durch die Küche erreichen und bestand einzig aus einem grünen Lavabo und einer blauen Badewanne! Ein Drittel der Badewanne war mit einem Holzbrett überdeckt auf dem Eimer, Nachtöpfe, ein Elektro-Strahler und allerhand Gerümpel gelagert wurde. Da das Entfernen dieses Brettes mühsam war oder die Eltern dazu keine Zeit hatten, genossen wir Kinder meistens nur 2/3 der Badewanne. Natürlich versuchte ich das Wasser auch unter dem Brett zu geniessen, aber ich hielt es darunter meistens nicht lange aus. Damals wurde nur einmal in der Woche gebadet und der „Boiler“ nur am Samstag eingeschaltet. Schliesslich musste man sparen und warmes Wasser war Luxus. Am Samstagnachmittag badete zuerst meine Schwester, dann ich und später am Abend noch meine Muter, oft im gleichen Wasser. Nachher hatte es im Boiler kein warmes Wasser mehr. So badete mein Vater am Sonntagmorgen und nachher wurde der Boiler wieder abgestellt. Das Badewasser wurde manchmal anschliessend auch noch zum Einweichen von schmutziger Wäsche genutzt. Neben dem Bad befanden sich ein eingebauter Besenschrank und darunter eine Schublade wo das Schuhputz-Zeug aufbewahrt wurde. Ganz unten im Schrank lag immer ein Stück schwarzer Gartenschlauch mit dem mir mein Vater immer wieder drohte, wenn ich Dummheiten machte. Natürlich bekam ich ihn auch manchmal auf dem Hintern zu spüren. Aber daran hatte früher niemand etwas auszusetzen, denn es gehörte zur Erziehung. An der Innenseite der Türe wurde das Wachstum meiner Schwester und mir regelmässig mit Bleistiftstrichen protokolliert.

Das schönste Zimmer auf diesem Stock war für mich die Stube, denn sie hatte eine wunderbare, weissgestrichene Kassetten-Decke. Für mich war der Raum dadurch nobel und ehrwürdig. Zudem bewunderte ich die Arbeit des Schreiners der die Decke angefertigt hatte. Mir schien als ströme sie Ruhe und Harmonie aus, besonders wenn ich auf dem Sofa lag, mir gleichzeitig südamerikanische Musik anhörte und von der fernen weiten Welt träumte. In einer Ecke der Stube war ein grüner, freistehender Kachelofen, den ich im Winter einheizen musste. Über der Feuerstelle war eine Öffnung in welcher man eine Pfanne oder Teekrug hineinstellen konnte. Manchmal machten wir darin auch „heisse Marroni“. Der Kachelofen hatte eine Sitzbank, die aber meist zu heiss war um lange darauf zu sitzen. Meine Mutter wärmte darauf die selbstgemachten „Chriesischteisäcke “, die dann die kalten Betten wärmten. Gleich neben dem Ofen war ein kleiner, fragiler Tisch auf dem der Radio stand. Der Tisch hatte eine Schublade in der sich Fotos aus der Jugendzeit meines Vaters befanden. Immer wieder wühlte ich darin und fand tatsächlich immer wieder Aufnahmen die ich noch nicht gesehen hatte. In der anderen Ecke stand ein schönes Möbel, in dem eine Nähmaschine versteckt war. Das „versenkbare Modell“ hatte einen Fussantrieb, etwas das mich als Kind besonders interessierte. Ich liebte es die Maschine so richtig in „Schwung“ zu bringen und trat dabei oft zu wild auf das Pedal. Aber das schätzte meine Mutter überhaupt nicht, besonders wenn ich dabei die Nadel gebrochen hatte. Von der Stube hatte man Zugang auf den Balkon, von dem man eine herrliche Aussicht auf die Marktstrasse und die Umgebung hatte. Im Sommer waren am Balkongeländer Blumenkisten angehängt, in denen meine Mutter immer Geranien oder Petunien pflanzte. Für das Giessen der Blumen wurde meistens ich beauftragt. Der Balkon befand sich über dem Trottoir und da ich den Kopf mehr bei den Passanten als beim Giessen hatte, erhielten sie oft eine ungewollte, erfrischende Dusche. Es kam aber auch vor, dass ich bewusst nicht aufpasste…!

Ausserhalb der Wohnung, ein halbes Stockwerk tiefer im Treppenhaus, befand sich unser gemeinsames WC, das wir mit meiner Grossmutter und die Tante Klara teilten. Es hatte keine Beleuchtung, hatte kein Lavabo und war so klein, dass man bei der Benützung die Türe offenlassen musste. Eine Lüftung gab es auch keine. Dafür hatte die Türe eine 20 cm grosse, viereckige Öffnung die man nicht schliessen konnte. Ich hätte eine herzförmige Öffnung vorgezogen; das hätte das „Örtchen“ wenigstens ein bisschen romantischer gemacht. Gegenüber der Toilette wurden sanitäre Apparate wie WC Schüsseln und Lavabos auf einem Zwischenboden über der Treppe gelagert. Für den Zugang brauchte man auch hier akrobatische Fähigkeiten. Zuerst kletterte man eine kleine Eisenleiter hinauf und dann, ohne sich richtig festhalten zu können, stieg man waghalsig mit dem linken Bein hinüber auf die Galerie. Ich war immer wieder erstaunt wie viel diese einfache Holzkonstruktion an Gewicht aushalten konnte und getraute mich jeweils nur zögernd auf diese Holzbühne!

Über dem 2. Stock befand sich der Estrich, den man über eine sehr steile Holztreppe ohne Handlauf erklimmen musste. Dort wurde Wäsche aufgehängt, Holz gelagert und allerlei „Gerümpel“ aufbewahrt. Besonders an regnerischen Tagen, war der Estrich für uns Kinder ein Eldorado. Da gab es in einem Überseekoffer Masken, Kleider, Perücken und andere Utensilien die mein Vater an der Fasnacht oder für Theatervorführungen gebraucht hatte. Oft versuchte ich meine musikalischen Talente auf einer alten Zither, ein Zupfinstrument das meine Vorfahren wahrscheinlich besser als ich beherrscht hatten oder mit einer schwarzen Okarina (auch Gefäss- oder Kugelflöte genannt). Man musste sorgfältig damit umgehen, denn das Blasinstrument war aus gebranntem und glasiertem Ton. Weiter gab es einige „Trümpi“ (oder Maultrommeln) mit denen wir tatsächlich Töne produzierten und einen uralten Plattenspieler auf dem wir Mutters „Schellackplatten“ laufen liessen. Allerdings konnte man mit einer alten Pauke mehr Lärm erzeugen. Ich liebte dieses Instrument und konnte mir deshalb nicht vorstellen, dass ein so grosses Instrument auch sehr feinhäutig sein konnte. Eines Tages schlug ich noch kräftiger als sonst auf die Tierhaut mit dem das Schlaginstrument bespannt war. Ich weiss nicht ob es an meiner jugendlichen Kraft oder am Alter der Pauke lag, jedenfalls klaffte mir plötzlich ein grosser Riss entgegen und sie gab keinen Ton mehr von sich. Sorgfältig versteckte ich die Pauke in der hintersten Ecke des Estrichs. Doch es ging nicht lange bis mein Vater die Übeltat entdeckte und mich entsprechend zurechtwies. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er als Basler-Bürger an meinem Interesse für ein Schlaginstrument heimlich Freude hatte. Jedenfalls besorgte er mir bald darauf eine kleine Blechtrommel und zeigte mir wie man richtig trommelt. Leider war für mich eine Blechtrommel kein Ersatz für eine grosse, echte Pauke und so verflog auch bald die Lust einmal nach Basler-Art trommeln zu können. Neben diesen Musikinstrumenten gab es im Estrich auch ein Luftgewehr mit dem wir farbige Haarbolzen auf eine Bleiplatte schossen. Scheinbar machten sich meine Eltern nie Sorgen wegen der Gefahr dieser Waffe und auch keine Gedanken über das was wir im Estrich sonst noch trieben. Wir hörten dann nur ihr Schimpfen, wenn wir nicht aufgeräumt hatten.

Später erstellte mein Vater in einem Teil des Estrichs ein Zimmer für meine Tante. So musste meine Tante nicht mehr durch unsere Wohnung um in ihr Zimmer zu gelangen. Allerdings lag dieses Zimmer direkt über unserer Stube. Mit der damaligen schlechten Isolation konnte sie deshalb alle unsere Gespräche mithören, was uns aber keine Sorgen machte. Aber vielleicht störten wir Kinder im Gegenteil unsere Tante mit unserem Geplapper…! Zudem hatte sie da oben im Estrich weder Lavabo noch WC. Ohne Heizung hatte sie im Winter sicher sehr kalt und im Sommer mit dem Blechdach über ihrem Kopf bestimmt sehr heisse Nächte. Irgendwie staunte ich über ihr Einverständnis da oben zu wohnen und hatte gleichzeitig Bedauern mit ihr. Da wir nie miteinander sprachen, weiss ich nicht was sie selbst darüber dachte. Das frei gewordene Zimmer der Tante in der Wohnung wurde mir zugeteilt und so konnte ich das hässliche Zimmer endlich verlassen. Nach dem Tod meiner Grossmutter am 24. Juni 1957 durfte ich dann in ihr Zimmer ausserhalb der Wohnung wechseln. Aber zuerst wollte ich diesen Raum renovieren und die elektrischen Leitungen unter Putz verlegen. Dieses Vorhaben gefiel meinem Vater aber gar nicht und so hatten wir deswegen eine böse Auseinandersetzung. Doch bald war wieder Frieden im Haus und ich konnte darauf in ein renoviertes, schönes aber kaltes Zimmer ziehen.

Vom Estrich hatte man Zugang auf die „Zinnen“. Das war das flache, begehbare Dach oder Terrasse über den darunterliegenden Zimmern. Das ganze Dach war total mit galvanisiertem Blech abgedeckt. Das Blechdach war fast unbegehbar heiss im Sommer und bitterkalt kalt im Winter. Von Wärmeisolation sprach damals noch niemand, denn man war schliesslich froh überhaupt ein dichtes Dach über dem Kopf zu haben. Am Dachrand war eine Seilwinde installiert, mit der man schwere Gegenstände hochziehen konnte. So wurden die „Gelten“ mit der nassen Wäsche aus der Waschküche hochgezogen. Die Wäsche wurde dann an den Drähten auf der Zinne aufgehängt und an der Sonne getrocknet. Im Sommer wurden auch die Matratzen, Untermatratzen und sogar die Bettgestelle über die steile Estrich-Treppe hoch geschleppt. Die Matratzen wurden zuerst geklopft (entstaubt) und dann den ganzen Tag „gesonnt“. Am Mittag wurden sie gedreht und so auch auf der anderen Seite von der Sonne „entkeimt“! Ja, nachher hatte man immer das Gefühl auf einer ganz neuen und sauberen Matratze zu schlafen


(4) Von der Zinne aus immer genaue Zeit am Kirchturm.

Von der Zinne aus immer genaue Zeit am Kirchturm.


Auf der Zinne waren auch zwei Blechbehälter in denen meine Mutter Schnittlauch und Kalk-Hauswurz (Sempervivum calcareum) gepflanzt hatte. Ich staunte immer wieder wie aussergewöhnlich resistent der Hauswurz gegen Hitze und Kälte war; aber leider nicht gegen uns Kinder. Wir hatten einen riesigen Spass abgerissene Blätter der Nachbarin, dem Trudi Noser, bei offenen Fenstern entweder in die Küche oder das Schlafzimmer zu werfen. Das Nachbarhaus war ja nur wenige Meter von dem Unsrigen entfernt. Die Trudi schätze die Hauswurz-Blätter allerdings kaum in ihrer Wohnung, aber sie verstand unseren Spass und lachte mit uns. Von dieser Zinne konnte man über eine schräge Eisenleiter und dann über eine vertikale Leiter die höchste Stelle des Hauses erreichen. Die Aussicht da oben war genial, denn man konnte das ganze Dorf und sogar den See sehen. Allerdings hatte es kein Geländer und meine Eltern schätzten meinen Aufenthalt da oben überhaupt nicht. Wenn mich Nachbarn entdeckten riefen sie sofort meine Eltern an und dann bekam ich Schelte. Manchmal konnte ich es aber nicht lassen und montierte ganz zuoberst die Fahnenstange. Dann fixierte ich eine der Fahnen die ich im Estrich gefunden hatte und liess sie flattern, sodass man sie im ganzen Dorf sehen konnte! Auch an den beiden Dachecken zur Marktstrasse hatte es je eine Fahnenstange wo an Festtagen zwei lange Fahnen abgerollt wurden.

Das Haus hatte keine Zentralheizung und so heizte man individuell in den Zimmern mit kleinen Öfen. Aber da das Holz und die „Briketts“ teuer waren, wurde fast immer nur in Vaters Büro und in der Stube geheizt. In den anderen Zimmern blieb es kalt im Winter und auf den Scheiben bildeten sich wunderbare Eisblumen. Die Kälte spürte man besonders am Morgen und so legte ich meine Unterwäsche und einige Kleider jeden Abend unter die Bettdecke. So musste ich früh morgens nicht eiskalte und feuchte Unterwäsche und Kleider anziehen. Einmal im Jahr bekamen wir Holz von einem Bauern, aber nicht zugeschnitten wie das heute in den Läden erhältliche Cheminée-Holz. Die Lieferung musste zuerst in Stücke gesägt und dann gespalten werden. Dies geschah immer unter dem kleinen Dach neben dem Eingang des Restaurants. Schon als Knirps musste ich dabei helfen und die „Scheiter“, abgefüllt in einer „Zeine“, mit einem „Wägeli“ ums Haus zum Aufzug bringen. Von da zog dann mein Vater das Holz auf das Blechdach. Dort hatte es ein schräges Dachfenster wo man die „Scheiter“ in den Estrich warf. Und dann kam schliesslich die beschwerlichste Arbeit. Meistens traf es mich die „Scheiter“ so raumsparend wie möglich unter dem Dach aufzuschichten. Der Raum war sehr niedrig und selbst als Kind musste man sich bücken um überhaupt unter diesen Teil des Daches zu gelangen. Aufrecht stehen konnte man nicht. Ich hasste diese Arbeit, denn nachher ich hatte immer Holzsplitter oder „Schpiissä“ an allen Fingern sowie Schmerzen im Rücken und den Beinen. Im Winter musste man diese „Scheiter“ dann in die Stube hinunterholen. Der Estrich war im Winter nicht nur sehr kalt und gespenstisch, sondern auch äusserst schlecht beleuchtet. Um das Holz überhaupt zu finden musste man deshalb nachts mit einer Taschenlampe in den Holzraum kriechen. Niemand war deshalb begeistert Feuerholz zu holen und so war es meistens an mir in den Estrich zu steigen, denn ich selbst wollte ja auch nicht frieren in der Stube. Da alle immer von Gespenstern redeten und man tatsächlich auch immer komische Geräusche aus dem Estrich hörte, war mir da oben nachts alleine oft unheimlich. Sobald ich das nötige Holz ergattert hatte, rannte ich so schnell als möglich wieder hinunter in die Wohnung.

Einmal im Monat war Waschtag. An diesem Tag kam jedes Mal Frau Bürgi um meiner Mutter zu helfen. Manchmal kam auch ihre Tochter „Rösli“ um auf uns Kinder aufzupassen. Die Leintücher wurden am Vortag in den zwei Spültrögen, der Badewanne und anderen Behältern in der Wachküche mit dem Vorwaschpulver „LENIS“ eingeweicht. Schon früh am nächsten Tag wurde der Waschherd aufgeheizt und die Leintücher gekocht. Da mein Vater ja nur jeden Samstag ein Bad nahm, war es nicht übertrieben die Leintücher zu kochen, sonst wären sie ja nie weiss geworden. Der Waschherd hatte einen Wasseranschluss und so hatte man auch warmes Wasser beim Waschtrog und der Badewanne. Das hin und her mit der Wäsche zwischen Waschhafen, Waschtrog und Zentrifuge war eine äusserst harte Arbeit, besonders im Winter mit der Barchent-Bettwäsche. Zudem wurde ja damals mit einem Waschbrett im Waschtrog gearbeitet. Über dem Trog war ein Fenster durch das man die fertig gewaschene und ausgewrungene Wäsche in einer „Metall-Gelte“ ins Freie hinaus schubste. Von da wurde die Gelte aufs Blechdach gezogen und die Wäsche dort aufgehängt. Meine Mutter hatte immer Angst, dass irgendwann die Gelte mit der schweren, nassen Last kippen und auf jemanden herunterfallen könnte. Am Mittag durfte Frau Bürgi mit uns Mittagessen und ich aus einem kleinen „Mini-Humpen“ Süssmost trinken. Der Waschtag war für mich immer sehr aufregend und für meine Mutter trotz der Hilfe von Frau Bürgi ein riesiger Stress, denn das Haushaltgeschäft, die Telefonanrufe und die Küche konnten ja nicht ignoriert werden. Später kaufte mein Vater eine kleine Haushalt Waschmaschine die in unserer Küche an Stelle des Holz-Kochherdes installiert wurde. Sie hiess ADORA und hatte im Bottich ein Drehkreuz das sich hin und her drehte und so die Wäsche an den Wänden vorbeizog. Erst viel später wurde dann auch die gemeinsame Waschküche modernisiert und der Waschherd durch die automatische Waschmaschine UNIMATIC ersetzt. Alle Hausbewohner konnten sie nach festem Plan benutzen. Obwohl die Maschine die Wäsche sehr erleichterte, hatte diese Modernisierung nach meiner Ansicht auch eine bedauerliche Folge: Frau Bürgi und Rösli wurden nicht mehr gebraucht.

Im Frühling wurden die Vorfenster ausgehängt und mit den frisch eingeölten, roten Fensterläden ersetzt. Bis ich älter wurde machte diese Arbeit immer mein Vater. Meine Mutter hatte immer eine riesige Angst, dass er bei dieser waghalsigen Arbeit aus dem Fenster fallen könnte. Wenn man nicht aufpasste, konnte einem aber auch ein Vorfenster oder ein Festerladen aus den Händen gleiten und hinunterfallen. Es war in der Tat eine gefährliche Arbeit und ich merkte erst später wie risikoreich dieses Aus- und Einhängen war. Und nach dieser Mutprobe musste man ja die Fenster oder die Fensterläden schliesslich noch über die steile Treppe in den Estrich tragen wo sie gelagert wurden. An einigen Fenstern wo das Auswechseln ganz speziell akrobatische Fähigkeiten verlangte, entschieden sich meine Eltern später die Vorfenster das ganze Jahr zu dulden. Es gab auch Fenster die einen oder mehrere „Sprünge“ hatten, aber da eine Reparatur zu teuer war klebte mein Vater einfach Kitt auf die Stelle wo die gebrochenen Teile zusammenkamen um sie so zusammenzuhalten. Eine solche Notlösung konnte jahrelang überdauern.

Schon während meiner Lehrzeit wurde mir bewusst, dass mit dem alternden Haus etwas geschehen musste. Das Haus zitterte bei jedem Lastwagen der die Marktstrasse hinunterrumpelte, es war schlecht isoliert, hatte keine Zentralheizung und die Aufteilung der Stockwerke/Zimmer war widersinnig. So begann ich das Haus auszumessen und sinnvollere Grundrisse zu zeichnen. Doch mit vier Hauswänden von je 10 Metern Länge, also einer totalen Grundfläche von nur 100 m2, musste ich meinen Versuch bald aufgeben. Es war illusorisch auf 100 m2 das Treppenhaus, das Lager des Gastbetriebes, die individuellen Keller, die Waschküche, die Heizung und eine Tiefgarage unterzubringen. Zudem war der Umschwung des Grundstücks zu klein um die Einfahrt zu einer Tiefgarage zu realisieren. Aber ich liess nicht los, denn die Bausubstanz des Gebäudes war schlecht und es musste eine Lösung gefunden werden. Komischerweise schien der schlechte Zustand des Hauses meinen Vater weder zu stören noch zu beunruhigen. Wie immer meinte er, dass man jetzt schon mehr als 30 Jahre in diesem Haus wohne und dass sich bis anhin niemand an den Mängeln gestört habe. Bald hatte ich aber eine neue Vision. Meine Nachbarn an der Markstrasse waren ja alle in der gleichen Situation. Bei einem Neubau mussten alle die neuen Vorschriften einhalten, was auf den kleinen, individuellen Grundstücken nicht möglich war. Das brachte mich auf die Idee, zusammen mit den Nachbarn, eine Überbauung von unserem Haus an der Markstrasse bis hinauf zur Einmündung in die Herrengasse beim Joachim-Raff-Platz, inklusive Stall und Schlachthaus der Metzgerei, zu erwägen. Doch auch diese Idee musste ich bald begraben. Obwohl ich kein modernes Geschäftshaus mit Glasfassaden im Kopf hatte und mir eher eine Überbauung im lokalen Dorfstil vorschwebte, fand ich mit meiner wagemutigen Idee keine Befürworter.

Am 10. April 1962 kauften meine Eltern von der „Genossame“ ein Stück Land an der Speerstrasse. Die Bauparzelle war 659 m2 gross und kostete CHF 22’406.--, ein Betrag den sich meine Eltern hart zusammengespart hatten. Der Kauf kam für mich überraschend. Aber scheinbar hatten auch sie schliesslich gemerkt, dass das Leben im Eckstein zu mühsam wurde und sie sich im Geheimen nach einem komfortableren Wohnen sehnten. Sofort begann ich in meiner Freizeit ein „Traumhaus“ zu entwerfen. Ich zeichnete detaillierte Pläne für ein Einfamilienhaus mit Küche, Wohnraum und Gäste-WC im Erdgeschoss und vier Schlafzimmer mit den dazugehörenden Badezimmern im Obergeschoss. Über den zwei Garagen waren ein Studio und eine 2-Zimmerwohnung geplant, beide mit direktem und separatem Eingang von Aussen. Aus finanziellen und anderen Gründen verzögerte sich aber die Realisierung des Baus und so konnte das neue Heim erst 1966 bezogen werden. Zu meiner grossen Enttäuschung fanden meine Eltern meine Bau-Pläne unrealistisch und liessen von einem Architekten ein „Standard“ Zweifamilienhaus ausarbeiten. Als mir meine Eltern seine Pläne zeigten, intervenierte ich sofort. Der Architekt hatte den Eingang und die Garagen an der Speerstrasse geplant, also dort wo die Distanz vom Haus zur Strasse am grössten war. Da auf diese Weise viel Gartenfläche verloren ging, schlug ich vor den Eingang sowie die Garagen an die Alpenblickstrasse zu verlegen, was er schliesslich auch tat. Auf diese Weise entstand auf der Sonnenseite des Hauses entlang der Speerstrasse ein durchgehender Garten.


(5) Unser Haus an der Speerstrasse 19

Unser Haus an der Speerstrasse 19


Nachdem meine Eltern ins neue Heim gezogen waren, wurde unsere Wohnung im Eckstein vermietet. Nach dem Tod meiner Grossmutter und dem Wegzug meiner Tante waren zudem im 1. Stock Zimmer frei geworden. Meine Mutter nützte diese Gelegenheit um bis zur Aufgabe des Spenglereibetriebes im Dezember 1974 dort ihr Büro und das meines Vaters einzurichten. Im Jahre 1980, als ich in Manila arbeitete, erfuhr ich von der Planung einer Überbauung am Gangynerweg. Sofort meldete ich mich bei den Bauherren und teilte ihnen mein Interesse an ihrem Vorhaben mit. Der Zukauf unserer Liegenschaft erlaubte ihnen schliesslich ihr Projekt bis zur Markstrasse zu erweitern. Somit erfüllte sich meine Vision einer Gesamtüberbauung im lokalen Baustil und seinen Vorteilen doch noch. Allerdings nicht an der Marktstrasse, so wie ich mir es vorgestellt hatte, sondern am Gangynerweg. Die Liegenschaft „Eckstein“ wurde am 28. Juni 1982 verkauft und bereits am 23. August abgebrochen.


Epilog.

Eigentlich wurde angenommen, dass der „Eckstein“ am gleichen Ort wieder aufgebaut wird, denn das Wirtepatent konnte damals in Lachen nicht von einer Person erworben werden, sondern war auf das Grundstück verschrieben. Aus diesem Grund erwartete ich an seiner Stelle wieder ein Gasthaus, einen neuen „Eckstein“, und hatte fest im Sinn mich an der Überbauung zu beteiligen. Doch dann erfuhr ich, dass die „Credit Suisse“ den vorteilhaften Platz an der Markstrasse kaufen wollte und aus diesem Grund auf der Baustelle bereits dicke Betonwände für den Banksafe im Untergeschoss gegossen wurden. Aus unbekannten Gründen entschied dann aber die Credit Suisse anders und so entstand anstelle des „Ecksteins“ weder eine Bank noch ein Restaurant. Das Wirtepatent wurde auf das Mittelhaus am Ganynerweg überschrieben und so wurde mir dieses Grundstück angeboten. Zuerst fand ich das Angebot interessant, doch schliesslich entsprach die etwas versteckt und im Boden versenkte Gaststätte am Ganynerweg meinen Vorstellungen nicht mehr und so zog ich mich vom Projekt zurück. Am 31. August 1984 wurden zur Eröffnung der Zentrumsüberbauung „Gangyner“ alle ehemaligen Grundbesitzer zu einem Nachtessen im neu eröffneten Restaurant „Gangyner“ eingeladen, an dem ich gerne teilgenommen habe.

Unsere Nachbarschaft
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4.  Unsere Nachbarschaft
In der Nachbarschaft und an der Markstrasse wohnten viele Familien mit Kindern im gleichen Alter wie ich. Hinter unserem Haus, am heutigen Gangynerweg, wohnten die „Stoff Hegner’s“ mit den drei Kindern. Sie hatten zur damaligen Zeit das architektonisch modernste und schönste Geschäft im Dorf. Die neue Bauart gefiel mir aussergewöhnlich. Es hatte riesig grosse Schaufenster und ein grosses Vordach sodass man auch bei Regen die Auslagen bewundern konnte. Was mich aber besonders faszinierte, war ein Eck-Fenster das 45° gebogen war. Bis anhin hatte man nur flache Glasflächen gesehen und so fragte ich mich immer wieder wie es möglich war ein Glasfenster in diese ungewöhnliche Form zu bringen.

Meine Mutter sagte die Hegners seien „mehr Bessere“. Mit den drei Kindern spielte ich deshalb fast nie, denn ich fühlte mich in ihrer Gegenwart immer geringgeschätzt oder sogar ignoriert. Meine Mutter meinte sie seinen vielleicht auf uns eifersüchtig, denn unser Haus stand an dominanter Stelle an der Markstrasse, während sich ihr moderner Stoffladen versteckt im Gässchen befand. Sie hatten ein amerikanisches Auto; einen „NASH“, den sie gerne zur Schau stellten. Trotz vorgeblicher Strenggläubigkeit wurde er jeden Sonntagmorgen, anstatt in die Kirche zu gehen, im Garten gewaschen und auf Hochglanz poliert. Autowaschen am Sonntag war damals verpönt und so wunderte ich mich immer wieso diese selbstgefällige Tat dieser noblen Leute von den Nachbarn geduldet wurde. Von unserem Küchenfester, besonders diskret durch die Fensterladen, hätte ich eigentlich immer beobachten können was bei den stolzen Hegner’s vorging, aber komischerweise interessierte es mich nicht. Erst als ich älter wurde erfuhr ich, dass man die majestätische Frau Hegner jeden Winter als Samichlaus zu den Kindern nach Hause bestellen konnte. Sie kam aber nicht alleine, sondern hatte auch einen „Schmuzli“ oder „Tüüsseler“ und zwei schöne, weisse Engel zu ihrem Schutz bei sich. Sie war immer in einem wunderbaren Bischofs-Kostüm, mit rotem Samt-Umhang und einer prunkvollen Mitra auf dem Kopf unterwegs. Dadurch schien Frau Hegner noch imposanter und machte deshalb den Kindern und den Erwachsenen als „Samichlaus“ immer einen ganz besonderen Eindruck. Obwohl ich nie herausfand wer ihre Begleitpersonen eigentlich waren stand für mich fest, dass ihre Gruppe immer die Schönste aber auch die Feierlichste von allen „Samichläusen“ im Dorf war.

Im Kontrast zu den hellen und modernen Auslagen der „Stoff Hegner’s“, führte Frau Vogt links daneben ein winzig kleines Geschäft. Beim Betreten musste man vorsichtig sein, denn der Laden befand sich einige Stufen tiefer als die Strasse. Sie verkaufte und flickte Schirme in einem düsteren, kellerartigen Raum, in dem man ohne elektrisches Licht gar nicht arbeiten konnte. Im Sommer liess sie manchmal die Ladentüre offen um ein bisschen Tageslicht und frische Luft in den Raum zu lassen. Sie war eine „Welsche“ und hatte daher oft Mühe sich mit der Mentalität in der March zu Recht zu finden. Überdies war damals der Gangynerweg nachts nicht besonders beleuchtet und deshalb ideal um sich nach einer Biertour vor oder gegenüber ihrer Ladentüre zu erleichtern. So beklagte sie sich gerne bei ihren Kunden über ihr Schicksal. Obwohl mir bewusst war, dass damals Alternativen beschränkt waren, konnte ich nicht verstehen wieso sie nicht trotzdem versuchte in ihrem Leben etwas zu verändern.

Gegenüber vom Haus Stoff Hegner’s war ein grosser Garten und mitten drin das Haus von Dr. Steinegger. Er war ein guter Arzt und machte auch Hausbesuche. Er hatte einen Sohn der Hansruedi hiess, der aber selten an Entdeckungen oder Streichen von uns Buben mitmachte. Ich glaube er war sehr einsam in dem wunderbaren Haus und scheute die anderen Kinder. Trotzdem spielten wir manchmal zusammen. Einmal hatte er seinem Vater Zigaretten geklaut und so rauchten wir in einem Gebüsch des Gartens eine „CAMEL“. Natürlich wusste ich, dass ich dies nicht durfte und dass es sogar eine Sünde sein könnte. Aber es war äusserst spannend so eine spezielle und teure Zigarette zu rauchen und schliesslich zu merken, dass es mir eigentlich gar keinen Spass gemacht hatte!

Links neben unserem Haus führte das neuzeitliche Ehepaar Zibung ein Geschäft, das sie distinguiert „Comestibles“ nannten. Sie hatte es von der Familie Scheppler übernommen und verkauften für die damalige Zeit sehr exklusive Artikel wie Hummer und tropische Früchte. Das Geschäft wurde hauptsächlich von wohlhabenden Kunden besucht. Ich offerierte mich als Laufbursche um etwas Sackgeld zu ergattern, doch meine Erwartungen wurden bald enttäuscht und so gab ich diese Freiwilligenarbeit wieder auf. Nach etwas mehr als einem Jahr waren die Zybung’s plötzlich nicht mehr im Laden und niemand im Dorf wusste Bescheid über das mysteriöse Verschwinden. Dann stand der Laden lange leer bis die Familie Sutter das Geschäft übernahm. Sie hatten einen Sohn, den Alfred, und eine jüngere Tochter, die Ursula. Damit hatte ich unerwartet einen neuen und fast gleichaltrigen Spielkameraden bekommen. Wir waren oft zusammen und erstellten sogar eine Seilbahn vom Büro meines Vaters bis zum Zimmer von Alfred. Es war unheimlich spannend wie die Transporte über die Strasse funktionierten. Aber auch da hatten bald meine und seine Eltern Einwände und wir mussten alles abbrechen. Leider gelang es den Sutter’s nicht das Geschäft, so wie vorher die Zybung’s, florieren zu lassen und mussten es bald wieder aufgeben. Danach kamen die Dörig’s und brachten mit frischem Gemüse und Früchten wieder neues Leben in den Laden. Zudem hatten sie einen Lieferwagen mit dem sie ihre Ware ambulant in der ganzen Umgebung verkauften. Sie hatten einen Sohn, den Norbert, der viel jünger war als ich und mit dem ich dann oft spielte, oder eher auf ihn aufpasste. Einmal fiel er vom fast 6 Meter hohen Garagedach direkt vor meine Füsse. Ich befürchtete das Schlimmste, aber wie ein Wunder war ihm nichts geschehen. Nach diesem Vorfall liessen die Eltern sofort einen Zaun auf der Terrasse über dem Lager erstellen. Doch auch die Dörig’s zogen nach einiger Zeit wieder weg und das Geschäft wurde in eine chemische Reinigung umgewandelt.

An der Marktstrasse, gegenüber dem Hotel Bären, führte Herr Grüninger Pius eine Eisenhandlung. Das Prägende für mich war nicht nur das Haus, das mir wie aus Laubsägeholz gebaut vorkam, sondern vor allem sein Laden im Erdgeschoss. Er war so voll gestopft mit Ware, dass man kaum eine Fläche fand um etwas hin zu legen. Es gab hier alles was aus Eisen gefertigt war: Werkzeuge, Baumaterial, Küchenartikel, usw. Aber die Auswahl an verschiedenen Schrauben und Nägeln beeindruckte mich am Meisten. Es erstaunte mich immer wieder wie er sofort wusste wo jeder Artikel seinen Platz hatte. Für meinen Vater war dieses Geschäft sehr wichtig, denn nur dort konnte er sich mit allerlei Material eindecken das für seine Arbeit brauchte. Da er mich oft zu Herr Grüninger schickte um etwas zu besorgen, war ich oft in dem Laden und deshalb traurig als er starb, das Geschäft geschlossen und das Haus abgerissen wurde.

Gegenüber dem Haus von Dörig’s, also auf der anderen Seite der Markstrasse, war das Eckhaus der wortkargen Familie Renggli. Sie hatten eine Zahnarztpraxis, aber meine Mutter sagte Herr Renggli sei viel zu grob mit den Patienten und so wurde er von ihr bei Zahnproblemen gemieden. Sie hatten einen Sohn der viel älter war als ich und gleich wie seine Eltern sehr zurückgezogen lebte. Am Sonntagmorgen holten sie meistens ihren roten MG aus der Garage und liessen den Motor wie vor einem Formula1-Rennen immer wieder aufheulen. Damit wusste die ganze Nachbarschaft, dass die Drei zu einem Tagesausflug bereit waren. Während der Abwesenheit wurden das Haus und der Umschwung von zwei furchterregenden Hunden (Dobermann) bewacht. Ihr Auslauf war sehr beschränkt und meine Mutter hatte mit den armen Hunden immer Bedauern. Sie fragte sich immer wieso niemand wegen der bedauerlichen Haltung der Tiere reklamierte. Vielleicht bellten sie gerade deshalb jedes Mal, wenn ich auf meinem Schulweg an ihnen vorbeigehen musste und versuchten mich mit ihren fletschenden Zähnen zu beeindrucken. Sie rannten wie wild hinter dem Gartenhag hin und her und bellten noch als ich schon lange am Hause vorbei war. Ich hatte keine Angst vor diesen kräftigen, muskulösen und temperamentvollen Wesen, aber geheuer war es mir trotzdem nie gewesen. Eines Tages hörte ich einen riesigen Knall vor unserem Haus und rannte sofort ans Fenster. Ein vom Oberdorf kommendes Auto war mit vollem Tempo in die Ecke von Renggli’s Gartenmauer geprallt. Zu meinem Erstaunen öffneten sich die Türen und drei Männer krochen heil aus dem Wrack. Aber anstatt sich den Schaden anzusehnen, rannten die drei Insassen sofort von der Unfallstelle weg und verschwanden im Dorf. Ich fragte mich natürlich ob die drei das Auto gestohlen hatten oder dann total besoffen waren. Natürlich kam nach einiger Zeit der Wachtmeister Müller und beschaute sich die Sache, aber warum sich die Drei aus dem Staub gemacht hatten und ob man sie je gefasst hatte erfuhren wir nie. Man hörte auch nie wer den Schaden an Renggli’s Gartenhag berappen musste.

An der Schützenstrasse, schräg gegenüber unserem Haus und neben dem „Schlössli-Kreuz“ war der „Adler“, eine „Beiz“ die man in der ganzen Gegend und bis nach Zürich kannte. Erstens hatten die Wirte, die Federici’s, immer äussert rassige Serviertöchter und an der Fasnacht eine Dekoration die jedes Jahr mit einem anderen Motto auftrumpfte. Einmal war es „Südsee-Träume“, dann „Teufelsküche“ oder „Grottenfieber“, etc. Auf alle Fälle wurde jedes Jahr vor der Fasnacht das ganze Lokal total mit Papier ausgekleidet und dann künstlerisch bemalt sodass man die „Beiz“ nicht mehr erkannte und glaubte irgendwo anders zu sein. Damals rauchte man noch in der „Beiz“ und so war es auch eine Rauchhöhle. Eine strenge Feuerpolizei gab es damals noch nicht und so hatte der Wirt Glück, dass die Dekoration nie in Flammen aufging. An der Fasnacht und auch unter dem Jahr gab es dann oft „live“ Musik die so laut war, dass manchmal die Scheiben meines Zimmers klirrten und das Bett zitterte, besonders wenn sich die Türe der „Beiz“ öffnete. Ausser meiner Mutter schien diese Nachtruhstörung niemand zu irritieren. An der Fasnacht war es einfach normal und unter dem Jahr durfte man doch nicht so zimperlich sein! Auf die Polizei konnte man nicht zählen und eine Klage hätte für uns vielleicht Folgen haben können, denn die Wirte hatten ja damals auch schon so ihre Beziehungen. Im Dachgeschoss dieses Hauses wohnten die Pfiffner’s mit ihren Buben. Sie hätten ja wohl als Erste Grund gehabt gegen die nächtlichen Störungen zu klagen, denn sie wohnten ja über der „Beiz“. Aber um die Wohnung nicht zu verlieren hatten auch sie keine andere Wahl als den Lärm zu erdulden. Vielleicht war ihnen aber auch bewusst, dass ihre Buben mit ihrer Vitalität auch keine Engel waren. Sie waren so lebendig, dass ihr Vater Angst hatte sie könnten eines Tages bei ihrer Kletterei aus dem Fenster fallen. Mit dieser Gefahr sah er sich gezwungen die Fenster zu sichern. Da er als Arbeiter in einer Möbelfabrik arbeitete fertigte er sich eine Art Sprossenwand, die er dann vor das Fenster montierte. So konnte man von der Strasse aus beobachten wie die Buben an diesen Sprossen herumturnten ohne, dass sie auf die Strasse herunterfallen konnten. Einer der Buben hiess Bruno und war gleich alt wie ich. Wir waren oft zusammen und leisteten uns Torheiten von denen unsere Eltern besser nichts wussten. Einmal hatte Bruno die Idee ein „Wett-Brünzlen“ zu machen und die ganze Bande ging in den Kuhstall beim Kronenhof nebenan. Es waren keine Tiere da und so musste jeder zeigen wie weit er zielen konnte und dies ohne vorher die Blase gefüllt zu haben. Man stellte sich auf eine Linie und zielte auf den Güllengraben. Zu unserer Überraschung gewann ein Mädchen! Komischerweise fragten wir uns damals nicht wie das überhaupt möglich war. Erst viel später, bei einer Klassenzusammenkunft, lüftete sie ihr Geheimnis; ein Geständnis das ein lautes Gelächter auslöste.


(1) Das ehrwürdige "Schlössli"

Das ehrwürdige "Schlössli"


Vor dem „Adler“ gab es eine leicht erhöhte, halbrunde Ecke auf der ein Bruderschaftskreuz stand. Es war umgeben von immergrünen Eiben die im Herbst zündrote „Früchte“ hatten. Auf der Rückseite des Kreuzes und gegenüber unserem Haus befand sich das „Schlössli“, ein wunderbares Gebäude aus dem Jahre 1640. Das markante Kennzeichen des Hauses war der achteckige Turmaufsatz mit barocker Haube. In diesem Haus wohnte Herr Diethelm, ein immer elegant gekleideter, älterer Mann, der an einem Stock ging. Er hatte eine Haushälterin, die Marie hiess. Sie war etwas mürrisch, aber im Grunde sehr lieb und nett. Von unserm Balkon aus konnte ich beobachten wie sie immer mit viel Hingabe den Garten pflegte. Sie hatte wunderbare, grosse Rosenstöcke, die sie im Herbst auf den Erdboden umlegte ohne den Stamm zu brechen. Dann bedeckte sie die Rosen mit Tann-Ästen um sie vor Schnee und Kälte im Winter zu schützen. Jeweils am Samstag fegte sie sogar einen Teil der Markstrasse ausserhalb des Gartens und an Fronleichnam nahm sie sich dem Altar und dessen Dekoration beim Bruderschaftskreuz an. Neben und hinter dem Haus hatte es grosse Tannen, die ich das ganze Jahr bewunderte. Sie überstanden Stürme, Hitze und Kälte und blieben das ganze Jahr grün. Im Garten plätscherte immer ganz beruhigend ein Brunnen. Der Garten war eine Oase der Ruhe. Marie sagte das Wasser komme aus der eigenen Quelle auf dem Grundstück. Nach einigen Jahren begann die Quelle aber zu versiegen. Mein Vater meinte der Grund liege bei den vielen Neubauten im Dorf. Wegen den Garagen unter den modernen Häusern wurde viel tiefer als früher im Erdreich gebaut und damit die unterirdischen Wasserströme durcheinandergebracht. Jeden Morgen nach dem Aufstehen ging ich zuerst ans Fenster der Balkontüre und erhaschte mir einen Blick auf das „Schlössli“ mit seinem Turm und den Tannen neben dem Hause. Während jeder Jahreszeit war das „Schlössli“ wunderbar anzusehen, besonders aber im Winter, wenn das Haus und die Tannen mit Schnee bedeckt waren. Immer träumte ich einmal in den mysteriösen Turm steigen zu dürfen. Ich hätte zu gerne erfahren wie von dort unser Haus aussieht und wie man sich in einem solchen Herrenhaus fühlt. Leider war mir dies nie vergönnt. Später, nach dem Tod des Besitzers und der Marie, verwahrloste das Gebäude, was ich ausserordentlich bedauerte. Ich konnte nicht verstehen, dass scheinbar niemand in der Gemeinde das schöne „Schlössli“ als wertvoll einschätzte und in der Lage war es vor Verlotterung und vor allem vor der Verunstaltung durch den nachfolgenden Besitzer zu schützen

Rechts neben dem Schlössli-Garten, am Schlössliweg, war ein äusserst kleines Haus mit zwei Stockwerken. Es war eines der ältesten Häuser im Dorf, was die Inschrift auf dem Türbogen über der Haustüre auch bestätigte. Die Haustüre war so klein, dass man sich beim Eintritt bücken musste. In diesem uralten Haus wohnte die Familie Hegner. Der Vater war Schneidermeister und sein Sohn ein Sängerbund-Kollege meines Vaters. Sie hatten einen Sohn, der aber älter war als ich und mit dem ich selten zusammenspielte. Nach dem Abbruch des Hauses konnte der massive Türbogen mit der alten Inschrift gerettet werden und wurde dann bei der Überbauung „Gangynerweg“ in der Fassade eingebaut.

An diesem Haus angebaut, und wahrscheinlich genau so alt, war das Haus der Familie Tschabrun. Das Haus war eher eine Höhle als ein Haus und ich fragte mich oft wie man dort nur wohnen konnte. Es war eine aussergewöhnliche Familie. Alle waren fettleibig und der Vater sowie der Sohn dem Alkohol verfallen. Sie lebten sehr zurückgezogen in ihrer traurigen Behausung. Wahrscheinlich schämten sie sich und zeigten sich deshalb tagsüber kaum auf der Strasse. Ich kann mich noch sehr gut erinnern wie oft seine Frau im Morgenrock gegen Mitternacht bis zur Ecke an der Markstrasse kam um dort ihren total betrunkenen Ehemann in Empfang zu nehmen. Die gute Frau Tschbrun tat mir immer sehr leid.

Rechts am Haus vom Schneider Hegner angebaut war ein eher neueres Haus. Darin befand sich die „Leih- und Sparkasse vom Linthgebiet“, die Bank zu der ich meine hart verdienten Ersparnisse brachte. Sie wurde einmal am helllichten Tag überfallen, ein Ereignis das ich selbst erlebte und das mich noch lange in Träumen beschäftigte. Über der Bank wohnte Frau Zipfel, eine sehr liebenswürdige alte Frau. Sie lebte alleine und war nicht mehr sicher auf den Beinen. So sass sie oft einfach am Fenster und beobachtete das Geschehen auf der Markstrasse. Manchmal winkte sie mir zu und bat mich zu ihr in die Wohnung. Da gab sie mir kleine Geschenke oder dann durfte ich sogar mit ihr Tee trinken und Kuchen essen. Als ich später im Welschland war liess sie immer Grüsse an mich ausrichten. Ich war sehr traurig als ich schliesslich von ihrem Hinschied erfuhr. Einige Jahre später zog die „Leih- und Sparkasse vom Linthgebiet“ in ihr neues Gebäude beim Bahnhof. Anstelle der Bank eröffnete ein Herr Rieder aus Uznach eine Filiale seines Uhrengeschäftes in Uznach. Herr Rieder hatte vorher Marili Noser, unsere Nachbarin geheiratet, und dies war offenkundig der Grund dieser Entscheidung gewesen.

Vor diesen zwei Häusern war ein Stück Land das mit einem soliden Eisenhag mit gefährlichen Spitzen umzäunt war. Es war der Garten den sich Frau Zipfel und Frau Züger aus der Metzgerei teilten. Während sich Frau Zipfel nur noch um einige Blumen im Garten mühte, pflanzte Frau Züger neben Blumen auch Gemüse an. Da ich wusste das dieser Garten nachts gerne als Pissoir genutzt wurde und sich Besoffene nicht selten am Gartenhag so elend fühlten, sodass sie sich in den Garten übergaben, hätte ich nie von diesem ökologisch gedüngten Gemüse gegessen. Aber wenigstens war dieser Fleck Land damals noch grün und durch die vielen Blumen im Sommer wunderbar farbenfroh. Leider wurde später dieses Stück Land, so wie viele andere Grünflächen im Dorf, zubetoniert.

Rechts neben der Bank und ebenfalls zusammengebaut war das Haus der Familie Züger. Sie hatten eine Metzgerei und führten ein gut bürgerliches Restaurant. Der Züger Nöldi war eine schillernde Persönlichkeit im Dorf. Er war im Schützenverein und durch dies war auch seine „Beiz“ immer gut besucht. Aber auch politisch war er immer aktiv. Dies verlangte oft einen ausgedehnten Beizenbesuch was zur Folge hatte, dass man seine lautstarke, nächtliche Heimkehr nicht verpassen konnte. Leider starb er unverhofft und das Geschäft wurde später von der Familie Strickler übernommen. Beide waren noch sehr jung, dynamisch und sehr freundlich. Aber irgendwie schien es Ihnen nicht zu gelingen den traditionsträchtigen Betrieb im gleichen Stil wie die Familie Züger weiterzuführen. Sie hatten einen kleinen Sohn der Albert hiess. Obwohl die Strickler’s für ihn ein Kindermädchen hatten, war ich oft mit dem „Albertli“ zusammen und spielte mit ihm. Aber nach einigen Jahren verliessen die Strickler’s das Dorf wieder und die Metzgerei sowie das Restaurant blieben lange geschlossen.

Auf der anderen Seite der Markstrasse, also vis-à-vis der Metzgerei und dem Restaurant, stand ein grosser Kuhstall. Davor gab es ein kleines Gebäude mit quadratischem Grundriss, das gelegentlich als Militärküche von den im Dorf einquartierten Einheiten benutzt wurde. Es war eine rudimentäre Küche und punkto Hygiene kein Prunkstück. Das Abwasser floss einfach in einer kleinen Rinne übers Trottoir direkt auf die Strasse und von da in den See, das war damals normal. Man musste einfach aufpassen, dass man nicht über die Rinne stolperte. Auf alle Fälle war diese Küche für uns Kinder trotzdem ein sehr interessanter Ort und wir trieben uns da gerne herum. Der Grund waren die vielen Soldaten von denen wir immer ein Militärbiskuit oder Schokolade erhofften. Das absolute Erlebnis war aber immer, wenn einer der Soldaten uns einen Kaugummi, einen „Bazooka“, gab! So etwas war damals rar und deshalb sehr gefragt, schliesslich kam der Kaugummi aus dem fernen Amerika! Ausserdem hätten mir meine Eltern niemals einen Kaugummi gekauft. Gelegentlich kamen auch Leute die einfach hofften etwas von der übrig gebliebenen Suppe oder den Mahlzeiten zu ergattern. Es war ja damals Krieg und das Portemonnaie von vielen Leuten oft leer.

Neben dem Stall war das Schlachthaus der Metzgerei Züger, das natürlich auch ein Anziehungspunkt für uns „Gwundernasen“ war. Wenn ein Tier erschossen wurde, schickten uns die Metzgerburschen allerdings meistens weg. Aber nachher konnten wir unbehindert zuschauen wie die Tiere zerschnitten, ausgenommen und aufgehängt wurden. Besonders interessant aber fand ich, wenn die Schweine im heissen Wasser gebrüht wurden und anschliessend auf der Holzbank die Borsten abgeschabt (enthaart) wurden. Meine Mutter war gar nicht begeistert, wenn ich ihr von diesen Arbeiten erzählte, denn sie war überzeugt, dass mir dies schaden könnte. Ich selbst sah nie eine Gefährdung, ausser wenn mich die Arbeiter vor dem eigentlichen Schlachten mit dem Wasserschlauch aus dem Schlachthaus jagten. Dann warteten wir einfach draussen bei dem noch lebenden Vieh, das unter dem Vordach angebunden war. Aus den traurigen, verängstigten Augen konnte man lesen, dass die Tiere merkten was Ihr Schicksal mit ihnen vorhatte. Wahrscheinlich aus diesem Grund hatten die Metzger-Burschen dann grosse Mühe um sie in das Schlachthaus zu treiben. Die brutale Art und Weise wie das oft geschah, fand ich meist schlimmer als das Erschiessen der Tiere. In diesen Momenten taten mir die Tiere jedes Mal sehr leid.


(2) Das Nachbarhaus, der "Simon"

Das Nachbarhaus, der "Simon"


Rechts neben dem Stall war ein Gebäude mit einem komischen Grundriss. Vorne, gegen die Marktstrasse, war das Haus gebogen wie die Strasse, endete aber hinten in einem Spitz so wie ein Stück Kuchen. An diesem Spitz kam das Gebäude mit unserer Werksatt so zusammen, sodass wir Buben bei unseren Entdeckungs-Streifzügen hinter unserem Haus über das Blechdach auf das Dach ihrer Waschküche klettern konnten. Im Parterre des Gebäudes war ein Lebensmittelgeschäft das „SIMON“ genannt wurde. Frau Noser, die Besitzerin des Geschäftes, war eine gute Nachbarin und meine Mutter mochte sie sehr gut. Sie war Witwe und wohnte mit ihren zwei Töchtern, der Trudi und dem Marili, im zweiten Stock. Die beiden Mädchen waren viel älter als ich und mussten schon tatkräftig im Laden mithelfen. Fast jeden Tag erschien eine ziemlich feste Frau mit ihrem Buben in meinem Alter um im SIMON Einkäufe zu machen. Beim Anblick der feilgehaltenen Süssigkeiten begann der Bube immer sofort nach Schokolade oder anderen Schleckereien zu betteln. Und jedes Mal gab die Mutter nach und kaufte ihm was er begehrte. Immer wenn ich dies beobachtete wurde ich eifersüchtig, denn meine Mutter hätte mir nie Schleckereien gekauft. Sie sagte immer, dass Zucker sehr schlecht für die Zähne sei und sie kein Geld für den Zahnarzt hätte. Und wie immer hatte sie Recht gehabt. Der Bube, der später mit mir in der gleichen Klasse zur Schule ging und dessen Bruder man komischerweise „Mockäpäss“ nannte, hatte tatsächlich schlechte Zähne. Sie waren so schlecht, dass er schon bald nach der Schulzeit ein künstliches Gebiss tragen musste. Das war sehr schockierend für mich und ich hatte Bedauern mit ihm. An der Chilbi hatte die Familie Noser einen Stand auf dem Trottoir vor dem Laden, und die Töchter verkauften frische Früchte und vor allem Trauben aus Italien, die ich sehr liebte. Später machte ich dann während der Chilbi auch einen Stand vor dem Haus und hielt Haushaltartikel feil. Bald merkte ich aber, dass dies eine sehr verantwortungsvolle und riskante Arbeit war, denn man konnte den Stand nicht einfach unbeaufsichtigt verlassen. Schon damals verschwand alles was nicht niet und nagelfest war.

Im ersten Stock wohnte die Familie Fleischmann mit ihren drei Kindern. Wir spielten oft zusammen und bauten einmal sogar unser „eigenen Verkaufsladen“ auf dem leeren Stück Land zwischen unseren Häusern, das aber eigentlich auf dem Lande des „SIMONS“ war. Ich ging in alle Geschäfte im Dorf und fragte um Attrappen von Lebensmittel-Packungen die man damals in den Schaufenstern hatte. Es war erstaunlich wie viel „Ware“ wir bekamen und wie sich unser Inventar an Suppen, Zahnpasten, etc. rasch erweiterte. Eigentlich hatte ich gehofft, dass meine Schwester als Verkäuferin mitspielen würde, aber sie weigerte so wie meistens, wenn ich sie gerne mit dabeigehabt hätte. Dafür kamen viele andere Kinder und der Laden wurde ein regelrechter Anziehungspunkt. Das wurde dem Vater Fleischmann plötzlich zu viel. Da er als Schneider immer zu Hause war, hatte er unser Unternehmen von Anfang an missbilligend von seinem Fenster oben herab verfolgt. Eines Tages bat er meinen Vater die miese “Hütte“ abzureissen um wieder Ruhe zwischen den beiden Gebäuden zu haben. Das war für uns natürlich eine bodenlose Beleidigung und schliesslich ein dramatisches Zusehen wie unser, mit viel Herzblut und Mühe erstelltes „Geschäft“ in kurzer Zeit vernichtet war! Am Schluss wurden wir gebeten den ganzen „Plunder“ aufzuräumen! Erst später wurde mir bewusst, dass wir ja ohne Bau-Bewilligungen gebaut hatten und nicht einmal daran gedacht hatten eine Lizenz für das Geschäft einzuholen. Aber das ganze Spiel war schliesslich doch eine Lehre fürs Leben gewesen. Allerdings zeigte uns damals niemand auf welchen Umwegen und mit welchen Mitteln wir unser „Projekt“ gegen allen Widerstand trotzdem hätten durchkämpfen können…!

Das Leben im Dorf
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5.  Das Leben im Dorf


(1) Die Möbelfabrik Rüttiman & Rothlin
Die Möbelfabrik Rüttiman & Rothlin


Das Leben im Dorf war damals vor allem von der Industrie geprägt. Ob Sommer oder Winter, immer um 11.30 Uhr, um 12.55 Uhr und um 17.00 ertönte das riesige Horn auf dem Dach der Möbelfabrik Max Stählin. Es war für uns fast wichtiger als die Uhr an den beiden Kirchtürmen, denn es kündigte nicht nur den Arbeits-Beginn und das Arbeits-Ende in der Fabrik an, sondern war eine Zeitansage für das ganze Dorf und besonders auch für uns Kinder. Bei seinem Aufheulen wussten wir immer, dass man entweder nach Hause zum Essen musste oder dass es höchste Zeit war um zur Schule zu rennen. Meine Mutter sagte immer: „Chasch verusä, aber wänns hornät, chunsch hei“! Ein anderer Hinweis, dass es Zeit war um nach Hause zu gehen, waren die unzähligen Arbeiter die aus den Fabriken nach Hause oder wieder zurückströmten. Das Dorf Lachen war damals vor allem für die Holzindustrie bekannt. Da war erstens das grosse Sägewerk Risi entlang dem Bahngeleise, die Sägerei Oberli und dann die Möbelfabriken Max Stählin und Rüttimann-Rothlin, die sehr schöne Qualitäts-Möbel herstellten. Aber da gab es noch eine Reihe von anderen Betrieben bei denen man Arbeit fand. So zum Beispiel bei Color Metall (RiRi), der Reissverschlussfabrik, der Seidenfabrik Stünzi & Söhne, der Baumwoll-Zwirnerei Ruoss-Kistler (die sich aber auf Galgener Boden befand), der Weblitzenfabrik Grob AG, der Schuhfabrik Growela, der Hemdenfabrik KAUF und der Webmaschinenfabrik Zipfel. Später kamen noch die Teppichfabrik FORBO, die Firma Industrielack, die Lackfarbenfabrik Stehlin und weitere, meistens kleinere Betriebe dazu. Heute ist von diesen Betrieben leider nicht viel übriggeblieben und auf den ehemaligen Fabrikarealen stehen Wohnungen oder die Betriebe wurden zu anderen Zwecken umgenutzt. Obwohl das Dorf heute kaum mehr von Industrie geprägt ist, nennen es die Politiker und Immobilienhändler eine „fortschrittliche Entwicklung“. Während früher die Arbeiter im Dorf wohnten und sogar zum Mittagessen nach Hause gehen konnten, ist heute für die Berufstätigen „pendeln“ zur Pflicht geworden. Man arbeitet auswärts und verbringt somit viel Zeit im Zug oder auf der Strasse, Zeit die man früher für die Familie und die Kinder hatte. Da bleibt schon die Frage ob bei diesen Veränderungen und dem damit ausgelösten täglichen Stress, der Verlust der damaligen Lebensqualität wert ist. Es wäre auch interessant zu wissen, ob mit dem erreichten Wandel und Wohlstand die Leute nun glücklicher geworden sind.


(2) Das Oberdorf mit Blick auf die Kirche

Das Oberdorf mit Blick auf die Kirche


Obwohl die Industrie damals das Dorfbild beherrschte, war die Landwirtschaft genau so präsent. So betrieb die Molkerei Röthlin hinter dem Restaurant Schützenhaus, also fast im Dorfzentrum, eine Schweinezüchterei. Je nach Wetter und Wind hatten so alle Dorfbewohner abwechslungsweise das Glück sich selbst in einem Schweinestall zu fühlen. Zudem war jeden Dienstag Schweinemarkt (Süülimärt) der auf der Markstrasse ab unserem Haus bis zum Restaurant Sternen stattfand. Schon früh morgens kamen die Bauern mit ihren Fuhrwerken und ladeten ihre Kisten gefüllt mit Schweinen ab. Der ganze Morgen hörte man nichts anderes als das Grunzen und Quietschen der Schweine. Die Strasse war abgesperrt und so konnten nur Fussgänger den Markt durchqueren, durch den ich natürlich nach der Schule gerne einen Umweg machte. Meine Mutter schätzte meine Marktbesuche aber gar nicht, denn auf der Strasse hatte es überall Schweinekot und ich war eben nicht immer sehr aufmerksam. Dies büsste ich damit, dass ich meine Schuhe dann selbst putzen musste, was oft keine appetitliche Arbeit war. Aber auch die Reinigung der Strasse nach dem Markt war nicht einfach, denn die Markstrasse war damals noch mit „Bsetzisteinen“ (Kopfsteinpflaster) belegt. Aber dank Wasser aus den Hydranten war die Strasse nachmittags wieder sauber.

Frau Michel, die Wirtin vom „Eckstein“, machte jeden Dienstag, also zum Süülimärt, einen grossen Topf Fleischsuppe. Mit einem Anschlag am Fenster wurde dies den Bauern bekannt gemacht. Am Mittag war deshalb die Beiz immer bis auf den letzten Platz besetzt. Man hörte die Stimmen bis in unsere Wohnung, besonders wenn die Bauern gute Käufe oder Verkäufe gemacht hatten und das mit einem Schnaps und urchigem „Bödele“ feierten. Natürlich war dies ein wichtiger Tag für die Kasse von Frau Michel, aber dazu gehörte eben auch das Putzen der Böden am nächsten Tag, das meistens sehr mühsam und ekelerregend war. Das erlebte einmal auch mein Vater, denn oft blieben einige Bauern nach dem Essen in der Beiz und genossen mit dem gemachten Gewinn das Leben den ganzen Nachmittag und manchmal bis spät in die Nacht. Einmal klopfte ein Bauer ganz verzweifelt um fast Mitternacht an unsere Wohnungstür. Er hatte auf der Toilette erbrochen und jetzt fehlten ihm die beiden Zahnprothesen. Er flehte meinen schlaftrunkenen Vater an, ihm doch die Zähne aus dem WC zu holen. Mein Vater war gar nicht begeistert von seiner Forderung, willigte aber schliesslich doch ein mit ihm ins Erdgeschoss zu gehen. Als er die Zähne im WC nicht sehen konnte, fragte ihn mein Vater, ob er denn nach dem Erbrechen gespült habe? Der Bauer nickte herrisch und sagte verzweifelt „natürlich“! Irritiert versuchte ihm dann mein Vater zu erklären, dass in diesem Fall die Prothesen bereits im Jauchekasten seien und er diese nicht mehr finden könne. Das wollte der aufgebrachte und besoffene Mann überhaupt nicht verstehen und erboste noch mehr. So ging mein Vater mit ihm und einer Taschenlampe ein halbes Stockwerk tiefer und leuchtete in den übelriechenden Inhalt der Jauchegrube. Erst jetzt verstand der Bauer sein Unglück und liess meinen Vater endlich wieder zurück ins Bett gehen. Dem armen Kerl schickte mein Vater nie eine Rechnung für seine Dienste und konnte nur hoffen, dass der Bauer nicht seinen ganzen Tageserlös versoffen hatte und noch etwas übrigblieb um sich neue Zähne zu kaufen!

Einmal im Jahr fand die Viehausstellung auf dem Seeplatz statt. Aus der ganzen Gegend benutzten die Bauern diese Gelegenheit um ihr Vieh prämieren zu lassen. Schon Tage zuvor suchten Gemeindearbeiter die systematisch im Boden befindlichen Rohrhülsen. Darin wurden dann Stahlrohre eingesetzt und dann mit Ketten verbunden. Das ergab schliesslich eine grosse Anlage wo später die Kühe, Kälber und anderes Vieh angebunden werden konnte. Am Tag der Ausstellung war schon früh morgens Betrieb im Dorf und ständig trafen Bauern mit ihren Tieren ein. Natürlich hatten alle Kühe Glocken am Hals und das bewirkte ein unaufhörliches Gebimmel in allen Tonarten. Stolz marschierten die festlich gekleideten Besitzer neben ihren ebenso fein herausgeputzten und oft mit Blumen dekorierten Tieren an unserem Haus vorbei. Noch eindrücklicher waren aber die Bäuerinnen, die meistens in der Märchler Tracht gekleidet ins Dorf kamen. Am Nachmittag, nach der Prämierung der Tiere, kehrten die Besitzer mit ihren Tieren meist sofort wieder nach Hause zurück. Schliesslich mussten sie zur Melkzeit wieder im Stall sein. Bei der Rückkehr konnte man feststellen wie die Tiere prämiert worden waren, denn sie hatten je nach Kategorie ein entsprechendes, farbiges Schild auf der Stirne. Natürlich hinterliess die Viehausstellung jedes Jahr nicht nur Spuren auf den Strassen im ganzen Dorf, sondern auch immer einen ausgesprochen ländlichen Duft.

Lachen war früher bekannt und sogar berüchtigt wegen seinen vielen Beizen und „Schnapsbudeli“. Alkoholkonsum war damals normal und so machte sich niemand über die Nebenwirkungen grosse Gedanken. Sogar mein Vater genehmigte sich jeden Morgen vor dem Frühstück einen Schnaps. Meine Mutter bat ihn immer wieder diese blöde Mode aufzugeben, aber er war überzeugt, dass er seinen Hals regelmässig desinfizieren müsse. Im Vergleich zur damaligen Bevölkerung von ungefähr 3’000 Einwohnern waren die nachfolgenden 35 Lokale mit Alkoholausschank aber schon aussergewöhnlich:

Adler

Bierhalle

Gambrinus

Ochsen

Schützenhaus

Alpenblick

Central

Jäger

Pöstli

Schwanen

Alpenrösli

Eckstein

Kapelle

Ratskeller

Sonne

Bahnhof

Eintracht

Kreuzplatz

Rosengarten

Sternen

Bären

Eisenbahn

Marktstübli

Rössli

Tell

Bauernhof

Falken

Merkur

Rütli

Traube

Biergarten

Frohsinn

Metzg

Schäfli

Zehnder


Die „Abendsonne“ an der Zeughausstrasse befindet bereits auf dem Gemeindegebiet von Galgenen und ist deshalb in der obigen Tabelle nicht aufgeführt.

Natürlich waren viele dieser Betriebe sehr klein und wohl kaum rentabel. Die Meisten überlebten nur weil der Besitzer den Betrieb selbst und ohne Personal führte. Die grosse Zahl von Beizen war für Geschäftsleute wie mein Vater eine ziemliche Herausforderung, denn sie zu ignorieren wäre für unser Geschäft schlecht gewesen. Zudem wäre man entweder als hochnäsig oder als geizig eingeschätzt worden. Für mich waren die Beizen lange tabu denn meine Mutter sagte immer wieder, dass diese Lokale nicht für mich seien. Als ich älter wurde konnte ich aber meiner Mutter nicht mehr gehorchen, denn mit meinen Kollegen war es einfach unmöglich am Wochenende zu kneifen und ein gemeinsames Bier in einer der vielen Beizen abzulehnen. Nach der Polizeistunde wurde ein Aufenthalt im Dorf besonders interessant, denn nun verliessen die letzten Gäste lautstark die Lokale. Oft ignorierten sie mit dissonanten Gesängen die schlafenden Nachbarn oder entschieden sich noch für eine handfeste Prügelei. Dies schätze der Wachtmeister überhaupt nicht, denn Ordnung mit Männern in alkoholisiertem Zustand zu schaffen war nicht immer leicht. Männer in diesem Zustand waren zu allem fähig und so warfen sie ihn einmal kurzerhand in einen Brunnen. Man nannte den Kanton Schwyz ja damals nicht grundlos „Kanton Mord und Totschlag“. Um ein solches Spektakel nicht zu verpassen trafen wir uns Buben oft am Samstag um Mitternacht beim „Löli-Ecken“, gegenüber dem Rathaus, dort wo früher der Konsumverein seine Filiale hatte. Trotz der riesigen Auswahl an Beizen zog ich aber später mit einigen Kollegen das ruhige „Café Wolf“ an der Kantonsstrasse beim Spreitenbach vor. Es war ein kleines, nettes Lokal, das an die Autogarage und Tankstelle der Familie Wolf angebaut war. Mit einer Tochter des Besitzers die das Lokal führte, konnte man stundenlang und oft sehr angeregt über das Geschehen im Dorf und der ganzen Welt diskutieren

Der Konsumationsdruck auf Gewerbetreibende galt auch für die Vereine, denn um freiwillige Zuwendungen zu erhalten wurde nicht nur überall „eingekehrt“, sondern man musste auch alle Geschäfte im Dorf berücksichtigen, also auch den Bäcker, den Metzger, den Coiffeur, usw. Ich war mir bewusst, dass auch das Überleben unseres Betriebes von diesen Berücksichtigungen abhing, aber ich empfand diesen Zwang äusserst demütigend und unerträglich. Dieser Zustand hatte für meine Begriffe nichts mit Handels-Freiheit zu tun und war so einschränkend, dass ich diese Situation in einem eigenen Betrieb weder akzeptieren, noch hätte weiterführen wollen. Diese Erkenntnis war schliesslich auch einer der Gründe wieso ich später den väterlichen Betrieb nicht übernahm. Ich wollte frei und ohne Druck entscheiden können welche Geschäfte für meine Einkäufe in Frage kamen und wo es mir Spass machte „einzukehren“.

Gleichzeitig bestand damals ein gegenteiliger, öffentlicher Druck und zwar gegen die Billigung der MIGROS, der gefährliche Feind des Kleinhandels und der Kleinbetriebe. Man fürchtete um seine Existenz und dass ein landesweites „Lädelisterben“ eintreten würde; eine Befürchtung die sich ja später auch teilweise bestätigte. Obwohl die MIGROS damals keine Bewilligung hatte sich im Kanton Schwyz niederzulassen, fand der schlaue Gründer, Gottlieb Duttweiler, eine Lösung. Er suchte private Lebensmittelgeschäfte die willig waren auch MIGROS Artikel in ihrem Sortiment aufzunehmen. In unserem Dorf konnte man deshalb im Laden eines „Verräters“, der „GIRO“ hiess, neben anderer Ware auch MIGROS Produkte kaufen. Natürlich verstand ich die Ängste meiner Eltern, war aber trotzdem immer versucht mich in diesem Geschäft wenigsten einmal umzusehen. Ich war mir zweifellos bewusst, dass wenn ich dort gesehen würde, dies unter den Gewerbetreibenden im Dorf sofort als schlimmes Vergehen verurteilt würde. Zudem hatte ich auch Angst mit meiner Neugier dem Ruf meiner Eltern zu schaden. MIGROS war und blieb für uns deshalb tabu. Allerdings nur in unserem Dorf, denn im Kanton Zürich hatte MIGROS ja schon seit einiger Zeit Filialen und dort kannte mich niemand. So konnte ich dort in aller Ruhe die neuen, stark kritisierten Verkaufsmethoden (Selbstbedienung) erkunden, immer in der Hoffung vielleicht etwas zu lernen oder später sogar zu imitieren.

Zum Glück gab es im Dorf eine Ausnahme. Es war eine Person die damals noch keine solchen Überlebens-Sorgen hatte und vielleicht gerade deshalb mit ihrer Lebensfreude und Ausstrahlung immer in Erinnerung bleiben wird. Es war der „Glace-Ma“, der im Winter zum „Marroni-Ma“ wurde. Im Sommer kam er jeden Tag vom Oberdorf her ins Dorf. Er wohnte in Galgenen und hiess Mastolaro. Immer schob er eine wunderbare, fahrbare Eisdiele oder „Gelateria“ vor sich hin und meldete seine Gegenwart mit einer Glocke. Der immer fröhliche Italiener hatte einen Schubkarren in ein märchenhaftes Gefährt umgebaut, das mich immer sehr faszinierte. Seine Eisdiele war rechteckig, die Räder waren mit Seitenwänden abgedeckt und die Verkaufsfläche mit einem romantischen Baldachin vor der Sonne geschützt. Die Tragstützen des Baldachins waren nicht einfach Holzpfosten, sondern mit verschiedenen Profilen von einem Schreiner gedreht worden. An den Trägern waren Glasleuchter befestigt, die nachts ein musisches Licht ausstrahlten. Ausser einigen Ornamenten in Goldfarbe war alles Schneeweiss gestrichen. Auch er selbst war immer schneeweiss gekleidet und erschien mit einem Koch-Hut auf dem Kopf noch eindrucksvoller. Damit war er natürlich eine Erscheinung die im Dorf nicht unbemerkt blieb. Auf der äusserst sauberen Verkaufsfläche sah man nur die funkelnden Deckel der Glace-Behälter die unter der Fläche gekühlt eingebaut waren. Allerdings war die Auswahl mit Vanille und Erdbeere damals sehr bescheiden. Wenn man eine Glace bestellte, nahm er eine Art Metall-Form aus einem mit Wasser gefüllten Eimer, legte eine dünne Waffel hinein und füllte sie mit der Glace. Dann legte er eine zweite Waffel darauf und stiess dann die fertige „Eis-Waffel“ aus der Form und übergab sie dem Kunden. Damals gab es noch keine Cornets und so musste man aufpassen, dass der süsse Genuss in der Sommerhitze nicht gleich auf allen vier Seiten schmolz und so über die Hände und Kleider lief. Im Herbst schien der „Glace-Ma“ verschwunden und man sah ihn erst wieder im Winter, wenn er im Dorf „Eissi Marroni, ganz eiss!“ ausrief. Im Winter nannten wir ihn deshalb den „Marroni-Ma“. Er hatte immer gute Marroni und sogar mein Vater kaufte manchmal einige Gramm, die wir dann zu Hause teilten und genossen. Ob „Glace-Ma“ oder „Marroni-Ma“, der Italiener war immer so wohl gelaunt und sympathisch, dass ihn alle im Dorf sehr schätzten. Zeitweilen machte ihm im Winter ein anderer, populärer „Marroni-Ma“ Konkurrenz: der Michele Brusetti, der Grossvater eines Schulkammeraden.

Neben dem „Glace-Ma“ gab es noch weitere Personen die im Dorf alle kannten. Sie waren aber eher Dorf-Originale über die man sich lustig machte oder die wir Buben gelegentlich zu ärgern versuchten. Einer der Bekanntesten war der gute René, der im Bürgerheim wohnte und dort viel im Garten arbeitete. Er „spannte“ bei Hochzeiten in einer schwarzen Kleidung und einem Zylinderhut vor der Türe der Kapelle und erwartete gerne einen „Batzen“ oder einige „Füürschtei“ beim Erscheinen des Brautpaares. Eigentlich war er immer freundlich, aber wir Buben versuchten ihn trotzdem manchmal zu ärgern. Dann wurde er aufgeregt und rannte einfach „nach Hause“ ins Bürgerheim. Manchmal versuchten wir ihn durch das Gitter des Gartenhages zu hänseln. Aber das entging den Ingenbohler Schwestern selten und sofort jagten sie uns schimpfend davon.

Eine weitere Person, oder besser gesagt ein Original, das alle Leute im Dorf kannten, das war der „Kafader-Päuli“ der an Down-Syndrom litt. Man sah ihn fast jeden Tag im Dorf, meistens um etwas für seinen Vater zu erledigen. Er war immer sehr freundlich, konnte aber auch sehr ungehalten sein. Dann liess man ihn am besten weiterwatscheln. Es war erstaunlich wie er fast alle Leute mit Namen zu grüssen wusste und dass ihn sein Vater sogar mit Zahlungen auf die Post schicken konnte. Das zeigte, dass er trotz seinen Einschränkungen sehr gewissenhaft war und vielleicht auch deshalb im Dorf immer Respekt erfahren durfte.

Im Bärengässli wohnte eine weitere Person die wir gerne foppten. Es war der mental leidende Sohn der Familie Beeler, der zu Hause betreut wurde. Allerdings konnte dieser sehr aggressiv und böse werden. Und genau dies versuchten wir Buben oft zu provozieren. Dann kam er wie ein wildes Tier schreiend auf uns los und wir rannten davon. Zum Glück war die Gartentüre immer geschlossen, sonst hätte er uns sicher einmal erwischt. Natürlich kam bei seinem ersten Aufschrei sofort die Mutter oder der Vater aus dem Hause und beschimpfte uns. Aber alles nützte nichts, beim nächsten Mal im Bärengässli konnten wir es nicht lassen, den armen Burschen wieder zu provozieren.

Natürlich hatte ich manchmal einen anderen triftigen Grund den Weg zur Schule durch das Bärengässli zu wählen. An der Ecke des Bärengässli und der St. Gallerstrasse befand sich nämlich die Bäckerei Häfliger, wo man immer durch das Fenster in der Backstube sehen konnte. Wenn das Fenster offen war bat ich oft um etwas Teig. Meistens gab er mir ein kleines Stück, ein Stück das ich nicht zum Backen oder Essen brauchte, sondern um kleine Kügelchen zu formen. Beim vielen Drehen mit meinen schmutzigen Fingern wurden sie bald dunkelbraun und ideal um meine Klassenkameraden damit zu beschiessen. Aber der erhaltene Teig wurde nicht immer auf diese Weise vergeudet. Es kam vor, dass mir meine Mutter einen „Z’nüni-Apfel“ mitgab und mir vorschlug ihn beim „Beck“ Häfliger im Teig backen zu lassen. Auf dem Heimweg holte ich ihn dann ab und genoss das feine Gebäck zu Hause.


(3) Aus dem Zeichnungsheft der vierten Klasse (1952)

Aus dem Zeichnungsheft der vierten Klasse (1952)


Während meiner Jugend hatten wir noch sehr lange und strenge Winter. Aber das hinderte uns Kinder nicht den Schnee zu geniessen. Schon als keinen Knirps gingen meine Eltern mit mir schlitteln, zuerst am Landsgemeindeplatz, dann bei der Steinegg am „Säuglingshang“ und später bis zum Bräggerhof, was immer eine rasante Abfahrt versprach. Meine Mutter war in den Bergen aufgewachsen und deshalb gewohnt Ski zu fahren. Als ich etwas grösser wurde, bekam ich das erste Paar Ski und machte, wie alle in Lachen, meine ersten Versuche am „Säuglingshang“. Anfangs war ich mehr am Boden als auf den Skiern und konnte mich deshalb nicht sofort dafür begeistern. Aber da auch in der Schule Skifahren gefördert wurde und ich meine Fähigkeiten mit anderen Buben vergleichen konnte, kam schliesslich doch noch Interesse für diesen Sport auf. Allerdings verlangte das Skifahren damals sehr viel Anstrengung, denn es gab weder Skilifte noch präparierte Pisten. So mussten wir unsere Bretter auf den Achseln mindestens bis zum Bräggerhof tragen um eine lohnende Abfahrt geniessen zu können. Für ein Totalerlebnis mussten wir aber noch viel weiter hinaufsteigen, beim Waldeggli vorbei bis zum Stöcklichrüz auf 1248 m ü.M. Allerdings war der erste Hang, das Wellblech, kein spezieller Genuss. Alle Grundstücke die wir auf der Abfahrt durchquerten waren in Privatbesitz, also Wiesen von Bauern die wir immer ohne Bewilligung durchquerten. Besonders wenn es nicht viel Schnee hatte, waren wir Skifahrer bei den Bauern gar nicht willkommen, denn wir produzierten mit dem Abrutschen auf den fast aperen Wiesen manchmal Landschaden. Einige Landbesitzer umzäunten deshalb ihre Wiesen mit Stacheldraht um so unsere Durchfahrt zu verhindern. Ohne Vorsicht endete man darum gerne mit zerrissenen Hosen und Kratzer an den Beinen im Schnee. Tückisch war es auch wenn Bauern den wunderbar weissen Schnee mit Jauche (Gülä) übersprüht hatten. Aber wenigstens war man dann durch den farbigen Schnee gewarnt und durfte sich danach einfach keinen Sturz erlauben!

Damals wurden öffentliche und dringende Mitteilungen an die Bevölkerung durch den Gemeindeweibel, Herr Ruhstaller, ausgerufen. An solchen Tagen hatte er die Pflicht auf seinem Fahrrad durchs ganze Dorf zu fahren und die aufgetragene Ansage der Bevölkerung mitzuteilen. Immer wieder stieg er vom Fahrrad und begann dann sofort mit einer Glocke die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Dann hörte man ihn mit kräftiger Stimme zum Beispiel folgendes rufen: „Es wird bekannt gemacht…, dass vom Zwei bis am Füüfi    z’Wasser abgeschtellt wird!“ Wenn man ihn nicht gehört oder verpasst hatte war das kein Problem, denn die Nachricht wurde anschliessend von den Nachbarn nochmals übermittelt. Ich fand diese Art von persönlicher Kommunikation immer sehr sympathisch und es war schade, dass diese Tradition schliesslich aufgegeben wurde.

Die persönliche Kommunikation funktionierte auch bestens ohne Gemeindeweibel. Man kannte sich im Dorf und es gab überall immer Augen die nur zu gerne etwas gesehen hätten um es dann sofort in Umlauf zu bringen. Wenn ich unbewusst jemanden auf der Strasse nicht grüsste, wurde dies meinen Eltern bei der nächsten Gelegenheit vorwurfsvoll mitgeteilt und ich wurde dann beschuldigt unfreundlich zu sein mit den Leuten. Es gab keine Anonymität im Dorf, dafür aber ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Solidarität, etwas das leider sehr verloren ging. Man war „Lachner“ und darauf war man stolz. Gleichzeitig grenzte man sich aber bewusst von Einwohnern aus Nachbargemeinden ab. Besonders mit den Leuten aus Siebnen bestand eine seltsame, ja vielleicht argwöhnische und misstrauische Beziehung. Natürlich hatten wir den Vorteil, dass unser Dorf am See gelegen war und wir deshalb vielleicht etwas anders geprägt waren. Jedenfalls nahm der Zwist um die Fasnachtszeit meist ganz spezielle Formen an. Im Turnus organisierte jede Gemeinde ihren eigenen Fasnachtsumzug. Jede Gemeinde wollte immer den besten und schönsten Umzug vorführen. Um dies den Konkurrenten zu vermiesen, beauftragten beide Veranstalter jeweils „Wettermacher“ um am Umzug des Gegners für Regen oder Schnee zu sorgen. Einmal hatte dies sogar funktioniert und der Siebner Umzug wurde total verregnet. Prompt wurde beim nächsten Fasnachts-Umzug noch mal nachgedoppelt und ein Wagen voll mit Regenschirmen mit dem Motto „Z’Siebne gosch mit em Schirm at d’Fasnacht“ vorgeführt. Natürlich war dies ein ziemlich gemeiner Fasnachts-Scherz, doch da man die Fasnacht des Nachbarn meistens sowieso eigenwillig mied, blieb er für die Meisten in Siebnen wohl unbemerkt. Trotzdem „lächelte“ man in Lachen an der Fasnacht weiter so wie immer!

Aber nicht nur an der Fasnacht wurde gescherzt. Während dem ganzen Jahr machten die sogenannten „Nachtbueben“ von sich reden. Allerdings waren ihre Spässe nicht immer lustig und endeten oft mit Beschädigungen. Meistens entdeckte man erst am Morgen, wo „gleidwärchet“ oder „gschändet“ worden war. Mein Vater war öfters Opfer von so mutwilligen und kopflosen Taten. Immer wieder musste er unseren Handwagen im ganzen Dorfe suchen und verlor dabei kostbare Arbeitszeit. Der Handwagen hatte seinen Platz unter dem Vordach neben dem hinteren Eingang zum „Eckstein“. Der Abstellplatz war wohl eingezäunt, aber das Tor liess sich leicht öffnen. Und so war er für die heimkehrenden, angetrunkenen Gäste eine einladende Versuchung um sich damit zu vergnügen (etwa so wie es heute mit den Einkaufswagen der Shopping-Center geschieht). Aber auch unsere Auszugs-Leitern waren vor den „Nachtbueben“ nicht sicher. Die Leitern waren diskret unter einem Blechdach beim Werkstatteingang aufgehängt und waren zusätzlich durch eine Metall-Gittertüre geschützt. Aber mein Vater hatte trotzdem Bedenken, dass die Übeltäter mit einer entwendeten Leiter einen Unfall bauen könnten und er dann schliesslich dafür verantwortlich sein müsste. Aber auch andere Betriebe wurden Opfer von diesen „Nachtschwärmern“. Sogar die Seeanlagen waren nicht sicher vor ihnen. Pflanzen wurden nicht nur mutwillig ausgerissen, sondern weggeworfen oder gestohlen. Neben weiteren Schändigungen wurden einmal sogar einige der roten Holzbänke am Seeufer zersägt. Natürlich hatte niemand etwas von der Tat gesehen oder gehört!

Der ganze Strassenverkehr aus Zürich in Richtung Graubünden und zurück führte damals unausweichlich durch unser Dorf und an unserem Hause vorbei. Am Sonntagabend war der Verkehr oft unerträglich, denn da kehrten die vielen Ausflügler nach Hause zurück. Pausenlos fuhren Autos durchs Dorf und man hatte Mühe die Strasse sicher zu überqueren. Zum Glück unterbrach die Barriere im Oberdorf von Zeit zu Zeit diese Autolawine und lichtete für kurze Zeit den blauen Abgasdunst. Während der Woche waren es die schweren Lastwagen die unser Haus zittern liessen und ich fragte mich oft ob das Haus solide genug sei um auf Zeit der ständigen Belastung Stand zu halten. Aber nicht nur die Autos durchquerten unser Dorf, sondern auch die Bahn. Durch die Geleise war das Dorf in zwei Teile getrennt und mit Bahnübergängen miteinander verbunden. Es gab vier Barrieren, eine beim im Aetzihof/Sagenriet, eine beim Rütli, dann an der Alpenblickstrasse und eine sehr kleine (nur für eine Person) beim Griesammler. Die drei letzt aufgeführten Barrieren wurden von einer Frau in einem Wärterhäuschen beim Rütli bedient. Sie hatte die drei Barrieren immer genau im Auge und wusste immer wenn jemand unter der Barriere hindurch schlüpfte und in Eile über die Geleise huschte. Dies kam auch oft bei der vom Bahnhof bedienten Barriere „Aetzihof“ vor, denn nur zu oft blieb diese sehr lange geschlossen um nach der Durchfahrt des normalen Zuges noch einen Schnellzug oder einen Güterzug abzuwarten. Dann ignorierten nicht nur wir Kinder, sondern auch eilige Erwachsene die geschlossenen Barrieren.

Lokale Transporte wurden von Fuhrhaltern mit Ross und Wagen ausgeführt. Auch das Bier, die Milch und andere Waren wurden auf diese Weise angeliefert. Einmal pro Woche lieferte die Brauerei Wädenswil das Bier in Fässern mit einem Wagen der von zwei, manchmal vier wunderbaren, starken Pferden gezogen wurde. Grössere Güter wurden von den Fuhrhaltern ebenfalls mit Ross und Wagen transportiert. Diese Art von Transport verursachte keine Luftverschmutzung und lieferte meiner Mutter immer wieder frischen Bio-Dünger in Form von „Rossböllen“ die sie der Erde beimischte und vor allem für die Rosen gedacht waren. Die Molkerei Röthlin hatte schon damals einen täglichen Hauslieferdienst. Im Turnus machten die Söhne der Familie Röthlin ihre Tour mit Pferd und Anhänger durchs ganze Dorf um ihren Kunden mit Milch direkt aus der „Tanse“ (Taussä) zu bedienen. Es war frische und unbehandelte Milch die jeden Tag zweimal von den Bauern bei der Molkerei Röthlin abgeliefert wurde. Da man wusste, dass die Milch direkt aus dem Stall kam, wäre es niemandem eingefallen bei Röthlin’s zu reklamieren, wenn man eine Fliege oder ein Haar darin fand (oder die Milch deswegen sogar weg zu schütten). Es war normal die Milch zu sieben und sie vor Gebrauch erst aufzukochen. Allerdings schmeckte mir die Milch ganz frisch von der Kuh viel besser, am Allerbesten aber auf einer Alp. Dabei machte ich mir keine Gedanken ob die Milch behandelt war oder vielleicht sogar unsichtbare Schadstoffe enthalten könnte. Die Milch war einfach ein herrlich natürliches Getränk das ich jeden Tag genoss. Und wenn ein Bauer einmal versuchte seine Milch mit Wasser zu streckten, dann dauerte es nicht lange bis dies allen im Dorf bekannt wurde. 

Das christliche Leben und Bräuche im Dorf
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6.  Das christliche Leben und Bräuche im Dorf

Während den ersten Tagen im neuen Jahr war man eigentlich noch in Weihnachts-Stimmung und mit den Geschenken beschäftig. Erst am 6. Januar, dem Tag der Erscheinung des Herrn (Epiphanie) und dem Festtag der heiligen drei Könige, merkte man, dass ein neues Jahr begonnen hatte. An diesem Tag gab es bei uns immer einen Dreikönigskuchen aus süssem Hefeteig, der zu Kugeln geformt und blütenförmig angeordnet mit Mandelblättchen und Hagelzucker bestreut war. Mit dem gekauften Kuchen gab es eine goldene Papierkrone, denn in einem der Kugeln war eine kleine Figur in Form eines Königs eingebacken. Wer beim Essen auf diesen Glücksbringer stiess, war für einen Tag König. Früher benutze man eine getrocknete Bohne, eine Mandel, eine Münze oder einen anderen kleinen Gegenstand. Ich hatte oft das Glück auf meiner Seite und genoss es einen ganzen Tag meiner Schwester zu zeigen wer regierte.

Um Mitternacht des Dreikönigstages begann jeweils das traditionelle Einschellen der Fasnacht. Schon als kleiner Knirps war ich fasziniert von diesem heidnischen Brauch den Winter und die dunklen Geister mit viel Lärm zu vertreiben. Doch ich musste zuerst gross und kräftig werden um selbst mitmachen zu können. Und als ich glaubte es sei soweit, präsentierte ich mich mit anderen Burschen gegen Mitternacht bei der Spreitenbach-Brücke wo wir die Treicheln fassten. Ich bekam zwei Treicheln, die mir an einem Rundholz angehängt wurden, das ich hinter dem Kopf über beiden Achseln trug. Als ich mir bewusst wurde welches Gewicht diese Treicheln tatsächlich hatten, war es schon zu spät um meine Meinung zu ändern, denn die „Einscheller“ marschierten bereits los. Mit dem Lärm den wir produzierten vertrieben wir natürlich nicht nur alle Dämonen des Winters, sondern schreckten auch viele Einwohner aus ihrem Schlaf. Natürlich war die Last der Treicheln viel zu gross für mich und bald merkte ich wie schwierig es war sie im Gleichschritt zu schwenken. Ich bedauerte, dass ich beim Fassen der Treicheln zwei Geissen-Glocken geringschätzig verweigert hatte, die mir anfänglich angeboten wurden. Aber eben, ich wollte schon erwachsen sein und so hatte ich mich überschätzt. Der Marsch ins Dorf war mühsam und so war ich froh als wir schliesslich dort ankamen und die Treicheln wieder abgeben konnten. Meine Einbildung schon erwachsen zu sein und mein falscher Stolz wurden mit Schmerzen in meinen beiden Achseln und tauben Ohren während fast einer ganzen Woche bestraft. Trotzdem war es ein einmaliges Erlebnis gewesen bei diesem Brauch aktiv dabei zu sein. Hingegen war ich ein Jahr später an einer Teilnahme beim Einschellen nicht mehr interessiert.

Da die Weihnachtszeit nach dem Dreikönigstag der Fasnacht Platz machte, passten natürlich die Weihnachtssymbole nicht mehr in die Stube und so war es auch meistens der Tag wo man den Christbaum abräumte, wo man die Kugeln vorsichtig in Seidenpapier versorgte und die vielen abgefallenen Tannennadeln am Boden mühsam mit dem Staubsauger entfernte. Gleichzeitig begannen die Mütter Fasnachtsküchlein und „Schenkeli“ zu backen. Auch meine Mutter verwöhnte uns mit diesen Backwaren, ja sogar „Berliner“ mit hausgemachter Himbeerkonfitüre „im Herzen“, die im Öl frittiert werden mussten und daher eher schwer verdaulich waren. Natürlich war ich bei der Zubereitung immer dabei und half wo ich konnte. Da aber immer heisses Öl im Spiel war, durfte ich nicht zu nahe an den Kochherd. Dafür durfte ich bei einer Arbeit mit weniger Fett- und Ölgehalt mithelfen, zum Beispiel bei den „Bricelet“ oder Bretzeli. Anfangs machte sie meine Mutter noch auf dem Feuerofen, aber bald kaufte sie ein elektrisches Bretzel-Eisen, das ich dann sogar selbst bedienen durfte. Die Bretzeli wurden dann in einer schönen Aluminium-Dose aufbewahrt und wenn Gäste kamen während der Fasnachtszeit aufgetischt. Oft konnte ich nicht widerstehen und öffnete die Dose in Abwesenheit meiner Mutter…! Noch besser aber mundeten mir die Ziegerkrapfen aus der Konditorei Schmid; sie waren einfach himmlisch gut. Genau so gut waren die „Lachnerli“, die man zum meinem Glück das ganze Jahr dort kaufen konnte. Sie kosteten damals nur 20 Rappen und so nannte man sie „20er-Stückli“. Immer erhältlich waren auch die „Schriberli“, ein knuspriges Gebäck für das ich gerne mein sauer verdientes Sackgeld opferte. Leider ist das leckere Gebäck seit die Schriber’s die Bäckerei aufgaben nicht mehr erhältlich. Ich hatte noch mehrer Male erfolglos bei Frau Schriber nach dem Rezept gefragt, aber sie blieb verschwiegen. Das „Schriberli“ war nämlich so gut, dass ich das Rezept ganz gerne mal zu Hause ausprobiert hätte.

Eigentlich war es verboten in der „Uzyt“ nachts maskiert auf die Strasse zu gehen, denn dafür gab es die offiziellen Fasnachtstage, der Erste immer am letzten Montag im Januar. Aber niemand scherte sich um Vorschriften und die Polizei hielt sich meistens diskret zurück. Es waren Wochen wo man sich unter einer Larve vieles erlaubte, welches man sich normalerweise niemals getraut hätte. Es war eine limitierte Zeit von Freizügigkeit die oft an Unsittlichkeit grenzte. Interessanterweise wurde diese unmoralische Zeit von der Kirche nie verboten. Vielleicht aber verstand sie das Bedürfnis der Menschen sich wenigstens einmal im Jahr aus dem Konformitätsdrucks der umgebenden Gesellschaft zu lösen und sich frei zu fühlen etwas zu tun was sonst nicht toleriert wurde.



(1) Fröhliches Fasnachtstreiben im Dorf (aus dem Zeichnungsheft der 2. und 3. Primarklasse)

Fröhliches Fasnachtstreiben im Dorf (aus dem Zeichnungsheft der 2. und 3. Primarklasse)


Während die Erwachsenen nun mehrere Wochen Zeit hatten die Fasnacht zu geniessen, mussten wir Kinder geduldig auf den ersten offiziellen Fasnachtstag warten. Dieser Tag begann meistens mit einer Hexenjagd. Als Hexen verkleidete Masken verfolgten uns Buben durchs ganze Dorf und versuchten uns zu erwischen. Einige hatten „Süblotere“ (aufgeblasene Schweine-Blasen), meist noch mit Blut verschmiert, bei sich. Wenn man erwischt wurde bekam man eine „Süblotere“- Lektion, was nicht immer appetitlich war. Am Nachmittag kamen dann schönere Masken ins Dorf und es wurde gemächlicher. Ich liebte besonders die schönen Dominos oder die Rölli, denn diese verteilten „Eierkränze“. Dann kamen noch zwei weitere Fasnachtstage im Februar, wo am Dienstag die Wurst- und Brotverteilung stattfand.

Da mein Vater in Basel aufgewachsen war, fühlte er sich während der Fasnachtszeit besonders in seinem Element. Fast jedes Jahr fuhr er nach Basel zu seinen „drei schönsten Tagen des Jahres“, so wie es die Basler nennen. Meine Mutter konnte mit der Fasnacht nichts anfangen. An ihrer Stelle durfte ich aber schon als kleiner Junge meinen Vater begleiten und sogar mit ihm an den „Morgenstraich“. Aus diesem Grund war er auch ein begeistertes und sehr aktives Mitglied der „Narrhalla“, der im Jahre 1864 gegründeten Lachner Fasnachtsgesellschaft. Manchmal versuchte er Elemente der Basler Fasnacht im Dorf einzuführen, aber mit solchen Experimenten kam er gar nicht gut an. Doch nach Jahren Geduld gelang es ihm trotzdem. Zusammen mit Onkel Heiri (Diethelm) kreierten sie im Jahre 1950 für den Fasnachtsumzug, mit dem Motto "Lachen lächelt", den „Lachner Grind“, ein Kopf mit einem fröhlich lachenden Gesicht. Es war erstaunlich, dass diese für Lachen neue Art von Maske, plötzlich akzeptiert wurde, denn im Grunde genommen war sie nichts anderes als den Basler „Fasnachtsmasken“ nachgeahmt und hatte überhaupt nichts Gemeinsames mit der Märchler-Fasnachtskultur.


(2) Der von Heiri Diethelm kreierte "Lachner Grind"

Der von Heiri Diethelm kreierte "Lachner Grind"


Während Onkel Heiri den „Lachner-Grind“ entwarf, wurden die ersten Prototypen in unserer Werkstatt oder bei Onkel Heiri in seinem Atelier angefertigt. Diese Arbeiten interessierten mich besonders und so durfte ich auch immer mithelfen. Zuerst wurde die Maske aus Gips kreiert und dann ein Negativ davon hergestellt. Dann wurde Zeitungspapier in Wasser eingeweicht und mit Kleister lagenweise in oder auf die Negativ-Form gelegt, sodass ein solider Karton entstand. Sobald die Maske trocken war, wurde sie von der Form genommen und zum weitertrocknen neben den Holzofen gelegt. Für den „Lachner Grind“ brauchte es zwei Formen, eine für das Gesicht und die Andere für den Hinterkopf. Die beiden Teile wurden dann zusammengenäht und die „Narbe“ mit nassen Papier und Kleister zum Verschwinden gebracht. Am Schluss wurde der Grind bemalt, was meistens Onkel Heiri machte. Manchmal wurde eine grosse Anzahl Köpfe gebraucht und so war ich immer gerne in der Werkstatt gesehen. Für den Fasnachtsumzug baute mein Vater und Onkel Heiri in unserer Werkstatt den grossen „Lachner Grind.“ Er wurde dann am Fasnachts-Umzug auf Rädern durchs ganze Dorf gezogen und später sogar nach Zürich an die Fasnacht mitgenommen. Obwohl ich beim Kleben von „Lachner-Grinden“ oft mithalf, durfte ich erst viel, viel später einmal einen solchen an der Fasnacht selbst tragen. Ohne Mitglied der „Narrhalla“ zu sein, durfte man damals wohl „Lachner-Grinde“ anfertigen, aber nicht tragen.


(3) Lachner Fasnachtsumzug 1950

Lachner Fasnachtsumzug 1950


Natürlich wollte mein Vater immer, dass auch ich an der Fasnacht teilnahm. Schon als kleiner Knirps verkleideten mich meine Eltern. Sie fanden in der Fasnachtskiste auf dem Estrich eine Mädchentracht aus Ungarn und die musste ich unbedingt anziehen. Sie bestand aus einem grünen Filzjupe mit zwei Goldbändern am Saum, einer weissen, langärmligen Bluse und einem dreieckigen Kopfschmuck mit rotweissen Bändern die über die Ohren bis auf die Brust reichten. Dann hatte ich noch einen eleganten, grünen Handbeutel um mein Taschentuch und andere Mitbringsel zu verstauen. Und ob das Übel nicht schon genug gewesen wäre, wurden dann noch meine Backen rosa und die Lippen knallrot geschminkt! Ich verstand gar nicht was diese Verkleidung mit Fasnacht zu tun hatte, denn sie war für mich überhaupt nicht lustig. Zudem sträubte ich mich „Wiber-Chleider“ zu tragen, denn ich wollte unter keinen Umständen als ein Mädchen im Dorf gesehen und von den anderen Buben ausgelacht werden. Aber mein Protest nützte nichts, meine Eltern fanden mich niedlich und ich musste einfach als Mädchen an die Fasnacht. Wenn ich schon ein weibliches Wesen sein musste, dann wäre ich anstatt „niedlich“ lieber eine böse, hässliche Hexe gewesen, so hätte ich wenigstens zur Märchler Fasnacht gepasst. Und so trabte ich mit gesenktem Kopf neben meinen Eltern her und fragte mich wieso sie mir diese Schmach antaten? Zu meinem Erstaunen passierte nichts das mich beleidigt hätte und andere Eltern fanden mein „Fasnachts-Kleidchen“ sogar sehr originell und „herzig“. Aber all dies konnte meine miese Fasnachtstimmung auch nicht erheitern.


(4) An die Fasnacht mit einer Tracht aus Ungarn

An die Fasnacht mit einer Tracht aus Ungarn


Als ich etwas grösser wurde durfte/musste ich als Ringgi und Zofi“* an den Fasnachts-Umzug. Für diesen speziellen Auftritt wurden die Maske, die Kleider und die Hundekiste speziell für die Fasnacht angefertigt. Diesmal wehrte ich mich nicht, denn man konnte ja mein Gesicht unter dem „Grind“ nicht sehen. Allerdings hatte ich Mühe die Hundekiste mit dem Zofi während dem ganzen Umzug mitzutragen. Die blöde Kartonkiste hinderte mich am normalen Gehen. *Ringgi (von Ringier abgeleitet) ist ein Reporter und Zofi (von Zofingen, dem Sitz von Ringier) seinem Dackel.



(5) An die Fasnacht als Ringgi und Zofi

An die Fasnacht als Ringgi und Zofi


Im Juni 1950 fand in Lachen das Schwyzer Kantonal-Jubiläumssängerfest statt. Das Logo des Festes war ein Singvogel. Damit hatte mein Vater bereits schon wieder eine Idee für den Fasnachtsumzug des darauffolgenden Jahres. Er kreierte eine Figur die den Gesang und die Musik symbolisierte. Und wieder wurde ich zum Opfer seines Projektes. Ich musste ein langes, blaues Kleid tragen, das bis auf den Boden reichte und mit vielen weissen Singvögeln und einem grossen Notenschlüssel dekoriert war. Mein Kopf wurde zu einem Notenkopf auf dem ein grosser weisser, singender Vogel sass, der seine Lieder unter dem Noten-Fähnchen gegen den Notenhals piepste. Am Notenkopf angemacht waren zudem lange Haare die in zwei Teilen bis zu meiner Hüfte reichten und auf beiden Seiten mit je einer weissen Masche zusammengehalten wurden. Natürlich ging das alles nicht ohne mein Gesicht zu schminken. Ich bekam grosse rote Backen und dunkle Augenbrauen aufgemalt. In der Hand trug ich einen kleinen eleganten Handbeutel, der aus dem gleichen Stoff wie das Kleid gemacht war. Darin hatte ich Süssigkeiten für die Kinder. Der Name dieser Schöpfung: „Singvögeli“!!!  Zu dieser Zeit war ich schon 9 Jahre alt und so war es für mich unerträglich in dieser Aufmachung in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Aber wieder fand ich kein Gehör bei meinem Vater und ich musste die Sache einfach durchstehen. Diesmal ging es nicht so gut, denn meine Kopfdekoration war viel zu hoch und rutschte immer hin und her. Schlimmer war jedoch, dass mich meine Klassenkameraden erkannten und sich über mich, dem „Singvögeli“, lustig machten.


(6) ....und als Singvogel am Sängerfest

....und als Singvogel am Sängerfest


Als auch meine Schwester alt genug war um an der Fasnacht teil zu nehmen, musste auch sie mitmachen. Sie hatte sich bis anhin viel energischer gegen Vaters Fasnachtsprojekte wehren können. Aber diesmal gab es für sie keinen Vorwand mehr nicht mit dabei zu sein. Mein Vater hatte nämlich zwei grosse Micky Maus Köpfe gemacht, einen männlichen und einen weiblichen, also für uns Beide. Da man uns in dieser Verkleidung nicht erkennen konnte wehrten wir uns nicht. Allerdings hatte die Innenkonstruktion des „Grindes“ einige Tücken, denn unsere Köpfe hatten keinen guten Halt im innern der Maske. So baumelte der „Grind“ oft in Richtungen die man nicht erwartete und kontrollieren konnte. Auch in anderen Jahren wurden wir für den Fasnachtsumzug aufgeboten. So mussten wir einmal einen Wagen mit einem riesigen Glarner-Zigerstöckli ziehen. Diesmal hatten wir Larven und waren grün wie das Zigerkraut angezogen. Da das Zigerkraut damals nur in Lachen wuchs, hiess es auf dem Wagen: z’Aroma kunnt vo Lache“.

Während den offiziellen Fasnachttagen mischten sich auch immer „Negerli“ unter das Maskentreiben. Es waren meistens Mädchen die sich als Afrikanerinnen verkleidet hatten und um Almosen für die aus der March stammenden Missionare baten. Allerdings trugen sie keine Maske, sondern hatten das Gesicht sowie den Hals total schwarz geschminkt. Zur Verkleidung gehörten nur eine krause, schwarze Perücke und knallrot geschminkte Lippen. Damals hatte man im Dorf noch nie Afrikaner gesehen. Als ich den schwarzen Mädchen deshalb zum ersten Mal begegnete, glaubte ich wirklich, dass man sie aus Afrika hatte kommen lassen. Sie sahen so unglaublich echt aus, dass es viel brauchte um mich zu überzeugen, dass die Mädchen eigentlich aus dem Dorf waren. Die Sammlung für Missionare war von Frauen aus katholischen Vereinen organisiert. Aber eigentlich konnte man das ganze Jahr für Missionare spenden, denn in den Klassenzimmern stand immer irgendwo ein kleines, viereckiges Kästchen auf dem ein „Negerli“ stand und das beim Einwurf einer Münze eifrig nickte. Die ganze Aktion war für mich sehr exotisch und ich fragte mich schon damals, was mit dem Geld in Afrika tatsächlich geschehen wird?

Erst viel später, als ich schon erwachsen war, begann ich die Fasnacht zu geniessen. Zusammen mit Kollegen gingen wir maskiert ins Dorf und liebten es Bekannte zu „intrigieren“. Einmal bekam ich durch eine Bekannte, die in einer Papierfabrik arbeitete, eine WC-Rolle mit einem Durchmesser von fast einem halben Meter. Da ich bei den Fasnachtsartikeln meines Vaters einmal eine riesige Schere von etwa einem Meter Länge gesehen hatte, entschieden wir uns damit WC Papier zu schneiden und den Leuten auf der Strasse um den Hals zu binden; meistens mit dem Rat, dass diese Art von Behandlung von Ärzten gegen Verstopfung verschrieben werde. Gleichzeitig erzählten wir den Leuten allerhand Blödeleien und amüsierten uns dabei köstlich. Maskiert hatte ich auch keine Hemmungen mehr in die vielen Gaststuben und Beizen zu gehen und die Gäste dort zu unterhalten. Dabei bewunderte ich vor allem die meist aufwendigen und fantasievollen Fasnachtsdekorationen, die ja in der ganzen Gegend und bis nach Zürich bekannt waren. Sie inspirierten mich so stark, dass ich mich entschloss selbst auch so etwas zu kreieren. Ich fragte Frau Michel, die Wirtin des Ecksteins, ob ich das Säli für eine Party benutzen dürfe. Sie war einverstanden und so kleidete ich den ganzen Raum mit Papier aus. Das Motto der Party war „In der Höhle“ und so wurde zusammen mit Freunden gemalt und dekoriert was das Zeug hielt. Wir bastelten sogar eine Baar wo wir unsere Getränke geniessen konnten. Es war eine unvergessliche, private Fasnachts-Party und zu meinem Erstaunen halfen mir meine Freunde am nächsten Tag beim Abräumen.

Noch während der Fasnacht, also am 2. Februar, wurde das „Fest der Darstellung des Herrn“ oder auch „Maria Lichtmess“ gefeiert. Man sagte, dass diese Tradition einen biblischen Ursprung hat und dass er mit einem Besuch von Maria, Josef und ihrem Kind im Tempel zu tun hat. Am darauffolgenden Tag, am 3. Februar, wurde der „Sankt Blasius“ gefeiert. Er wird als Schutzpatron gegen Halsleiden und Husten seit dem neunten Jahrhundert verehrt. Der Blasiussegen soll die Gesegneten vor Halskrankheiten schützen. Natürlich wollte ich mir eine solche Segnung nicht entgehen lassen und diese religiöse Prophylaxe auch bekommen. So mischte ich mich an diesem Tag unter meine Klassenkameraden und ging mit ihnen in die katholische Kirche. Ich hatte Bedenken, dass mich jemand sehen könnte um dann mit Schande aus der Kirche gejagt zu werden. Aber nichts dergleichen geschah und so ging es nach Beten und Singen in Einerkolonne nach vorne wo der Priester mit zwei riesigen Kerzen stand. Ohne mich zu fragen wer ich war, kreuzte er zwei Kerzen, berührte damit meine beiden Ohren und sprach das Fürbittegebet. Ja und dann war schon wieder der nächste Knabe an der Reihe. Ich aber war erfüllt mit dem Gefühl nun für ein Jahr lang vor gesundheitlichem Ungemach geschützt zu sein und zudem auf eine gewisse Art glücklich von den Katholiken akzeptiert worden zu sein. Und jeweils am 5. Februar feierte die katholische Kirche das Fest der Heiligen Agatha, dessen Namen aus dem Griechischen kommt und „die Gute oder die Sanfte“ bedeutet. Der Heiligen Agatha werden vier Patronate zugeschrieben, nämlich jenes der Glockengiesser, gegen Krankheiten, sowie gegen Erdbeben und Unwetter. Insbesondere ist sie aber Schutzpatronin gegen Feuergefahr und damit auch Patronin der Feuerwehr. An diesem Gedenktag gab es „Agathabrötchen“ die zur Segnung vorher in die Kirche gebracht worden waren. Die Wirkung des Agathebrotes ist vielfältig. So sagt man, dass das Aufbewahren von ein bis zwei Stücken dieses Brotes eine Familie während des ganzen Jahres bewahre ohne Brot zu sein.

Am Aschermittwoch gab es einen ähnlichen Brauch in der Kirche. An diesem Tag streute der Priester geweihte Asche als Symbol für das Leben in Kreuzform auf die Häupter der Gläubigen. Das Aschenauflegen erinnerte an die Vergänglichkeit des irdischen Daseins so wie es in der Bibel (Genesis 3.19) steht: „Gedenke Mensch, dass Du Staub bist und wiederum zum Staub zurückkehren wirst!“ Die Asche wurde morgens nach der Schülermesse ausgeteilt und so kamen meine Klassenkameraden immer mit Asche auf dem Kopf in die Schule. Wir Protestanten hatten keinen solchen Brauch und so fühlten wir uns ohne Asche auf dem Kopf an diesem Tag etwas ausgegrenzt und vor allem ungesegnet in der Schule. Aber da ich mich immer fragte woher wohl all die Asche herkam und dazu nie eine Antwort bekam, konnte ich mich nie entscheiden so wie am St. Blasius Tag zusammen mit meinen Klassenkameraden auch am Aschermittwoch in die Kirche zu gehen.

Der Aschermittwoch, an dem das närrische Treiben vorbei ist, markiert zugleich den Beginn der Fastenzeit, die immer bis an Ostern dauert. Nach der üppigen (fetten) Fasnachtszeit, kamen nun die Wochen der Entbehrung und der Zeit wo man uns aufforderte die armen und mittellosen Leute nicht zu vergessen (Fastenopfer). Wenn ich mich aber an meine Jugend erinnere, dann brauchte es damals keine grossen Anstrengungen zur Entbehrung. Im Keller gingen anfangs Jahr immer die Vorräte an ausgekeimten Kartoffeln, schrumpligen Äpfeln, Konfitüre mit Schimmelpilzbefall und vielem Anderem langsam aus. Tiefkühlschränke und Treibhäuser gab es damals noch nicht und frisches Gemüse war ja erst wieder im Frühling erhältlich. Also waren die Mütter gezwungen punkto Menuplan mit viel Pragmatik und Fantasie zu kochen um nicht immer nur „Chabis und Härdöpfel aufzutischen müssen. Ich hatte immer das Gefühl die Kirche hätte die Fastenzeit nur eingeführt um der Bevölkerung diese oft sehr harte Zeit ertragbarer zu machen. Erst heute wo alles immer im Überfluss erhältlich ist, würde die Fastenzeit für echt Gläubige eigentlich zur wirklichen Herausforderung und Prüfung.

Am fünften Sonntag in der Fastenzeit, dem Passionssonntag, findet immer das Kapellfest statt. Es ist der eindrücklichste religiöse Brauch weit herum und ich konnte jeweils kaum warten bis es wieder soweit war. Der Ursprung dieses Festes ist eine wundersame Heilung und dem anschliessenden Bau der Kapelle zur „Schmerzhaften Mutter im Ried“ im Jahre 1684. Die Kapelle wurde anschliessend von Pilgerzügen und später von Bittwoch-Kreuzgängern besucht. Seit über 300 Jahren findet nun das Kapellfest statt so wie es heute gefeiert wird. Am Samstagmorgen wurde nach einer Messe das Allerheiligste (Corpus Christi in der Monstranz) und die schwarz gekleidete Statue der „Schmerzhaften Mutter Gottes“ in einer Prozession von der Pfarrkirche zur Kapelle im Ried gebracht. Als kleine Buben folgten wir der Prozession und als alle Leute weggegangen waren bestaunten wir die Statue, die im Kapellhof abgestellt worden war. Sie war entzückend schön und zum Betrachten so viel näher als in der Pfarrkirche. Sie war so nahe, dass ich in die Versuchung kam sie zu berühren. Erst als mich ein unbeschreibliches Gefühl erfüllte merkte ich, dass ich ihr Kleid berührt hatte. Und dann überkam mich plötzlich die hemmungslose Neugier zu wissen was sie unter ihrem kostbaren Kleide trug. Ohne weiter zu überlegen hob ich den Saum des Kleides und guckte darunter! Und was bekam ich da zu sehen: nichts als ein banaler Holzpfahl und sonst gar nichts! Zuerst war ich von der trostlosen Leere unter dem Kleid enttäuscht und dann total konsterniert, weil dies gar nicht zu der göttlichen Bekleidung passte. Bestürzt rannte ich nach Hause um meiner Mutter zu erzählen, dass die Katholiken keine leibhaftige Maria, sondern eine Holzfigur, so wie die Heiden in Afrika, anbeten würden. Zuerst machten sie mein kindliches Erlebnis sowie mein treuherziges Geständnis fassungslos. Aber dann flehte sie mich an, das eben Gesehene niemals jemandem zu erzählen. Sie schien grosse Angst zu haben, dass meine sündhafte Tat viele Katholiken erzürnen könnte und für die Eltern damit wichtige Kunden verloren gehen könnten.

Ich selbst fühlte mich von der „Schmerzhaften Mutter Gottes“ für die unzüchtige Tat nicht gepeinigt, denn sie hatte meine Vorfreude auf die Prozession am Sonntagabend nicht getrübt. Während am Morgen des Passionssonntags in der Kapelle eine feierliche Messe zelebriert wurde, folgten am Nachmittag die Ehrenpredigt und das Miserere am Abend. Ja, und dann kam das für mich immer grösste und eindrücklichste Erlebnis des Jahres: die wunderbare Lichter-Prozession von der Kapelle im Ried zurück in die Pfarrkirche. Ich hatte schon am Vortag mit viel Interesse der Errichtung des Lichterbogens über der Kapellstrasse bei der Sägerei Oberli beim Mühlebächli mitverfolgt. Einmal errichtet, wurden mit viel Sorgfalt die vielen Gläser mit den Kerzen bestückt und auf dem Bogen bis ganz oben verteilt. Und so genoss ich am Abend nicht nur die wunderbare Lichter-Pracht des Bogens, sondern auch die Lichter auf der ganzen Prozessionsroute. Während einige Fenster mit bunten Transparenten bespannt waren, die religiöse Motive zeigten, wiesen brennende Kerzen auf den Fenstersimsen den Weg zur Kirche. Meine Eltern begleiteten mich immer an das von mir intensiv geliebte Fest, blieben aber immer ein bisschen im Hintergrund. Ich aber wollte die Prozession ganz nahe erleben und drängte mich nach vorne. Es gab ja so viel Aussergewöhnliches zu sehen, zum Beispiel die Erstkommunikanten. Die Mädchen erschienen in weissen Kleidern und mit einem Kommunion-Kränzchen auf dem Kopf. Dann kamen die verschiedenen Vereine mit ihren farbigen Fahnen, der singende Kirchenchor, die Harmoniemusik mit ihren glänzenden Instrumenten, die Behörden mit ihren ernsten Mienen, die militärische Ehrenwache mit furchterregenden, aufgesteckten und funkelnden Bajonetten, das Allerheiligste das ein Priester unter einem goldenen Baldachin trug und natürlich die Statue der Schmerzhaften Muttergottes, die mir bei der erneuten Begegnung meine unreife Tat des Vortages mit einem imaginären Augenzwinkern vergab. Ganz verzückt kehrte ich nach Hause zurück und träumte noch Tage vom Gesehenen. Vor allem aber imitierte ich als kleiner Bub das Gehörte mit: „Bim Bam“ für die Glocken der Pfarrkirche, „Rmmrmrmrm“ für die Betenden und „Pumpum“ für die Pauke der Harmoniemusik!

Erst als ich etwas älter wurde erfuhr ich, dass man dieses religiöse Fest ganz entweihend auch „Schätzelifäscht“ nannte und dass sich Verliebte nach der Prozession in der Dunkelheit der Seeanlagen verirrten. Zudem war es Tradition an diesem Fest frische, im Ried gefangene Froschschenkel, zu verspeisen; und dies obwohl es Fastenzeit war. Aber vielleicht ass man damals während diesem Fest Froschschenkel, weil ein Frosch so wenig Fleisch an den Schenkeln hat und die Speise deshalb als Fasten-Mahlzeit zugelassen war. Ausser der offiziellen Fastenzeit gab es aber auch die sogenannten Fast- und Abstinenztage. Bei den Abstinenztagen wurde auf Fleisch verzichtet, so zu Beispiel am Freitag. Obwohl wir keine Katholiken waren, gab es auch bei uns am Freitag nie Fleisch, sondern eine Käse- oder Zwiebelwähe mit einem grünen Salat und dann meistens noch eine Wähe mit Saisonfrüchten. Aber meinem Vater, der ja streng arbeiten musste, war diese Mahlzeit oft nicht nahrhaft genug. Er beklagte sich, dass er jeweils um 3 Uhr nachmittags bereits wieder Hunger habe. Neben dem religiösen Hintergrund eines Abstinenztages fand meine Mutter aber schon damals, dass Fleisch mit Vernunft genossen werden muss und sich ein fleischloser Tag nur positiv für das Verdauungssystem auswirken kann.

Nach dem sechsten und letzten Sonntag der Fastenzeit kam der Palmsonntag, der Tag an dem an den Einzug von Jesu Christi in Jerusalem gedacht wird. Während die Katholiken an diesem Tag Zweige von Stechpalmen zur Segnung in die Kirche brachten, fand in den protestantischen Landeskirchen die Konfirmation für Jugendliche im Alter von 15 oder 16 Jahren statt. Damals fand die feierliche Segnungshandlung in der evangelischen Kirche Siebnen statt und markierte gleichzeitig den Übertritt ins kirchliche Erwachsenenalter. Für mich war es kein besonders beeindruckender Anlass gewesen. Mir fehlten die menschliche Wärme und eine eindrückliche Inszenierung so wie ich es in der katholischen Kirche beobachtet hatte, eine kraftvolle Handlung an die man sich das ganze Leben lang gerne erinnert hätte. So war ich auch an diesem speziellen Tag wie immer froh die sterile Kirche wieder verlassen zu dürfen. Zudem freute ich mich auf das gemeinsame Essen mit meinen Eltern und Gästen. Etwas war allerdings ganz speziell an diesem Tag: endlich konnten wir unsere kurzen Hosen und die „Gegelfänger“ auf die Seite legen und wie Erwachsene lange Hosen tragen!

Die Karwoche, oder auch Heilige Woche genannt, war immer auch eine stille Woche. Gemäss einem jahrhundertealten Brauch schwiegen die Glocken in allen katholischen Kirchen aus Trauer um das Leiden und Sterben von Jesu Christi vom letzten Abendmahl am Abend des Gründonnerstags bis zum „Gloria“ in der Feier der Osternacht. Als Ersatz wurden Ratschen genutzt um die Gläubigen an die Gebets- und Gottesdienstzeiten zu erinnern. Man sagte uns Kindern, dass während diesen stillen Tagen alle Glocken der Kirche nach Rom zur Segnung gereist waren.

Am Karfreitag, dem wichtigsten Feiertag für Portestanten, gab es bei uns zum Mittagessen immer gebackene Dorschfilets, Salzkartoffeln und grünen Salat. Da es damals kein einziges Geschäft im Dorf gab, das frische Fische verkaufte, konnte man bei der Molkerei Röthli für diesen Tag ausnahmsweise auch Dorschfilets bestellen. Ich freute mich jedes Mal auf dieses schmackhafte und einmalige Festessen. Natürlich gab es am Karfreitag auch eine katholische Tradition in unserem Dorf, eine Tradition die meine Mutter immer sehr ärgerte, ja sogar erzürnte. Die Bauern behaupteten, dass wenn man an diesem speziellen Tag das Güllenloch leere und die Jauche auf das Feld bringe, dann würde während dem ganzen Jahr alles besser gedeihen. Diese alte Tradition gab eigentlich keinen Anstoss für Unmut. Es war viel mehr der Transport der Jauche der Missmut schürte. Komischerweise mussten an diesem Tag alle Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern mit ihrer Jauche immer durchs ganze Dorf fahren. Die Güllenwagen hatten oft undichte Ventile und besprühten so nicht nur die Felder, sondern alle Strassen im Dorf die sie benutzten. Und so durfte man den ganzen Tag Güllenluft geniessen und musste beim überqueren der Strasse aufpassen wo man hintrat. Da meine Mutter am Flumserberg aufgewachsen war konnte sie diese Tradition wohl verstehen, aber dass man dabei das ganze Dorf einen ganzen Tag lang verschmutzen und verpesten musste, konnte sie nicht verstehen. Sie empfand diesen Tag immer als Schikane gegen die Protestanten im Dorf.

Aber dann kam Ostern und der Ärger war schon wieder vergessen. Am Karsamstag wurden die Ostereier gekocht und gefärbt. Wir Kinder durften immer mit dabei sein und helfen. Anfangs brauchte meine Mutter noch künstliche Farben, doch mit dem steigenden Bewusstsein über deren Gefahren und Risiken, wollte sie bald nichts mehr davon wissen. Sie holte sich kleine Blumen aus der Natur (Veilchen, Schlüsselblumen, etc.) und fixierte sie mit einem Faden am Ei. Dann wurde das Ei mit Zwiebelschalen umwickelt und 8 -10 Minuten lang gekocht. Es war eine kreative Arbeit die einem viel Freude breitete und einem sogar je nach dem Gelingen des Kunstwerkes auch stolz machte. Diese Ostereier fand ich schliesslich viel schöner und vor allem persönlicher. Am Osternmorgen suchten meine Schwester und ich in der ganzen Wohnung das Osternest. Meine Eltern hatten es immer am Vorabend irgendwo versteckt. Wie jedes Jahr waren in diesem Nest kleine Zuckereier und in der Mitte ein Osterhase aus Schokolade. Um 10 Uhr gingen wir in die Kirche nach Siebnen und damit war das Osterfest für mich eigentlich bereits vorbei.

Schon am ersten Sonntag nach Ostern folgte ein weiterer Festtag, diesmal der „Weisse Sonntag“. Für die katholischen Kinder im Alter von ungefähr neun Jahren war an diesem Tag immer ein grosses Fest angesagt: die Erstkommunion. Zum ersten Mal durften die Buben und Mädchen zusammen mit den Erwachsenen die heilige Kommunion empfangen. Zu diesem Anlass trugen damals die Knaben kurze, dunkle Hosen, einen Kittel mit einer künstlichen weisen Blume im Revers und Wollstrümpfe. Die Mädchen erschienen, so wie am Kappellfest, in einen weissem Kommunionskleid und einem weissen Kränzlein auf dem Kopf.

Im Mai fand in der Pfarrkirche oder in der Kapelle jeweils abends die „Maiandacht“ statt. Die Andacht war ein Gottesdienst zu Ehren Mariens und so wurde der Mai, neben Wonnemonat, auch „Marienmonat“ genannt. Die Maiandachten fanden ihren Ursprung in rheinischen und fränkischen Diözesen und galten als Frömmigkeitsform und Bittandacht um gute Witterung und schliesslich eine gute Ernte („Maigebet“). Während der Himmelsfahrtwoche, oder auch Bittwoche genannt, gab es an den ersten drei Tagen Flurprozessionen, am Montag nach Altendorf, am Dienstag nach Galgenen und am Mittwoch zur Kapelle im Ried. Am Donnerstag folgte dann die Christi Himmelfahrt, der Tag an dem die Aufnahme des Herrn als Sohn Gottes zu seinem Vater im Himmel gefeiert wird. Das Fest findet immer 40 Tage nach Ostern statt und fällt immer auf einen Donnerstag, an dem damals auch die ganztägige Bittprozession von Lachen nach Einsiedeln stattfand. Da wir Protestanten in unserer Kirche keine religiösen Prozessionen kennen, hätte ich schon lange gerne an so einem Bittgang teilgenommen. Als mir dann unverhofft Schulkameraden anboten mich mitzunehmen, sagte ich natürlich sofort zu. Meine Eltern hatten nichts dagegen und so freute ich mich doppelt auf das Erlebnis. Schon früh am Morgen trafen wir uns vor der Pfarrkirche und warteten bis der Priester aus der Kirche kam. Dann gliederten wir uns nach den erwachsenen Leuten in die Prozession ein und marschierten los. Es war viel weniger sakral als ich mir vorgestellt hatte und eigentlich eher wie eine normale Wanderung, aber mit Kreuz und Fahne. Es war herrlich durch die taufrische Natur zu ziehen und die Umgebung in aller Ruhe zu geniessen. Der Weg führte uns auf dem Jakobsweg hinter der Johannisburg hinauf zum Etzel und zur St. Meinrad Kapelle. Unterdessen war es wärmer geworden und wir begannen zu schwitzen. Bevor es dann auf dem Jakobsweg weiter hinunter zum Sihlsee ging, wurde daher ein kurzer Halt eingeschaltet. Kurz vor der Teufelsbrücke hielt die Prozession nochmals an, diesmal beim Geburtshaus von Paracelsus. Er war Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph. Mit nur fast 50 Jahren starb er am 24. September 1541 in Salzburg. Wie Hippokrates glaubte Paracelsus an eine Behandlung, die vom Körper als einem Ganzen ausgeht und schliesslich an die Heilkraft des Körpers selbst. Von diesem ganz speziellen Ort war es nicht mehr weit bis zu unserem Ziel, dem Kloster Einsiedeln. Nach dem Segen in der Kirche ging es dann am Nachmittag mit dem bekannten Wallfahrtsgebäck im Rucksack, dem Schafbock, wieder zurück nach Lachen. Für mich war es eine einzigartige Erfahrung gewesen, denn ich hatte viel gesehen und gelernt. Zudem war ich am Abend nicht nur todmüde, sondern auch überglücklich an diesem katholischen Brauch mit dabei gewesen zu sein. Und da wir damals noch keine komfortablen Wanderschuhe hatten, humpelte ich währen den ersten Tagen der folgenden Woche mit Blasen an den Füssen herum.

Kaum waren die Füsse wieder wanderfähig stand schon das nächste Kirchen-Fest vor der Türe. Mit dem 50. Tage nach dem Ostersonntag endete die offizielle Osterzeit und damit kündigte sich bereits das Pfingstfest an, ein Fest das von Katholiken sowie Protestanten gefeiert wurde. An diesem Hochfest wird dem von Jesus angekündigten Kommen des Heiligen Geistes gedacht. Im 2. Kapitel der Apostelgeschichte wird der Ursprung wie folgt beschrieben:

„Als sich die Jünger zum jüdischen „Schawuot“-Fest in Jerusalem versammelt hatten, wurden sie plötzlich vom Heiligen Geist erfüllt. Vom Himmel herab kam ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daher fährt, und erfüllte das ganze Haus in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“

All dies klang für mich immer sehr mystisch und abstrakt. Auch bei der Predigt in der Kirche schien mir all dies viel zu intellektuell und schwer begreiflich. Ich konnte auch nicht verstehen wieso Zungen wie Feuer auf den Häuptern der Jünger erschienen und niemand konnte mir dafür eine plausible Erklärung geben. Schliesslich gab ich das Grübeln auf und genoss jeweils den freien Pfingstmontag bei Ausflügen zusammen mit meinen Eltern. Durch meine religiösen Tanten erfuhr ich später von der Pfingstbewegung, einer Bewegung die zum Christentum gehört und ausser den allgemeinen biblischen Lehren auch die Erfahrung der Ausgiessung des Heiligen Geistes lehrt. Aber auch dies half mir bei meiner Suche nach plausiblen Erklärungen nicht.

Am ersten Sonntag nach Pfingsten wurde in katholischen Gegenden, so auch in der Pfarrkirche in Lachen, das Dreifaltigkeitsfest gefeiert. 10 Tage nach Pfingsten folgte dann Fronleichnam, ein Feiertag der auch Hoher Donnerstag genannt wird. Es ist das Hochfest im katholischen Kirchenjahr, mit dem die leibliche Gegenwart von Jesus Christus im Sakrament der Eucharistie gefeiert wird. Gleichzeitig wurde auch um Segen und für gute Ernten gebeten. Nach der Messe in der Pfarrkirche folgte immer eine eindrucksvolle, feierliche Prozession durchs Dorf, die an den vier Bruderschaftskreuzen im Dorf einen Halt machte. Schon sehr früh am Morgen wurden an diesen Stationen eindrucksvolle Altare aus Holz aufgestellt und mit vielen Blumen geschmückt. Auch gegenüber unserem Haus, an der Ecke zum Restaurant Adler, war ein solches Kreuz aus Granitstein. Jedes Jahr wurde auch hier ein Altar aufgebaut, und zwar von der Marie, der Magd von Herrn Diethelm im „Schlössli“. Für diese aufwendige Arbeit hatte sie immer starke Helfer organisiert, die nicht nur den Altar aufbauten, sondern auch die vielen, schweren Holzteile jeweils aus dem Keller im „Schlössli“ holten und wieder zurückbrachten. Schon vor Tagen hatten Marie und ihre Bekannten auf den Feldern sowie im Ried Blumen gesammelt und diese in Metalleimer in der kühlen Waschküche aufbewahrt. Bis an Fronleichnam hatten sich hier erstaunlich viele Feldblumen, vor allem aber Margeriten, gelbe und blaue Ilgen, Gladiolen, Astern, Pfingstrosen, etc. angesammelt. Mit diesen wurde dann nicht nur der Altar, sondern auch den Zugang von der der Strasse dorthin geschmückt. Mit dieser Blumenpracht war dieser Altar für mich jedes Jahr der Schönste und Eindrücklichste von allen im Dorf. Es war einfach ein wunderbarer Altar. Besonders spannend war für mich aber immer das Aufstellen und Dekorieren des Altars und so half ich immer begeistert mit. Bis zur Ankunft der Prozession rannte ich unaufhörlich mit Blumenvasen von der Waschküche im „Schlössli“ zum Altar und dann wieder zurück. Sobald die Arbeit vollendet war verschwanden alle Helfer im „Schlössli“ und ich ging zurück nach Hause. Hinter den Fensterläden verfolgte ich dann die eindrucksvolle Prozession. Obwohl ich damals nicht verstehen konnte wieso man wegen einem Leichnam so ein wunderbares Fest organisierte, war es für mich jedes Jahr erneut ein ganz besonderes Erlebnis. Nach der religiösen Handlung am Altar und dem Segen mit der Monstranz zog die Prozession dann weiter. Sofort rannte ich wieder hinunter zum Altar und half Marie die vielfältige Blumenpracht wieder in die kühle Waschküche zu tragen. Ich musste mit den Blumen sehr vorsichtig sein, denn am darauffolgenden Sonntag wurde der Altar für eine verkürzte Prozession nochmals aufgestellt und wenn noch frisch, mit den gleichen Blumen erneut dekoriert.

Nach diesem Feiertag näherte sich die Ferienzeit und so gab es während den Sommermonaten keine grossen religiösen Festtage oder Bräuche mehr. Einzig die Hochzeiten und damit ein alter Brauch hielten sich nicht an ein fixes Datum, sondern konnten irgendwann während des Jahres und sogar während den Ferien stattfinden. Wir Buben wussten immer wann eine Hochzeit stattfand und so trafen wir uns bei einem solchen Anlass mit Vorliebe bei der Kappelle im Ried zum „Spannen“. Vorher hatten wir Schnüre gesucht und sie zu einer langen Leine zusammengeknöpft. Dann warteten wir mit anderen Buben, die auch zum „Spannen“ gekommen waren, vor der Kappelltüre. Sobald sich die Türe öffnete und das Brautpaar aus der Kappelle trat spannten wir unsere Schnüre sodass ihr Weg versperrt war. Nachdem der Bräutigam uns einen Batzen gegeben hatte, liessen wir die Schnüre fallen und machten den Weg frei. Dann schrieen wir „Füürschtei“, „Füürschtei“ und bald waren wir im Regen von Hochzeitsbonbons die wir hastig vom Boden auflasen. Die Hochzeitsbonbons oder „Füürstei“ waren auf der Innenseite der farbigen Wickel mit traditionellen Sprüchen und Weisheiten bedruckt. Eigentlich waren wir uns damals über den Sinn dieser Tradition gar nicht bewusst. Erst später erfuhren wir, dass der alte Brauch „Seil vor der Kirchentür“ eigentlich nur Freunden des Brautpaares vorenthalten war. Indem der Bräutigam für einen freien Weg einen Tribut zahlte, kaufte er sich von seinen Jugendsünden frei und hatte gleichzeitig das Wegerecht aus der Kirche. Eine andere Version sagt, dass das Seil die erste Zerreissprobe der Ehe darstellt. Das Seil soll nicht das Brautpaar aufhalten, sondern die bösen Geister. Auch waren wir uns nicht bewusst, dass wir damals mit dem „Spannen“ eigentlich Erpresser waren, denn schliesslich gaben wir den Weg erst nach einer Gegenleistung frei. Wie dem auch war, wir amüsierten uns jedes Mal bestens und freuten uns, wenn jeder von uns mit einem Batzen im Hosensack nach Hause gehen konnte.


(7) Gratulationswünsche an das frisch vermählte Pfarrerehepaar vor der Türe der Kirche in Siebnen.

Gratulationswünsche an das frisch vermählte Pfarrerehepaar vor der Türe der Kirche in Siebnen.


Ein anderer religiöser Akt der das ganze Jahr stattfinden kann ist die Taufe. Ich fühlte mich ausserordentlich geehrt als mich meine Freunde Werner und Margit fragten ob ich Pate für ihre Tochter Claudia sein möchte. Es war damals fast undenkbar, dass ein Protestant als Götti eines katholischen Kindes in Frage kam. Berührt von dem Vertrauen sagte ich natürlich gerne und mit grossem Stolz zu. Allerdings wollte ich sicher sein, ob die katholische Kirche das überhaupt zulässt. Doch die Eltern von Claudia hatten keine Bedenken und meinten, dass man mir meine Religion nicht ansehe und die Kirche keine Personalien von den Paten verlange. So trafen sich die Eltern mit den zwei Paten und der kleinen Claudia an einem grauen, regnerischen Morgen vor einer Seitentür der Kirche. Man sagte mir man müsse hier auf den Pfarrer warten. Als mich die kalte Seeluft zu stören begann, fragte ich wieso wir eigentlich nicht vor dem Hauptportal auf den Pfarrer warten dürfen, also auf der Seite wo wir vor der kalten Seeluft geschützt gewesen wären. Stumm winkten alle ab und insistierten, dass man vor dieser speziellen Türe warten müsse. Endlich öffnete sich die Seitentüre und der Priester trat aus der Kirche. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er uns nach der langen Wartezeit in die Kirche bitten würde. Doch er schloss die Türe hinter sich und begrüsste uns freundlich. Das irritierte mich, denn ich fragte mich ob die Taufe wohl im Freien stattfinden würde. Sanft aber bestimmt erklärte der Priester, dass das Neugeborene als unreines Wesen nicht die die Kirche gelassen werden kann. Mit einem religiösen Ritual befreite er die unschuldige Claudia von der Erbsünde, der Sünde der Wollust, der Dämonen und weiteren bösen Geistern. Mit Weihrauch wurde das Ritual noch sichtbar unterstützt. Erst jetzt wurde die Seitentüre wieder geöffnet und wir wurden, zusammen mit dem nun „reinen“ Kind in die Kirche gelassen. Als Protestant wurde vor meiner Taufe kein solches Ritual angewendet und so war ich verblüfft, dass ich als unreines Wesen ohne weiteres die Kirche betreten durfte. Irgendwie fand ich das gegenüber Claudia ungerecht und absurd. Aber nun waren wir ja in der Kirche und ich hatte keine Zeit zum Grübeln. Wir waren ja nicht alleine in der Kirche, denn die Freunde und Bekannten waren durch das Hauptportal gekommen und sassen schon lange an der Wärme auf ihren Bänken. Es war eine schöne, harmonische und festliche Taufe. Nun war Claudia getauft und ich war mir bewusst, dass ich damit nicht nur Götti wurde, sondern gleichzeitig auch eine Mitverantwortung übernommen hatte, eine Pflicht die ich später, wenn immer möglich auch wahrnahm. Aber die Episode vor der Kirche beschäftigte mich später trotzdem noch lange. Leider fand ich nie eine plausible Logik für dieses absurde kirchliche Ritual.

Für die Katholiken blieben einige kirchlichen Pflichten auch während den Ferien bestehen. Schon um 06.00 Uhr früh war täglich die Frühmesse, dann um 07.30 Uhr Jugendgottesdienst, um 09.00 Uhr das Amt, jeden Sonntag um 13.30 Uhr die Christenlehre und dann um 17.00 Uhr noch eine weitere Messe. Zudem gab es Andachten oder Messen bei Beerdigungen, nach dem 30sten Todestag, dem Jahrestag eines Verstorbenen, etc. Da hatten wir Protestanten es viel einfacher, denn wir hatten keine solchen religiösen Vorschriften, keine Sittenlehre und Zwänge. Ich wusste auch, dass viele meiner Schulkameraden heimlich auf unsere Freiheit neidisch waren, denn zum Beispiel die Christenlehre am Sonntag nach dem Mittagessen, machte ihre Freizeitwünsche oft unerfüllbar. Manchmal hatte ich mit ihnen Bedauern, denn es kam mir vor als wäre ihr Leben ausschliesslich von der Kirche bestimmt, begleitet mit Angst etwas zu tun was gegen die kirchlichen Gesetze verstossen würde. Später aber wurde mir klar, dass bei Katholiken die Sünde gar kein so grosses Problem war wie ich es mir vorgestellt hatte. Erstens hatten die Katholiken ja die Beichte, bei der alle Misstaten vergeben wurden und zweitens gab es ja den Ablass, einen von der Kirche geregelten Gnadenakt. Es gab Teilablässe oder vollkommene Ablässe, die Gläubigen unter, von der Kirche bestimmten Bedingungen, erlangen könnten und die den Lebenden und den Verstorbenen zugewendet werden konnten. Der Handel mit sogenannten Almosenablässen, für deren Gewinnung als Ablasswerk ein Geldbetrag gespendet werden musste, war unter gut betuchten Gläubigen ein verbreiteter Missbrauch, der schon von den Reformatoren angeprangert worden war. Dass man sündige Taten einfach mit Geld wieder gut machen konnte blieb mir unverständlich und so fand ich diesen Gnadenakt äusserst widerlich; besonders weil arme Leute diese Möglichkeit oft nicht hatten und so ausweglos und „gnadenlos“ dem Schicksal des Fegefeuers oder der Hölle ausgeliefert waren. Zudem gab es den Brauch gegen Entgelt für Verstorbene Heilige Messen lesen oder stiften zu lassen, dies um ihre Zeit im Fegefeuer zu verkürzen. Man nannte diesen Brauch auch „Fürbitte“ oder „Intention“. Ausser für Verstorbene dienten solchen Messen auch für Anliegen des bäuerlichen Lebens (Wetter, Ernte, Gesundheit des Viehs, etc.) oder für gesundheitliche und familiäre Angelegenheiten. Der zu entrichtende Geldbetrag für eine solche Messe wurde „Stipendium“ genannt. Die Leute gaben also ein „Stipendium“ damit in einem bestimmten Anliegen die Eucharistie gefeiert wurde und diese Intention in das priesterliche Gebet eingeschlossen wurde. Da ich mich als Protestant immer selbst mit meinen Sünden auseinandersetzen musste, wäre mir so ein „out-sourcing“ damals auch oft willkommen gewesen. Obwohl mir bewusst war, dass das sogenannte „Messstipendium“ damals für den Lebensunterhalt des Priesters wichtig war, störte mich die Verknüpfung von Geld und Glauben ausserordentlich. Ich war deshalb froh zu wissen, dass der protestantische Pfarrer nicht nur von unserer Kirchgemeinde gewählt war, sondern auch von ihr entlöhnt wurde. Natürlich hütete ich mich damals meine Meinung, mein Unverständnis und meine persönliche Missbilligung der Öffentlichkeit Preis zu geben, sonst wäre ich dann am Ende selbst zum hoffnungslosen Sündigen geworden und hätte eine Fürbitte gebraucht!

Viel später, als ich schon lange erwachsen war, erfuhr ich von verschiedenen Bekannten, dass sie beim Beichten gelogen hatten. Zum Beispiel erzählte mir eine sehr alte Frau, dass sie jeden Sonntag mit ihrem Vater zur Kirche musste und auch gleichzeitig zur Beichte gedrängt wurde. Da sie nicht wusste was sie gesündigt hatte, erfand sie jeweils eine Übeltat und erzählte dem Beichtvater, dass sie dem Vater fünf Franken entwendet habe. Dafür musste sie 5 „Vaterunser“ beten. Am folgenden Sonntag beichtete sie wieder die gleiche erfundene Sünde und bekam 10 „Vaterunser“ als Strafe. Am dritten Sonntag musste sie für die gleiche Sünde 15 „Vaterunser“ zur Strafe beten. Und so wiederholte sich die absurde Situation jeden Sonntag bis der Beichtvater sie schliesslich zur Rede stellte und dem unaufhörlichen Lügen im Beichtstuhl ein Ende setzte! Später erzählte mir eine Afrika-Missionarin, dass auch sie während der Kindheit von ihrer stockkatholischen Mutter am Sonntag regelmässig zur Beichte gedrängt wurde. Doch sie erfand dazu keine Lügen, sondern leierte einfach den von der kirchlichen Obrigkeit „empfohlenen“ Standardsatz „Ich habe Unkeusches getan in Gedanken, Worten und Werken“ herunter. Was dieser Satz genau bedeutete wusste sie nicht. Damals war ja nebst fluchen, stehlen und lügen, auch nur ein Gedanke an das andere Geschlecht, an einen Kuss oder sogar an Sex, unzüchtig und somit eine Sünde. Mit Ihrer „Standard Beichte“ erhoffte sie, dass damit nicht nur alle verbalen und körperlichen Sünden abgedeckt waren, sondern auch unbewusste gedankliche Vergehen. Dies hatte auch den Vorteil, dass man sich bei der Beichte nicht in Details verlor und man ihr danach einfach die entsprechende Standard Anzahl „Vaterunser“ oder „Ave-Maria“ zur Busse gab. Natürlich gab es Beichtväter die sich damit nicht abfanden und nach Details fragten. Mit dem Beichten von „Geheimnissen“ wurde der Gläubige so unausweichlich an die Kirche gebunden und diese baute sich mit diesem Wissen gleichzeitig ihre Macht aus. Ich habe meine Verfehlungen auch bedauert, bereut und gebüsst, aber nicht durch einen Zwischenagent, sondern direkt mit dem Chef im Himmel und auf diese Art war es erst noch gratis.

Am 15. August wurde das Hochfest Maria-Himmelfahrt gefeiert. Dieses Fest erinnert an die Aufnahme Marias mit Leib und Seele in den Himmel, eine Feier die im 4. Jahrhundert erstmals in Syrien begangen wurde. Für mich bedeutete dieser Tag aber immer die Untrüglichkeit, dass wir am Ende der Sommerferien angekommen waren und wir wieder zurück in die Schule mussten. Nach den Ferien merkte man bald, dass die Tage wieder kürzer wurden und der Herbst vor der Türe stand. Aber damit wusste man auch, dass bald wieder Kirchweih oder Chilbi war. Die Tage vor der Kilbi waren für mich interessanter als die Chilbi selbst, denn der Auf- und Zusammenbau der verschiedenen Karussells faszinierten mich immer sehr. Ich konnte stundenlang den Arbeiten zusehen. Als dann die Kilbi los ging war ich natürlich auch dabei, denn ich wollte ja sehen ob und wie schliesslich alles funktionierte. Mit meinen Ausgaben an der Kirchweih wurden die Schausteller und Marktfahrer allerdings nicht reich, denn mit den paar Kilbi-Batzen die ich von meinen Eltern erhielt war mein Kilbi-Vergnügen sehr beschränkt.

Pünktlich jedes Jahr erschien auch ein mysteriöser Schaustellerwagen der seinen Platz immer diskret zwischen zwei Karussells hatte. Es war der Wagen der „Dicken Berta“. So wie Paparazzi, versuchten wir Buben sofort nach ihrer Ankunft möglichst in der Nähe ihres Wagens zu verweilen. Wir hofften immer sie würde einmal unverhofft herauskommen, aber sie kam nie! Darum meinten einige Leute, dass es gar keine „Dicke Berta“ gab und ihre Schau nur eine Illusion war! Trotzdem ermutigte ein Ausrufer die Leute unablässig die dicke Frau leibhaftig im Wagen zu sehen. Aber der Eintrittspreis war für mich unerschwinglich. Zudem war uns Buben der Zutritt in den Wagen gar nicht erlaubt. Und genau diese Einschränkung machte uns Buben nur noch neugieriger und nur zu gerne hätten wir, wie alle anderen Schaulustigen, diese Frau gerne mit den eigenen Augen gesehen. Gleichzeitig schien mir aber das zur Schaustellen einer fettleibigen Frau demütigend und widerlich. Dies fanden wohl viele Leute, denn man erfuhr nie von niemandem der die Schau tatsächlich besuchte und diese Frau je gesehen hatte.

Am 25. September wurde in der Pfarrkirche dem Einsiedler Niklaus von Flüe, oder „Bruder Klaus“ gedacht. Allerdings war es kein ein offizieller Feiertag. Ein offizieller Feiertag hingegen ist im September immer der Eidgenössische Dank-, Buss und Bettag. Dieser überkonfessionelle Feiertag wurde von allen christlichen Kirchen und der Israelitischen Kulturgemeinde gefeiert. An diesem Tag ging immer die ganze Familie in die Kirche. Obwohl sich meine Eltern nicht speziell religiös gaben, war dieser Tag für sie wichtig um gegenüber dem „Allmächtigen“ Dankbarkeit für den Frieden im Land zu bekunden. Der Tag war ja nicht allein konfessionell begründet, sondern auch staatspolitisch orientiert. Nach dem zweiten Weltkrieg sollte er vor allem Respekt vor politisch- und konfessionell Andersdenkenden fördern, ein Anliegen das heute mehr den je von Aktualität ist. Schade nur, dass dies mit einem Kirchengang alleine nicht erreicht werden kann!

Der Oktober verlief ohne kirchliche Feste und nur zu schnell war man wieder im stillen und nebligen Monat November. Am 1. November, an Allerheiligen, gedachten die Katholiken aller Heiligen und tags darauf, an Allerseelen, all jener bereits von uns geschiedenen Mitmenschen. Die Tradition wollte es, dass man an Allerheiligen die Gräber der Eltern, Verwandten und Bekannten aufsuchte. Oft kamen an diesem Tag auch auswärtige Verwandte ins Dorf zurück um die Gräber der Verstorbenen im engsten Familienkreis zu besuchen. Für uns Protestanten war Allerheiligen kein religiöses Fest, denn wir kennen ja keine Heiligen. Trotzdem war für uns ein Gang zu den Gräbern an Allerseelen nicht ausgeschlossen. Dafür war für uns der Reformationstag wichtig, der auch immer am ersten Sonntag im November gefeiert wird. Der Ursprung dieses Gedenktages geht auf den 31. Oktober 1517 zurück, den Tag als Martin Luther seine Thesen an seine Lehrer verschickte. Darin prangerte er die Praxis des Ablasshandels an und rief zur Behebung verschiedener Missstände auf. Dies brachte in gewisser Weise die Reformation in Gang, durch welche viele Menschen heute zur evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde gehören.



(8) Aus dem Zeichnungsheft der 4. Klasse (1951)

Aus dem Zeichnungsheft der 4. Klasse (1951)


Am 6. Dezember kam bei uns der „Samichlaus“ ins Haus. Erstaunlicherweise hatte ich weder vor dem „Samichlaus“ noch vor dem „Tüsseler“ Angst. Im Gegenteil, schon wenn ich sie im Treppenhaus aufsteigen hörte, machte ich die Wohnungstüre auf und hiess den Besuch willkommen. Mein furchtloser und spontaner Empfang amüsierte meine Eltern immer wieder neu und wie man mir später sagte, hatte sogar der (bestellte) Samichlaus jeweils Mühe seine ernste Mine zu behalten. Natürlich hatte er das Sünden-Buch in dem ausführlich von meinem Ungehorsam, von Streichen und anderen Übeltaten geschrieben war bei sich, aber sie waren nie so arg, dass sie ein Züchtigungsinstrument (Rute oder Fitze) rechtfertigten. Und so bekam ich immer einen Sack gefüllt mit Nüssen und Süssigkeiten. Heute kann ich mir gar nicht vorstellen wie damals der „Tüsseler“ einem bösen Kind Angst machen konnte oder sogar mit der Rute eins auf den Hintern geben konnte. Heute würde er samt dem Heiligen Nikolaus sofort wegen Kindsmisshandlung oder sogar Pädophilie verklagt und eingekerkert. Darum sind wohl die ursprünglichen Samichläuse fast total verschwunden und die heutigen Kopien aus Angst vor zivilrechtlichen Klagen nur noch stundenweise an gewissen Tagen vor Weihnachten in den Einkaufszentren zu sehen; heutzutage natürlich gegen alle möglichen Klagen versichert und geschützt.

Den Gedenktag an Sankt Nikolaus wird im gesamten Christentum mit zahlreichen Volksbräuchen begangen. Erst viel später erfuhr ich, dass der Heilige Nikolaus in der ersten Hälfte des 4° Jahrhunderts als Bischof von Myra wirkte, ein Dorf das heute in der Türkei liegt. Über den Niklaus von Myra gibt es unzählige Legenden die immer von seinem Wirken und seinen Wundern erzählen und die, mit der hauptsächlich verbalen Überlieferung, gegenwärtig je nach Land variieren. Heute pilgern vor allem Russen, Kroaten und Serben nach Myra um ihren Schutzpatron zu ehren.

Am 8. Dezember begeht die römisch-katholische Kirche das Fest Mariä Empfängnis oder auch „Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“ genannt. Die unbefleckte Empfängnis ist ein Dogma der Glaubenslehre, nach dem die Gottesmutter Maria vor jedem Makel der Erbsünde bewahrt wurde. So kurz vor Weihnachten war dieser Feiertag für meine Eltern immer eine willkommene Gelegenheit um in Zürich Lieferanten zu besuchen und um Einkäufe zu machen. Im protestantischen Kanton Zürich war ja nicht Feiertag und so freute ich mich immer mit meinen Eltern in die Stadt zu fahren, denn meistens wurden wir von den Vertretern eines Lieferanten zum Mittagessen eingeladen. So durfte ich wie ein Erwachsener in einem grossen Restaurant essen, was damals nicht jedes Kind durfte und konnte. Und wenn es dunkel wurde bewunderten wir die Weihnachtsbeleuchtung in den Strassen der Stadt. Es war für mich immer ein aufregender und magischer Tag, auch wenn ich dann abends immer todmüde ins Bett fiel.



(9) Aus dem Zeichnungsheft der dritten Primarklasse (1951)

Aus dem Zeichnungsheft der dritten Primarklasse (1951)


Der 24. Dezember war für meine Eltern ein ganz normaler Arbeitstag, aber gleichzeitig der Tag wo wir abends Weihnachten feierten. Mit dem Stress vor Weihnachten, der täglichen Arbeitslast und den Vorbereitungen für den Abend gab es an diesem Tag fast immer Spannungen in der Familie. Die Nerven lagen oft blank und meine Mutter meinte dann, dass an Weihnachten immer der Teufel losgelassen werde. Oft hatte ich den Eindruck, dass sie Recht hatte. Als kleine Kinder durften wir nachmittags nicht in die Stube und man sagte uns, dass das Christkind im Hause sei. Schon anfangs Dezember hatten wir unsere Briefe an das Christkind geschrieben und vor die Balkontüre gelegt. Ich staunte immer, dass die Briefe tatsächlich am Morgen nicht mehr da waren. Ob unsere Wünsche wohl erfüllt wurden? Und als es schon ganz dunkel war ertönte plötzlich ein kleines Glöcklein. Es kündigte an, dass das Christkind wieder entschwunden war und wir in die Stube gehen durften. Wir machten die Türe auf und da stand der Christbaum mit seinen vielen Kerzen die den ganzen Raum erhellten. Unter dem Baum sah man Pakete in vielen verschiedenen Farben. Aber wir durften sie nicht berühren bevor wir die bekannten Weihnachtslieder sangen oder später, als wir grösser waren, sie mit Geige und Blockflöte vorspielten. Und dann gab mein Vater das Zeichen für die „Bescherung“, so wie wir es damals nannten. Meistens erhielt ich die gewünschten Spielsachen und so war ich zufrieden und glücklich. Nach der „Bescherung“ gab es immer ein im Teig gebackenes „Schüfeli“. Ich fand dies nie ein passendes Essen für Weihnachten, aber es war nun einfach Tradition und so fand ich mich damit ab. Am Weihnachtsmorgen bewunderten wir nochmals all die Geschenke am Tageslicht und entdeckten oft noch viele Details die wir am Vortag gar nicht gesehen hatten. Aber bald schon mussten wir uns anziehen und dann ging es in die Kirche nach Siebnen. Da hatte es immer einen riesigen Christbaum der bis fast an die Decke reichte. Oft fragte ich mich wie der Baum wohl in die Kirche gekommen war. Es war immer ein schöner Weihnachtsgottesdienst und ich langweilte mich weniger als sonst. Der Hintern tat mir aber genauso weh auf den harten Holzbänken. Zurück zu Hause machte meine Mutter immer ein feines Mittagessen; meistens geräucherte Kalbszunge, Kartoffelstock mit Erbsen und runden „Rüebli“ aus der Büchse. Manchmal hatte sie noch Tante Hanni zum Mittagessen eingeladen. Sie lebte alleine und nahm die Einladung deshalb immer gern an. Kaum waren die schönen Weihnachtstage vorbei zog der Alltag wieder ein und die Leute gingen ihrer Arbeit nach. Wir Kinder aber hatten noch bis am Dreikönigstag schulfrei und so faulenzten wir zu Hause oder genossen die Wintertage draussen im Schnee.



(10) Prot. Kirchgemeindehaus

Prot. Kirchgemeindehaus


Ausser den religiösen Feiertagen gab es manchmal auch ganz spezielle und einmalige Festlichkeiten, so zum Beispiel die Einweihung des Kirchgemeindehauses der Evangelisch-Reformierten Kirchgemeinde der March. Diese Gemeinschaft entstand erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts als sich Zürcher Industrielle mit Webereien und Spinnereien in der March niederliessen. Dies und die erlangte Niederlassungsfreiheit brachten damals Protestanten in die katholische March. Im Jahre 1900 bestand die Kirchgemeinde bereits aus 481 Mitgliedern. Bald entstand das Bedürfnis ein eigenes Gotteshaus zu haben und so wurde die Kirche in Siebnen gebaut. Die Protestanten die in Lachen wohnten wurden jeden Sonntagmorgen mit einem kleinen Bus nach Siebnen zum Gottesdienst und wieder zurück nach Hause gefahren. Da in den darauffolgenden Jahren sich immer mehr Protestanten auch in Lachen ansiedelten, entschied man sich da ein Kirchgemeindehaus zu bauen. Es sollte ein Ort werden wo nicht nur religiöse Handlungen, sondern auch kulturelle Anlässe möglich waren und somit auch Katholiken Zugang hatten. Dieser Offenheit wurde anfangs mit grossem Misstrauen begegnet und es gab sogar Katholiken, die schworen das Kirchgemeindehaus niemals zu betreten. Zudem konnten einige nicht verstehen, dass katholische Handwerker bereit waren am Bau des Kirchgemeindehauses Arbeiten auszuführen. Diese kamen dann, so wie ein einheimischer Dachdecker, für viele Kunden nicht mehr in Frage und wurden nachher sogar von ihren engsten Angehörigen gemieden. Trotzdem wurde im Jahre 1948 der Neubau fertig gestellt, feierlich eingeweiht und später so genutzt wie es ursprünglich vorgesehen war: konfessionsübergreifend!


(11) Transport der Glocke

Transport der Glocke


Ein Teil der festlichen Einweihung war der Aufzug der Glocke auf das Türmchen auf dem Dach. Ich war damals erst 7 Jahre alt, durfte aber trotzdem wie alle Kinder am Hanfseil mitziehen bis die Glocke oben war. An diesem Tag war ich besonders stolz auf meinen Vater, denn er hatte nicht nur den Hahn auf dem Turm entworfen, sondern ihn auch selbst angefertigt. Er wurde ganz aus Kupfer hergestellt und so verfolgte ich seine Entstehung bereits schon in unserer Werkstatt meines Vaters. Als der Hahn dann auf dem Turm montiert wurde, durfte ich mit dabei sein. An diesen speziellen Moment erinnerte ich mich später jedes Mal, wenn ich ihn stolz drehend auf dem Dach sah. Der Hahn war ja nicht nur ein religiöses Symbol, sondern hatte auch die Funktion einer Wetterfahne, wobei eine perfekte Drehmechanik meinen Vater besonders gefordert hatte. Der Hahn steht für Christus, und der Hahnenschrei, der aus dem Schlaf reisst, steht für den Ruf des Erlösers, der die Menschen einmal aus dem Schlaf des Todes wecken wird.



(12) Mein Vater mit dem selbstgefertigten Wetterhahn, bereit für die Montage auf dem Dach des Kirchgemeindehauses.

Mein Vater mit dem selbstgefertigten Wetterhahn, bereit für die Montage auf dem Dach des Kirchgemeindehauses.


Trotz der Einweihung des Kirchgemeindehauses fand man sich weiterhin in Siebnen für die Gottesdienste zusammen. Nur ausnahmsweise wurde ein Gottesdienst in Lachen abgehalten. Wir Kinder hatten es aber besser, denn die „Sonntagsschule“ mit Fräulein Meier fand nun im Kirchgemeindehaus statt. Ich liebte diesen illustrativen Unterricht am Sonntagmorgen. Zu jeder Geschichte erhielten wir jeden Sonntag ein Bildchen, das man in ein Heft mit Text einkleben konnte. So konnte man sich zum Beispiel die Geschichte von „David und Goliath“ oder die „Tempelreinigung“ viel besser vorstellen und verstehen. Die Bildchen spornten uns an fleissig jeden Sonntag im Kirchgemeindehaus zu erscheinen und um weitere illustrierte Geschichten zu hören.

Meistens machte ich den Weg mit Edith die am Kreuzplatz wohnte. Sie wartete vor unserem Haus und dann gingen wir zusammen die Mittlere Bahnhofstrasse hinauf um beim Restaurant Biergarten die zweite Edith, die Tochter des Wirtes, abzuholen. Meistens liess sie uns auf sich warten oder kam gar nicht aus dem Haus. Sie war unbekümmert und selbstsicher, blieb aber unnahbar. Sie wusste immer was sie wollte und genau das gefiel mir an ihr. Komischerweise schien sie meine Sympathie weder zu bemerken noch zu erwidern zu wollen. Nach der „Sonntagsschule“ folgte später der Religionsunterricht. Dieser Unterricht wurde von Pfarrer Türing persönlich gegeben. Im Februar 1956, also über die offiziellen Fasnachtstage, organisierte er ein Skilager auf der Ohrenplatte bei Braunwald. Schon bei der Ankunft zeigte das Thermometer 20 Grad unter Null an und so kalt blieb es auch während dem ganzen Aufenthalt. Trotzdem waren wir den ganzen Tag im Freien und genossen das prächtige Winterwetter. Am Abend wurden wir immer super unterhalten. Allerdings hatte ich mit dem äusserst trockenen und kalten Wetter meine Stimme total verloren und konnte vor lauter Halsweh kaum mehr schlucken. Die Tage waren trotzdem unvergesslich. Das Ziel des Skilagers war die Förderung des Zusammenhangs zwischen Protestanten gewesen und war Teil der Vorbereitung auf die Konfirmation.

Am Palmsonntag (14. April 1957) wurden wir von Pfarrer Ed. Schäubli konfirmiert und damit offiziell in die Evangelisch-Reformierte Kirchgemeinde der March aufgenommen. Meine persönlichen Sprüche zur Konfirmation waren: 

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Schosse,
Wer in mir bleibt und ich in ihm der trägt viel Frucht,
denn ohne mich könnt ihr nichts tun.  (Joh. 15.5)
und
Sehet, was für eine Liebe uns der Vater geschenkt hat,
dass wir Kinder Gottes heissen sollen; und wir sind es. (1.Joh. 3.1) 

Dann folgte noch der traditionellen Konfirmanden-Ausflug der uns am 22. April 1957 auf den Uetliberg führte. Am Wochenende vom 15./16. Juni machte ich mit der „Jungen Kirche“ zusätzlich eine Wanderung über den Segnes-Pass (2627 m.ü.M.). Die Route führte von Lachen, Ziegelbrücke, Schwanden, Elm nach Niedern wo wir im Heu übernachteten. Am anderen Tag führte uns eine wilde, steinschlaggefährdete Tour durch das berühmte Martinsloch in den Tschingelhörnern zum Segnes-Pass und dann zur Segneshütte. Nach einer kurzen Rast ging die Wanderung weiter, diesmal hinunter nach Flims wo wir mit dem Postauto nach Chur kamen und dort mit der Bahn nach Lachen zurückfuhren. Es war eine anstrengende aber sehr eindrückliche Tour gewesen.

In den Jahren 1953/54 wurde die katholische Kirche renoviert. Mit der Renovation wollte man gleichzeitig das gesamte Glockengeläut erneuern. So wurde gesammelt und gespart bis man vier neue Glocken bei der Erdinger Glockengiesserei in Bayern bestellen konnte. Zwei der alten Glocken, die Älteste und die Grösste wurden nur umgestimmt. Schon im Mai 1955 wurde dieses Thema in der Schule aufgegriffen und dann während Wochen in allen Details behandelt. So schrieb ich einen illustrierten Aufsatz mit dem Titel „Wie wird eine Glocke gegossen?“ der schliesslich 4 Folgen hatte. Am Schluss als die Glocke fertig gegossen war schrieb ich: „Bald wird sie ihren gewohnten Lebenslauf beginnen und uns in Leid und Freud begleiten“. Und so war es!

Die Glockenweihe fand am 17. Juli 1955 im Beisein des Bischofs von Chur auf dem Seeplatz neben der Turnhalle statt. Zuerst wurden die vier neuen Glocken gewaschen und getrocknet um sie von Dämonen und bösen Geistern zu befreien. Dann schlug als Erster der Bischof mit einem Holzhammer die Glocken an. Anschliessen taten dies auch die folgenden Paten:

 

Für die Schutzengel-Glocke          Frau Annemarie Theler

                                                            Herr Josef Kafader-Ziltener

Für die Marien-Glocke:                   Frau Witwe Katharina Stählin

                                                            Gemeinderat Willi Romer

Für die Friedens-Glocke:                Frau Berta Deuber-Giger

                                                            Herr Friedrich Michel-Diethelm

Für die Heiligkreuz-Glocke:           Frau Maria Züger-Tanner

                                                            Herr Fritz Sager-Risi

Auf diesen Glocken befinden sich folgende Sprüche: 

Auf den alten Glocken:

Heiliggeist-Glocke (1575)       KVM HEILIGER GEIST
                                          ERFVL DIE HERTZEN DINER GLÖVBIGEN
                                          VUN ENZVND INEN DAS FVR DINER LIEBE 1575

Wetter-Glocke (1876)              VIVOS VOCO MORTUOS
                                           PLANGO FULGURA FRANGO

Auf den neuen Glocken:

Heilig-Kreuz Glocke (1955)    O KREUZ, GEWEIHT IN JESUS CHRIST
                                          HÜT UNS VOR SATANS MACHT UND LIST

Friedens-Glocke (1955)          LANDESVATER BRUDER KLAUS
                                          BEHÜT IN FRIEDEN LAND UND HAUS

Marien-Glocke (1955)            MARIE MAGD UND KÖNIGIN
                                          SCHÜTZ UNSER DORF MIT MUTTERSINN

Schutzengel-Glocke (1955)      HEILIGER SCHUTZENGEL MEIN
                                           LASS ALLE DIR EMPFOHLEN SEIN



(13) Die sechs gesegneten Glocken der katholischen Kirche in Lachen

Die sechs gesegneten Glocken der katholischen Kirche in Lachen


Anschliessend gingen alle Leute wieder in die Kirche und später wurden dann die Glocken eine nach der anderen mit der Hilfe von uns Kindern mit langen Seilen auf die Türme gezogen. Die Seile waren so lang, dass sie von der Pfarrkirche bis weit in die Hintere Bahnhofstrasse hinaufreichten. Natürlich war ich auch dabei und zog wie wild an dem Seil. Und tatsächlich, die Glocken schwebten in die Höhe verschwanden dann im Fenster unter dem Zifferblatt. Natürlich ging es noch eine Weile bis das ganze Glockengeläut installiert war. Aber dann eines Tages war es soweit und ich war über die Harmonie und den Klang der 6 Glocken begeistert. Wir hatten ein wunderbares Geläut bekommen das jedes Mal eine tiefe Emotion in mir hervor rief. Besonders die Wetter-Glocke mit ihrem warnenden Klang war beeindruckend. Aber auch die 6250 kg schwere Heilig-Kreuz-Glocke mit ihrem tiefen Ton (die Schwerste des Geläutes) hat mich immer fasziniert. Normalerweise war es diese Glocke die als Letzte das Geläute beendete und dann ihren dumpfen Nachklang noch lange wie eine beschützende Hand über dem ganzen Dorf einwirken liess. Dies war immer ein wunderbares Erlebnis, allerdings nur wenn man die Gabe hatte es zu hören und zu erleben!

Neben den sechs erwähnten Glocken gab es noch eine siebte Glocke, das „Toten-Glöcklein“ oder auch Josef’s-Totenglocke genannt. Es wurde nur geläutet, wenn jemand im Dorf verschieden war. Es war eine Glocke die aufschreckte und immer sehr traurig läutete. Es läutete einmal bei einem Kind, zweimal bei einer Frau und dreimal bei einem Mann. Trotzdem wollten die Leute sofort wissen wer denn wohl gestorben sei und man spekulierte wie wild. Aber eigentlich war dies war gar nicht nötig, denn die traurige Nachricht machte bald Runde unter den Nachbarn oder dann konnte man sie später durch den „March-Anzeiger“ erfahren. Eine weitere kleine Glocke darf man trotz seiner Stummheit nicht vergessen. Es ist das Chor/Evangelienglöcklein im Chorturm, das aber heute nicht mehr geläutet wird.

Die Schulzeit
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7.  Die Schulzeit
 

 

 

Der Kindergarten
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7.1.  Die Schulzeit – Der Kindergarten.

Mit 6 Jahren begann im Jahre 1947 meine Schulzeit mit dem Kindergarten, der sich im „Alten Adler“ zwischen der „Sonne“ und dem Konsumverein beim Rathausplatz befand. Damals kamen alle Kinder zu Fuss und ohne elterliche Begleitung zur Schule. Für mich war der Weg nicht weit und führte vom elterlichen Haus gerade die Marktstrasse hinunter bis zum Rathaus. Zu jener Zeit gingen alle Mädchen zu den „Schwestern vom Heiligen Kreuz“ in die Schule. Ihr Mutterhaus befindet sich noch heute in Menzingen/ZG und so wurden sie auch einfach Menzinger Schwesterngenannt. Diese Schwestern gaben aber auch den Buben bis und mit der 1. Klasse Schul-Unterricht und nahmen sich den Kleinen im Kindergartenalter an. In meinem Kindergarten war es die Schwester Konstanzia die uns auf die richtige Schule vorbereitete. Zum Glück liess sie uns meistens einfach Kinder sein und versuchte uns nicht schon in diesem zarten Alter mit dem Alphabet oder Rechnen zu bedrängen. So liess sie uns einfach spielen. Manchmal gab sie uns Anweisungen für Bastelarbeiten, die wir nachher nach Hause nehmen durften.


(1) Mütze aus Tapetenpapier (Orginal)

Mütze aus Tapetenpapier (Orginal)


Es war eine sehr liebe Schwester die ich sehr schätzte und ich glaube sie mochte mich auch gut. Ein Beweis dafür schien mir die Tatsache, dass ich von ihr „Heiligen Bildchen“ erhielt, wenn ich ganz brav gewesen war. Ich liebte diese Bildchen unermesslich, denn sie waren ja im Prinzip nur für brave katholische Buben vorenthalten. Dass ich als Protestant so ein Bildchen überhaupt erhielt, schätzte ich ausserordentlich und ich verwahrte sie deshalb wie ein grosser Schatz oder wie ein Schutz vor Bösem. Eines der Bildchen schätzte ich ganz besonders. Es war farbig und zeigte eine liebliche Landschaft mit einer Kirche und einem Bächlein. Man sah darauf auch die Maria und einige Kinder spielen. Was ich aber nie vergass war der Vers auf dem Bildchen:

Eia, wären wir da,

Wo die Englein singen,

Wo die Glöcklein klingen,

Wo die blauen Blümlein stehn

Und die Kinder spielen gehen!

Der Vers versetzte mich in eine Traumwelt und so träumte ich vom Paradies oder einer Welt wo alles in Frieden und in Harmonie mit der Natur lebt. Ich blieb das ganze Leben ein Träumer und hoffe noch heute einmal in einer solchen Traumwelt leben zu dürfen.


(2) Das Heiligenbildchen, das ich bis heute mit Wertschätzung aufbewahrte.

Das Heiligenbildchen, das ich bis heute mit Wertschätzung aufbewahrte.


Eines Tages hatte Schwester Konstanzia einige Herze aus weissem Paper zugeschnitten und befestigte das Erste mit einem Reissnagel an die Holzwand. Dann erklärte sie uns, dass wir alle mit einem so weissen Herz wie das Papierherz geboren wurden. Anschliessend fixierte sie ein zweites Herz and die Wand. Diesmal mit einigen schwarzen Flecken. Sie sagte, dass diese Flecken die täglichen Sünden bedeuteten. Danach kamen weitere Herzen an die Wand, jedes Mal mit mehr schwarzen Flecken. Am Schluss befestigte sie ein ganz schwarzes Herz an die Wand und erklärte, dass dies das Resultat vieler Sünden sei. Um das Herz wieder rein und weiss zu machen hätten die Katholiken aber das grosse Glück der Beichte, während die Protestanten in das Fegfeuer kämen! Erstaunlicherweise, löste ihre Lehre bei mir keine Angst aus, dafür aber Fragen wie das geschehen soll? Wie konnte man ein Herz mit so vielen Sünden mit einer einzigen Beichte wieder weiss machen? Aber mit meinem Zweifel hatte ich ja bereits wieder gesündigt und mein Herz dabei noch schwärzer gemacht. Aus lauter Angst, dass mich jemand als einen Ungläubigen entlarven könnte, war es ausgeschlossen meine fragenden Gedanken mit meinen Klassenkameraden zu teilen. Viele Jahre später fragte mich ein damaliges „Gspänli“ ob mich diese und weitere Erfahrungen mit Katholiken traumatisiert hätten. Nein, sagte ich, diese Zeit in der Minderheit hat mich gestärkt und so blieben mir nur gute Erinnerungen. Natürlich sagte ich ihr nicht, dass ich noch heute „Heiligen Bildchen“ aus dieser Zeit habe und dass sie mir damals wie heute Kraft geben. Und daran glaube ich ohne zu sündigen

Nur zu schnell war das Kindergartenjahr zu Ende und so begann mein erstes Schuljahr im Frühling 1948 im alten Schulhaus neben der Kirche. Ich hatte schon an Weihnachten einen Schulsack, eine Holzdose für Bleistifte, Farbstifte und Federhalter, einen Bleistiftspitzer und eine Schiefertafel mit Schwamm bekommen. Eigentlich war es kein Sack, sondern eine Art Tornister den man wie ein Rucksack auf dem Rücken trug. Er war aus Leder gefertigt, rechteckig und der Deckel mit einem grauweissen Seehundfell bezogen. Da es wetterfest und wasserdicht war, schätzte man dieses Fell sehr. Aber niemand schien sich damals zu fragen woher das robuste Fell kam und auf welch brutale Art die sympathischen Meerestiere nur wegen ihrer Haut das Leben lassen mussten. Allerdings hatte es einige Buben deren Schulsäcke anstatt mit Seehundfell mit einem Kuhfell bespannt waren. Vielleicht hatten deren Eltern schon damals von der Robben-Kontroverse gehört? Meine Eltern schienen jedenfalls nichts davon gewusst zu haben und so trug ich meinen neuen Schulsack mit dem virilen Fell jeden Tag mit Stolz und ohne schlechtes Gewissen zur Schule.

 
Die Primarschule
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7.2.  Die Schulzeit – Die Primarschule.




(1) Der erste Schultag (Foto aufgenommen neben dem Warenaufzug auf dem Dach)

Auch in der ersten Klasse wurden wir von einer Menzinger Schwester unterrichtet, der Schwester Elisabeth. Sie war streng und scheute sich nicht uns zu schelten und sogar „Tatzen“ zu geben. Wir sassen auf Holzbänken die mit dem Pult fest verbunden waren. Während es auf der oberen Seite der Tischplatte eine Halterung für ein eingebautes Tintenfass hatte, war die untere Seite hochklappbar. Darunter hatte es eine Ablage für Bücher und Schulmaterial. Man schrieb mit Bleistift oder mit einem Federhalter, einer Feder und Tinte. Das Schreiben mit einer spitzen Feder war anfangs alles andere als einfach und man brauchte seine Zeit bis man es „erlickt“ (kapiert) hatte. Eine falsche Bewegung und schon hatte man Tintenspritzer auf dem Blatt und musste den ganzen Text neu schreiben. Wir füllten ganze Seiten mit gleichen Buchstaben und alles musste perfekt sowie schön geschrieben werden. Später kamen dann noch die Zahlen dazu. Auch sie mussten sehr schön und sauber geschrieben werden, sonst musste man zur Strafe noch eine weitere Seite damit füllen. Das Tintenfass befand sich unter einer Schiebevorrichtung, die vor dem Austrocknen der Tinte schützen sollte. Aber gerade diese Vorrichtung war für uns Buben immer wieder von Interesse. Mit unserer jugendlichen Neugier versuchten wir das Tintenfass aus seiner Halterung zu holen. Dies endete meistens mit einem Unglück wobei nicht nur die Hefte auf dem Pult mit blauer Tinte gefärbt wurden sondern auch unsere Kleider, was unsere Mütter gar nicht schätzten.


(2) Das Steinschrift Heftchen der ersten Primarklasse für das Fach "Rechnen"

Das Steinschrift Heftchen der ersten Primarklasse für das Fach "Rechnen"

Trotz diesen spannenden Experimenten war es eher ein langweiliges Jahr und so war ich oft unaufmerksam. Einmal zeigte mir mein Banknachbar, der Ruedi, unter dem Bankdeckel einen Hühnerfuss. Er hatte diesen Fuss nach dem Schlachten eines Huhnes mit in die Schule genommen um mir zu zeigen wie man mit der Sehne den Fuss und die Krallen bewegen konnte. So was Interessantes hatte ich natürlich noch nie gesehen und war deshalb völlig abwesend. Plötzlich war die Schwester Elisabeth neben uns und entdeckte was uns vom Unterricht abhielt. Sie schien so entsetzt, dass wir beide sofort eine „Tatze“ bekamen. Ich musste annehmen, dass sie die Mechanik eines Hühnerfusses auch noch nie gesehen hatte, sonst hätte sie nicht so unkontrolliert mit dem Stecken auf unsere Hände eingeschlagen und die Situation benutzt um uns ein bisschen Zoologie beizubringen. Es tat wirklich weh und Ruedi hatte nachher nie mehr Lust Hühnerfüsse mit in die Schule zu nehmen. Zu Hause sagte ich nichts von dem Vorfall, sonst hätte mir mein Vater gleich noch eine zweite Ladung gegeben, diesmal auf den Hintern. Vom „Recht des Kindes“ oder gar einem Verbot Kinder zu schlagen sprach damals niemand. Und wenn solche Gesetze damals tatsächlich existiert hätten, wäre niemandem in den Sinn gekommen gegen eine ehrwürdige Lehrperson zu klagen. Zudem hätte man auch gar kein Geld für einen Anwalt gehabt. Trotz diesem Abenteuer hatte ich am Ende des Schuljahres ein ausgezeichnetes Zeugnis: Sitte 1, Betragen 1 und Ordnung und Reinlichkeit 1! Bei den Schlussnoten bekam ich für alle 11 Unterrichtsfächer eine 1, ausser der Sprachlehre.



(3) Mein erstes Zeugnis (1. Primarklasse)

Mein erstes Zeugnis (1. Primarklasse)


Da es keinen Spielplatz gab, verbrachten wir die Pausen bei schönem Wetter immer draussen und zwar zwischen dem alten Schulhaus und der Kirche am See. Meistens machten wir „Fäh“ oder „Fangis“. Neben der Kirche war ein Friedhof der ziemlich vernachlässigt war und so wurde auch er Teil unsers Spiel-Reviers. Eines Tages war ich wieder einmal auf dem Friedhof unterwegs und rannte über die vielen Gräber einem Schulkameraden nach. Doch an diesem Tag war es feucht und so rutschte ich auf einer Mauer aus. Ich hatte das Schienbein angeschlagen, doch ich rannte sofort, ohne mich um das Bein zu kümmern, weiter. Erst nach einiger Zeit fragte mich ein Klassenkamerad was ich wohl am Bein hätte. Erst dann entdeckte ich zu meinem Schrecken, dass das Schienbein etwa 12 cm aufgeschlitzt war. Man sah den weissen Knochen, von Blut aber keine Spur. Bei diesem Anblick wurde es mir übel, schaffte es aber trotzdem nach Hause, wo mich meine Mutter zum Arzt brachte. Danach vermied ich Sprünge und Rennen auf Friedhöfen, denn ich wollte keine Toten mehr in ihrer Ruhe stören und anschliessend dafür bestraft werden!


Ab der zweiten Klasse wurden alle Primarschulklassen im Neuen Schulhaus neben der Turnhalle unterrichtet. Man nannte es auch 36er-Schulhaus, weil es im Jahre 1936 gebaut wurde. Zum ersten Mal unterrichtete uns nun ein Lehrer, Herr Emil Stamm, ein molliger, netter Mann der Stumpen rauchte, der aber wegen seinen heftigen „Tatzen“ und „Kopfnüssen“ auch gefürchtet war. Auch in dieser Klasse ging es mit „Schönschreiben“ weiter. Wieder füllten wir ganze Seiten mit Buchstaben, dem ABC und Zahlen. Ich hatte schon das Gefühl, das Kalligraphie das Hauptfach war, doch dann begannen wir endlich Wörter, Zahlen und Namen zu schreiben. Der Unterricht wurde interessanter und so wurde uns der Unterschied zwischen d und t, b und p, f und v erklärt. Es gab Aufgaben mit Haupt- oder Dingwörtern, Geschlechtswörtern, Eigenschaftswörtern, Tunwörtern und Wörter mit tz, ck, eu, äu, etc. Dann wurden auch die Silbentrennung und Einzahl sowie Mehrzahl geübt, also erste Schritte in Grammatik. Gleichzeitig begannen wir mit Rechnen: zuzählen, abzählen, teilen und vervielfachen. Neu war auch eine Stunde „Zeichnen“, was ich immer sehr gern machte. Bis zur vierten Klasse bekamen wir aber dafür noch keine Noten.Wie in der ersten Klasse kam ich immer mit sehr guten Noten nach Hause, aber ich war nicht sicher ob meine Eltern damit überhaupt zufrieden waren.


(4) Aus dem Zeichnungsheft der 2. Primarklasse (1949)

Aus dem Zeichnungsheft der 2. Primarklasse (1949)


Das Schulhaus war neu und komfortabel, aber die Schulhaustüre wurde immer erst geöffnet nachdem die katholischen Schüler auch da waren. Diese mussten ja jeden Morgen zuerst zum Kindergottesdienst in die Kirche und kamen dann später in Zweierkolonne zum Schulhaus wo auch da zuerst wieder gebetet wurde. Oft war zu dieser morgendlichen Stunde gleichzeitig eine Abdankung in der Kirche und so mussten die Kinder zusätzlich für die verstorbene Person singen. Dies verlängerte den Aufenthalt in der Kirche und so mussten wir Protestanten vor dem geschlossenen Schulhaus warten bis alle aus der Kirche entlassen wurden. Obwohl dabei immer Schulstunden verloren gingen, schien sich an diesem religiösen Brauch niemand zu stören. Wir Protestanten wurden am Vortag nie von Beerdigungen und möglichen Verspätungen informiert und so hatten wir keine andere Wahl als zu warten und dies bei jedem Wetter. Im Winter war es besonders demütigend, denn bei starker Bise und Schnee froren wir auf der Treppe vor dem Schulhaus bis zu einer Stunde im Freien. Es war unerklärlich wie die Lehrerschaft und der Schulrat eine solche Situation damals überhaupt ignorieren konnten. Und da unsere protestantischen Eltern sich nicht trauten sich gegen solche Gepflogenheiten zu wehren, war es ihnen vielleicht ganz einfach nicht aufgefallen wie wir in der Kälte litten. Von Zeit zu Zeit gab es manchmal, obwohl uns die Lehrer im Prinzip den Katholiken gleichstellten, noch weitere seltsame Situationen. Es kam vor, dass wir Protestanten plötzlich grundlos das Schulzimmer verlassen mussten. Als wir wieder reingelassen wurden wollten wir natürlich wissen wieso man uns ausgeschlossen hatte oder was besprochen worden war? Doch keiner von den Klassenkameraden hätte uns je verraten was ihnen während dieser Zeit unterrichtet worden war. Wenn wir insistierten rief manchmal ein Vorwitziger „Reformiert mit Dreck verschmiert“, aber interessanterweise beleidigte mich dieses miese Verhalten meiner Klassenkameraden nie. Schliesslich lästerten sie auch über die Italiener und nannten sie „Tschinggen“ und vieles mehr. Zudem sagte mir meine Mutter andauend, dass unser Geschäft hauptsächlich dank katholischen Kunden existiere und dass wir etwelche Beleidigungen einfach wegstecken müssen. Und dies beherrschte ich schliesslich das ganze Leben.

Auch in diesem neuen Schulhause gingen Knaben und Mädchen getrennt in die Schule. Das Schulhaus hatte zwei Eingänge, der Linke für Mädchen und der Rechte für Knaben. Die Mädchen wurden ausschliesslich von den Menzinger Schwestern unterrichtet. Es war nicht erlaubt in der Pause mit den Mädchen zu sprechen und wenn einmal ein Knabe den Versuch machte, waren die Schwestern sofort zur Stelle um sie zurück zu weisen. Es gab auch bei diesem Schulhaus kein eigentlicher Spiel- oder Pausenplatz. Man tummelte sich in der Pause auf dem Vorplatz oder dann in der Abfalldeponie oder „Güselhafen“, wie man damals nannte, der sich damals nur wenige Meter hinter dem neuen Schulhaus befand. Immer wieder entdeckten wir neue „interessante“ Sachen, die wir aber nicht ins Schulhaus nehmen durften. Damals gab es ja kein Trennen von Abfall und so machten wir unsern Pausenspaziergang wie Akrobaten über alte Ölfässer, kaputte Möbel, Essensresten, Plastik-Behälter und vieles mehr. Es wimmelte hier von Ratten und Mäusen. Eines Tages kamen ein paar Soldaten, die in der Gegend den „WK“ absolvierten. Alle hatten reihenweise Ratten an den Gewehren aufgehängt, die sie irgendwo in der Gegend geschossen hatten. Sie sagten die zur Schau gestellten Ratten gäben eine köstliche Mahlzeit, aber jeder wusste, dass für jeden Rattenschwanz eine Prämie offeriert wurde im Dorf.

Später wurde diese Abfall-Deponie einfach mit Schutt überdeckt und darauf ein Sportplatz geschaffen. Niemand schien sich damals Sorgen über eine mögliche Grundwasserverschmutzung zu machen. Gleichzeitig wurde ein neuer „Güselhafen“ beim Bootsbau der Firma Kalchofner & Co. eröffnet, also ganz in der Nähe wo die Wägitaler Aa in den See mündet. Mit der Einwilligung der Genossame hatte sich die KIBAG früher mit einem Baggerschiff fast frevelhaft vom See her ins Agrarland rein gefressen, sodass beim Fussweg ein steiles Ufer entstanden war, das immer wieder in den See abrutschte. Nun wollte die Genossame Lachen das verlorene Land mit einer Abfalldeponie wieder zurückgewinnen. Man erstellte draussen im See einen Damm und schaffte damit ein grosses Becken, das wieder für manche Jahre unseren Müll aufnehmen konnte. Wie im alten „Güselhafen“ warf man die Abfälle einfach ins Wasser uns liess sie dort langsam vermodern, oxidieren und verrotten. Nach der Erstellung der Verbrennungsanstalt (KVA Linth) in Niederurnen im Jahre 1973 wurde auch diese Grube zugeschüttet und geschlossen. Die Zukunft wird zeigen ob sich die Natur für diese einfache Lösung rächen wird und was das gedankenlose, geldgierige Tun einmal für Folgen haben wird.

Am See war es nicht viel sauberer, denn damals warf man alles was man nicht mehr brauchte entweder in die Bäche oder direkt in den See. Einmal sah ich ein totes Schwein an der Seeoberfläche. Später hatte jemand Konkurs gemacht und aus Frustration seine ganze Buchhaltung in den See geworfen. Seit ich all diese Abfälle friedlich auf dem See schwimmen gesehen hatte, war mir die Lust im See zu baden für lange Zeit vergangen. Heute würden solche „Entwicklungsland-Zustände“ zu Protesten führen, aber damals machte sich niemand Sorgen um die Umwelt. Es war ja immer so gewesen und diese Zustände hatten bis anhin niemandem geschadet.


Auch in der dritten Klasse unterrichtete uns der Lehrer Stamm. Wieder verbrachten wir viele Stunden mit „Schönschreiben“ und wieder füllten wir viele Seiten mit schönen Buchstaben und Zahlen. Die Grammatik wurde mit den 4 Fällen des Dingwortes erweitert: Werfall, Wesfall, Wemfall und Wenfall. Dann lernten wir die drei Zeiten: die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft. Schliesslich kamen dann noch die Verkleinerungsform, die Steigerung des Eigenschaftswortes, die Dehnungen (Paar, Saal, Haare, etc.) und die Schärfungen (Himmel, Gummi, Schwamm). Dann wurden die 12 Monate thematisiert und die ersten Aufsätze gemacht, die ich gerne mit Bildern illustrierte.

Dieses Jahr hatten wir einen Schüler mehr in der Klasse. Er hiess David Faux und wohnte bei seiner Grossmutter, der Frau Heer, die das Restaurant Johannisburg auf dem Burghügel oberhalb Altendorf führte. Von diesem Hügel hat man eine sagenhafte und aussergewöhnliche Aussicht über den oberen Zürichsee sowie das umliegende Bergpanorama. Die Mutter von David, also die Tochter von Frau Heer, war mit einem Engländer verheiratet der bei SINGER Nähmaschinen in Kalkutta in Indien arbeitete. Die Eltern von David hatten Zweifel an der Qualität der Schulen in Indien und so schickten sie ihn in die Schweiz zur Ausbildung. David war sehr scheu und etwas verloren in unserer Klasse. Da er bis anhin hauptsächlich Englisch sprach, hatte er anfangs Schwierigkeiten mit dem Schweizerdeutsch. Bald merkte ich, dass er in der Klasse mit seiner exotischen Herkunft als Ausländer angesehen wurde und dann unter dem blöden Vorwand er sei halt „Altendörfler“ gemieden wurde. Für mich war David aber ein äusserst interessanter Junge, denn schliesslich hatte er in Indien gelebt und genau das beeindruckte mich. Irgendwie tat er mir aber auch leid, denn er musste zum Mittagessen zu seiner Grossmutter auf die Johannisburg und hatte so gezwungenermassen viermal pro Tag einen mehr als halbstündigen Schulweg. Dies war besonders im Winter sehr hart.



(5) Die Kapelle St. Johann auf dem Burghügel oberhalb Altendorf

Die Kapelle St. Johann auf dem Burghügel oberhalb Altendorf


Bald lernten wir uns besser kennen und so kam er manchmal zu mir nach Hause. An den freien Mittwochnachmittagen trafen wir uns dann ab und zu bei ihm auf der Johannisburg. Da erzähle er mir von seiner Kindheit in Indien und das gerade dies faszinierte mich. Er wusste aber auch viel über die Geschichte der Johannisburg und dass früher auf dem Hügel eine Burg stand und dass Altendorf ursprünglich Rapperswil, dann Alt-Rapperswil hiess. Weiter sagte er, dass gemäss Urkunde von 697 der Ritter Raprecht als Stammvater der berühmt gewordenen Burg St. Johann war, die einst Raprechtswil, später Rapperswil hiess. Als etwa 1220 Neu-Rapperswil am gegenüberliegenden Seeufer gegründet wurde, nannte man Altendorf Vetus-Villa, d.h. altes Dorf. Der Burghügel von Alt-Rapperswil mit der St.-Johann-Kapelle und ihren drei prächtigen gotischen Altären erinnern noch heute eindrücklich an die Vergangenheit. Die Johannisburg war für mich deshalb ein magischer Ort. Man sagte ja, dass die Kapelle St. Johann auf den Ruinen der im Jahre 1350 durch Stadtzürcher Truppen unter Bürgermeister Brun zerstörten Stammburg gebaut worden war. Während der gotische Bau der Kapelle weitgehend aus dem ausgehenden 15.Jahrundert stammt, ist die Errichtung der beiden gotischen Seitenaltäre im Jahre 1476 belegt. Es gab aber auch Gerüchte, dass es auf einer Felsrippe noch Überreste der zerstörten Burg gäbe und dass es früher ein Tunnel von der Burg hinunter bis zum einstigen Fischerdörfchen „Seestatt“ gab. Genau dies wollten wir erforschen. Wir kämmten den ganzen Hügel und den Wald nach möglichen Zugängen zu diesem Tunnel ab. Und tatsächlich fanden wir eine Stelle die uns sehr erfolgversprechend erschien. Es war eine riesige Steinplatte die gegen einen steilen Hang im Walde angelehnt schien. Wir redeten uns ein, dass nach der Zerstörung der Burg der Tunnel damals mit dieser Platte versiegelt wurde. Also versuchten wir die Platte vom Hang zu lösen. Aber wir waren noch zu klein und hatten die nötigen Werkzeuge nicht, doch wir versuchten es jeden Mittwochnachmittag erneut. Eines Tages fand David eine grosse Eisenstange und mit dieser gab die Platte dann schliesslich nach. Doch wir hatten sie nicht unter Kontrolle und so rollte sie zu unserem Schrecken sofort unkontrolliert und rasant den Hang hinunter um auf dem Feld eines Landwirtes hinter dem Hügel zu landen. Dieser schien ebenfalls überrascht und so hörten wir ihn anschliessend empört und heftig schimpfen. Leider fanden wir hinter der Platte nur Erde, Wurzeln und Gestein. Die Enttäuschung war deshalb entsprechend gross. Zudem wurde uns bewusst, dass die hinuntergefallene Platte nicht ungefährlich gewesen war und wir schliesslich grosses Glück hatten, nichts Schlimmes angerichtet zu haben. Von da an wagten wir uns nicht mehr an archäologische Forschungen oder Ausgrabungen. Während den Sommerferien reiste David zu seinen Eltern nach Kalkutta und von da schickte er mir dann regelmässig eine Ansichtskarte. Ich schätze seine Aufmerksamkeit sehr und hob diese Karten später noch viele Jahre wie ein kostbarer Schätz auf. Schliesslich war eine solche Karte damals eine Seltenheit und so war ich stolz sie überhaupt zu besitzen. Anhand der Illustration auf der Karte und der Briefmarke versuchte ich mir sein Leben dort vorzustellen. Plötzlich verliess David unsere Klasse und musste seine weitere Schulzeit in Internaten verbringen, was mir sehr leidtat. Nach seinem Wegzug verloren wir den Kontakt und trafen uns erst mehr als vierzig Jahre später wieder. Durch einen Zufall erfuhr er auf einer Party in Jakarta, dass ich für eine UNO Mission ebenfalls im Lande war und dies erlaubte uns schliesslich unsere Freundschaft bis zu seinem Tode im Jahre 2017 weiter zu pflegen.


In der vierten Klasse hatten wir einen neuen Lehrer, den Herrn Robert Kümin. Eine schöne Schrift war immer noch das grosse Thema und neben der Note für die Prüfungsdiktate wurde immer auch noch separat die Schrift bewertet. Der Lernstoff hatte sich stark verändert und die Noten nun für folgende Unterrichtsfächer gegeben: Fleiss, Lesen, Gedächtnis-Übung, Schönschreiben, Rechtschreiben, Sprachlehre, Aufsatz, Kopfrechnen, Zifferrechnen, Geschichte, Geographie, Gesang, Zeichnen, Turnen, Sitte, Betragen, Ordnung und Reinlichkeit. Wie immer schrieb ich gerne Aufsätze und erwähnte schon damals den Schutz der Natur. Aber Anstand und korrektes Benehmen schien mich besonders zu beschäftigen, so zum Beispiel in diesem Text:

Wie benehme ich mich am Tisch ?  (4.Klasse)

  1. Ich wasche vor dem Essen die Hände.
  2. Ruhig und lautlos sitze ich an den Tisch.
  3. Ich denke an den Herrgott und bete: „Gib uns heute unser tägliches Brot.“
  4. Ich schlurfe die Suppe nicht hinunter, sondern nehme sie geräuschlos ein.
  5. Ich darf nur kleine Portionen herausnehmen.
  6. Bei vollem Munde darf ich nicht sprechen.
  7. Ich rede nur wenn Erwachsene mich fragen.
  8. Mit den Mitschülern darf ich nur gedämpft eine Unterhaltung führen.
  9. Ich kaue mit geschlossenem Munde (gut gekaut ich halb verdaut).
  10. Ich sitze aufrecht und halte die Hände auf dem Tisch.
  11. Nach dem Essen lege ich das Besteck kreuzweise auf den Teller.
  12. Nachher danke ich dem Herrgott für Speise und Trank und verlasse ruhig und anständig den Tisch.

    Lachen, 28. Mai 1951


Ausser der Sprachlehre, den Aufsätzen, dem Kopfrechnen, für die ich ein 1 bis 2 erhielt, hatte ich für alle anderen Fächer eine 1 bekommen und zwar bei den Sommer-, Winter- und Schlussnoten. Neben all den neuen Fächern wurde die Geographie mein Lieblingsfach. Zuerst lernten wir die Himmelsrichtungen und die geographischen Grundbegriffe. Dann begannen wir den Bezirk March näher kennen. Wir durften die Wappen der March und von Lachen zeichnen. Damals hatte das Lachner Wappen noch einen blauen Grund. Zudem durften wir die Aufsätze mit Zeichnungen und Landkarten illustrieren, was ich besonders gerne tat.

In diesem Jahr hatten wir zum ersten Mal nicht nur einen Spaziergang zur Kapelle St. Johann auf der „Johannisburg“, sondern eine richtige Schulreise, und zwar auf die Rigi. Ich war ganz aufgeregt und freute mich besonders auf die Bahnfahrt. Ausnahmsweise bekam ich von meinen Eltern ein Sackgeld und so kaufte ich mir auf der Rigi Kulm zu erstem Mal in meinem Leben ein „Coca-Cola“. Wir Schüler nannten das Getränk „Goggi“ oder „Negerbrunz“. Zu Hause hätte ich „Coca-Cola“ niemals trinken dürfen, denn meine Mutter war gegen alles was aus Amerika kam. Sie sagte immer, dass alles aus diesem Land des Teufels sei. Nachdem ich das braune Wasser getrunken hatte bekam ich starkes Bauchweh. Da ich gegen den Willen meiner Mutter gehandelt hatte bekam ich Schuldgefühle und nahm an, dass sie mit ihrer Abneigung gegen dieses Getränk wohl recht gehabt hatte. Wahrscheinlicher war jedoch die Tatsache, dass ich das Getränk zu schnell und eiskalt getrunken hatte. Auf alle Fälle vergingen viele Jahre bis ich mich wieder getraute ein „Coca-Cola“ zu trinken, aber es wurde nie mein Lieblingsgetränk. Im Hotel Felchlin gab es eine Mittagsverpflegung und dann ging es bei schönstem Wetter zu Fuss runter zum Rigi-Känzeli und Rigi Kaltbad. Mit dem Rest des Sackgeldes kaufte ich mir zum ersten Mal eine Ansichtskarte und zwar sogar ein Farbige von der Rigi. Zu Hause versteckte ich dieses Andenken erst an einem sicheren Ort und klebte sie später in mein Tagebuch wo ich „Es war eine schöne Schulreise gewesen“ daneben schrieb.


(6) Meine erste Postkarte, gekauft auf der Rigi mit meinem mageren Sackgeld.

Meine erste Postkarte, gekauft auf der Rigi mit meinem mageren Sackgeld.


In der fünften Klasse unterrichtete uns Herr Josef Hegner und sogar in dieser Klasse machten wir immer noch Übungen um eine schöne Schrift zu pflegen. Die Aufsätze wurden viel anspruchsvoller und enthielten, unter anderem, auch wieder die 10 Gebote für das Benehmen bei Tische! Aber auch technische Themen wurden besprochen, zum Beispiel wie ein Thermometer funktioniert oder geschichtliche Ereignisse. Neu im Lehrplan waren Geschäftsbriefe, zum Beispiel Bestellungen, Beschwerden oder Mahnungen. In der Grammatik wurden die Vorwörter, die Hilfszeitwörter, die Vorgegenwart und die Vorvergangenheit thematisiert. Ich begann die deutsche Grammatik sehr kompliziert zu finden. Auch das Rechnen wurde anspruchsvoller, denn nun mussten wir uns mit Längen, Flächen und Volumen befassen. In diesem Jahr war die Schulreise dafür ein grosses Erlebnis gewesen, ja vielleicht sogar die Schönste bis anhin. Wir fuhren von Lachen nach Klosters und dann mit der Seilbahn bis zur Bergstation-Gotschna Grat auf 2281 Meter über Meer. Auf dem Parsenn-Höhenweg hatten wir eine wunderbare Aussicht auf das Silvrettatal.


Schliesslich kam ich in die sechste Klasse wo uns Herr Louis Bisig, der Mann mit Schnauz, Brille und Melone unterrichtete. Was ich bei ihm unter anderem schätzte waren Aufsätze über Lebenseinstellung, Gesinnung und Denkweise der damaligen Zeit. Sie wurden meist in der Form von Gleichnissen geschrieben. Der folgende Aufsatz, prägte mich ganz speziell und blieb mein Leitgedanke:


Die zwei Pflugscharen.

In einer Werkstatt verfertigte man zwei Pflüge, von demselben Eisen. Der eine kam in die Hand eines Bauern, der andere wurde in einen Schopf geworfen. Hier darbte er 8 - 9 Monate dahin bis er ganz mit Rost bedeckt war. Endlich brachte man ihn wieder einmal ans Licht. Wie staunte dieser, als er seinen ehemaligen Bruder erblickte und mit sich selbst verglich. Denn dieser war hell und spiegelglatt, ja, er war fast noch glänzender als er am Anfang gewesen war. „Wie ist das möglich?“ rief er erstaunt aus. „Früher waren wir doch einander gleich! Was hat dich so herrlich erhalten, während ich in der glücklichsten Ruhe so verunstaltet worden bin? „Da antwortete der blanke Pflug: „Eben diese Ruhe war verderblich. Mich haben Arbeit und Mühe so schön erhalten. Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich dich jetzt an Schönheit übertreffe!“

Damals wurde in der Schule mit Feder, Federhalter und Tinte geschrieben. Im Schulpult eingebaut hatte jeder sein eigenes Tintenfass, das regelmässig aufgefüllt werden musste. Darüber hatte es sogar einen Schiebverschluss, sodass die Tinte nicht austrocknete. Das Schreiben mit einer Feder war anfangs nicht einfach und mit einer ungeschickten Bewegung konnte es sein, dass die Feder die Tinte über ein fein und fertig geschriebenes Blatt spritzte. Also musste alles erneut geschrieben werden. Man durfte auch nicht vergessen die frische Schrift jeweils mit einem Fliessblatt zu trocken, sonst hatte man ungewollte Flecken auf dem Blatt. Kugelschreiber gab es damals bereits, waren aber verpönt und verboten in der Schule. Ich glaube, dass gerade dies uns zwang bewusst und langsam zu schreiben, was schliesslich auch eine schöne Schrift erlaubte. Im Nachhinein muss ich staunen wie schön die Aufsätze und sogar die Diktate geschrieben wurden. Die Schrift ist so schön, dass ich an Kalligraphie denken muss, eine Kunst die ich später in speziellen Fällen sogar bewusst anwendete. Mit der Feder ist ja so einiges möglich was mit einem Kugelschreiber schlecht aussieht.



(7) Auf eine schöne Schrift wurde sogar in der 6. Primarklasse viel Wert gelegt.

Auf eine schöne Schrift wurde sogar in der 6. Primarklasse viel Wert gelegt.


Auf dem Lehrplan war weiterhin das Schreiben von Geschäftsbriefen, zum Beispiel eine Anfrage an den Berufsberater, oder für die Bewerbung um eine Lehrstelle. Gleichzeitig machten wir schriftliche Sprachübungen und Diktate, natürlich immer sehr schön geschrieben. Neu in diesem Schuljahr war die Naturkunde. Ich liebte dieses Fach ausserordentlich, denn man konnte den Lehrstoff mit Zeichnungen ergänzen, was das Verstehen viel einfacher machte. Dazu kamen Beobachtungen in der Natur, zum Beispiel die Metamorphose einer Raupe in einen Schmetterling. Weiter bekamen wir Zinnien Samen um sie zu Hause in einen Blumentopf zum Spriessen zu bringen und sie dann bis zur Blüte beobachten und pflegen zu können. Im Rechnen übten wir nun Dreisatzrechnungen, das bürgerliche Rechnen und erweiterte Flächenrechnungen. Neu dazu kam die Buchhaltung, ein Fach mit dem ich keine Mühe hatte und das mich immer mit guten Noten belohnte.

Ein ganz spezielles Erlebnis war in diesem Jahr ein Konzert des Männerchors im protestantischen Kirchgemeindehaus. Auf dem Programm war der Gefangenenchor aus dem dritten Akt der Oper “Nabucco“ von Giuseppe Verdi. Der Chor der Hebräer, die in Babylonien gefangen sind, beklagt das ferne Heimatland und ruft Gott um Hilfe an. Unter der Leitung unseres Lehrers durften wir Buben mit unseren jungen Stimmen den Männerchor in diesem Konzert unterstützen. Das Auftreten vor einem grossen Publikum war ein ganz spezielles Erlebnis und war schliesslich der erste Kontakt mit klassischer Musik. Diese Erfahrung motivierte mich im erwachsenen Alter diese Oper im Theater in verschiedenen Interpretationen zu sehen und förderte mein Interesse für die klassische Musik im Allgemeinen.


(8) Schulreise 1953 mit Herr Lehrer Bisig

Schulreise 1953 mit Herr Lehrer Bisig


Dieses Jahr war die Schulreise nicht vor den Sommerferien, sondern im Herbst. Unser Lehrer Bisig hatte sich eine Reise mit dem Postauto ins Appenzellerland und St. Gallen ausgedacht. Sie führte von Lachen über den Ricken nach Wattwil, dann nach Neu St. Johann, Urnäsch, Appenzell, Altstätten und St.Gallen. Nach einem Rundgang in der Stadt ging es über Herisau, Lichtensteig und Ricken zurück nach Lachen. Mit dem Ende des sechsten Schuljahres endete die Primarschule. Schliesslich war neben Geographie das Zeichnen eines meiner Lieblingsfächer geworden. Dafür hasste ich das Kopfrechnen, denn mein Hirn arbeitete viel zu langsam um die schnell gesprochenen Zahlen zu registrieren. Ich war jedes Mal mit mir selbst enorm frustriert und schämte mich gegenüber den superschnellen Rechnern in der Klasse. Schon in der Primarschule hatten wir Geschichts-Unterricht, und auch hier wurde mir aus demselben Grund dieses interessante Fach zur Qual. Es kam mir vor, dass es bei diesem Fach eigentlich nicht um die Vergangenheit der Schweiz ging, sondern nur um das Auswendiglernen von Jahreszahlen all der berühmten Schlachten. Und so war ich in der Geschichte nicht nur eine Nulle, sondern fand sie auch äussert bedeutungslos. Wenn man die Geschichte schon damals mit Anekdoten illustriert hätte, wäre für mich das Lernen sicher einfacher, motivierender und einprägender gewesen.

Natürlich waren wir trotz der strengen Disziplin in der Schule nicht immer Engel. Lumpereien und unüberlegte Dummheiten gehörten einfach zur Tagesordnung. Wir neckten einander und versuchten andere zu provozieren. All dies gehörte einfach zur natürlichen Entwicklung eines Buben und um sich später im harten Leben verteidigen zu können. Manchmal kauften sich Buben mit ihrem Sackgeld sogar Scherzartikel im Kaufhaus, zu denen auch „Stinkbomben“ gehörten. Es waren kleine Ampullen die man einfach am Bodern zertreten konnte und sofort verbreitete sich ein unerträglicher Gestank von faulen Eiern. Alle lachten sich halbtot und machten sich jeweils so schnell als möglich aus dem Staub. Gehänselt oder sogar verspottet wurde jeder der damals zusammen mit Mädchen gesehen wurde. Auch mir ging es nicht besser, wenn ich manchmal vor unserem Haus ein Mädchen aus dem Oberdorf traf und dann mit ihr den Schulweg teilte. Sofort wurde ich als „Meitlischmöcker“ ausgelacht und behauptet wir seien ein Paar. Natürlich störte mich ihr Geplapper, aber die Gespräche mit diesem Mädchen waren kurzweiliger als ihr läppisches kritisieren. Das Mädchen hat sich nie darüber geäussert und so musste ich annehmen, dass sie genau so dachte wie ich. Für mich war es keine Sünde sich mit einem Mädchen zu unterhalten, sondern ganz natürliche Akzeptanz und Gleichstellung des weiblichen Wesens. Aber vielleicht war es lediglich Eifersucht die sich bei meinen Schulkameraden mit meinem unbekümmerten Umgang mit Mädchen entfachte.

Die Sekundarschule
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7.3.  Die Schulzeit – Die Sekundarschule.




(1) Klassenfoto der ersten Sekundarklasse

Klassenfoto der ersten Sekundarklasse


Im Jahre 1954 kam ich in die Bezirksschule. Ich freute mich auf die neue Umgebung, auf die neuen Fächer und dass ich es überhaupt in die Sekundarschule geschafft hatte. Obwohl ich immer unter den drei Besten in der Klasse gewesen war, hatte ich mir zuvor grosse Sorgen gemacht. Diese angeborene, ständige Besorgtheit konnte ich leider das ganze Leben lang nicht loswerden. Mit dem Eintritt in die Sekundarschule hatte sich auch die Zusammensetzung der Schüler in der Klasse verändert, denn einige hatten es ja nicht in die Sekundarschule geschafft. Dafür setzte sich die Klasse nun nicht nur aus Lachner zusammen, sondern auch mit Schülern aus Galgenen, Wangen, Tuggen und Altendorf. Aus diesem Grund wurde die Klasse viel grösser und schliesslich in Klasse 1a und 1b aufgeteilt. Da die nötigen Schulzimmer nicht vorhanden waren, musste unsere Klasse nach 5 Jahren im neuen Schulhaus wieder zurück ins alte Schulhaus, zurück in die alten Holzbänke. Dafür hatten wir keine Schulsäcke mehr, sondern Mappen die wir mit Stolz zur Schau stellten. Jetzt hatten wir auch neue Lehrer. Ich war in der Klasse 1b und freute mich wie vorher auf Aufsätze, Geographie, Geometrie und Zeichnen.

Schon in der ersten Stunde machten wir Bekanntschaft mit dem berüchtigten Lehrer Fritz Hegner. Mein Vater nannte ihn „Stratosphären-Galöri“. Sofort wies er uns in die Bänke, ohne dass wir die Plätze wählen durften und verteilte das Geometrie- und Naturkundebuch. Zudem gab er strikte Anweisungen in Bezug auf das Betragen in der Schule. Dann kam Professor Schätti und verteilte die Geographie-Bücher und einen Atlas. Nachher gab es eine Einführung in die Buchhaltung. Eine Stunde später kam Herr Dr. Alex Heussler der uns die französische Sprache beibringen und unser Wissen im Rechnen erweitern sollte. Die Französisch-Stunden waren wegen der Aussprache etwas schwierig, doch dank seiner sanften aber klaren Ausdrucksart fand ich mich bald ziemlich sicher. Er war körperlich behindert, hinkte und ging deshalb an einem Stock. Trotzdem hatte er uns immer total unter Kontrolle. Ich schätzte diesen Lehrer ausserordentlich, denn er redete nicht viel, war streng aber gerecht. Und wenn er einmal seinem Unmut Luft machen musste, dann erlöste er sich mit einem seufzenden „Sarah Bernharth“!!! Warum er diesen Namen brauchte hat man nie erfahren. Vielleicht aber ersuchte er die berühmte, französische Schauspielerin Sarah Bernhardt im Jenseits um Hilfe und Linderung seines Ärgers mit uns Buben.

Auch in der Bezirksschule, oder Sekundarschule wie man damals sagte, hatten wir eine Schulreise und wieder fand sie erst im Herbst statt. Diesmal reisten wir mit Professor Vogel, der uns auf eine Rundreise über die Holzegg begleitete. Die Reise führte uns per Bahn bis nach Sattel und dann mit der Sesselbahn aufs Hochstuckli auf 1566 Meter. Von dort ging es zu Fuss weiter auf die Haggenegg und entlang den beiden Mythen bis zur Holzegg auf 1400 Meter über Meer. Hier war vor ein paar Jahren eine hübsche, neue Kapelle gebaut worden, die dann am 17. Juli 1949 auf den Namen des Bruder Klaus eingesegnet worden war. Nach einer verdienten Mittagsrast im Schatten von riesigen Tannen ging es dann den Fussweg entlang hinunter nach Alptal. Nach dem langen Marsch waren alle froh mit dem Postauto nach Einsiedeln fahren zu dürfen. Von Einsiedeln ging es dann mit der SBB zurück nach Hause.


(2) Bruder Klausenkapelle auf der Holzegg

Bruder Klausenkapelle auf der Holzegg

 

(3) Die Reiseroute unserer Schulreise im Jahre 1954

Die Reiseroute unserer Schulreise im Jahre 1954


Im Jahre 1955 kam ich in die 2. Sekundarklasse und wieder musste unsere Klasse das Schulhaus wechseln, diesmal ins Gemeindehaus am See. An seiner Stelle stand anfänglich das Susthaus. Lachen war früher der Ausgangspunkt der Säumer und so wurde der Seehafen hauptsächlich von Ledischiffen benutzt. Im Sustgebäude war damals auch das Zeughaus untergebracht. Im Jahre 1866 wurde das alte Susthaus abgebrochen und ein Jahr später das aktuelle Gebäude erstellt. Im Jahre 1928 wurde im Erdgeschoss die Gemeindekanzlei eingerichtet. Im oberen Stockwerk befanden sich die Knabensekundarschule und die Lehrerwohnung. Im Jahre 1958 zügelte dann die Schule in das neu erbaute Sekundarschulhaus in den Seeanlagen. Das alte Susthaus und Schulhaus war auch die Geburtsstätte des Komponisten Joseph Joachim Raff, dessen Vater damals Lehrer an der Landesschule war. Dies war ein Grund warum wir fast ehrfürchtig dieses Gebäude betraten. Das Schulzimmer war heller und ich fühlte mich dort sofort sehr wohl. Wieder schrieb ich viele Aufsätze, allerdings mit anspruchsvolleren Themen. Zum Beispiel über Friedrich dem Grossen, wie Glocken gegossen werden, über das Grosse Welttheater in Einsiedeln, die Schlacht am Morgarten, der Brand zu Glarus, etc. In der Sprachlehre ging es um grammatikalische Bezeichnungen wie „abstrakt“, „Attribut“, „Epilog“, „objektiv“, Prädikat, etc. Auch hier illustrierte ich das Lehrmaterial mit meinen Zeichnungen die es mir erlaubten den Lehrstoff besser aufzunehmen. In den Französisch-Stunden büffelten wir Konjugationen und schrieben die ersten Aufsätze in dieser fremden Sprache. In diesem Jahr hatte Dr. Heussler einen Unfall und verliess bedauerlicherweise das Dorf Lachen nach seiner Genesung. Die „Franz-Stunden“ wurden anschliessend von Herrn Rohner übernommen, ein Lehrer der es mit uns Schüler sehr schwierig hatte. Wir respektierten ihn kaum, „spickten“ während den Prüfungen und machten uns arglos über ihn lustig. Mit dieser Tatsache machte ich während diesem zweiten Jahr kaum Fortschritte in der französischen Sprache.

Dafür faszinierte mich beim provokativen Fritz Hegner die Geometrie immer mehr. Oft brütete ich zu Hause stundenlang an Aufgaben und vergass dabei, dass es schon spät in der Nacht war. Irgendwie wollte ich ihm einfach zeigen, dass ich die oft schwierigen Aufgaben selbst lösen konnte. Ausser Geometrie gab Lehrer Hegner auch Turnstunden. Mitten im Winter führte er uns einmal ins Ried, wo ein grosses Feld mit frisch geschnittenem Schilf war. Es war alles pickelhart gefroren. Nun befahl er uns die Schubkarren-Übung zu machen. Das heisst ein Schüler musste auf den Boden liegen und der andere Schüler hob seine Beine von hinten. Dann ging es los, wir mussten so schnell wie möglich über das Gelände und nach einem Wechsel zurück rennen. Da er seit anfangs Jahr im Militär den Grad eines Majors innehatte, glaubte der grosse und imposante Mann die gleichen harten Praktiken in der Schule anwenden zu können. Die Übungen gelangen, aber wir kamen alle mit zerschnittenen und blutenden Händen ins Schulzimmer zurück. Die Schilfstoppeln waren eben kein weiches Gras gewesen! Während der folgenden Stunde mussten wir einen Aufsatz schreiben. An Inspiration hätte es ja nach dieser Übung nicht gefehlt, doch die blutenden Hände machten dies zu einer weiteren Tortur und von „Schönschreiben“ war schon gar nicht mehr zu reden! Als mein Vater davon erfuhr war er wütend und sagte, dass man von ihm eben nichts Gescheiteres erwarten konnte. Aber niemand beschwerte sich offiziell beim Schulrat. Am 27. Mai wurde er zu meinem Erstaunen sogar mit grossem Mehr in den Gemeinderat gewählt.
(4) Aus dem Zeichnungsheft der fünften Klasse (1953)

Aus dem Zeichnungsheft der fünften Klasse (1953)


Im Sommer wurde die Turnstunde vom gefürchteten Turnlehrer manchmal in die „Badanstalt“ verlegt. Eigentlich war das eine gute Idee und wir freuten uns an heissen Tagen eine Stunde in der „Badi“ zu verbringen. Neben Distanzschwimmen und anderen Disziplinen im Wasser übten wir auch Sprünge vom Sprungturm, meistens nur vom 1-Meter Brett. Aber eines Tages verlangte er, dass wir alle von ganz zuoberst des Sprungturmes springen sollten. Da ich bisher noch nie von dieser Höhe gesprungen war, bekam ich Todesangst. Ich schaute in die Tiefe und bekam zittrige Beine. Aber schliesslich wollte niemand als Weichling oder Angsthase ausgelacht werden und so sprangen alle und zwar mit einem „Chöpfler“. So sammelte auch ich allen Mut den ich hatte und sprang in die Tiefe. Es ging alles gut bis ich im Wasser aufschlug. In diesem Moment hörte ich einen Knacks im Rücken und spürte sofort einen extrem starken Schmerz. Er war so intensiv, dass ich mich einem Moment nicht mehr bewegen konnte und glaubte ich müsste nun ertrinken. Schliesslich gelang es mir aber wieder an die Oberfläche zu kommen und mit Schmerz ans Land zu schwimmen. Es war mir Übel vor lauter Schmerz, aber niemand von der Lehrerschaft schien das zu interessieren. Wir Burschen mussten doch damals fähig sein Schmerz zu ertragen. Am Meisten verfolgte mich dieser Schmerz später in den Gesangstunden während denen man früher nicht sitzen durfte. Der Schmerz ist mit der Zeit abgeklungen, hat sich aber das ganze Leben immer wieder bemerkbar gemacht. Erst im Erwachsenenalter erwähnte ein Arzt, dass ich in der Jugend die Scheuermann-Krankheit gehabt hätte und dabei zwei Wirbel zusammengewachsen seien.

In den Geographiestunden mit Prof. Vogel lernten wir die verschiedenen Länder in Europa kennen und erfuhren mehr über ihre Landwirtschaft und Bodenschätze. Auch die Naturkunde war bereichernd, denn nun erfuhren wir in viel ausgeprägter Weise mehr über Pflanzen und Tiere. Diese Fächer waren für mich eine grosse Bereicherung und so kam bald der Drang mehr Einzelheiten zu erfahren. Dieser Wissensdrang hat mich schliesslich mein ganzes Leben begleitet und geprägt. Gegen Ende dieses Schuljahres, im Februar 1956, erschien zum ersten Mal unsere Schülerzeitung „SEEBUEB“. Es war eine Zeitung von Schülern für Schüler. Nach langem hin und her wurde man über die Gestaltung der Titelseite einig. Es sollte mit dem alten Schulhaus, der Kirche, einigen Bäumen und fliegenden Möven das Dorf repräsentieren und mit einem Linolschnitt gedruckt werden. Das Original wurde spiegelbildlich als Negativmuster in eine Linolplatte geschnitten. Anschliessend wurde die gewünschte Farbe mit einer Rolle oder Walze auf die Linolplatte aufgetragen, sodass man damit das Titelblatt auf Papier drucken konnte. Der Druck von Hand gelang, aber die Qualität war nicht hervorragend. Dafür war der Inhalt der Zeitung sehr abwechslungsreich und enthielt eigene Gedichte, Kurzgeschichten, Gratulationen, Sport, Rätsel, Humor, Inserate und sogar eine Rubrik „Schandpfahl“. Auf dieser Seite wurden Lumpereien, rüpelhaftes Benehmen gegenüber Mädchen, Unordnung im Klassenzimmer und Gefahren in der Natur veröffentlicht. Dabei konnte man unter anderem folgendes lesen: „Auch wir in der March wollen doch galante Knaben sein!“ Diese Zeitung war für mich nicht nur eine schriftliche Art zu kommunizieren, sondern gab auch einen ersten, praktischen Einblick in die Druckerkunst.



(5) Die Schülerzeitung der Bezirkschule Lachen

Die Schülerzeitung der Bezirkschule Lachen


Dieses Jahr organisierten unsere Lehrer Fritz Hegner und Professor Vogel die traditionelle Schulreise. Das Ziel war der Rheinfall bei Neuhausen und eine Weidling-Fahrt auf dem Rhein. Ein Weidling ist ein längliches Boot aus Holz, das normalerweise mittels Ruder oder Stachel den Rhein hinaufgefahren wird. Eine der grössten Gefahren sind die im Fluss befindlichen Verkehrszeichen, die „Wiifen“ genannt werden. Viele Boote sind schon an ihnen zerbrochen. Wir jungen Burschen aber sahen keine Gefahren und freuten uns auf die abenteuerliche Flussfahrt, die wir dann in vollen Zügen genossen. Am Schluss waren wir aber doch froh das Ufer wieder sicher erreicht zu haben. Nachher ging es auf eine 3 ½ stündige Fusswanderung von Tössegg nach Kloten wo wir den Flugplatz besuchten. Es war ein ausserordentlich interessanter Tag gewesen.

Plötzlich zirkulierte im Dorf das Gerücht, dass Professor Vogel mit uns Schüler unzüchtig sei. Professor Vogel war für mich ein sehr netter Mensch, immer fröhlich und ein guter, geduldiger Lehrer. Zudem war er Vikar und so somit auch Seelsorger. Meine Eltern machten trübe Gesichter als sie von der Geschichte hörten und ich wusste eigentlich gar nicht um was es ging. Erst als Schüller einzeln vor dem Schulrat antreten mussten wurde mir der Ernst der Lage bewusst. Auch ich wurde gefragt ob der Professor mich unsittlich berührt hätte. Ich war erstaunt über eine solche Frage und erwiderte negativ. Doch die Räte drängten mich bewusst und wollten mehr von mir wissen. Aber ich wusste einfach nicht mehr und verneinte alle Fragen. Etwas verloren erzählte ich schliesslich den Herren, dass mich Professor Vogel immer gut behandelt habe und mir sogar manchmal an der Kletterstange half. Da ich an der Stange nicht der Schnellste war, schubste er manchmal meinen Hintern, sodass ich einen Meter höher kam, wo die Stange weniger glitschig war. Aber das war doch nichts Böses oder Unanständiges gewesen? Erst zu Hause wurde mir bewusst, dass ich den Professor mit meiner gut gemeinten Aussage vielleicht belastet haben könnte. Ich bekam Gewissenbisse und machte mir Sorgen um den Professor. Aber schliesslich wurde die Anschuldigung fallen gelassen. Der Professor durfte wieder Schule geben und ich war erleichtert! Nachher hörte man im Dorf, dass die Geschichte von einem einzigen Widersacher in unserer Klasse erfunden worden war.

Für mich hatte die Geschichte aber trotzdem Folgen. Schon nach den Vorfällen mit Herrn Major Hegner hatten meine Eltern den Eindruck, dass die Qualität der Sekundarschule abgenommen hatte und dass ich zu wenig lerne. Und nun kam noch der Fall „Professor Vogel“ dazu. Nach all diesen Vorfällen fanden meine Eltern, dass ich nach dem Abschluss der 2. Sekundarklasse die Bezirkschule in Lachen verlassen müsse. Meine Mutter informierte sich und fand eine Privatschule in Cressier mit Fachrichtung Bank, Versicherungen und Administration, natürlich alles auf Französisch. Mein Vater war dagegen und meinte, dass für eine Spenglerlehre ein Welschland-Aufenthalt nicht nötig sei und das Internat zudem unerschwinglich sei. Er selbst hätte ja auch nie ein Jahr im Welschland verbringen können um französisch zu lernen. Aber meine Mutter wehrte sich und kämpfte für das Welschlandjahr. Als mein Vater immer noch nicht einwilligen wollte, entschied sie sich den Aufenthalt mit ihrem persönlichen Ersparten zu berappen. Für die damalige Zeit war meine Mutter eine sehr avantgardistische, emanzipierte und kämpferische Frau. Ich habe ihr sehr viel zu verdanken!

Sekundarklasse oder das Welschlandjahr im Clos-Rousseau in Cressier
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7.4.  Die Schulzeit – Sekundarklasse oder das Welschlandjahr im Clos-Rousseau in Cressier.

Schon bald nach der Entscheidung die Schule in Lachen zu verlassen, kaufte meine Mutter einen „Übersee-Koffer“ und bestellte Stoffetiketten mit meinem Namen. Diese Etiketten nähte sie dann an alle meine Kleider, sodass sie nicht mit denen von anderen Schülern verwechselt werden konnten. Einerseits freute ich mich auf das Welschland-Jahr, aber auf der anderen Seite hatte ich ein sehr mulmiges Gefühl. Schliesslich hiess dieser Entscheid, dass ich für ein ganzes Jahr das geraute Heim verlassen musste. Ich las in die Broschüre der Schule, dass ein Herr und Frau Alfred Quinche das Institut im Jahre 1859 gegründet hatten und es dann immer wieder auf die Nachkommen übertragen hatten. Es hiess auch, dass mit seiner guten Tradition den Schülern Komfort und angenehme Behaglichkeit in heimeliger Atmosphäre geboten wird. All die Information war interessant, aber so richtig konnte ich mir das neue Leben doch nicht vorstellen. So zog ich es vor mit meiner Mutter die gewünschten Kleider zusammen zu tragen und machte mir keine weiteren Sorgen.



(1) Das Hauptgebäude des Institut "Clos-Rousseau"

Das Hauptgebäude des Institut "Clos-Rousseau"


Am 21. April 1956 brachten mich meine Eltern mit unserem Peugeot 203 nach Cressier und übergaben mich dem Direktor Ehepaar Monsieur et Madame Pierre Carrel. Er war eine sehr gepflegte Erscheinung und hatte ein spezielles Hobby: er war Autorennfahrer und machte jeweils am internationalen Bergrennen in St. Ursanne-Les Rangiers mit, was mir natürlich sehr Eindruck machte. Er zeigte uns die Schule und die Schlafgemächer. Mir wurde ein Bett in einem Viererzimmer zugewiesen, also musste ich zum ersten Mal in meinem Leben das Schlafzimmer mit anderen Knaben teilen. Schon am ersten Abend in diesem Zimmer passierte etwas äusserst Schockierendes: der Bursche mit dem Bett neben der Türe legte sich nackt ins Bett. Sofort wurde der Aufseher gerufen und der Bursche aufgefordert sein Pyjama anzuziehen. Aber der Arme hatte gar kein Pyjama bei sich. Er sagte, dass seine ganze Familie immer nur nackt schlafen würde und dass dies für ihn eben normal sei. So etwas „unsittliches“ war natürlich in diesem Internat nicht geduldet und seine Eltern mussten ihm sofort ein Pyjama kaufen und zusenden. Gleich neben unserem Zimmer war ein Raum mit den Lavabos, den Duschen und den WCs. Im Erdgeschoss waren ein grosser Speisesaal und die Schulzimmer der Klasse B und C. Bei der Treppe zum Obergeschoss, wo sich das Schulzimmer der Klasse A befand, war eine Glocke die bei Schulbeginn geläutet wurde. Als sich meine Eltern schliesslich verabschiedeten wurde mir bewusst, dass ich nun alleine war, sehr alleine! Es brauchte einige Tage bis ich die neue Situation mental verarbeitet hatte, trotzdem dauerte das Heimweh noch eine Weile an. Es war halt alles so anders und fremd. Zudem waren die paar Wörter die ich bei Professor Schätti in der „Franz-Stunde“ aufgeschnappt hatte einfach zu dürftig um sich sofort in einer französisch sprechenden Umgebung zu Recht zu finden.

Am nächsten und ersten Schultag wurden die Lehrer vorgestellt. Für Französisch hatten wir drei Lehrer, Herr. R. Sudan, Herr Montandon und Herr Cavadini. Arithmetik unterrichtete Herr A. Kurrer, Deutsch Herr H. Brütsch und Sport Herr Ch. Hensch. Dann wurden die Schüler vorgestellt. Wir waren total 45 Schüler: 43 kamen aus der Schweiz, einer aus Italien und ein anderer sogar aus Uruguay. Anschliessend gab es eine Aufnahmeprüfung. Diese Prüfung entschied in welche der drei Klassen man eingeteilt wurde. Zu meiner Überraschung wurde ich in die Klasse „A“ eingeteilt. Also war ich trotz meinen miesen Französisch Kenntnissen unter den besten Schülern der Schule. Im Gegensatz zur Schule in Lachen waren die Klassen klein und deshalb die Lektionen viel intensiver. Auch konnte man nicht mehr „spicken“. Die Buchhaltung war wieder mein Lieblingsfach. Rechts neben mir auf der Zweierbank sass Ludwig Herman. Ich sass auf der Korridor-Seite. Er faszinierte mich, weil er sehr intelligent war, gut aussah und ausgezeichnet zeichnen konnte. Mit ein paar schnellen Strichen konnte er Köpfe aufs Papier zaubern. Aber er konnte auch äusserst eigenwillig sein und mich plötzlich, unerwartet und ohne Grund gewaltsam aus der Bank in den Korridor katapultieren. So landete ich auf dem Boden worauf die ganze Klasse lachte; ich aber getraute mich nicht darauf zu reagieren oder mich zu beklagen. Obwohl auch die Lehrer meine unsanften „Landungen“ bemerkt hatten, unternahmen sie nie etwas um ihn von seinen Angriffen abzubringen. Es zirkulierte damals das Gerücht, dass seine Tante die bekannte Sopranistin Lisa della Casa sei (gestorben im Dezember 2012). Dies machte ihn natürlich noch exklusiver und unzugänglicher für mich. Ich fühlte mich minderwertig neben ihm und so sassen wir ein ganzes Jahr nebeneinander, teilten aber ausser den gemeinsamen Stunden auf der Schulbank nichts miteinander. Natürlich war dieser Zustand für mich oft unerträglich, aber ich wusste einfach nicht was ich dagegen tun konnte. Ich konnte ihn ja nicht zwingen mit mir zu sprechen. Erst viel später erfuhr ich, dass er eigentlich auch sehr einsam, scheu und zudem unglücklich gewesen war, dies wegen seiner Wortkargheit mir aber nicht mitteilten konnte.



(2) Die Schüler der drei Klassen mit dem Direktor Pierre Carrel (zweiter von links) und den Lehrern.

Die Schüler der drei Klassen mit dem Direktor Pierre Carrel (zweiter von links) und den Lehrern.


Mit einer Grösse von 170 cm, einem Körpergewicht von 60 kg und einem Brustumfang (ausgeatmet) von nur 88 cm war ich zu dieser Zeit noch ein hagerer Bursche. Bei Gruppenfotos bat man mich deshalb immer mit den Kleinsten in der vordersten Reihe zu stehen. Folglich benahm ich mich scheu und unauffällig. Zudem hatte ich den Eindruck, dass die meisten Schüler aus wohlhabenden Familien kamen und so fühlte ich mich als Sohn eines Spenglers noch isolierter. Ich war daher froh als ich eines Tages einen Knaben aus Küsnacht am Zürichsee kennen lernte. Er hiess Heinz und war der Schüler, der von der Direktion auserkoren war das ganze Jahr die Glocke beim Eingang zu läuten. Es gab Gerüchte, dass seine Eltern „Neureiche“ seien und dieses Privileg beim Direktor gekauft hätten. Natürlich war ich auch der Meinung, dass es ungerecht war nur einen einzigen Schüler für diese Aufgabe erkoren zu haben, war aber schliesslich froh, dass es nicht meine Pflicht war jeden Tag pünktlich bei der Glocke zu sein! Aber vielleicht war gerade dieses Privileg eine gewollte Strategie der Eltern um Heinz die Pünktlichkeit beizubringen? Da wir Beide vom Zürichsee kamen, also aus der gleichen Gegend, hatten wir nie einen Mangel an Gesprächstoff. Er überraschte mich immer wieder mit neuen Dingen die ich nicht kannte. Zum Beispiel verkaufte er Kugelschreiber die farbig schreiben konnten, was damals eine Sensation war. Aber es blieb nicht bei den Kugelschreibern, er kam immer wieder mit neuen Produkten die mich verblüfften. Eines tags zog er mich in eine Ecke und zeigte mir einen kleinen, viereckigen Plastikbeutel. Er fragte ob ich einen „Pariser“ kaufen wolle. Ich hatte keine Ahnung von was er sprach und dachte an einen Mann aus Paris. Dann aber erklärte er mir was er da verkaufte und ich wusste nicht wie ich reagieren sollte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass so etwas existierte und konnte mir auch nicht vorstellen was ich in meinem Alter damit anfangen sollte. So ein Skandal, da verkaufe ein Schüler Kondome an Minderjährige und an Knaben die in der Pubertät waren. Ich wurde rot im Gesicht, hielt mit weiteren Fragen inne und zog mich verwirrt und beschämt ins Zimmer zurück. Nach einer Weile der Besinnung war die Entrüstung verschwunden und ich fand, dass ein Knabe der schon mit 15 Jahren Handel treibt, sicher ein erfolgreicher Kaufmann werden wird. Die Direktion des „Clos-Rousseau“ kam ihm bald auf die Schliche und machte seinem Treiben ein Ende. Aber es ging nicht lange, da hatte er schon neue Verkaufs-Strategie ausgeheckt.

Heinz war im Zimmer nebenan einquartiert. Seine Mitbewohner waren bald bekannt für ihre Streiche und Übeltaten und ihr Zimmer bekam verschiedene Übernahmen. Einmal war es das „Sexzimmer“, dann „Banditenhöhle“, etc. Jedenfalls musste man dieses Zimmer nach einem „Zwischenfall“ einmal neu streichen (zu Lasten der Eltern natürlich). In unserem Zimmer sorgten die Vier auch einmal für Aufruhr. Nachdem die Lichter schon gelöscht waren stürmten sie in unser Zimmer, rissen uns die Bettdecken weg und zogen uns die Pyjamahosen runter. Ihre Absicht war es uns die Selbstbefriedigung beizubringen. Natürlich gab es sofort eine riesige Balgerei und wir wehrten uns wie die Wilden. Zu Glück hörte die Nachtwache unsere hysterischen Schreie und machte dem üblen Spiel ein jähes Ende. Natürlich wollte der Vorgesetzte wissen was geschehen war, doch komischerweise wollte sich niemand über das Geschehene äussern. Aus Angst vor Rache wollten wir vor allem unsere unberechenbaren Nachbarn nicht mit Aussagen belasten und verärgern. Und so war es wie immer: ohne Klage keine Strafe für die Übeltäter.

Unser Französisch Lehrer, Monsieur Sudan, war ein hagerer, ernster Herr mit Schnauz und Brille. Er unterrichtete ein klassisches, ja fast literarisches Französisch das für uns oft keinen Sinn zu machen schien. Auch büffelten wir „Gallicismes“ von denen leider viele heutzutage wohl kaum mehr gebraucht werden. „Gallicismes“ sind Redewendungen die aus einem Wort oder auch aus ganzen Sätzen bestehen können. So zum Beispiel „à bâtons rompus“ = ohne Zusammenhang, „être en train de…“ = im Begriffe sein etwas zu tun, oder „réveiller un chat qui dort“ = eine alte Geschichte aufwecken. Das Wörterbuch der Gallizismen hatte 387 Seiten, aber mit meiner Gedächtnisschwäche sind, ausser solchen die man täglich braucht, nicht viele im Hirn registriert geblieben. Monsieur Sudan war schüchtern und hatte keinen Humor. So provozierten wir ihn immer wieder um ihn aus der Fassung zu bringen oder ein Lächeln in sein Gesicht zu zaubern; doch meistens ohne Erfolg. Einmal suchten wir in unseren Wörterbüchern provozierende Ausdrücke um ihn zu provozieren. So fragten wir ganz unschuldig und naiv was das Wort „piner“ bedeute, wir hätte es auf der Strasse gehört? Er wurde ganz rot im Gesicht und wollte nicht antworten. Schliesslich meinte er, wir wären viel zu jung um das Wort zu verstehen. Als wir insistierten, sagte er es sei etwas das gemacht würde, über das man aber nicht spreche. Wir taten so als wären wir ratlos und enttäuscht über seine Antwort, aber als er uns den Rücken zudrehte lachten wir uns halbtot. Wir hatten ihn bedrängt, er aber liess sich nichts anmerken und blieb beherrscht wie immer.

Unser Sportlehrer, Monsieur Hensch, war ein hünenhafter, immer braungebrannter Muskelprotz, was er uns immer gerne vorführte. Nebst den gängigen Turnübungen war auch „Polochon“ sehr oft auf dem Programm. Es handelte sich im Prinzip um eine Art Kissenschlacht aber mit dem Unterschied, dass der Kampf auf einem glitschigen Rundholz stattfindet. Das Rundholz-Gestell sah aus wie ein „Rodeo“ Pferd und hatte auch vier Beine, sodass man sich wie ein Viehhirt auf einer Weide in Südamerika vorkam. Den zwei Kämpfern gab man eine Art Beutel (anstatt Kissen) in die Hand und mit diesem musste man den Gegner seitlich genau so treffen, dass er das Gleichgewicht auf dem Rundholz verlor und auf den Boden fiel. Ich verstand nicht, dass ein solches Spiel als Sport bezeichnet wurde und fand es deshalb äusserst einfältig. Aber vielleicht war ich frustriert, weil ich mich einfach nicht auf dem Rundholz festhalten konnte und weshalb ein Kampf mit mir immer sehr schnell entschieden war. Der Sport- und Fussballplatz der Schule befand sich auf der anderen Seite der Bahngleise von Cressier. Ein bis zweimal pro Woche brachte uns Monsieur Hensch zu diesem Feld um Sport zu treiben und Fussball zu spielen. Fussball war auch nicht mein Lieblingssport, aber ich wollte ja nicht kneifen so wie einer der Schüler, der Jorge aus Bern. Immer wenn er keine Lust zum Fussball spielen hatte, dann beklagte er sich plötzlich über „Damaskus“. Natürlich verursachte eine solche Ausrede jedes Mal für ein allgemeines Gelächter, was ihn oft so wütend machte, dass er sofort schimpfend ins Institut zurück rannte. Wir erklärten ihm immer wieder, dass er nicht an „Damaskus“ leide, sondern an Meniskus. Aber da er nicht zuhörte und nur weiter simulierte, liessen wir ihn schliesslich in Ruhe.

Die Direktion hatte die Eltern beim Eintritt in die Schule motiviert den Schülern ihre Fahrräder mitzugeben. So waren wir öfters mit unseren Velos unterwegs. Einmal ging es nach Landeron, dann nach La Neuveville zum Baden oder einfach zu einer Rundfahrt in der Region. Ein paar Mal machten wir einen Ausflug bis nach Neuenburg. Dort hatten wir „Ausgang“ und durften ganz alleine die Stadt erkunden. Es war aufregend, denn alles war neu und interessant. Einmal gingen wir ins Kino und sahen den Film „L’Oiseau bleu“ ein US-amerikanischer Fantasyfilm aus dem Jahr 1940 unter der Regie von Walter Land. Es war das erste Mal, dass ich in einem Kino sass und so waren die Eindrücke überwältigend. Beim Film handelte es sich um ein Märchen das, wie es sich gehört, wunderbar endete. Für mich aber war die Musik ausserordentlich prägend und ich könnte sie noch heute nachsummen.

In den Sommerferien durften wir nach Hause und so auch an Weihnachten. Und während diesen festlichen Tagen fragte mich mein Vater plötzlich was ich im Frühling, also nach dem Abschluss der Internat Schule, wohl zu lernen gedenke. Ich sagte ihm, dass ich sehr gerne Architektur studieren würde. Sofort erwiderte er mir, dass ich in einem solchen Fall das Studium selber berappen müsse. Als meine Mutter dies hörte wurde sie bleich. Etwas aufgebracht erwiderte ich ihm: „Du weisst genau, dass ich kein Geld habe, also wieso fragst Du mich was ich erlernen möchte? Mit Deiner Antwort lässt Du mir zudem keine Wahl und es bleibt mir nichts anderes übrig als den Spengler Beruf zu erlernen“. Und damit war meine Hoffnung auf eine akademische Laufbahn beerdigt. Ich musste mich damit abfinden einen handwerklichen Beruf zu erlernen, was ich aber später nie bedauerte. Ich akzeptierte die Situation, schwor mir aber nach dem Erreichen der Volljährigkeit mein Leben selbst in die Hände zu nehmen und es nach meinen Träumen zu gestalten.

Nach den Festtagen ging die Schule in Cressier wie immer weiter, aber in diesem letzten Trimester wurde mehr auf Anstand und Benehmen geachtet. Schliesslich wurden wir auf öffentliche Institutionen vorbereitet und dazu gehörten eben auch korrekte Umgangsformen, auch am Tisch. Meine Eltern begrüssten dies sehr, aber als sie erfuhren, dass in Zusammenarbeit mit dem Mädchen-Institut „Les Pervenches“ ein Tanzkurs dazu gehörte, waren sie entsetzt. Sie wehrten sich und liessen es schliesslich nicht zu, dass ich an diesem Kurs teilnehmen konnte. Das Argument war, dass ich erst 15 Jahre alt war, noch nicht konfirmiert sei und somit ein Kontakt mit Mädchen nicht in Frage komme. Da konnte Monsieur Carrel noch so besänftigen und beschwören, dass die Tänzer immer unter Aufsicht seien. Für mich aber gab es noch ein weiteres Hindernis um daran teil zu nehmen. Als fast Einziger trug ich im Sommer immer noch kurze Hosen und im Winter Knickerbocker (auch «Gegelfänger» genannt), eine wadenlange Überfallhose mit weiten Beinen. Da fast alle anderen Schüler bereits schon lange Hosen trugen, hätte ich auch gerne solche gehabt. Aber auch da blieben meine Eltern stur und meinten, dass man lange Hosen erst zur Konfirmation bekomme and erst ab diesem Tag getragen werden dürften. Allerdings war ich mit dieser „Behinderung“ nicht alleine und wir „Hinterwäldler“ wurden natürlich von den anderen Schülern belächelt. Und da man am Schlussball nur lange Hosen tragen durfte, waren wir sowieso vom Tanzkurs und dem Rest der Schüler ausgeschlossen. Dafür benutzten wir „Einzelgänger“ die Tanzstunden der anderen Schüler um im leeren Haus unseren Spass zu haben und allerlei Schabernack zu treiben, alles Sachen die die anderen Schüler schliesslich versäumten. Aber am Tag des Schlussballs, als alle Schüler fein gekleidet erschienen und wir nicht mit an den Ball durften, packte uns „Zurückgebliebenen“ trotz allem ein schmerzlicher Katzenjammer. Schliesslich verpassten wir einen rauschenden und unvergesslichen Ball!

Im April 1957 ging das Welschlandjahr zu Ende und alle Schüler bekamen ein offizielles „Certificat“ mit den erreichten Schluss-Noten. Mit 5 x 5,5, 7 x 5 und nur 4 x 4,5 war ich mit meinen Noten zufrieden, dies besonders weil ich ausser Deutsch alle anderen Fächer auf Französisch meistern musste. Eine Note von 5,5 hatte ich für Arithmétique commerciale, Dessin technique, Allemand, Conduite und Ordre erhalten (im Institut war die 6 die beste Note). Die ersten zwei Fächer waren später während meiner Spengler-Lehre von grossem Nutzen.

Die Direktion bat uns die Koffer, die nun ein ganzes Jahr im Estrich ausgeharrt hatten, wieder herunter zu holen. So holte auch ich meinen Überseekoffer und füllte ihn mit meinen Kleidern. Heinz wollte plötzlich wissen wie ich wieder nach Hause fahre. Ich sagte ihm, dass mich meine Eltern wohl wieder mit dem Auto abholen würden. Da wir ja Beide am Zürichsee wohnten, schlug er mir vor mit seinen Eltern zu fahren. Da war allerdings noch eine kleine Hürde zu bewältigen. Als sie erfuhr, dass meine Eltern im katholischen Lachen wohnten, war sie alles andere als begeistert mich mitzunehmen. Erst als er ihr versichert hatte, dass ich Protestant war, willigte sie schliesslich ein. Die Überseekoffer und das Fahrrad wurden mit der Bahn spediert und ich genoss es ausserordentlich in einem schönen, grossen Auto bis vor unser Haus geführt zu werden. Damit war für mich die obligatorische Schulzeit abgeschlossen.

Meine Freizeit und Ferien
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8.  Meine Freizeit und Ferien

Neben all den verschiedenen Arbeiten zu Hause, oder „Pösteli“ wie man sie damals nannte, mussten nach der Schule natürlich zuerst einmal die Hausaufgaben erledigt werden. Da aber meine Eltern meistens beschäftig waren, konnten sie mir bei den Aufgaben selten helfen. So blieb mir nichts anderes übrig als die Lösungen selbst zu finden; was mir gleichzeitig half willensstark zu werden. Allerdings gab es Momente bei denen ich keine Lösung fand und so die Gelegenheit benutzte aus dem Haus zu schleichen und draussen mit Nachbarkinder zu spielen. Fussball kam allerdings nicht in Frage, denn meine Eltern fanden es ausserordentlich debil einem Ball nachzurennen. Zudem hätte ich meine Schuhe dabei abgenutzt und meine Eltern infolgedessen immer wieder neue Schuhe kaufen müssen. Dafür erlaubten sie mir der Jugendriege beizutreten. Zu diesem Anlass bekam ich ein paar nagelneue, blaue Turnschuhe. Die Turnstunden wurden von Mitgliedern des Turnvereins geleitet und eine perfekte Ergänzung zu den Turnstunden in der Schule.

Jede Woche ging ich pünktlich in die Turnhalle am See und folgte den Anleitungen des Jugendriegenleiters Guido Heuberger. Eines Tages sagte er uns, dass wir am Jungturnerfest in Altdorf teilnehmen werden. Natürlich freute ich mich riesig auf diesen Anlass, denn es erlaubte mir eine andere Gegend kennen zu lernen. Leider war an diesem Wochenende das Wetter so mies, sodass die Freiübungen nicht abgehalten werden konnten. Trotz Regen liefen wir stolz mit unserer neuen Fahne durchs Dorf und erkundigten nachher das Dorf. Das Unvergesslichste war neben dem Festbetrieb und der Reise schliesslich das Tell-Denkmal selbst zu sehen.



(1) Zentralschweizerischer Spiel- und Stafettentag im Sommer 1960 in Baar.

Zentralschweizerischer Spiel- und Stafettentag im Sommer 1960 in Baar.


Damals fehlte das Geld nicht nur bei mir, sondern auch bei den Vereinen. Um die finanzielle Situation der Vereinskassen ein bisschen aufzubessern, gestattete die Gemeinde monatlich eine „Papiersammlung“. Um Ungerechtigkeit zu vermeiden, konnte jeder Verein im Turnus einmal im Jahr diese Sammlung durchführen. Natürlich hatte auch der Turnverein das Anrecht auf einen Sammeltag und die Jugendriege durfte dabei auch immer mitmachen. Die „Papiersammlung“ war für uns Buben immer ein ganz spezieller “Plausch“. Schon früh am Morgen traf man sich beim „Schaggi Küng“, dem Alteisen- Altpapier und Lumpenhändler bei dem mein Vater Altmetall verkaufte und Putzfäden bezog. Ein Lastwagen war meistens schon da und es konnte losgehen. Auf einer Route, die durchs ganze Dorf führte, wurde nun nach Altpapier Ausschau gehalten. Natürlich waren wir interessiert möglichst viel Altpapier zusammen zu bringen um am Abend die Kasse entsprechend klingen zu hören. Die Bevölkerung war schon Tage zuvor auf die Sammlung aufmerksam gemacht worden. Papier und Karton mussten fein gebündelt und geschnürt vor den Häusern deponiert sein, sonst wäre das Aufladen zu mühsam gewesen. Damals brauchte man die Zeitungen im Winter vor allem um das Feuer in den Öfen anzumachen, die nassen Schuhe damit auszustopfen und natürlich damit auch WC-Papier zu schneiden. Somit konnte man nicht so wie heute mit Bergen von Altpapier rechnen und war zufrieden mit den wenigen Zeitungen und Heftli die auf der Strasse bereitlagen. Und so verbrachten wir den ganzen Samstag im Sammelfieber ohne, dass sich jemand beklagt hätte oder die Übung von Eltern als „Ausnützung“ der Jungend angeprangert wurde. Das Gegenteil war der Fall, die freiwillige Arbeit wurde von den Leuten geschätzt und wir wurden für unsere Arbeit gelobt.

Schon als kleiner Bub wünschte ich mir zu Weihnachten immer ein „Globi-Buch“. Die Abenteuer und Erlebnisse von Globi beglückten mich dann das ganze Jahr bis ich an Weihnachten einen neuen Band erhielt. Die „Globi-Bücher“ waren ja eigentlich mehr Bilderbücher und so brauchte ich niemand um mir den Text zu erklären. Gleichzeitig sammelte meine Mutter alle Punkte die es gab um Kinderbücher zu illustrieren oder etwas dafür eintauschen zu können (SILVA, AVANTI, BEA, MONDO, Maestrani, JUWO, etc.) Mit den Punkten von Kaffee HAG konnte man sich sogar Hefte mit Schweizer Gemeindewappen erwerben. Die damals beliebtesten Klebebilderalben waren aber die von Chocolats Peter, Cailler, Kohler & Nestle (N.P.C.K.) Anfangs bestellte meine Mutter vor allem die Bände „Schöne Schweizer Sagen“ oder „N.P.C.K erzählt“ die mich ausserordentlich faszinierten und von denen es immer wieder neue Folgen gab. Gewisse Geschichten mussten mir meine Mutter immer wieder neu erzählen und gewisse Details ausdeuten.

Als ich später selbst lesen konnte, interessierten mich anspruchsvollere Bände von N.P.C.K. wie „Wissenschaft, Entdeckungen, Forschungen und Abenteuer“, “Die Natur und ihre Geheimnisse“, „Die Jahreszeiten im Schweizer Volksbrauch“, „Mein Bastelbuch“ und “Wunder aus aller Welt“. Gleichzeitig bekam ich von meinen Eltern jedes Jahr den Pestalozzi Kalender. Ich las auch regelmässig die Kinderzeitschrift „JUNIOR“, die im Jahre 1951 vom Schweizer Hans-Rudolf Hug erfunden wurde. Der Anstoss für die kleinformatige Zeitschrift war ein Gegenpol zu den aufkommenden Comics zu setzen und gleichzeitig den Händlern als Geschenk für Kinder zu dienen. Die Schwerpunkte der ersten Ausgaben waren Bildung, Erziehung und Moral. Da es damals noch kein Fernsehen gab, verschlang ich den „JUNIOR“ immer mit grossem Vergnügen. Da man ihn nicht in jedem Geschäft erhielt, musste ich oft mehrere Läden abklopfen um die Zeitschrift zu ergattern. Jeden Monat wurde im „JUNIOR“ ein Wettbewerb ausgeschrieben. Ich versuchte immer mein Glück und so gewann ich einmal den 1. Preis. Die Aufgabe verlangte ein Puzzle aus Verpackungsteilen verschiedener Markenartikel zu gestalten Ich zeichnete zuerst einen grossen Ball mit einem Clown darauf. Dann schnitt ich farbige Schnitzel aus den gesammelten Verpackungen sodass man den Namen des Markenartikels sah und klebte sie dann auf die Zeichnung. Das Resultat war ein perfektes Puzzle, ansprechend und vor allem farbenfroh. Ich war sehr stolz auf meinen Erfolg und meine Auszeichnung.

Neben dem „JUNIOR“ begann ich Bücher zu lesen die man sich in der Schulbibliothek ausleihen konnte. Bald entdeckte ich die Fliegerabenteuer von Biggels (James Biggelsworth), der bekannte Held in einer Serie von 98 Bücher; zum Beispiel „Biggels im Dschungel“, „Biggels in grosser Mission“ oder „Biggels fliegt in die Kalahari“. Es waren alles Bücher in denen hauptsächlich traditionelle Werte, Tapferkeit, Ehrlichkeit und Fair Play bekräftigt wurden. Der Autor, Captain W.E. Johns, schrieb 167 Bücher und starb im Jahre 1968. Jedes Jahr wünschte ich mir auf Weihnachten ein neues Buch mit neuen Abenteuern von Biggles. Später wurden seine Bücher immer mehr in Comic-Form veröffentlicht, was aber die Vorstellungskraft des Lesers nicht mehr so förderte wie früher. Natürlich las ich auch Mark Twains Romane „Die Abenteuer des Tom Sawyerund „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Aber irgendwie konnten sie mich nicht fesseln und die Abenteuer der beiden Freunde Huckleberry Finn und Tom Sawyer schienen mir fremd.

Ich las Bücher gerne im Bett. Da aber meine Mutter dies nicht schätze, geschah dies meistens mit der Nachttischlampe unter der Bettdecke, oft bis Mitternacht. Es war die Zeit wo sich die Pubertät bemerkbar machte und so kam es vor, dass ich manchmal anstatt zu lesen meinen sich ändernden Körper ergründen wollte. Ganz überraschend kam meine Mutter einmal nachts in mein Zimmer. Sie wusste sofort, dass ich nicht gelesen hatte und sagte mir ich solle aufhören mit dem „Ding“ zu spielen, es sei ungesund, ich solle sofort das Licht löschen und schlafen. Obwohl ich mich schämte auf frischer Tat ertappt zu werden und im Bewusstsein, dass ich wahrscheinlich gesündigt hatte, bat ich sie mir doch einige Fragen über meinen Körper und die menschliche Fortpflanzung zu beantworten. Doch sie schien genau so geniert zu sein wie ich und blieb einfach stumm. Als ich merkte, dass meine Mutter Mühe damit hatte, sagte ich verständnisvoll sie solle mir doch wenigstens ein Buch über die Aufklärung geben. Sie nickte und verliess das Zimmer, aber ich bekam später weder ein Buch noch eine entkrampfte Aufklärung von meinen Eltern.

Eine Freizeit-Beschäftigung die ich liebte, die aber etwas Konzentration brauchte, war die Fertigung von Mini-Modellen bekannter Gebäude in der Schweiz. Die verschiedenen, farbigen Gebäudeteile waren auf einem Ausschneidebogen aus feinem Karton erhältlich und mussten zuerst sorgfältig ausgeschnitten werden. Dann wurden die Teile gefalzt und nach Anleitung zusammengeleimt. Je nach Objekt brauchte dies sehr viel Geduld und Fingerfertigkeit, zum Beispiel für die „Drachenburg“ in Gottlieben mit ihren Erkern. Diese Bastelarbeit war nicht nur interessant, sondern man lernte dabei auch die Schweiz und bekannte Bauwerke kennen.

Bei schlechtem Wetter traf ich mich oft mit Kari Benz. Seine Eltern führten das Hotel Bären und so konnte man dort immer Interessantes erleben. Einmal, als es so richtig vom Himmel schüttete, stiegen wir alle Stockwerke des Hotels hinauf bis in den Estrich. Dort fanden wir Fahnen, die bei Festlichkeiten herausgehängt wurden und die bis fast zum Erdgeschoss reichten. Kurz entschlossen liessen wir die Fahnen an der Fassade runter so wie an Festtagen. Plötzlich tauchte Maria auf, die Gouvernante, und sah mit Entsetzen was wir da machten. Sofort mussten wir die Fahnen wieder einziehen und aufrollen. Dann jagte sie uns energisch aus dem Estrich.

Aber nicht nur der Estrich war interessant im Hotel Bären, sondern auch der Saal und die dazugehörige Bühne. Da gab es Requisiten und Kulissen die man herum schieben konnte und mit denen man immer wieder neue Bühnenbilder gestalten konnte. Allerdings musste man aufpassen, dass sie nicht umkippten und dabei wenn möglich beschädigt wurden. Auch der Vorhang fesselte mich und so konnte ich ihn nicht genug öffnen und schliessen, manchmal so schnell, dass die beiden Teile mit Wucht zusammentrafen. Vorne bei der Bühnenkante befand sich der Souffleurkasten und darunter der Schminkraum. In dieser Theaterwelt war ich immer so berauscht und entzückt, dass ich alles um mich herum vergass. Aber auch hier wurde man nicht lange in seiner Phantasiewelt gelassen, denn immer tauchte plötzlich Vater oder Mutter Benz auf. Nur selten hatten wir Zeit den „Tatort“ zu verlassen ohne Schimpfereien anhören zu müssen.

Kari hatte einen Bruder der hiess Werni. Er spielte Klavier und übte oft am Sonntagnachtmittag im Säli. Da wir nicht weit vom Hotel Bären wohnten, hörte ich seine Melodien im Sommer bis in unsere Wohnung. Da bei uns sonntagnachmittags am Radio ausschliesslich Ländermusik zu hören war, flüchtete ich oft zu Werni und genoss die schönen Melodien und Töne des Klaviers. Oft spielte er am Flügel und da schien mir die Musik noch viel melodiöser. Diese „Privatkonzerte“ erweckten in mir den innigen Wunsch einmal selbst Klavier zu spielen. Immer wieder bat ich meine Eltern ein Klavier zu kaufen. Doch leider war unsere Wohnung dazu viel zu klein und zudem fehlte auch das nötige Geld. Dafür überraschten mich meine Eltern an einer Weihnacht plötzlich mit einem Streichinstrument, einer nagelneuen Geige. Natürlich war dies eine Überraschung, aber keine die mich zu einem Freudeschrei animierte. Ich hatte ja gar nie eine Geige gewünscht und konnte mir auch nicht vorstellen ein solches Kratzinstrument überhaupt spielen zu wollen. Aber meine Mutter meinte, dass man auch mit einer Geige schöne Musik machen könne und dass eine musikalische Ausbildung einfach zu einer Grundausbildung gehöre. Dann organisierte sie beim „Giigeli-Marti“ Violinstunden, und zwar immer am Samstag um 15.00 Uhr. Damit war für mich der ganze Nachmittag futsch. Es war im Sommer wie im Winter die unmöglichste Stunde des Tages. Am Schlimmsten war es im Sommer, wenn ich bei grösster Hitze mit meiner Geige auf der Seidenstrasse zu Herrn Marti unterwegs war und dabei anderen Buben begegnete die auf dem Weg zu Seebad waren. In solchen Situationen wurde mir erst recht bewusst, was mir meine Eltern für ein wunderbares Hobby aufgedrängt hatten.

Natürlich erlernte ich die Noten und sogar einfache Melodien zu spielen, aber es war halt einfach nicht mein Wunschinstrument. Meine Schwester spielte Flöte, leider ebenfalls mit geringer Begeisterung. An Weihnachten mussten wir Beide immer Weihnachtslieder spielen. Einmal an Weihnachten vergass ich meine Geige in meinem ungeheizten, gefrorenen Zimmer. Als ich aufgefordert wurde mit meiner Schwester „Oh du Fröhliche“ zu spielen, holte ich meine Geige eiligst in die überheizte Stube und begann zu spielen. Natürlich fiel mir auf, dass meine Geige sofort „schwitzte“, aber darüber machte ich keine weiteren Gedanken. Nach ein paar Sekunden Spiel zerriss eine Saite und gleich dann noch eine zweite. Die beiden Saiten hielten dem plötzlichen Temperaturunterschied nicht stand. Da ich keine Saiten auf Vorrat hatte, war das Konzert für diesen Abend beendet und damit auch der Traum einer Karriere als Violinsolist. Ich kaufte keine neuen Ersatz-Saiten mehr und liess meine Violine für immer in ihrem Kasten ruhen. Derweil blieb das Klavier immer ein Instrument das ich gerne hörte, aber leider nie selber spielen lernte.

Da ich nun kein eigenes Instrument mehr spielte, genoss ich halt die Musik am Radio. Am Liebsten hörte ich Melodien aus Südamerika, denn sie waren so fröhlich, leidenschaftlich und rassig. Unser Radio stand auf einem kleinen Möbel neben dem Holzofen in der Stube. Wenn ich alleine war, dann konnte ich die Musik in voller Lautstärke geniessen. Sobald aber jemand in die Stube kam musste ich den Knopf zurückdrehen und konnte die Musik nur noch mit dem Ohr am Radio lauschen. Auch wenn mein Vater wütend aus seinem Büro in die Stube stürmte wusste ich was ich zu tun hatte. Er wollte bei seiner Arbeit nicht gestört werden. Das gleiche Los erfuhr ich, wenn Kunden oder Besuche in der Stube waren. So kniete ich halt vor dem Radio auf den harten Boden und hielt mein Ohr an den Lautsprecher um trotzdem einige Noten aufzuschnappen; wir hatten ja keinen zweiten Radio. Natürlich war das nicht mehr der gleiche Genuss und zudem schmerzten mich die Knie schon nach kurzer Zeit. Neben der Musik liebte ich Hörspiele wie der „Ueli de Chnächt“ über alles und wollte deshalb keine einzige Folge verpassen Das Spezielle beim Radiohören war damals, dass sich jeder Zuhörer die Ereignisse des Hörspiels ganz individuell nach seiner Fantasie vorstellen durfte und dass genau dies alles noch interessanter und spannender machte. Beim Fernsehen ging dies später leider verloren, man brauchte die Fantasie nicht mehr!

In der Freizeit gingen wir Buben manchmal auf der Feldstrasse hinaus bis zur Bretterhalle der Firma Möbel-Stählin. Das gedeckte Lager war riesig gross und unendlich hoch. Bretter aus allen möglichen Ländern wurden hier gelagert. Um eine gute Lagerung zu garantieren wurde zwischen die Bretter Latten gelegt. Der entstandene Abstand erlaubte eine natürliche Lüftung. Trotz der Grösse des Lagers mussten oft Bretter zusätzlich ausserhalb des gedeckten und eingezäunten Lagers aufbewahrt werden. Und genau diese „Brätterbeigen“ (Stapel von Brettern) benutzten wir Buben für Kletterübungen (damals gab es ja keine Kletterwände). Wir kletterten vertikal am Stapel hinauf und konnten uns dabei mit den Händen nur an den Bretterrändern festhalten. Es brauchte viel Mut und Geschicklichkeit, aber einmal oben unter der Abdeckung hatten wir es geschafft und fühlten uns in Sicherheit. Aber wir blieben auf der Hut, denn wir waren ja nie sicher ob uns jemand von der Fabrik aus verfolgt und beobachtet hatte. Nachträglich musste ich mich fragen wie es uns jedes Mal gelang bei diesen Stapeln sicher und ohne Unfall hinauf und besonders wieder runter zu klettern, denn dies war an den senkrechten Stapel schwierig und riskant!

Damals trieben zwei Räuber, Ernst Deubelbeiss und Kurt Schürmann, ihr Unwesen und machten die ganze Schweiz unsicher. Irgendwie inspirierte uns Buben diese Jagd nach den Übeltätern und so begannen wir anstatt dem normalen „Droffäh“ (ein Fangspiel), nun „Räuber und Poli“ zu spielen. Ein Teil der anwesenden Buben wurde zu Räubern und die andere Hälfte zu Polizisten. Das Spiel war immer sehr spannend, denn immer wieder entdeckten wir neue Verstecke und Schlichwege. Einmal fanden wir Räuber wie per Zufall das Gittertor im Durchgang zwischen dem Kleidergeschäft Krähmann und der Bäckerei Schriber offen. Sofort schlichen wir hinein und entdeckten einen schmalen, wild bewachsenen Weg der hinter der ganzen Häuserreihe parallel zur Marktstrasse bis zur Villa von Dr. Steinegger führte. Wenn es dort sicher war, sprangen wir über den Hag und verliessen durch dessen Garten unseren geheimen Weg. Aber das Versteck blieb nicht lange unser Geheimnis und bald wussten alle von dem bis anhin unbekannten und mysteriösen Verbindungsweg.

Irgendjemand hatte uns gesagt, dass eine böse Bande aus Wangen oder Galgenen uns Buben angreifen wollte. Das hiess für uns Mobilmachung und sofort breiteten wir uns auf den Dorfkrieg vor. Da die meisten Väter damals in der Holzindustrie arbeiteten, war es einfach Material und Väter zu finden die uns unterstützten. Und so hatten wir kurzer Zeit Schwerter, türkische Säbel, Speere, usw. in unserem „Waffenlager“. Ich selbst hatte mir aus Sperrholz ein Schild geschreinert und es farbenfroh bemalt. Als alles bereit war, rekrutierten wir noch Krankenschwestern; man konnte ja nie wissen? Meine Schwester und eine Schulkollegien waren bereit mit uns in den Krieg zu ziehen.

Natürlich musste man vorher rekognoszieren, so wie im Militär. Da die Gefahr aus dem Osten kam, ging ich zum „Griesammler“, der Einrichtung am Spreitenbach wo das bei Unwetter herab geschwemmte Kies aufgefangen wurde. Der Kiessammler war ein Ort wo sich die Buben zu allerlei Spielereien trafen, und von wo aus man das Gelände gegen Galgenen gut überwachen konnte. Da keine Feinde in Sicht waren, setzte ich mich auf die Bank beim kleinen Bahnübergang und genoss die Sicht gegen das Dorf. Plötzlich tauchte ein etwas älterer Bube aus dem Oberdorf auf und setzte sich neben mich. Er begann zu plaudern, aber da ich etwas beunruhigt war verstand ich nichts von dem was er sagte. Plötzlich fragte er mich ob er mein „Pfifeli“ sehen dürfe. Das hatte mich noch niemand gefragt und so war ich noch mehr verwirrt. Er machte hemmungslos meinen Hosenladen auf und suchte bis er fand was er sehen wollte. Mit meinem Intimsten am Sonnenlicht kamen meine Sinne plötzlich wieder zurück und so bat ich ihn weitere „Untersuchungen“ zu unterlassen, was er dann auch tat. Beim etwas abrupten Abschied bat er mich doch wieder einmal zum „Griesammler“ zu kommen. Ich sagte nichts und rannte so schnell ich konnte nach Hause. Doch zu Hause wusste ich nicht was ich mit diesem Vorfall anfangen sollte. Würde ich nun dafür bestraft und war dies nun eine Sünde gewesen? Natürlich erzählte ich meinen Eltern nichts von diesem Burschen, denn sie hätten ganz sicher sofort die Polizei angerufen. Dies wollte ich aber instinktiv nicht, denn schliesslich war der Bursche nicht gewalttätig gewesen und eigentlich nur „gwundrig“. Oder war er doch einer der berüchtigten Pädophilien auf die man im Dorf zeigte. Ich wusste es nicht und niemand hatte bis anhin über ihn gelästert. Ich sah ihn noch oft im Dorf und er grüsste immer freundlich, doch wenn möglich versuchte ich ihm immer auszuweichen.

Schliesslich kam der Tag des Angriffes. Alle Soldaten waren bereit und die Krankenschwestern hatten sogar weisse Häubchen mit einem roten Kreuz auf dem Kopf. Und so gingen wir im Trabschritt in Richtung „Griesammler“. Wir waren alle nervös, aber überzeugt, dass wir die Feinde mit unseren Waffen besiegen würden. Als wir auf der Kante des „Griesammler“ ankamen, sah alles sehr friedlich aus. Wir gingen vorsichtig weiter durchs Gebüsch und über den Bach. Auf der anderen Seite erschien wie aus dem Nichts ein grosser Bursche mit einem riesigen, rundlichen Knüppel in der Hand. Ohne uns den Krieg offiziell zu erklären stürzte er mit einem Riesengeschrei auf uns los und schlug auf unsere schönen, wertvollen und mit viel Liebe gebastelten Waffen ein. In kurzer Zeit war alles nur noch Kleinholz und er verschwand so wie er gekommen war. Unsere Armee war in Schock und brauchte eine Weile um sich davon zu erholen. Als wir zurückmarschierten und zu den Krankenschwestern kamen, konnten sie nicht verstehen was geschehen war. Da es keine schwer Verletzte gegeben hatte brachen wir die Übung ab und schlichen geschlagen und deprimiert zurück nach Hause. Nie mehr wagten wir uns Buben aus Nachbardörfern zu provozieren.

Manchmal gingen wir Buben auch is Horä usä. Es ist die Gegend wo die Wägitaler Aa in den Oberen Zürichsee fliesst und wo man keine bösen Banden fürchten musste. Diese damals wilde Gegend war für uns Buben ganz speziell interessant und ein Anziehungspunkt für abenteuerliche Entdeckungen. Zum Beispiel mussten wir, so wie unsere Eltern, den Genuss und die Nachwirkungen des Rauchens der „Niele“, oder Waldrebe, testen und erleiden. Das Resultat war meistens Übelkeit und Rauchabstinenz für lange Zeit. Manchmal kam ich sonntags auch mit meiner Mutter in diese Gegend, allerdings gingen wir dann weiter bis zum „Nuoler-Riet“ beim Flugplatz Wangen-Lachen. Diese Gegend war ein Paradies für verschiedene seltene Vogelarten. Als Mitglied des Vogelschutzvereins „Singdrossel“ war das Beobachten dieser Vögel für sie eine erholsame Abwechslung nach der vielen Arbeit während der Woche. Im Frühling, wenn die Vögel brüteten, war dies besonders interessant. Sie holte mich schon sehr früh aus dem Bett und ich musste sie dann bei ihren Erkundigungen begleiten. Auf dem Land wo sich heute die Flugpiste befindet war es einfach nach Kiebitzen und Brachvögel Ausschau zu halten. Da die Kibitze ihre Nester direkt auf dem Boden bauten, musste man immer aufpassen, dass man nicht in eine Brut trat. Pater Heim aus dem Kollegium Nuolen hatte eine aus Stroh gefertigte Beobachtungsstation gebaut und konnte so die Vögel ungestört beobachten und überwachen. Manchmal trafen wir ihn persönlich und so konnte meine Mutter all ihre Fragen bei ihm loswerden. Pater Heim machte sich Sorgen um die Zukunft dieser schönen Vögel denn mit dem geplanten Bau einer asphaltierten Piste waren sie in Gefahr. Meine Schwester und mein Vater kamen nie mit uns und zeigten auch kein Interesse an morgendlichen Exkursionen. Ich fand das schade, denn die Natur war in dieser Gegend so wunderschön am Morgen.

Zur gleichen Zeit überredete mich der ältere Sohn von Kafader’s mich einer ornithologischen Gruppe anzuschliessen. In regelmässigen Treffen lernten wir die verschiedenen Vogelarten in der March kennen und machten auch Beobachtungen in der Natur. Im Sommer, nach der Nistzeit, reinigten wir die offiziell registrierten Nistkästen an den Bäumen entlang der Wägitaler Aa. Da die Nistkästen meistens sehr hoch angebracht waren, brauchten wir die nötige Leiter um an sie heran zu kommen. Also musste immer auch das nötige Gerät mitgeschleppt werden. Obwohl ich in dieser Gruppe viel lernte, gab ich diese Freizeitbeschäftigung nach einer gewissen Zeit auf.

Der Vogelschutzverein machte jedes Jahr einen 2-tägigen Ausflug. Da mein Vater nach der harten Arbeit während der 6-Tage Woche keine Lust auf Wanderungen hatte und sich meine Schwester immer stur gegen die Ideen meiner Mutter stellte, hatte ich keine andere Wahl als sie zu begleiten. Im Jahre 1951, als ich 10 Jahre alt war, machten wir eine Bergwanderung ins Kärpfgebiet. Aber ich bereute es nicht, denn es war ein einmaliges Erlebnis. Am ersten Tag ging es von Schwanden nach Mettmen wo wie übernachteten. Zum ersten Mal erlebte ich da, hoch in den Bergen, einen Alpsegen. Die Abendstimmung, die friedliche Natur ringsum und dazu der Alpsegen berührten mich schon damals ausserordentlich. All dies öffnete mir die Augen und ich begann mich für die Natur zu interessieren. Schon früh am nächsten Morgen wanderten wir den Berg hinauf um Gämsen zu beobachten. Dann ging’s zurück ins Hotel zum Frühstück. Um 10 Uhr war die Feldpredigt, die Herr Pater Heim hielt. Dann ging die Wanderung durch eine wunderbare Landschaft weiter und nach dem Mittagessen wieder den Berg hinunter wo wir Murmeltiere und einen Steinadler sahen. Schliesslich erreichten wir Matt im Sernftal und reisten von da über Schwanden wieder zurück nach Hause. Zu Hause fand ich schade, dass meine Schwester diese eindrücklichen Ausflüge nicht mitmachen wollte und so die wunderbare Natur nicht kennenlernen konnte.


(2) Berggasthaus Mettmen auf 1650 Meter ü. M.

Berggasthaus Mettmen auf 1650 Meter ü. M.

 

(3) Stausee Garichte ob Schwanden

Stausee Garichte ob Schwanden


Später machte die „Singdrossel“ eine Bergwanderung auf den Rossberg (Wildspitz 1’583 Meter über Meer). Am ersten Tag ging es mit der Bahn über Pfäffikon nach Sattel und von hier zu Fuss zum Hotel „Rossberg-Kulm“, wo wie übernachteten. Am Morgen früh, vor dem Morgenessen, ging es zur Absturzstelle. Am Rossberg sind in historischer und vorhistorischer Zeit diverse Bergstürze niedergegangen. Der bekannteste ist der Bergsturz von Goldau aus dem Jahre 1806, der unterhalb des Gnipen abbrach und die Dörfer Goldau und Röthen fast vollständig zerstörte. Nachher ging es hinunter zum Alpli wo wir das Mittagessen einnahmen. Dann ging es weiter zu Fuss dem Aegerisee entlang bis zurück nach Sattel. Das Wetter war an beiden Tagen sehr heiss und schön gewesen. Zu dieser Wanderung waren mein Vater und meine Schwester ausnahmsweise einmal mitgekommen.

Wenn es mir zu Hause langweilig wurde, was sehr selten war, ging ich gerne auf den Balkon wo ich durch die Lücken der Querbretter des Geländers diskret und unbemerkbar die ganze Nachbarschaft beobachten konnte. Auf der Markstrasse direkt unter dem Balkon war immer etwas los, besonders am Sonntagabend. Da kamen alle Sonntags-Ausflügler aus den Bergen zurück. Es sah sich an wie eine endlose Auto- und Töff-Parade. Ich versuchte mir die verschiedenen Kantonszeichen zu merken oder sogar aufzuschreiben. Im Sommer schleppten alle Riesenmengen von Alpenrosen nach Hause. Vor allem die Motorräder waren immer extrem mit Alpenrosen-Sträussen behangen und ich fragte mich ob in den Bergen wohl noch etwas übriggeblieben sei. Aber auch die Schützenhausstrasse, der Schlössliweg und natürlich das „Schlössli“ hatte ich immer unter Kontrolle. An der Chilbi hatte ich einmal eine Plastik-Wasserpistole erhalten und so machte es mir auch immer ein Riesenspass vom Balkon mit dieser Pistole die Schönheiten des Dorfes beim Vorbeigehen zu bespritzen. Auch meine Schwester liebte diesen Scherz und amüsierte sich köstlich, wenn die betroffenen Mädchen mit ihren damals modischen „Obsi-Frisuren“ die Schirme aufspannten, weil sie glaubten der Regen hätte eingesetzt und die Haartürme könnten Schaden nehmen. Aber auch nachts war der Balkon ideal um Leute zu beobachten, besonders diejenigen die uns um 1 Uhr nachts mit Gejohle aus dem Schlaf geschreckt hatten. Einmal wollte ein Besoffener seinen nicht weniger alkoholisierten Kollegen im Streit auf den spitzen Gartenhag von Frau Züger aufspiessen. Meine Mutter holte mich sofort ins Bett und wollte nicht, dass ich mit solchen Szenen traumatisiert würde. Am Interessantesten war es aber auf dem Balkon am Samstagabend, besonders wenn das im ganzen Dorfe bekannte „Goldschwänzli“ mit ihrem Liebhaber erschien. Man konnte sie in ihrer extravaganten Aufmachung und dem üppigen Gold-Schmuck nicht übersehen. Das Letztere hatte Ihr schliesslich diesen Übernamen verschafft. Dann kamen aber auch die geschniegelten, jungen Männer aus dem Oberdorf mit ihren glänzenden „Entenfüdli“-Frisuren und ihren „Schätzen“ am Arm um mit ihnen den Samstagabend in den Seeanlagen zu verbringen. Meine Eltern sah ich nie, nicht einmal an Wochenenden, so wie andere Leute Arm in Arm einen Spaziergang machen. Sie hatten keine Zeit, denn als selbstständig Erwerbende hatten sie immer noch bis spät in der Nacht viel im Hause und im Büro zu erledigen. Ich musste erkennen, dass es die Arbeiter und Angestellten der verschiedenen Fabriken im Dorf mit ihrer fixen Arbeitszeit viel besser hatten als meine Eltern, die sich ja nicht einmal richtige Ferien leisten konnten. Die Eltern taten mir leid und schon als kleiner Knirps fand ich diese Situation ungerecht. Um mehr Lebensqualität zu erreichen schwor ich mir das Geschäft nie zu übernehmen und als Arbeitnehmer mein Leben zu bestreiten.

Nur selten gönnten sich meine Eltern eine Abwechslung zur täglichen Routine. Doch an einem Samstagabend wollte mein Vater mit meiner Mutter ins Kino gehen (damals hatten wir ja noch ein Kino im Dorf). Aber meine Mutter stellte sich quer und wollte nicht so „blöde Filme“ sehen. Zudem gab sie vor, dass sie noch viel zum Putzen, Flicken, Nähen, Stricken und Aufräumen habe. Mein Vater meinte dann, dass man das alles später auch noch verrichten könne. Aber damit war meine Mutter nicht einverstanden, es musste alles noch am Samstagabend erledigt werden. Und so ging halt schliesslich mein Vater alleine ins Kino. Allerdings hatte ich bemerkt, dass er enttäuscht, traurig und ohne Worte aus der Wohnung ging. Dann hatte ich Bedauern mit ihm und konnte nicht verstehen wieso meine Mutter ihn nicht begleiten wollte und sich so störrisch gab? Zum Glück war mein Vater im Männerchor und hatte jede Woche Probe. Das half ihm die Probleme des Betriebes ein wenig zu vergessen. Er war auch immer gerne dabei, wenn der Chor kleinere Ausflüge oder sogar kurze Reisen organisierte. Dabei entwickelte sich eine solide Freundschaft unter Sängerkameraden, die für ihn äussert wichtig war.

Später als meine Schwester älter war, machten meine Eltern im Sommer manchmal eine Autofahrt. So besuchten wir einmal das Rütli, die Höllgrotten in Baar, das Winzerfest in Neuenburg oder im Jahre 1954 die HOSPES, die Schweiz. Fremdenverkehrs- und internationale Kochkunst-Ausstellung in Bern. Diese Ausstellung war für mich besonders beeindruckend. Manchmal machten wir auch eine Passfahrt vom Kanton Glarus über den Klausen in den Kanton Uri oder einfach über die Sattelegg. Hier machten wir meistens einen Halt und suchten einen geeigneten Platz um uns auszuruhen. Wir Kinder suchten Beeren und Pilze und assen dann etwas Mitgebrachtes. Einmal als wir schon wieder zu Hause waren schrie meine Mutter plötzlich äusserst hysterisch und bewegte sich wie wild auf alle Seiten. Auf der Sattelegg hatte sich eine Eidechse in ihre Unterwäsche verirrt und auf diesem Weg mit uns nach Hause gekommen. Natürlich war der Schreck kurz und die ganze Familie lachte noch lange darüber. Manchmal fuhren wir an einem Sonntag mit der Familie Kälin und ihren drei Buben zum Baden an den Aegerisee, aber eben erst nach der Christenlehre.

Ich war mir bewusst, dass mich meine Klassenkameraden um meine eigentlich sehr seltenen Sonntags-Ausflüge mit meinen Eltern und vor allem wegen dem Auto beneideten. Sie konnten ja nicht wissen, dass für mich diese Ausflüge Pflichtübungen (Familienschlauch) waren und meistens gar keine Freude auslösten. Vor einer solchen Ausfahrt war immer viel Spannung im Haus. Neben der vielen Arbeit musste meine Mutter am Vortag noch das Picknick vorbereiten. Mein Vater wäre mit einem Sandwich wohl nicht zufrieden gewesen und so machte sie Bohnen-, Tomaten- und Kartoffelsalat, kochte Eier und liess panierte Schnitzel in der Bratpfanne brutzeln. Dann wurde Pfefferminztee gekocht und Früchte bereitgestellt. Schliesslich wurde alles säuberlich eingepackt und neben Wolldecken, Sonnenschirm, etc. für den folgenden Tag bereitgestellt. Während diesen Vorbereitungen war es immer besser für uns Kinder aus der Küche zu verschwinden. So konnte man unnötige Konflikte und Spannungen vermeiden. Am nächsten Tag war die Lage nicht entspannter. Das Auto musste aus der Garage im Ried geholt werden, was immer einige Zeit in Anspruch nahm. Dann mussten alle Fenster und Fensterläden geschlossen werden, alle Lichter gelöscht und alle Apparate ausgeschaltet werden. Wenn das Auto dann vor dem Hause stand mussten alle helfen den Proviant herunter zu tragen, die gehässigen Bemerkungen wurden häufiger und der Stress näherte sich dem Höhepunkt. Als dann alle Türen in der Wohnung geschlossen waren und alle im Auto sassen, kam dann meiner Mutter meistens noch in den Sinn, dass sie vielleicht den Herd nicht abgestellt hatte. So rannte sie zurück in die Wohnung. Wieder zurück im Auto musste meine Schwester plötzlich auf die Toilette. Wieder musste meine Mutter zurück in die Wohnung um meine Schwester zu begleiten. Das Ganze verlangte natürlich immer ein Auf- und Zuschliessen aller Türen, inklusive Nachkontrolle! Nach einer strengen 6-tägigen Arbeitswoche war dieses Schauspiel für meinen Vater eine gewaltige Geduldsprobe. Als wir dann endlich fahren konnten merkte mein Vater, dass wir zuwenig Benzin hatten. Also nochmals eine Verspätung, die dann allerdings meiner Mutter auf die Nerven ging. Wieso konnte man nicht am Vortag den Benzintank füllen, war der Vorwurf. Aber schliesslich begann die wundervolle Autofahrt doch noch. Schon bald langweilten wir uns auf den hinteren Sitzen. Man sagte uns wir sollten stillsitzen und die Gegend geniessen, was wir ja auch taten. Aber die Gegend schien uns immer die Gleiche: Häuser, Wiesen, Kühe, etc. Plötzlich klemmte mich meine Schwester ins Bein und ich klemmte zurück, was schliesslich in einer Zankerei endete. Total gestresst schlug mein Vater während dem Fahren blind nach hinten und wie immer bekam ich den Schlag. Meistens hatte ich dann eine blutende Nase und meine Mutter beschimpfte meinen Vater wegen Gewalt. Aber dann war es tatsächlich ruhig im Auto und die Fahrt ging weiter. Nach unendlichen Kurven waren wir endlich in den Bergen und am Ziel angelangt. Sofort wurde die ganze Ausflugsausrüstung ausgeladen und ein „schönes Plätzli“ zwischen Silberdisteln, Kuhfladen und Steinen gesucht. Die Wolldecken wurden ausgebreitet und das Essen angerichtet. Bald schon merkten wir, dass wir nicht die Einzigen an diesem „schönen Plätzli“ waren und dass wir ihn mit Wespen, Ameisen, „Brämen“ und anderen „Berg-Bewohnern“ teilen mussten. Die Stiche der Brämen waren die Lästigsten und viel schmerzhafter als die der Mücken. Etwas zerknirscht ass jeder was er gerne hatte oder einfach was vorhanden war. Am liebsten hatte ich immer den Bohnensalat den meine Mutter mit eigenen Bohnen zubereitet hatte, er war einfach super. Die Spannung hatte sich unterdessen gelegt, mein Vater machte ein Schläfchen und meine Mutter packte den Rest des Pick-Nick wieder ein. Natürlich hatte man die Sonnenschutz-Creme vergessen und so hörte man wieder Vorwürfe. Meistens hatte ich dann den Drang auszureissen und davon zu laufen, dies auch wegen den Brämen die mich besonders liebten. Unter dem Vorwand meine Blase zu leeren, verliess ich oft meine Familie und machte ganz alleine eine Wanderung. Meistens zog es mich einfach in die Höhe und so stieg ich oft ziellos den Berg hinauf und genoss die Ruhe, die Natur und die Aussicht. Natürlich machten sich meine Eltern bald Sorgen und wollten, dass sich sofort zurückkehre. Aber meistens liess ich mir Zeit und sammelte auf dem Rückweg Blumen um meine Mutter mit einem schönen Alpenblumenstrauss zu überraschen und um gleichzeitig eine Rüge zu vermeiden. Und so versuchte ich jedes Mal aus dem mühsamen Ausflug, auf den andere eifersüchtig waren, für mich das Beste herauszuholen. Aber einen Sonnenbrand hatte ich mir trotzdem geholt und musste am anderen Tag mit einem verbrannten Gesicht und Armen in die Schule.

Ein paar Schüler unserer Klasse waren damals in der „Pfadi“. Sie hatten eine eigene Pfadihütte draussen im Peterswinkel neben der Wäggitaler-Aa und waren an Wochenenden mit Beobachtungen und allerlei Fertigkeiten beschäftigt. Natürlich wäre auch ich gerne Pfadfinder geworden denn ich wusste, dass ihr Ziel der Förderung und Entwicklung junger Menschen galt und um sie für Verantwortung in der Gesellschaft vorzubreiten. Zudem erschaffte man sich als Pfadfinder auch eine ideale Grundlage für eine spätere Karriere im Militär. Aber sichtlich ging es damals auch zum Aufbau einer zukünftigen Elite im Dorf, denn es entging mir nicht, dass die meisten Eltern der Pfadfinder im Dorf wohlhabend waren und ich als Kind eines Spenglers wohl kaum dazu passte. Eigentlich sollte die Erziehungsbewegung religiös und politisch unabhängig sein, doch in unserem Dorf wurde sie damals vor allem von katholischen Kirchenträgern geführt. Deshalb, aber vor allem aus finanziellen Gründen, waren meine Ambitionen einmal Pfadfinder zu sein bald erloschen. Ich musste meinen Pfad selber suchen und finden, was ich später auch immer tat. Für die Mädchen gab es den „Jungwacht Blauring“, der ebenfalls mit der katholischen Kirche verbunden war. Somit blieb auch für meine Schwester ein Betritt zu einer Jugendorganisation ein Wunschtraum. Aber meine Eltern fanden trotzdem einen Weg um mich und meine Schwester für das Überleben in der Gesellschaft vorzubereiten. Der Evangelisch-Reformierte Kirchenverband der Zentralschweiz (Diaspora), der Ende 2002 aufgelöst wurde, organisierte damals jedes Jahr Ferienaufenthalte im Tessin. Meine Eltern wussten, dass so ein Aufenthalt nicht nur religiös begleitete Ferien waren, sondern dass von den Kindern gleichzeitig Disziplin, Gehorsam, Anstand, Zusammenleben, Toleranz und vieles mehr verlangt und gelernt wurde, alles Dinge die den Charakter stärken sollten und fürs Leben so wichtig waren.

Als ich in die 5. Primarklasse kam und 11 Jahre alt wurde fanden meine Eltern, dass ich nun alt genug sei um an einem solchen Ferienlager teilnehmen zu können. Sie meldeten mich bei der Diaspora an und so durfte ich zum ersten Mal alleine für drei lange Wochen in die Ferien. Am 27. Juli 1952 brachte mich meine Mutter mit unserm Peugeot 230 nach Goldau. Dort trafen wir Pfarrer Bühler, der die angemeldeten Kinder aus der Zentralschweiz in Empfang nahm und uns dann mit der Bahn ins Tessin und nach Arcegno begleitete. Als wir wegfuhren und ich meine Mutter alleine auf dem Bahnsteig sah wurde ich plötzlich unsicher und traurig. Ich kannte ja niemand von all den Kindern im Zug und so sass ich still an meinem Platz und betrachtete die vorbeiflitzende Gegend. Bald waren wir im Kanton Uri und Pfarrer Bühler machte uns auf die drei Ausblicke auf die Kirche von Wassen aufmerksam. Und dann kam der lange Tunnel wo wir fast im Dunkel sassen. Wie immer war ich scheu unter fremden Menschen und so hatte ich bis anhin noch mit niemandem ein Wort gesprochen. Aber als wir wieder im Tageslicht und im Kanton Tessin waren wurden die Kinder gesprächig. Mit dem Anblick der ersten Palmen spürte man endlich Ferienstimmung. Das Eis war gebrochen und jeder wollte nun wissen woher der andere kam. Alle Knaben und Mädchen kamen entweder aus Luzern, Zug oder dem Kanton Schwyz. Aus der March war ich aber der Einzige.


(4) Kirche Sant’Antonio Abate in Arcegno

Kirche Sant’Antonio Abate in Arcegno


Am Nachmittag kamen wir im „Campo Enrico Pestalozzi“ oberhalb von Arcegno an. Das Feriendörfchen befand, und befindet sich heute noch, inmitten schattiger Kastanienwälder, unweit von Locarno und Ascona. Das Centro wurde 1929 auf Initiative des Luzerner Pfarrers Julius Kaiser gegründet und war in jugendlicher Fronarbeit entstanden. Es bestand damals aus einfachen Holzbaracken wie sie im Militär gebraucht wurden. Nur das Haus des Verwalters Herr Baumann und die „Burg“ waren solide Behausungen.
 

(5) Eine der Schlafbaracken

Eine der Schlafbaracken



(6) Administration und Haus des Lagerwarts

Administration und Haus des Lagerwarts


Sofort wurden wir gruppenweise auf die Baracken und die verschiedenen Zimmer (Schläge genannt) aufgeteilt. Dann wurde die Zimmerordnung verlesen um allen klar zu machen, dass hier trotz Ferien auch Ordnung und Disziplin gefragt war. Die „Schläge“ waren einfache Massenlager wo wir in Schlafsäcken schliefen. Für die Diaspora standen zwei Baracken zur Verfügung, eine für Burschen und eine für Mädchen. Die anderen Baracken waren durch weitere Jugend-Gruppen aus der Schweiz besetzt. Natürlich hatte die Diaspora auch eine Küche wo Frauen feiwillig während den drei Wochen Ferien für uns kochten. Man ass im Freien unter den Bäumen des Waldes an fest montierten Tischen und Bänken. Das Essen war immer sehr einfach und in der frischen, sauberen Luft immer sehr schmackhaft. So gab es am ersten Abend zuerst eine Suppe, dann Hörnli mit Gurken/Tomatensalat und Tee. Am zweiten Abend gab es Mais mit gekochten Birnen, also immer leicht verdauliche, meist fleischfreie Menüs.

Da es ein sehr heisser Sommer war, marschierten wir schon am zweiten Tag hinunter zur Melezza um zu baden. Auch während den folgenden Tagen waren wir immer zu Fuss unterwegs. Einmal nach Ronco, am nächsten Tag hinauf bis auf den Nordost Grat von Maia, dann eine Wanderung über den Corona die Pinci und schliesslich via Ronco bis nach Brissago. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich so nahe an der Schweizer Grenze und schon fast in Italien. Da wir dort eine kurze Ruhepause hatten, konnte ich nicht anders als kurz die Zollschranke zu ignorieren um auf der anderen Seite einen farbigen Sombreo zu kaufen. Das Abenteuer war für mich damals ein ausserordentliches Erlebnis. Zurück in der Schweiz ging es dann mit dem Schiff auf die Brissago Inseln, die mich mit ihrer Pflanzen- und Blumenvielfalt ganz speziell faszinierten. Ein anderes Mal ging es per Bahn nach Gubiasco von wo wir eine Wanderung bis nach Tesserete machten. Nach dem Mittagessen fuhren wir dann mit der Tesserete-Bahn hinunter nach Lugano und gleich weiter auf den Monte Bré. Ein paar mal gingen wir nach Intragna zum baden. Es war dort wild romantisch und man konnte von den Felsen ins kühle Nass springen. Natürlich durften wir auch bis nach Ascona ins Strandbad „Lido“. Dort hatte es immer viele Leute aber man durfte sich nicht im Freien umziehen wie in Intragna, sondern man musste dies in einem Umkleideraum tun. Einmal beim Umziehen schubste mich mein Nachbar und deutete nach links. Da sah ich einen Mann der offensichtlich grosse Mühe hatte um seine Badehosen hochzuziehen. Es hinderte ihn etwas das horizontal aus der unteren Bauchgegend ragte und so aussah wie eine grosse, lange Zigarre. Dabei schaute er uns ungeniert an, zeigte uns schliesslich ganz stolz das grosse Objekt und streichelte es sogar zärtlich. Obwohl mir während einer Geographiestunde mein Banknachbar einmal ganz verschmitzt seinen «Bimmel» zur Schau gestellt hatte, war mir nicht klar was ich da sah. Mein Kollege sagte der Mann hätte eine eindrucksvolle Erektion. Da schaute ich nochmals hin, verstand immer noch nichts und konnte einfach nicht glauben, dass ein „Pfifeli“ so gross werden konnte. Plötzlich wurde mir unheimlich und wir verliessen schleunigst den Umkleideraum. Aber nun wussten wir nicht was wir tun sollten. Da wir noch fast Kinder waren wussten wir nicht ob es für Männer normal war sich in einem Unkleideraum nackt zu zeigen oder ob es unsere Pflicht war das Gesehene dem Lagerleiter zu melden. Gleichzeitig hatten wir aber Bedenken uns bei den anderen Kameraden damit lächerlich zu machen. So entschieden wir das Geschehe der Welt zu verschweigen und das habe ich bis jetzt auch gemacht.

Natürlich gab es auch Tage ohne Ausflüge und an denen wir im Lager Spiele machten, Brombeeren fürs abendliche Birchermüsli sammelten oder Theater spielten. Daneben wurde immer eine Olympiade organisiert. Es war so eine Art Quiz wo Fragen aus dem Leben beantwortet werden mussten. Zum Beispiel: Nenne heilige Städte wo Jesus gewesen war oder wie nennt man Schiffe die Flugzeuge, Panzer oder Kanonen transportieren? Für die 1. August-Feier suchten wir Holz im Wald und sangen am Abend Lieder am Feuer. Es war also immer etwas los und man hatte gar keine Zeit um Heimweh zu bekommen. Inzwischen hatte ich ein paar Kumpels gefunden, den Wäffi, die Susle und den Rugel, alle aus Luzern. Zusammen machten wir in der Freizeit Entdeckungs-Spaziergänge und hatten es immer lustig. Ein Lieblingsort war die Höhle wo wir auch manchmal Feuer machten und Kartoffeln grillierten.

Nur zu schnell waren die drei Wochen Lagerleben jeweils vorbei und schon mussten wir wieder die Koffer packen. Aber vorher musste das Feriendorf, die Baracken und die „Schläge“ noch sauber gereinigt werden. Alle mussten mithelfen denn darauf wurde viel Wert gelegt. Auch die „Qualitäts-Kontrolle“ blieb nicht aus und das galt natürlich auch für die Toiletten. Schliesslich kamen meist noch am gleichen Tag neue Gruppen ins Lager und die wollten doch auch alles sauber vorfinden. Zu meiner Überraschung trafen schon am Freitagnachmittag meine Eltern mit meiner Schwester im Lager ein. Sie übernachteten in der Burg auf dem Hügel und blieben bis am Sonntagmorgen. Am Samstag wollten meine Eltern die Brissago Inseln besuchen und so machte ich diesen Ausflug zum zweiten Mal. Es machte mir nichts aus, die Inseln ein zweites Mal zu besuchen, denn der Ort war ja so wunderschön im Sommer. Am Sonntag war es aber dann definitiv und mein Ferienaufenthalt fand ein Ende. Zusammen mit meinen Eltern verliess ich Arcegno und fuhr mit ihnen via den San-Bernardino-Pass zurück nach Hause. Meine Eltern waren von dem Konzept des Ferienlagers, der offenen Atmosphäre, der Ruhe und naturnaher Umgebung so überzeugt, dass ich auch in den drei darauffolgenden Jahren einen Teil meiner Sommerferien in Arcegno verbringen durfte.

Wahrscheinlich waren auch andere Eltern vom Campo überzeugt, denn jedes Jahr gab es ein Wiedersehen mit Kindern die ich bereits kannte. Das erleichterte die ersten Tage des Lagerlebens jedes Mal sehr. Obwohl die Tagesabläufe immer etwa dieselben blieben, waren die Wander- und Ausflugs-Ziele jedes Jahr ein bisschen anders. So lernten wir immer wieder neue Orte wie Gandria, Morcote, Monte Salvatore, etc. kennen. Im Jahre 1954 war auf dem Weg vom Lager zur Burg ein hübscher Glockenturm gebaut worden. Im darauffolgenden Jahr, also während meinem vierten Ferienaufenthalt in Arcegno, wurde ich zu meiner grossen Überraschung und Ehre während meinem ganzen Aufenthalt als Glöckner auserkoren.


(7) Der Glockenturm des „Campo Enrico Pestalozzi“

Der Glockenturm des „Campo Enrico Pestalozzi“


In diesem Jahr wurde auch ein farbiger Dokumentarfilm über das „Campo Enrico Pestalozzi“ gedreht. Einige Kinder, und so auch ich, wurden beim Tagesablauf gefilmt. Das war natürlich für alle Lagerteilnehmer eine riesige Sensation und es wurde uns gesagt, dass der Film später unter dem Titel „E viva il Campo“ gezeigt werde. Allerdings hatte bei einigen Kameraden mein Privileg jeden Abend die Glocke läuten zu dürfen eine gewisse Eifersucht erweckt. Dass ich nun aber auch noch bei diesem Film mitmachen durfte und somit „Filmstar“ wurde, konnte scheinbar mein immer fröhlicher Freund „Rugel“ nicht verkraften. Dabei hätte ich mir nie vorstellen können, dass gerade er mich am Meisten beneidete. Eines abends als ich fertig geläutet hatte, bemerkte ich ihn unterhalb des Turmes im Gras lauern. Er rief mir zu und befahl mir zu ihm hinunter zu kommen. Da ich dies nicht sofort tat begann er mich zu anzuschreien. Als ich schliesslich bei ihm war stiess er mich gegen die Mauer, begann meine Hosen aufzureissen und in meine Intimgegend zu greifen. Er benahm sich wie ein Tier und ich fragte mich was in den gemütlichen „Rugel gefahren war und was er eigentlich wollte. Ich wehrte mich so gut ich konnte, aber er war viel stärker als ich. Wie ein Wunder erschien plötzlich sein Bruder, der sofort in den Kampf eingriff und mich befreite. Natürlich hatte ich nach solch einem Betragen mein Vertrauen in meinen Freund „Rugel“ verloren und wir blieben für den Rest der Ferien auf Distanz. Gerne hätte ich mit ihm über die Motive seiner Tat gesprochen, aber dazu kam es nie. Auch hatte ich Angst sein abwegiges Benehmen dem Lagerleiter zu melden oder es später meinen Eltern zu erzählen. Damit hätte ich wohl ihr Vertrauen in die Lagerleiter und das „Campo Enrico Pestalozzi“ total zerstört und Ferien in Arcegno wären für mich dann nie mehr in Frage gekommen. Diese Erfahrung hatte mich aber aus der kindlichen Naivität geweckt und mir bewusstgemacht, dass eben sogar unter besten Freunden Eifersucht entstehen kann.

Nach dem 2. Weltkrieg kam der kalte Krieg und der Ostblock wurde zum neuen Feindbild. Das war für uns Buben allerdings irrelevant, denn die Politik war in unseren Augen Sache der Erwachsenen. Doch eines Tages sah ich ein Plakat mit einem Henkersknoten und darunter den Text: „Wir liefern die Stricke mit denen wir erhängt werden, Stopp dem Export in die Ostblockstaaten!“. Scheinbar war das Plakat eine Reaktion auf eine kürzlich Bemerkung von Lenin gewesen. Während einem Gespräch soll er nämlich gesagt haben, dass die Kapitalisten in ihrer Einfalt und Geldgier fähig wären sogar Stricke für ihre eigene Erhängung zu liefern. Als Bube beeindruckte mich diese Aussage ausserordentlich und so hatte ich plötzlich den Drang diese mit allen Leuten im Dorf zu teilen. Ich besorgte mir solche Plakate um sie dann in allen Geschäften aufzustellen. Natürlich hatte ich verstanden, dass man mit diesen Plakaten den Osthandel untersagen wollte, doch ich hinterfragte die Sache nicht weiter und wurde damit, ohne es zu wollen, zu einem politischen Aktivisten. Erst als ich merkte, dass ich nicht überall auf die gleiche Überzeugung stiess, wurde mir bewusst, dass ich von irgendeiner Organisation benutzt worden war und dass ich eigentlich gar nicht wusste wer hinter diesen Plakaten steckte oder für wen ich Freiwilligenarbeit geleistet hatte. Viele Jahre später konnte ich persönlich sehen wie in gewissen Ländern, arme, naive, ahnungslose Kinder und junge Leute für gewisse Handlungen oder Ideologien beeinflusst, mental manipuliert und sogar in den Krieg geschickt werden. Ich hatte Glück gehabt, denn ich löste mich schnell von dieser Aktivität und konzentrierte mich wieder voll auf meine Schulausbildung.

 

Die Berufslehre
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9.  Die Berufslehre
Seit Monaten waren sich meine Eltern uneins wegen meiner Ausbildung nach der Schulzeit. Erstens bedauerte meine Mutter, dass mein Vater mir keine freie Berufswahl erlaubte. Dann fand sie es äusserst ungünstig, ja sogar schlecht, wenn ein Sohn im väterlichen Betrieb die Berufs-Lehre macht. Man müsse einem jungen Menschen die Möglichkeit geben sich in einer neutralen Umgebung auszubilden, plädierte sie immer wieder. Schlussendlich konnte sie meinen Vater überzeugen und so begann er etwas verdrossen eine Lehrstelle für mich zu suchen. Durch den Spengler Meister-Verband kannte er ja genügend Kollegen die für eine Lehre in Frage kamen. Allerdings sollte der Arbeitsweg nicht zu lange sein und der Lehrmeister die nötige Erfahrung in der Lehrlingsausbildung haben. Schliesslich fiel die Wahl auf die Spenglerei A. Schneebeli in Wädenswil, wo ich am 6. Mai 1957 die Spengler-Lehre begann.
Die Spenglerlehre  (6. Mai 1957 – 06. November 1960)
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9.1.  Die Berufslehre – Die Spenglerlehre  (6. Mai 1957 – 06. November 1960).

Im Lehrvertrag wurde festgehalten, dass der Lehrling für seine Arbeitsleistung folgenden Lohn erhält:

  1. Lehrjahr 1.50 pro Tag,
  2. Lehrjahr 2.50 pro Tag,
  3. Lehrjahr 3.20 pro Tag und
  4. Lehrjahr Fr. 4.20 pro Tag.

Zudem wurde vereinbart, dass das Mittagessen an ganzen Arbeitstagen vom Lehrmeister übernommen wird und dass der Lehrling im ersten Lehrjahr Anrecht auf 10 Tage, im zweiten und dritten Lehrjahr 18 Tage und im vierten Lehrjahr 17 Tage Ferien hat. Ausserdem wurde erwähnt, dass der Lehrling bei der Krankenkasse KONKORDIA für Pflege und ärztliche Behandlung versichert sein muss und die Bezahlung der Prämie vom gesetzlichen Vertreter übernommen wird. Einen Teil des Lohnes musste ich jeden Monat meiner Mutter für Kost und Logis abgeben. Es war ein symbolisches Entgelt, das hauptsächlich aus erzieherischen Gründen verlangt wurde. Meine Eltern wollten mich auf die Realität des Lebens vorbereiten und mir damit klarmachen, dass ihre Unterstützung geschätzt werden soll, eine Lektion die heute vielen verwöhnten Jugendlichen vorenthalten wird.

Herr Schneebeli war ein älterer, sehr netter und etwas rundlicher Herr. Allerdings konnte er sehr resolut sein, was er aber eigentlich selten war. Meistens rauchte er Stumpen sodass man immer wusste wo er sich befand. Bei meinem Antritt in der Werkstatt meinte er ganz beiläufig, dass man in seinem Betrieb jeden Morgen mit vollem Bauch, sowie leerem Darm und Blase zur Arbeit erscheinen soll. Dann stellte er mich der ganzen Belegschaft vor und zeigte mir den Betrieb. Meine erste Arbeit war die Herstellung von „Haften“. Zuerst wurden etwa 6 cm breite Blechstreifen geschnitten. Davon schnitt man etwa 4 cm breite Stücke, die dann auf der Abbiegemaschine gefalzt wurden. Einmal gefalzt wurden in die „Hafte“ mit einer Lochstanze drei kleine Löcher gemacht. Es war eine einfache Arbeit die mich ins Handwerk des Spenglers einführen sollte. Die Werkstatt war etwa gleich gross wie die meines Vaters und war kaum fortschrittlicher eingerichtet, was mich anfangs ein bisschen enttäuschte. Sie hatte Fenster auf drei Seiten, was ein angenehmes Arbeiten mit natürlichem Licht erlaubte. Dafür hatte das Lager, das auch als rudimentärer Umkleideraum diente, keine Fenster und war bei Stromausfall deshalb stockdunkel. Die einzige Toilette, ohne Handwaschbecken, befand sich in der Mitte des Magazins zwischen den Gestellen mit GF Fittings und anderem Kleinmaterial. Alles war äusserst eng und das WC genauso unappetitlich und unhygienisch wie das im „Eckstein“ bei uns zu Hause. Wieder konnte ich nicht verstehen, dass der Berufsstolz eines Lehrmeisters es nicht zuliess auch im eigenen Haus ein präsentables WC zu installieren. Ich fand die Situation beschämend, aber ausser mir dies schien niemand zu stören.

Dann wurde ich meinen Arbeitskollegen vorgestellt: Zuerst Herr Eigenmann, ein eigensinniger und ruppiger Mann der oft eine schlechte Laune hatte, meistens schlecht rasiert war und seinem Namen alle Ehre machte. Er hatte eine Brille mit runden Gläsern und machte vor allem Spengler Arbeiten. Als Spengler-Lehrling war ich deshalb oft mit ihm zusammen und arbeitete trotz seinem unberechenbaren Charakter immer gerne mit ihm. Andererseits hatte er öfters Spannungen mit Herr Schneebeli der seine ungehobelte Art gar nicht schätzte, aber vor allem wenn er mit einer „Fahne“ zur Arbeit kam. Natürlich war ein alkoholisierter Mitarbeiter nicht nur ein Risiko auf dem Bau, sondern auch für mich, besonders wenn an einem solchen Tag an einem grossen Bauernhaus Dachrinnen ersetzt werden mussten. Damals arbeitete man ohne Baugerüst und so wurde zuerst die grosse Auszugs-Leiter an den Dachrand gestellt, dann ging man ohne Sicherheitsseil aufs Dach, entfernte auf der ganzen Länge die Ziegel, demontierte die alte Rinne, ersetzte sie mit einer Neuen und deckte das Dach anschliessend wieder zu. Während der ganzen Arbeit balancierten wir auf dem Dachrand wie Akrobaten im Zirkus. Allerdings durfte man nicht an Schwindel leiden und sich nicht fragen in was für einem Zustand die hölzernen Balken und Querlatten waren. Heute würde diese Arbeit niemand mehr ohne Baugerüst machen, aber dazumal gab es keine Sicherheitsvorschriften und die Bauern hätten das Geld für ein Gerüst nicht ausgeben wollen. Einmal mussten wir am Kirchturm in Wädenswil eine Reparatur machen. Ohne Bedenken stiegen wir in dem sehr spitzen und steilen Turm ganz hinauf bis zu einer kleinen Lukarne. Dort zwängten wir uns hindurch und liessen uns aussen an einem Seil bis zum Turmvorsprung hinunter, also zu dem Ort wo die Reparatur gemacht werden musste. Man hatte eine wunderbare Aussicht über Wädenswil und den See. Natürlich musste man aufpassen, dass man die Werkzeuge immer fest in den Händen hatte. Ich arbeitete immer mit der Angst, dass mir bei einer ungeschickten Bewegung etwas aus der Hand gleiten könnte. Das Werkzeug wäre dann in die Tiefe gefallen und hätte dabei vielleicht eine vorbeigehende Person treffen können. Damals wurde das Gelände darunter nicht abgesperrt. Erst später wurde mir bewusst wie gefährlich diese Arbeiten immer waren und dass mich ein Schutzengel während der ganzen Lehrzeit beschützt haben musste.

Ein weiterer Arbeiter war Herr Kälin. Er war ein ruhiger und besonnener Mann denn ich sehr schätzte. Er kam ursprünglich aus Einsiedeln und so hatten wir etwas gemeinsam: wir kamen aus dem gleichen Kanton, dem Kanton Schwyz. Er war geduldig mit mir, war bereit für Dialoge und so habe ich mit ihm sehr viel gelernt. Allerdings war da etwas das ihn ausserordentlich irritieren konnte. Immer wenn er jemand französisch sprechen hörte begann er über diese „blöden Welschen“ zu schimpfen und zu fluchen. Oft fragte ich ihn oft wieso er eine solch heftige Aversion gegen französisch sprechende Leute habe. Aber ich erhielt nie eine klare Antwort, er konnte sie einfach nicht ausstehen. Vielleicht war es einfach nur Frust, weil er sie nicht verstehen konnte. Auch mit ihm machte ich meistens Spengler Arbeiten, oft auf Bauernhöfen ausserhalb von Wädenswil. Eine grosse und interessante Baustelle war das Hotel Au, wo wir alle Spengler-Arbeiten machen durften. Meistens fuhren wir mit unseren Fahrrädern auf die Baustelle, was im Sommer immer eine herrliche Abwechslung war. Einmal aber war ich mit ihm auf einer winterlichen Baustelle. Wir mussten an einem Neubau auf dem Hirzel Dachrinnen montieren. Es war Dezember und es hatte in der Nacht geschneit. Das Dach war mit Schnee bedeckt und auch auf dem Gerüst hatte es etwa 20 cm Schnee. Aber der Auftraggeber verlangte, dass die Arbeit noch vor Weihnachten abgeschlossen sein musste. So machten wir uns an die Arbeit. Aber es war nicht nur kalt, sondern äusserst gefährlich. Man musste aufpassen, dass man nirgends ausrutschte und bald konnten wir mit den halb erfrorenen Fingern kaum mehr etwas arbeiten. So entschied Herr Kälin die Werkzeuge einzupacken und nach Hause zu fahren. Ich war froh über seine vernünftige Entscheidung und seinen Mut die Arbeit abzubrechen. Zurück in der Werkstatt musste auch Herr Schneebeli gestehen, dass es bei solchen Witterungsverhältnissen unverantwortlich war auf ein Gerüst zu steigen und damit einen Unfall zu riskieren.

Schliesslich war da noch ein weiterer Arbeiter, einen den ich überhaupt nicht ausstehen konnte. Er war Sanitär Installateur und so hatte ich eigentlich nichts mit ihm zu tun. Doch manchmal musste ich trotzdem mit ihm auf den Bau. Einmal waren wir auf einer Baustelle und installierten galvanisierte Rohre für eine Kaltwasserleitung. Er wollte, dass ich unten im Keller an der Werkbank seine „Bestellungen“ ausführte, also Rohre auf Mass zuschneiden und mit den jeweiligen Fittings bereit zu stellen. Er zeigte mir keine Montagepläne und weihte mich auch nicht in die Arbeit ein. Nach einer Weile kam ich mir wie ein Roboter vor und so getraute ich mich ihn zu fragen wo die Rohre installiert würden. Gehässig erwiderte er, dass mich dies nichts angehe und ich gefälligst weiter Rohre nach Mass zuschneiden soll. Da packte mich eine so unsagbare Entrüstung, dass ich das Werkzeug hinlegte und mit dem Fahrrad in die Werkstatt zurückfuhr. Sofort ging ich zum Lehrmeister und sagte ihm, dass ich mit diesem Arbeiter nicht mehr zusammenarbeiten möchte. Ich unterstrich, dass ich weder ein Roboter noch der Handlanger dieses Arbeiters sei, sondern eine Lehre absolviere und somit wenigstens das Recht habe zu wissen für was ich die Rohre vorbereitete. Zu meinem Erstaunen wurde meinem Wunsch sofort entsprochen. Damals war es nicht üblich, dass ein Jüngling in meinem Alter gegen einen Erwachsenen rebellierte und so war ich schliesslich fast ein wenig beschämt über meinen Mut. Aber ich hatte es geschafft und der Arbeiter liess mich in Ruhe.

Neben den Arbeitern gab es noch zwei weitere Lehrlinge im Betrieb. Da waren Werner, der bei meiner Ankunft die Lehre schon fast hinter sich hatte und der Fritz der etwas älter war als ich. Fritz und ich waren oft zusammen, diskutierten über alles Mögliche und hatten es lustig zusammen. An einem regnerischen Tag waren wir unterwegs zu einer Baustelle. Ich hatte einen Regenschutz und eine Mütze, doch der gute Fritz hatte nichts dergleichen und war voll dem Regen ausgesetzt. Nach einer gewissen Zeit entwickelte sich auf seinem Kopf ein dichter, weisser Schaum sodass man seine Haare kaum mehr sah. Ich fand dies seltsam und machte ihn darauf aufmerksam. Doch das Phänomen schien ihn nicht zu beunruhigen und so meinte er total entspannt, dass er am Morgen nach der Dusche wohl vergessen hätte seine Haare nach dem Waschen zu spülen. Fritz war unbeschwert und brachte mich immer wieder zum lachen. Um 12.00 Uhr stiegen wir jeweils die Treppe hinauf zur Wohnung des  Lehrmeisters, wo wir jeweils im Kreise seiner Familie das Mittagessen einnehmen durften. Ich schätzte das gemeinsame Essen sehr, denn Frau Schneebeli kochte nicht nur sehr gut, sondern erlaubte Gespräche die man bei der Arbeit nicht führen konnte. Zudem hatten wir immer eine warme Mahlzeit und mussten nicht in der Werkstatt ein kaltes „Eingeklemmtes“ essen. Leider starb Herr Schneebeli ganz unverhofft während meinem 2. Lehrjahr. Frau Schneebeli und ihre Tochter führten dann den Betrieb eine Zeitlang weiter bis schliesslich Herr Samuel Blumer, ein junger, sehr netter und verständnisvoller Mann aus dem Glanerland den Betrieb übernahm. Aber nach dem Tod von Herrn Schneebeli fand das Privileg im Hause zu essen leider ein Ende und wir mussten eine andere Lösung finden. Fritz schlug vor es in der Arbeiter-Kantine der Metallwarenfabrik Blattmann an der Zugerstrasse zu versuchen. Und so fuhren wir schliesslich jeden Tag und bei jedem Wetter die Zugerstrasse hinauf und stärkten dabei unsere Beinmuskeln. Bei allzu schlechtem Wetter begnügten wir uns allerdings mit einem Joghurt und Studentenschnitten aus der MIGROS. Als Fritz die Lehre beendet hatte, kam ein neuer Lehrling dazu. Er hiess Bruno und war ein Junge der mich jeden Tag von neuem extrem nervte. Er stellte sich immer äusserst provokativ dumm und so wusste ich nie ob er wirklich so heillos blöd war oder ob er dies nur vorspielte. Da ich nun der ältere Lehrling war erwartete man von mir, dass ich mich Bruno annahm und ihm bei den Aufgaben half. Doch meistens war meine Mühe erfolglos, er kapierte nichts. Er war für mich ein frustrierender, hoffnungsloser Fall und bockig wie ein Esel.

Einmal pro Woche musste ich in die Berufsschule, die glücklicherweise auch in Wädenswil war. Bald fand ich drei Kollegen mit denen ich mich gut verstand. Wir wetteiferten zusammen und so nannten uns die anderen Lehrlinge bald „Streber“; aber das war uns egal. Da war der Claus Freiman aus Pontresina, der Bruno Knecht aus Meilen und der Hansruedi Fenner aus Zumikon. Da mich Zeichnen und Geometrie schon in der Schule begeistert hatte, waren diese Stunden für mich immer sehr bereichernd. Es machte mir grossen Spass Abwicklungen (Darstellende Geometrie) zu zeichnen, zum Beispiel von Rinnenwinkeln, Rinnenkesseln, gebogenen Fallrohren (Gliederbogen oder Schwanenhälse) und komplizierten Lüftungskanälen. Natürlich wetteiferten wir vier „Streber“ und jeder wollte jeweils als Erster mit der Aufgabe fertig sein. Jede Woche spornten wir uns erneut an und das zahlte sich auch immer mit guten Noten aus. Da Claus während der Woche nicht nach Hause konnte und seine Eltern ihm deshalb ein Zimmer in Wädenswil gemietet hatten, machten wir unsere Hausaufgaben manchmal zusammen. Einmal schlug er mir vor mit ihm ein Skiwochenende in Pontresina zu verbringen. Seine Eltern hatten ein Sportartikelgeschäft und wohnten in einem wunderbaren, alten Engadinerhaus was mich sehr beeindruckte. Ich fühlte mich geehrt bei seiner Familie und in diesem speziellen Hause ein Wochenende verbringen zu dürfen. Schon früh am nächsten Morgen starteten wir auf eine Skitour über die Fuorcla Surlej und dann hinunter nach Silvaplana. Obwohl es keine schwierige Tour war, hatte ich etwas Mühe dem trainierten Berggänger zu folgen und litt am nächsten Morgen an Muskelkater sowie Blasen an den Füssen.

Mein Weg zur Berufsschule führte mich am Musikgeschäft O. Hodel vorbei. Eines Tages sah ich im Schaufenster einen tragbaren Phonokoffer mit Verstärker der Marke „PHILIPS“ (Model AG 9146). Der Plattenspieler hatte eine sehr elegante und kompakte Form, war grau und hatte einen weinroten Plattenteller. Sofort war ich in dieses Gerät verliebt und hätte es am liebsten gleich mitgenommen. Doch leider fehlte mir das nötige Geld. So blieb mir keine andere Wahl als mit viel Geduld monatelang zu sparen und zu hoffen, dass mir während dieser Zeit niemand das Gerät wegschnappte. Endlich war es soweit, am 29. Juli 1958 hatte ich das Geld zusammen und ich konnte mir den Wunsch erfüllen. Es war meine erste „grosse“ Anschaffung und so war ich überglücklich das schöne und moderne Gerät endlich zu besitzen und ihn zu Hause meiner Familie vorzuführen. Ich hatte ihn mit dem eigenen, ersparten Geld gekauft und so war er für mich der wertvollste, schönste und beste Plattenspieler der Welt.


(1) Mein mit viel Verzicht ersparter Plattenspieler

Mein mit viel Verzicht ersparter Plattenspieler


Endlich konnte ich meine, bis anhin wenigen, Schallplatten (Schellackplatten) zu Hause anhören. Zu den ersten Schlager-Platten, die ich mir schon vorher erstanden hatte, gehörte „Diana“ von Conny Froboess, „Mit siebzehn“ von Peter Kraus, „O sole mio“ von Elvis Presley, „Pigalle (Die grosse Mausefalle)“ von Bill Ramsey, „Mustapha“ von Bob Assam, „Hirtenblues“ mit Gabriele und „Banjo Boy“ mit Jan und Kjeld. Dann erwachte mein Interesse für Jazz und so kaufte ich Songs von Louis Amstrong, Mahalia Jackson, Duke Ellington und weitere sowie den Sound Track von „Porgy and Bess“. Ich hörte mir die Platten hunderte von Malen nacheinander an, meistens sehr laut, sodass mein Vater einschritt und der Monotonie, sowie der Lautstärke, ein Ende setzte. Nach meiner Lehre und nachdem ich in Zürich einen Tanzkurs absolviert hatte, kaufte ich hauptsächlich Platten mit Tanzmusik wie Rock and Roll, Cha-Cha-Cha, Samba, Charleston (Firehouse 5 plus 2), aber auch Walzer und sogar Ländler der Kapellen „Alpengruess“, „Echo vom Matterhorn“ und natürlich „Hugo Bigi“. An Geburtsfeiern und kleinen Partys war ich mit meinem tragbaren Plattenspieler und meiner kleinen aber abwechslungsreichen „Plattensammlung“ deshalb immer gerne willkommen. Neben all der rassigen Musik fehlten aber auch die banalen, aber tiefsinnigen Lieder von Mani Matter nicht. Seine äussert fein gereimten Texte beeindruckten und faszinierten mich ausserordentlich und begeistern ja noch heute viele Leute.

Auf dem Weg entlang der Bahnlinie vom Bahnhof Wädenswil bis zur Arbeit kam ich jeden Tag bei einem Barrieren-Häuschen vorbei. Die Barriere wurde von Frau Iten, einer älteren Dame bedient. Als sie erfuhr, dass ich aus Lachen kam entstand sofort eine Art Vertrauen, denn auch sie kam aus dem Kanton Schwyz. Da man uns Schwyzer sofort an unseren Dialekt erkannte, hörte man oft die Bemerkung: „Schau mal, schon wieder einer aus dem Kanton Mord und Totschlag“. Damit wurde einem jedes Mal erneu bewusst, dass man eben kein Zürcher war. Und so freute ich mich jeden Tag sie erneut zu sehen und mit ihr ein paar Worte in unserem Dialekt zu wechseln oder unseren täglichen Frust und Ärgers los zu werden.

Die tägliche Fahrt mit der Bahn von Lachen bis Wädenswil dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Obwohl ich zu Weihnachten einen Wecker bekommen hatte, musste mich meine Mutter immer jeden Morgen noch zusätzlich aus dem Bett holen. Immer musste ich pressieren und hatte dann kaum Zeit das Frühstück in aller Ruhe zu geniessen. Oft rannte ich mit dem „Gomfibrot“ in der Hand wie ein Wilder die Treppen runter und dann die mittlere Bahnhofstrasse hinauf. Auch Evi Mächler fuhr jeden Morgen mit diesem Zug Richtung Zürich. Auch sie musste immer rennen. Wenn ich ihre wehenden Kleider an der Ecke des Restaurants Schützenhaus sah, dann wusste ich, dass es sehr spät war. Meistens wartete ich auf sie und drängte sie dann mit ziehen und stossen die Bahnhofstrasse hinauf um den Zug nicht zu verpassen. Einmal oben beim Bahnhof musste man aufpassen, denn einmal so richtig im Schuss bestand die Gefahr die erste Stufe der Treppe hinunter zur Unterführung zu verfehlen und schliesslich hinunter zu stürzen. Natürlich waren wir immer die Letzten und mussten deshalb oft auf den fahrenden Zug aufspringen.

Hatten es Evi und ich schliesslich in den Zug geschafft und sogar einen Sitzplatz auf den harten Holz-Bänken ergattert, kam der erlösende Moment um sich auszukeuchen. Dies dauerte meistens bis fast nach Pfäffikon und so waren wir während dieser Zeit kaum fähig miteinander etwas zu sprechen. Aber immer, wenn Evi ihre Handtasche schliesslich öffnete wusste ich, dass sie den Spurt überlebt hatte und wieder reden konnte. Langsam packte sie ihren Schmuck aus ihrer Tasche und begann sich mit immer noch raschem Atem fertig herauszuputzen. Zuerst kamen die Fingerringe, dann die Halskette und zum Schluss die Uhr. Das ganze Ritual wiederholte sich jeden Tag von neuem und endete erst in Horgen als es Zeit war für sie auszusteigen. Auf dem Rückweg habe ich Evi nie getroffen, dafür andere Bekannte aus dem Dorf oder Siebnen. Da wir damals noch nicht von Musik aus Kopfhörern und IPhone’s abgelenkt wurden, hatte man noch Zeit während der täglichen Fahr miteinander zu plaudern. Ich träumte schon damals von der grossen weiten Welt und so teilte ich meine Luftschlösser mit Lisbet Krieg, die ich oft im Zug traf. Auch sie hatte Träume, aber sie hatte sich damals schon fest für Australien entschieden. Wir versprachen unsere Illusionen auch wirklich umzusetzen und dies auch zu beweisen. Sie versprach mir ein Känguru und ich ihr einen Elefanten aus Afrika. Das Versprechen mit den Tieren war natürlich nur symbolisch gemeint, aber das hielt uns beide nicht davon ab unsere Träume tatsächlich zu realisieren und seither in Kontakt zu bleiben.

Ich sprang nicht nur auf die anfahrenden Züge, sondern auch jeweils von der Treppe lange bevor der Zug richtig angehalten hatte. In dieser Disziplin war ich sehr stark und so war dies immer ein echter Adrenalin-Kick. Aber einmal hätte es fast schiefgehen können. Es war an einem Abend im Dezember auf der Rückkehr nach Hause. Wieder einmal war ich äusserst spät auf dem Bahnsteig erschienen und erwischte nur noch den letzten Wagen. In meiner Hetzerei hatte ich nicht bemerkt, dass es ein Schnellzug war und dass es im letzten Wage gar kein Licht hatte. So stand ich nun total überrascht auf dem Trittbrett vor einer geschlossenen Türe. Da der Zug bereits eine gewisse Geschwindigkeit hatte und der Perron mit Schnee bedeckt war, getraute ich mich nicht mehr abzuspringen. Also hatte ich keine andere Wahl als mich bis zur nächsten Station im Fahrwind und der eisigen Kälte an die Tür falle zu klammern, wobei mir mein Schutzengel aber ohne Vorwürfe beistand. Dieses gefährliche Abenteuer hatte mich erheblich eingeschüchtert, aber mein gewohntes Verhalten immer in der letzten Minute am Bahnhof zu erscheinen, leider kaum nachhaltig verändern können.

Am Abend oder übers Wochenende half ich meiner Mutter bei den Büroarbeiten und tippte für sie die Rechnungen sowie andere Dokumente. Bald merkte ich aber, dass ich mit meinen zwei Fingern viel zu ineffizient war. So meldete ich mich spontan bei der Papeterie Schnellmann um in einem ihrer Kurse das Zehnfinger-System zu erlernen. Da ich tagsüber arbeitete, besuchte ich einen Abendkurs. Die Kurs-Schreibmaschinen hatten abgedeckte Tasten und so waren die ersten Schreib-Übungen anfangs ziemlich frustrierend. Doch das Hirn hatte die entsprechenden Tasten bald registriert und mit ein bisschen Übung beherrschte man das System eigentlich ziemlich rasch. Um zu Hause nicht immer auf der Schreibmaschine meiner Mutter üben zu müssen, kaufte ich mir dann mit meinem bescheidenen Lohn eine rote, portable „Hermes Baby“, die mir viele Jahre gute Dienste leistete und auf die ich sehr stolz war. Damals hätte ich nicht gedacht, dass mir dieser Kurs später von grossem Nutzen sein würde und mir den Einstieg in das Computer-Zeitalter sehr erleichterte.

Zu dieser Zeit ertranken immer wieder Leute im See. Darum fand ich es wichtig zu wissen was bei einem Notfall zu tun war und absolvierte einen Rettungsschwimmkurs. Dieses Wissen gab mir anschliessend den Auftrieb noch einen Samariterkurs zu machen und somit zu wissen wie man bei anderen Unfällen behilflich sein konnte. Da man immer wieder Neues dazu lernen konnte, blieb ich bis am Ende meiner Lehrzeit im Samariterverein aktiv.

Natürlich blieb ich während der Lehrzeit auch dem Turnverein treu, ging regelmässig zum Training und nahm bei Nachwuchswettkämpfen teil. Zudem kreierte ich einmal für das Turner-Chränzli einen Charleston-Auftritt zusammen mit der Damenriege, etwas das bis anhin undenkbar gewesen war. Der Turnverein bestand wohl aus Männer- und Damenriege, aber ein gemeinsames Training in der Turnhalle war einfach tabu. So mussten wir unsere Choreographie immer im Geheimen oder abends nachdem die Männerriege aus der Turnhalle verschwunden war repetieren. Natürlich war unsere Heimlichtuerei ein Risiko für die Verantwortlichen des Turnvereins und so war unser Auftritt bereits im ersten Programm-Teil des „Chränzlis“, gleich nach den „Pyramiden“ und den „Medizinball-Übungen, vorgesehen. Sollte sich unsere Nummer als eine „Niete“ herausstellen, hätte man sie einfach aus dem Programm streichen können. Aber es kam ganz anders denn schon bei der Hauptprobe rieben sich die Verantwortlichen die Augen und als uns das Publikum schon am ersten Abend mit einem riesigen Applaus beglückte, wurde unser Auftritt im Programm in den gemütlichen zweiten Teil als Schlussnummer gewechselt, also zur Krönung des Abends. Und bei diesem Auftritt überraschte uns das Geschwister Erika und Emil Mächler mit einem nicht vorgesehenen und bisher nicht offiziell geübten Sprung. Währen bis anhin die Männer die Mädchen zu Sprüngen verhalfen, übernahm Erika diese Aufgabe und schwang ihren Bruder in der Luft, sodass er sich wie ein Zirkus-Künstler über ihr in der Luft drehte. Der ganze Saal tobte vor Begeisterung. Plötzlich waren sie gefeierte Stars des Abends und wir alle genossen den Applaus unermesslich.

Emil war schon einmal ein Star gewesen und zwar im Kino Lachen als ihn ein Hypnotiseur auf die Bühne rief. Vor ihm waren schon einige Leute auf der Bühne, aber die meisten reagierten auf die Anweisungen des Hypnotiseurs nur bedingt und so schickte er sie immer wieder in den Saal zurück. Emil aber war sofort unter seiner Kontrolle und er konnte mit ihm machen was er wollte. Als er Emil sagte es sei äusserst kalt im Saal schien sich dieser tatsächlich kalt zu fühlen. Nachdem man ihm sagte es sei heiss im Raum begann er zu schwitzen und sich die Kleider auszuziehen. Dann wurde sein ganzer Körper so steif, dass man ihn wie ein Brett auf zwei Stühle legen konnte und er wie zu einer Bank wurde. Erst glaubte ich die ganze Show sei mit dem Hypnotiseur abmacht gewesen, aber Emil verneinte immer energisch.

Ich ging nicht oft ins Kino in Lachen, denn mir fehlte wie immer das nötige Geld. Dafür ging ich manchmal nach Rapperswil ins Kino „Leuzinger“. Bei meinen Ferien-Aufenthalten in Arcegno hatte ich die Tochter des Besitzers kennen gelernt und so konnte ich bei ihr immer eine kleine Reduktion auf die Eintrittskarte erwarten.

Ende 1958 schlug mir Karl Benz vor im damals Nobel-Ort Mürren Skiferien zu machen. Zuerst fand ich seine Idee absurd und dass wir zudem mit 18 Jahren noch viel zu jung für diese Art von Ferien seien. Aber dann erklärte mir Kari woher seine Idee kam. Er war ein Jahr nach mir im Institut „Clos-Rousseau“ in Cressier gewesen und hatte dort einen Freund kennen gelernt dessen Eltern das Hotel Eiger in Mürren führten. Der Hotelbesitzer offerierte uns einen „Januar-Loch-Pauschalpreis“ von 15.00 Franken pro Person und Tag im Doppelzimmer. Dies mag heute lächerlich billig scheinen, aber damals mit einem sehr kleinen Lehrlingslohn für uns doch unbezahlbar. So legten wir den Ferienplan unseren Eltern vor und baten um finanzielle Unterstützung. Mein Vater konnte sich vor Entrüstung kaum beherrschen. Er hätte sich weder als Lehrling noch später als Berufstätiger solche Ferien leisten können und überhaupt sei es eine Frechheit an Ferien zu denken bevor meine Lehre abgeschlossen sei und ich sie zudem nicht einmal selbst berappen könne. Weiter meinte er ich würde nicht so hart arbeiten wie er und somit gar keine Ferien verdienen. Deshalb war er nicht bereit uns zu unterstützen und „basta“! Bei den Eltern von Kari wurde die Idee Skiferien in Mürren zu verbringen nicht enthusiastischer aufgenommen, aber sie schienen etwas kompromissbereiter. Nachdem die Eltern des Freundes in Mürren ihnen versprochen hatten auf uns aufzupassen und für unsere Sicherheit zu sorgen, willigten die Eltern von Kari ein.

Nun blieb aber die Frage wie bezahlen. Frau Benz schlug vor, dass Kari als Gegenleistung am grossen Maskenball im Bären während der ganzen Nacht die Kaffeemaschine bedienen soll. Auch für mich hatte sie eine Arbeit. Sie schlug vor, dass ich die ganze Nacht Zigaretten verkaufen soll und damit das fehlende Geld verdienen könne. Dieser Vorschlag kam bei meinen Eltern gar nicht gut an. Diese Buben sollen während der ganzen Nacht dem unsittlichen Fasnachtstreiben ausgeliefert werden und ich zudem noch ungesundes Nikotin verkaufen? Ist das gesetzlich überhaupt erlaubt wollten sie wissen? Während mein Vater stur blieb wurde meine Mutter einsichtiger und erlaubte mir mit viel Mut das nächtliche Geldverdienen unilateral. Und so war Kari die ganze Nacht an der Kaffeemaschine und ich zirkulierte mit einer umgehängten Zigaretten Auswahl und einer grünen Mütze mit der goldenen Aufschrift „Saint Laurent“. Natürlich war diese Arbeit sehr fremd für mich, aber nach einer gewissen Zeit verlor ich die Scheu und das Geschäft lief ganz gut. Nach Mitternacht erschienen plötzlich äusserst aufgetakelte Damen. Sofort entwickelte sich Unruhe im ganzen Saal und einige schrien: „Raus mit diesem Schwulen-Pack“. In meiner Naivität wusste ich nicht was los war und musste mich erst bei Frau Benz erkundigen. Sie sagte es seien Travestien, also verkleidete Männer, aus Zürich. Ich konnte dies erst nicht glauben, denn sie sahen genauso aus wie Frauen. Zudem waren sie nicht maskiert, dafür ausserordentlich auffällig geschminkt. Erst als ich ihre tiefen Stimmen hörte wurde mir bewusst, dass Frau Benz recht haben musste. Natürlich verschwieg ich meiner Mutter diese sündige Beobachtung und legte mich am darauffolgenden Morgen mit dem Vorwand grosser Müdigkeit nach dieser Freinacht sofort ins Bett. Da wir das nötige Geld nun zusammen hatten fuhren wir am 21. Januar 1959 für eine Woche nach Mürren. Es waren herrliche Tage und ich genoss das erste Mal die Unterkunft und das Essen in einem noblen Hotel. Nur zu früh mussten wir aber nachher wieder zurück unter den Nebel zur Arbeit.



(2) Winterferien in Mürren

Winterferien in Mürren


Anfangs Sommer 1959, also im letzten Lehrjahr, zirkulierte bei Turnkollegen plötzlich die Idee einer Velotour ins Tessin. Obwohl ich in diesem Jahr volljährig wurde, waren meine Eltern natürlich gar nicht begeistert. Irgendwie schaffte ich es aber doch sie zu überzeugen, dass wir nichts Dummes anstellen würden. Am 1. August war es dann soweit und zu fünft nahmen wir die neuntägige Reise unter die Räder (Hermann Mäder, Röbi Mächler, Tony Hüppi und ich). Zum Glück hatte ich das Training im Turnverein nur selten geschwänzt und so fühlte ich mich fit für dieses Abenteuer. Natürlich war es mit den damaligen Fahrrädern nicht so leicht wie heute und so mussten wir bei steilen Strassen halt manchmal zu Fuss gehen. Aber das machte uns nichts aus, schliesslich wollten wir in erster Linie die Schweiz kennen lernen. Es war erstaunlich wie schnell wir das Tessin erreicht hatten. Da der Sommer sehr heiss war hatte ich nach der Ankunft auf einem Zeltplatz bei Maroggia, in der Nähe von Melide, keinen anderen Wunsch als sofort ein Sprung in den kühlen Luganer See. Und so sprang ich ohne etwas zu überlegen ins Wasser. Leider war an dieser Stelle der See nur ungefähr 30 cm tief und so endete mein Sprung sofort auf dem Grund. Gleichzeitig schaufelte ich mit meinem offenen Mund wie ein Bagger Kies und Erde vor mir her. Als ich auftauchte spuckte ich erst einmal den ausgehobenen Seegrund aus dem Mund und merkte dabei, dass ich an der Oberlippe sehr blutete. Beschämt über meine Dummheit kehrte ich zum Zelt zurück und zeigte meinen Kollegen die grosse Schnittwunde. Sie meinten ich müsse sofort zum Arzt gehen und die Wunde nähen lassen. Eigentlich hatten sie ja recht, aber leider war bei mir das nötige Geld nicht im Geldsäckel. Und so blieb ich die nächsten Tage mit einem grossen Pflaster im Gesicht der grossen Zeltplatz-Masse fern. Als wir uns von den vielen Kilometern und dem schmerzenden Hintern ein bissen erholt hatten, schloss sich noch Otto Feldmann unserer Gruppe an. Er war mit seinem Töff über den Gotthard ins Tessin gefahren. Dann zogen wir zusammen weiter nach Brusino und schlugen unsere Zelte schliesslich in Riva S. Vitale auf. Dort hatten wir drei ausserordentlich nette und hübsche Mädchen als Zeltnachbarn, die Evi, Gabi und Susi. 



(3) In Riva S. Vitale

In Riva S. Vitale


Vielleicht wollten wir sie mit unserer Männlichkeit beeindrucken, denn wir entschlossen spontan von da noch zusätzlich eine Tages-Rundfahrt via Varese nach Como zu machen. Diese Fahrt war viel anstrengender als wir erwartet hatten und so konnten wir sie am Abend nicht in jubelnder Frische begrüssen. Da die Ferien zu Ende gingen blieb uns nichts anderes übrig als am nächsten Morgen die Zelte abzubauen und mit müden Beinen die Heimreise anzutreten. Die Motivation war damit allerdings weit nicht mehr so gross wie am Anfang der Reise und so entschlossen wir zu prüfen ob das restliche Feriengeld noch für die Bahn durch den Gotthard reichen würde. Und es reichte und damit endete unsere Reise ins Tessin, trotz kopflosem „Chöpfler“ in den Luganer See, mit vielen schönen Erinnerungen.



(4) Auf dem Weg ins Tessin

Auf dem Weg ins Tessin


Schon in der Sekundarschule wurde man ermutigt sich körperlich zu betätigen und die Sport-Kurse des Vorunterrichts zu besuchen. Der Vorunterricht war die Schweizer Institution für freiwillige, militärisch-sportliche Körperertüchtigung zwischen der obligatorischen Volksschule und der Rekrutenschule, also für männliche Jugendliche im Alter zwischen 16 und 20 Jahren. Natürlich war ich auch da jede Woche beim Training dabei. Meine persönlichen, sportlichen Leistungen wurden regelmässig geprüft und im „Eidgenössischen Leistungsheft“ eingetragen. Ich hatte immer gute Leistungen (die in Punkten gewertet wurden) und so bekam ich im Jahre 1959 von der kantonalen Amtsstelle für Vorunterricht in Schwyz sogar eine Silberne Auszeichnung. Die Grundschule des Vorunterrichts bestand aus Laufen, Springen, Werfen und Klettern oder Reckturnen. Dazu kamen Wahlfachkurse wie Wandern, Schwimmen, Skifahren und Orientierungsläufe. Die Orientierungsläufe, die ich besonders liebte, fanden nicht nur in unserer Gegend statt, sondern auch als Wettkämpfe in Schwyz, Wädenswil und Zürich statt. Mit dieser Erfahrung hatte ich es später bei Übungen im Militärdienst natürlich viel einfacher.


(5) Die Leistungshefte der körperlichen Ertüchtigung

Die Leistungshefte der körperlichen Ertüchtigung

Anfangs Januar 1960 wurde auf der Rigi-Scheidegg/Kräbel ein kantonales Vorunterrichts-Skilager abgehalten, für das sich 47 Burschen angemeldet hatten. Ich freute mich riesig auf die paar Tage im Schnee. Mit der Rigi-Bahn ging es schon am 1. Januar von Goldau bis zur Station „Kräbel“ und von dort in 8 Minuten mit der Schwebebahn zur „Kräbel-Scheidegg“. Die Schneeverhältnisse waren ausgezeichnet, doch zu meiner Enttäuschung gab es damals weder eine Ski-Piste noch Skilifte und das Gelände zum Ski fahren eigentlich sehr limitiert. Zudem war die SJH-Hütte nicht bezugsbereit und so verbrachten wir in die erste Nacht in einer äusserst improvisierten Unterkunft, die wir „Lufthütte“ oder „Moulin Rouge“ nannten. Der behelfsmässige Unterschlupf gehörte einem Fabrikanten aus Zürich, der nebenan sein Ferienhaus hatte. Er war sich offensichtlich des notdürftigen Nachtlagers bewusst und spendierte uns grosszügig so viel Bier, dass sich einige total betranken. Da die Leiter des Kurses bei der Sauferei voll dabei waren, fragte ich mich bald ob dies wohl auch zur Körperertüchtigung gehörte? Aber vielleicht war es einfach eine Möglichkeit gewesen um uns die miese Schlafstelle und die dort herrschende Kälte erträglicher zu machen. Am nächsten Tag wurde dann ein Teil der Gruppe in die Jugendherberge „Rigihüsli“ umquartiert und erst am dritten Tag konnten alle ins Berggasthaus umziehen wo uns ein Massenlager zur Verfügung stand. Jede Nacht schneite es sehr stark und so musste jeden Morgen erneut eine Piste erstellt werden. Bei einer Fahrt im tiefen, schweren Schnee verlor ich die Kontrolle über meine Skier. Nachdem ich wieder aufrecht stand und weiterfuhr, bemerkte ein Lager-Kollege, dass Blut aus meinem rechten Ski schuh floss. Ich hatte beim Umfallen mit der Kante des linken Skis gegen mein rechtes Schienbein geschlagen und dabei nicht nur die Hosen durchschnitten, sondern alles auf dem Weg bis zum Knochen. Obwohl ich stark blutete, hatte ich keine Schmerzen. Trotzdem wurde ich sofort in die Seilbahn verfrachtet und zum Arzt in Goldau gebracht. Dieser nähte die Wunde und meinte anschliessend ich sollte wegen den aufkommenden Schmerzen sofort nach Hause fahren. Doch ich folgte seinen Weisungen nicht und zog es vor zurück auf den Berg zu fahren. Schliesslich wollte ich kein Feigling sein und den Schlussabend des Lagers fröhlich zusammen mit meinen Kollegen verbringen. Aber der Arzt hatte Recht gehabt, nach der Rückkehr auf dem Kräbel begannen die Schmerzen fast unerträglich zu werden und so verging mir die Lust mit den anderen übermütig zu feiern.

Gegen das Ende der Lehrzeit organisierten die Gewerbeverbände der Bezirke Horgen und Meilen einen Lehrlingswettbewerb. Natürlich wollte ich daran teilnehmen und hatte mich für die Kreation eines Schirmständers aus Kupfer entschieden. Er sollte die Form einer „Milchtanse“ (Taussä) haben, der Rand wellenförmig sein und mit unserem Familienwappen veredelt werden. Obwohl die Masse mit Sorgfalt gewählt waren und ich vorher sogar eine „Abwicklung“ gezeichnet hatte, überraschte mich schliesslich die Grösse des Objektes. Die Arbeit war plötzlich viel schwieriger als ich mir vorgestellt hatte. Als dann der Schirmständer Form angenommen hatte und ich ihn aufstellen wollte, stellte sich heraus, dass die Bodenfläche im Verhältnis zum Umfang der Öffnung zu klein bemessen war. Mit ein paar Schirmen beladen wurde er unstabil und kippte um. Um ihn feststehend zu machen musste sein Boden viel schwerer sein. Um dies zu erreichen erstellte ich ein Tropfwasser-Auffanggeschirr, das ich zur Hälfte mit geschmolzenem Blei füllte. Eingesetzt auf dem Boden des Schirmständers war die nötige Stabilität dann erreicht. Leider hatte ich durch die zusätzliche Arbeit viel Zeit verloren. Obwohl ich das Wappen bereits angefertigt hatte, gelang es mir nicht mehr unser Familienwappen darauf zu ziselieren und so montierte an dessen Stelle eine in aller Eile hergestellte, hässliche Rose. Damit war für mich der Schirmständer nichts anderes mehr als ein halbfertiges Werk, auf das ich nicht stolz konnte. Als ich dann zu all dem Übel noch bemerkte, dass meine Konkurrenten ähnliche Schirmständer der Wettbewerbskommission präsentierten, machte ich mir keine Hoffnungen mehr auf einen Preis. Aber ich hatte mich geirrt! Zu meiner grossen Überraschung wurde meine Arbeit mit dem 1. Preis ausgezeichnet und ich bekam eine Urkunde mit der Bemerkung „Sehr gut“.



(6) Mit dem eleganten Schirmständer den ersten Preis gewonnen

Mit dem eleganten Schirmständer den ersten Preis gewonnen


Im Herbst 1960 bestand ich die Lehrabschlussprüfung mit der Durchschnittsnote von 1.1. Trotz dieser Bestnote war ich nicht sicher ob sich mein Vater darüber freute, denn damals zeigte man seine Emotionen nicht.



(7) Zeugnis der Lehrabschlussprüfung als Spengler

Zeugnis der Lehrabschlussprüfung als Spengler

 

 

 

Die Sanitär-Zusatzlehre  (07. November 1960 – 10. November 1961)
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9.2.  Die Berufslehre – Die Sanitär-Zusatzlehre  (07. November 1960 – 10. November 1961).

 

(1) Unsere Santäre Klasse vor den Lehrwerkstätten Bern

Unsere Santäre Klasse vor den Lehrwerkstätten Bern


Mit dem Fähigkeitszeugnis als Bauspengler in der Hand war ich nun kein Lehrling mehr. Als ausgebildeter Berufsmann hätte ich nun eine Stelle mit einem angemessenen Lohn suchen können, aber ich hatte ein anderes Ziel. Ich wollte so wie mein Vater anschliessend noch eine Zusatzlehre als Installateur für Gas und Wasser machen. Mein Vater hatte sich schon umgeschaut und eine ideale Lösung gefunden. Es war eine einjährige Zusatz-Lehre die teils aus einer praktischen Ausbildung bei der Firma Gerbrüder Jost in Bern und sechs Monaten intensiver Ausbildung in den Lehrwerkstätten der Stadt Bern bestand. Da mein Vater früher die Lehrwerkstätten auch besucht hatte, war er mit dieser Lösung sofort einverstanden. Laut Lehrvertrag mit der Firma Jost erhielt ich einen Stundenlohn von Fr. 1.80, was für mich im Vergleich zur Entlöhnung während der Lehre als Spengler, ein ganz stattlicher Betrag war.

Auch die Eltern von Hansruedi Fenner hatten sich für ein solches Arrangement entschieden und so beschlossen wir in Bern zusammen ein Zimmer zu mieten. Mit viel Glück fanden wir eine Unterkunft bei einer älteren Dame an der Zieglerstrasse. Sie wohnte alleine in einem grossen Haus und hatte zwei Hunde der Rasse „Spaniel“. Leider waren die Hunde ungepflegt und stanken meist penetrant, was oft unausstehlich war. Da man aber von ihrem Haus zu Fuss zur Arbeit gehen konnte, hatten wir keine Lust eine andere Unterkunft zu suchen. Es war das erste Mal, dass ich mich alleine behaupten musste und war daher froh, mit einem Kollegen zusammen zu wohnen. Am Freitagabend fuhren wir immer mit der Bahn nach Hause und kamen erst am Sonntagabend zurück. In Bern tranken wir auf dem letzten Stück Weg bis zu unserer Unterkunft meistens noch ein Bier im „Viktoriahall“ (Figähall), wobei der Grund des Wirtshausbesuches eigentlich immer nur die wunderschöne Serviertochter war. Später während der Ausbildung in den Lehrwerkstätten trafen wir auf der Rückfahrt am Bahnhof Zürich meistens Schulkollegen und so fuhren wir zusammen nach Bern. Auch mein Vetter Alfred und seine Freundin Vroni arbeiteten während der Woche in Bern und nahmen meistens den gleichen Zug für die Rückfahrt. Sonderbarerweise machte er nie den Vorschlag miteinander zu fahren und weil ich die beiden Verliebten nicht stören wollte fand ich keinen Anlass ihn dazu zu drängen.

Da unsere „Schlummermutter“ kein Essen im Haus anbot, mussten wir uns während der Woche immer in Restaurants verpflegen. Mein Lieblingsrestaurant war das „Bärenhöfli“ an der Zeughausgasse. Es war günstig und man konnte nachmittags immer herrliche „Oepfuchüechli“ essen. Das Frühstück machte jeder für sich im Zimmer. Beide hatten Wasserkocher (Tauchsieder) und so konnten wir uns morgens wenigstens einen heissen Tee oder am Abend eine Suppe zubereiten. Auch die Gewerbeschule besuchten wir zusammen und wurden erneut „Streber“ genannt. Zudem waren wir ja keine Berner und deshalb immer ein bisschen isoliert. Im Sanitär-Betrieb gab es solche Ausgrenzungen nicht und wir verstanden uns alle bestens. Herr Jost war Berner Burger und immer sehr freundlich mit allen. Einmal durfte ich sogar mit seiner Familie an einen „Burger“-Anlass im Casino. Das war für mich ein ganz spezielles Erlebnis und ich fühlte mich ausserordentlich geehrt in der noblen Gesellschaft.

Mein Vater erzählte mir von Verwandten die in Bern wohnten und riet mir sie nach meiner Ankunft zu kontaktieren, was ich dann auch tat. Sofort wurde ich freundlich in die grosse Familie aufgenommen und sogar an den 80. Geburtstag von Vater Schölly im Volkshaus eingeladen. An diesem Anlass lernte ich viele neue Leute kennen die mir den Aufenthalt in Bern anschliessend sehr angenehm und leicht machten. Besonders bei der Tante Hedy, die einen Schönheits-Salon führte, ging ich nach der Arbeit oft vorbei. Sie war immer fröhlich und wir hatten es lustig zusammen. Diese Familie machte es aus, dass ich mich in Bern nicht einsam fühlte.

Einer der Lehrlinge kam aus Kandersteg und hiess Peter. Im Januar 1961 lud er mich und einen weiteren Kollegen zu einer Skiwanderung über die „Rote Totz Lücke“ ein. Ich sagte sofort zu und freute mich auf das Wochenende in den Bergen. So ging es am Morgen des 15. Januar zuerst mit der Luftseilbahn von Kandersteg auf die Sunnbüel und von da in leichter Steigung Richtung Schwarenbach und Gemmi. Das Wetter war nicht besonders gut, der Himmel war teilweise bedeckt und es war sehr kalt. Trotzdem hielt Peter an seinem Plan fest. Doch bald wurde ihm bewusst, dass diese Wanderung zu dieser Jahreszeit ungeeignet war und so entschied er sich den Weg zur Lücke abzukürzen. Doch damit wurde der Aufstieg so steil, dass wir die Skier tragen mussten um uns im tiefen Schnee vorwärts zu bewegen. Es war so kalt, dass meine Handschuhe gefroren und ich meine Finger nicht mehr normal bewegen konnte. Als wir dann halb vereist die Lücke endlich erreichten, sahen wir vor uns eine flache Ebene. Ich freute mich, dass der äusserst mühsame Aufstieg endlich hinter uns war und dass es nun abwärtsging. Peter fuhr auf den Ski voraus und wollte, dass der etwas unsichere, zweite Kollege gleich hinter ihm fuhr und ich den Schluss machen sollte. Nach einigen Minuten fiel ich ohne Grund in den Schnee und hörte wie mein rechter (gefrorener?) Unterschenkel wie ein Eiszapfen brach. Peter wollte dies nicht glauben und sagte ich solle doch wieder aufstehen. Das machte ich dann auch und versuchte weiterzufahren. Doch mein rechtes Bein war nicht mehr stabil und gab knirschende Töne von sich und so war das schwächste Glied der Gruppe plötzlich ich. Erst fuhren wir zu dritt neben einander, ich mit angewinkeltem rechtem Bein in der Mitte und mich mit beiden Armen an sie klammernd. Doch dann wurde es plötzlich steil und diese Art von Transport war nicht mehr möglich. Zudem begann es zu schneien, es wurde Nacht und die Sicht wurde immer schlechter.

Nie in meinem Leben zuvor hatte ich mich so hilflos der Natur ausgeliefert gefühlt. Man konnte schreien wie man wollte, aber niemand konnte uns hören. Wir waren total alleine im Hochgebirge. Der Wind pfiff uns eisig kalt um die Ohren und alles war weiss um mich herum. Ich wollte sterben. Peter setzte mich windgeschützt hinter einen grossen Felsen und ging rekognoszieren. Nach einer Weile kam er zurück und meldete, dass er weiter unten am Hang eine Hütte entdeckt habe. Und so rutschten wir zu dritt, ich in der Mitte, auf unseren Hintern den Hang hinunter. Alles schien plötzlich noch weisser und man sah keine Konturen mehr. Man wusste nicht mehr wo man sich hinbewegte und die Situation wurde offensichtlich gefährlich. Ich war verzweifelt und schwor mir nie mehr in die Berge zu gehen, ja am besten sofort in ein Land zu ziehen wo alles flach war. Schliesslich erreichten wir die erspähte Hütte, aber sie war geschlossen. Nach langer Mühe hatten meine beiden Freunde die Türe aufgebrochen. Endlich waren wir in Sicherheit. Die Hütte gehörte scheinbar dem Militär und so fand man Brennmaterial um den Ofen zu heizen und Lebensmittel um uns zu stärken. Komischerweise hatte ich keine Schmerzen und so hörte ich meine Freunde immer wieder sagen ich hätte nichts gebrochen und simuliere nur. Sie kochten Suppe und heizten wie die Wilden den schlecht isolierten Raum. Mir schien als sei der Ofen glühend während ich vor Kälte auf dem harten Boden schlotterte. Da es damals keine Handys gab, konnten wir niemanden benachrichtigen und mussten einfach unser Schicksal abwarten.

Nach Mitternacht hörten wir Stimmen und tatsächlich näherten sich Leute der Hütte. Es war der Vater von Peter mit weiteren Bergführern. Sie hatten sich Sorge gemacht und schliesslich gehofft uns in dieser Hütte zu finden. Der Vater war übelgelaunt und beschuldigte Peter unüberlegt eine Frühlings-Tour mitten im Winter gemacht zu haben. Da ich keine Schmerzen hatte, waren auch sie überzeugt, dass ich nichts gebrochen hatte, und wenn ja, dann höchstens das Wadenbein. Schliesslich legten sich alle zur Ruhe. Erst am anderen Morgen wurde mir bewusst welchem Risiko wir ausgesetzt waren und dass uns ein Schutzengel vor Schlimmerem bewahrt hatte, denn neben der Hütte ging es steil hinunter. So wurde ich auf eine Bahre gebunden und mit Seilen von vier Bergführern langsam den Hang hinuntergelassen. Ich glaube es war gut, dass ich gut eingepackt war und die heiklen Stellen während dem Transport gar nicht sehen konnte. Im Tal wurde ich sofort vom Arzt untersucht und geröntgt. Bald wurde bestätigt, dass ich nicht nur das Wadenbein, sondern auch das Schienbein gebrochen hatte. Ich bekam einen Gips der vom Oberschenkel bis zu den Füssen reichte. Die Familie von Peter wollte einen Spitalaufenthalt vermeiden und mich bei sich zu Hause haben bis ich transportfähig wurde. Und so verbrachte ich einige Tage bei ihnen, eine Zeit die mich vor allem an viel Herzlichkeit und unbeschwerten Dialogen erinnern. Schon nach ein paar Tagen wollte ich nicht mehr in ein total flaches Land wie Holland auswandern und konnte es nicht erwarten bis meine Knochen wieder zusammen gewachsen waren um dann erneut in den Berge gehen zu können. Und tatsächlich machte ich noch im gleichen Jahr meine erste Hochgebirgstour und zwar auf das Doldenhorn mit seinen 3752 Meter ü.M. Diesmal hatte Peter aber einen erfahrenen Bergführer organisiert und die Tour der Jahreszeit entsprechend auf ende September geplant.


(2) Beim Aufstieg zum Doldenhorn im Herbst (meine erste Hochgebirgstour)

Beim Aufstieg zum Doldenhorn im Herbst (meine erste Hochgebirgstour)


Irgendwie schaffte ich es alleine mit der Bahn nach Lachen zu meinen Eltern. Ich hatte das Gipsbein am Aschenbecher des seitlichen Tisches beim Fenster mit einer Schnur befestigt und so ging der Transport ganz passabel. Durch diesen Unfall musste ich sechs Wochen zu Hause bleiben und konnte nicht arbeiten. Schlimmer noch war die Tatsache, dass ich genau während der Fasnachtszeit ans Bett gebunden war und ich mir vorzustellen musste, was ich im Dorf alles verpasste…! Während meines Unfallaufenthaltes in Lachen überraschte mich plötzlich Heinz, mein Schulkamerad aus dem Welschland, mit einem Besuch. Nach der gemeinsamen Rückkehr nach Hause hatten wir uns manchmal telefoniert und so freute ich mich auf das Wiedersehen. Plötzlich aber unterbrach meine Mutter ganz aufgeregt unser Gespräch und meldete ein „goldiges“ Auto vor dem Haus, eines wie das von James Bond. Neugierig zusammengekommene Leute spekulierten, dass dies eine sehr teuere Limousine sein musste, machten Fotos und sahen sofort einen Zusammenhag mit unserer Familie. Etwas kleinlaut gestand Heinz schliesslich, dass es sein neues Auto der Marke ALVIS war. Das Auto wurde damals von dem Unternehmen ALVIS Car and Engineering Company Ltd. in Coventry, England produziert. Das protzige Gefährt vor unserem Hause störte meine Mutter ausserordentlich und so bat sie Heinz das nächste Mal ein bisschen diskreter zu sein und es gefälligst anderswo im Dorf zu parkieren.



(3) Während der Fasnacht im Bett, aber mit einer erträumten Reise um die ganze Welt über mir.

Während der Fasnacht im Bett, aber mit einer erträumten Reise um die ganze Welt über mir.


Aber ich hatte nicht nur die Fasnacht verpasst, sondern bedeutend wichtiger auch viele Stunden der Gewerbeschule Bern, die ich nun bis zum Eintritt in die Lehrwerkstätten der Stadt Bern am 4. April nachholen musste. Aber irgendwie schaffte ich auch diese Hürde und das Zeugnis liess sich trotzdem sehen. Die kommenden sechs Monate in den Lehrwerkstätten waren sehr wertvoll, vor allem der theoretische Teil und die Experimente mit neuartigen Abwasser-Leitungs-Systemen am Versuchsturm auf dem schuleigenen Gelände faszinierten mich. Zu dieser Zeit begann man Hochhäuser zu erstellen, für die man das bisherige Abwassersystem anpassen musste. Ein Beispiel: wenn der Inhalt eines Spülkastens im 12. Stockwerk in die Tiefe stürzt, ist es wahrscheinlich, dass die Luft im Rohr zusammengepresst wird. Durch diesen Druck konnte unter Umständen das Abwasser in die Anschlüsse der untersten Stockwerke gedrückt werden und damit in den Badezimmern oder Küchen austreten. Um dies zu verhindern wurden neuartige Formstücke (Gabeln) entwickelt und dann am Versuchsturm ausprobiert. Während der HYSPA (Ausstellung Gesundheit, Gesundheitspflege, Turnen und Sport) wurde eine reduzierte Version des Versuchsturms auf dem Ausstellungsgelände erstellt und wir Schüler durften den Besuchern die Test-Versuche erklären, sowie die neu entwickelten Spezial-Formstücke aus Stahl zeigen. Der Kontakt mit dem Publikum war sehr interessant und wir waren stolz unsere Arbeit dem Publikum zugänglich zu machen.


(4) Präsentation neuartiger Formstücke (Gabeln) während der HYSPA in Bern.

Präsentation neuartiger Formstücke (Gabeln) während der HYSPA in Bern.


Neben dem normalen Schulbetrieb besuchte ich abends Weiterbildungskurse (Kunststoffkurs I, Werkstattkurs I und Berufskunde I). Um das warme Zimmer zu verlassen, brauchte dies im Winter oft sehr viel Überwindung. Die sechs Monate waren bald vorbei und ich musste zurück zur Firma Gerbrüder Jost um den Rest der Zusatzlehre zu absolvieren. Trotz Unfall und 35 fehlenden Stunden in der Gewerbeschule bestand ich die Abschlussprüfung mit Bestnoten und bekam damit das Fähigkeitszeugnis als Installateur für Gas und Wasser. Damit endete meine Berufsausbildung.



(5) Zeugnis der Lehrabschlussprüfung als Installateur Gas und Wasser

Zeugnis der Lehrabschlussprüfung als Installateur Gas und Wasser

 

 

 

 

In Lachen beim Vater (02.12.1961 – 15.01.1962)
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10.1.  Lehr- und Wanderjahre – In Lachen beim Vater (02.12.1961 – 15.01.1962).

Nachdem ich die Lehre als Sanitär Installateur beendet hatte kehrte ich nach Lachen zurück. Ich wollte die kurze Zeit bis zum Beginn der Rekrutenschule zu Hause verbringen und im Betrieb meines Vaters arbeiten. Zudem wollte ich etwas nachholen was ich während dem Welschlandjahr im Clos-Rousseau in Cressier nicht durfte: richtig tanzen lernen! So besuchte ich in Zürich einen Tanzkurs für damals moderne Tänze wie Jive, Charleston, Raspa, Rock ’n’ Roll und natürlich Cha-Cha-Cha mein Lieblingstanz. Ich hätte diesen Tanzkurs wohl besser nicht an kalten Winterabenden machen sollen, denn trotz heisser Musik aus Lateinamerika blieben die Teilnehmer äusserst reserviert und die Stimmung meistens eisig. Ich war froh, als ich den Kurs endlich hinter mir hatte. Aber nun wusste ich wenigstens wie man den Cha-Cha-Cha richtig tanzt. Bald fand ich in Lachen eine Tänzerin, die Gerda, mit der ich diese Tänze üben konnte. Sie tanzte ausgezeichnet und so träumten wir schon an einem Tanzturnier teilnehmen zu können. Einmal tanzten wir ohne Pause den ganzen Sonntagnachmittag in der Stube ihrer Eltern. Es war schon dunkel als ich mit meinem tragbaren, „überhitzten“ Plattenspieler und müden Beinen, aber glücklich, nach Hause kam. Leider teilten meine Eltern meine Glückseeligkeit überhaupt nicht und überschütten mich mit Vorwürfen. Sie waren überzeugt, dass es eine Frechheit von mir war so lange bei einem Mädchen zu bleiben und ihre Eltern an einem Sonntag mit lauter Musik zu stören. Und dann kam der obligate Satz: „Was denken wohl die Leute von dir und schliesslich von uns?“ Damit war unser Traum mit Tanzen einmal berühmt zu werden bereits beerdigt.

Schon während der Lehrzeit begann man zu „karisieren“ und so stellte man sich vor, bei den Mädchen als guter Tänzer viel mehr Erfolg zu haben. Bei modernen Tänzen fühlte ich mich total entspannt, aber bei enger „Schmusermusik“ wurde es für mich peinlich. Nicht das körpernahe Tanzen war mir unangenehm, sondern der riesige Schlüssel der Haustüre in meinem Hosensack! Dieses harte Ding hätte ja bei Mädchen unkeusche Gedanken erwecken können. Zudem graute mir als unbeherrschter, geiler Saukerl beschimpft zu werden und dabei in aller Öffentlichkeit vielleicht sogar eine Ohrfeige zu riskieren. Oft versuchte ich den Schlüssel irgendwo bei den Leitern links ausserhalb des Hauses zu verstecken. Aber dann hatte ich Bedenken, dass jemand mich sehen könnte und das Versteck dann kennen würde. Damit hätte ich ja alle Bewohner in unserem Haus in Unsicherheit gebracht. Also musste eine andere Lösung gefunden werden. Als mein Vater einmal einen ganzen Tag abwesend war, was äusserst selten war, ging ich zur Eisenhandlung Weibel (vormals Grünigner) und kaufte dort ein modernes Sicherheitsschloss mitsamt dem nötigen Montagewerkzeug. So bohrte ich in die alterehrwürdige Haustüre ein Loch und installierte das Schloss. Endlich hatten wir einen Schlüssel den man im Geldbeutel mitnehmen konnte und für den man hinter dem Haus kein Versteck mehr suchen musste. Aber ich hatte meinen spontanen Entschluss dem Übel ein Ende zu setzen leider ohne die Bewilligung meines Vaters gefasst. Als er die Tat entdeckte wurde er grauenhaft wütend und sagte ich sollte mich schämen ein Loch in das wunderbare, alte Holz der Türe gemacht zu haben. Ich versuchte ihn von den Vorteilen zu überzeugen und unterstrich zudem, dass ich das Schloss aus eigener Tasche berappt hatte. Er beruhigte sich nur langsam. Aber es schien mir, dass er den Komfort des kleinen Schlüssels im Geheimen bald auch zu schätzen wusste. Vielleicht aber war sein Aufbrausen auch nur eine Reaktion auf meine spontane Art gewesen. Vielleicht hatte er sogar erkannt, dass er eigentlich selbst auf eine so einfache Lösung hätte kommen müssen. Aber so etwas gesteht man dem eigenen Sohn doch nicht.

Zurück in Lachen hatte ich wieder mehr Zeit für meine Kumpel und so wurde das Thema „karisieren“ plötzlich Top aktuell. Die Meisten hatten schon „Schätze“ und so kam ich mir wie ein „Spätzünder“ vor. Sie zeigten mir wie und wo man Mädchen kennen lernen konnte. Ein sehr versprechender Ort war das Bezirkspital. Sie sagten, dass Krankenschwestern viel leichter zu haben seien als andere Mädchen im Dorf. So verbrachten wir halbe Abende vor dem Spital und pfiffen sofort, wenn in einem Angestelltenzimmer ein Licht anging. Dann warteten wir in der Kälte bis die Krankenschwestern Schichtwechsel hatten und versuchten sie dann beim Ausgang zu treffen. Für mich schien der Aufwand viel zu gross und zu mühsam. Ich wäre lieber zu Hause in der warmen Stube geblieben, aber was machte man nicht alles um seine Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Ganz überraschend und zum Neid meiner Kollegen lernte ich eines Tages ein nettes Mädchen kennen. Wir gingen zusammen den Spreitenbach entlang und plauderten über belanglose Sachen. Schliesslich berührten wir uns vorsichtig. Dann zog sie mich an sich und küsste mich auf die Lippen. Natürlich gestand ich ihr nicht, dass dies mein erster Kuss war und tat so als ob ich Erfahrung hätte. Aber dann stiess sie ihre Zunge in meinen Mund, sodass diese meine Zunge berührte. Das sei ein „französischer Kuss“ sagte sie schliesslich mit erregter Stimme und dabei hatte ich meine Stimme verloren. Für mich war das komische, nasse Zungenspiel äusserst unappetitlich, denn man konnte ja sofort erfahren was sie zuletzt gegessen hatte oder ob sie Raucherin war. Da ich noch nie mit einem Mädchen einen so intimen Kontakt hatte, wurde mir plötzlich sehr äusserst bange. Ich löste mich von ihrer innigen Umarmung und lief verwirrt nach Hause. Die ganze Nacht blieb ich wach und hatte Gewissenbisse. Es überfiel mich Frage um Frage: war dies nun eine sündige Tat gewesen, ist sie jetzt durch meinen Speichel schwanger geworden und war dies nun bereits Sex gewesen? Natürlich konnte ich meine Ängste und Verwirrung mit niemandem teilen, schon gar nicht mit meinen Kollegen oder den Eltern. Ach, wenn ich nur so wie die Katholiken auch hätte beichten können! Aber was hätte mir der Priester wohl für eine Antwort gegeben? Hätte er mich vielleicht sogar bestraft für meine infame Tat oder umgekehrt noch mehr Details erfahren wollen?

Meine Mutter hatte bald bemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmte und wollte wissen was geschehen war. Da es im Dorf keine Geheimnisse gab, erfuhr sie bald, dass ich mich mit einem Mädchen „karisiere“. Als man ihr dann noch sagte, dass es sich um eine Krankenschwester handelte, dass sie in Galgenen wohnte und erst noch katholisch sei, versuchte sie alles um mich von ihr abzubringen. Da ich keinen Streit mit meinen Eltern wollte entsprach ich ihrem Willen. Aber damit fühlte ich mich nur noch miserabler, besonders weil ich nie den Mut hatte mit dem Mädchen darüber zu sprechen und meine Situation sowie meine Verwirrung zu erklären. Diese erste Erfahrung mit „karisieren“ hatte mich arg traumatisiert und ich war deshalb froh als ich am 5. Februar 1962 in die Rekrutenschule nach Bülach musste.

 

Die Rekrutenschule in Bülach (5. Februar – 2. Juni 1962)
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10.2.  Lehr- und Wanderjahre – Die Rekrutenschule in Bülach (5. Februar – 2. Juni 1962).
Schon bei der „Aushebung“ zur Rekrutenschule hatte ich riesiges Glück. Die anwesenden Offiziere wollten zuerst die Resultate im „Eidgenössischen Leistungsheft“ sehen und stellten anschliessend verschiedene Fragen. Scheinbar erfüllte ich all die erforderlichen militärischen Kriterien und wurde sofort als „tauglich“ erklärt. Allerdings war ich auf der Hut, denn es war bekannt, dass zusätzlich eventuell noch Fangfragen gestellt wurden um etwelche Widersprüche zu klären. Glücklicherweise war dies nicht der Fall und so wurde ich gleich gefragt auf welche Weise ich der Armee dienen möchte. Nun wurde es heikel. Wenn ich „als Motorfahrer“ sagte, dann hätte es sein können, dass die Offiziere mich als Weichling, Drückeberger oder sogar als Militärverweigerer vermuteten und mich erst recht der härtesten Einheit, der Infanterie, zuteilten. Da ich aber schon mit 18 Jahren die Autofahrprüfung absolviert hatte, erwiderte ich sorglos und bestimmt: „als Motorfahrer“. Ohne zu Zögern fragte mich einer der Offiziere: „In welcher Truppengattung der Armee möchten Sie Ihren Dienst leisten?“ Eine solche Frage hatte ich allerdings nicht erwartet und war deshalb total platt. Als ich nichts erwiderte fuhr er freundlich weiter und fragte: „Wie wäre es mit den Übermittlungstruppen?“ Natürlich hatte ich bis anhin noch nichts von dieser Truppengattung gehört und sagte einfach „ja“. In diesem Augenblick war mir nicht bewusst wie viel Glück ich hatte, denn etwas Besseres hätte mir nicht passieren können. Mein Schutzengel war in diesem Moment ganz bestimmt an meiner Seite gewesen.

Am 5. Februar 1962 begann die Rekrutenschule in Bülach. Da ich bereits ein ganzes Jahr fern von zu Hause verbracht hatte, hatte ich keine Mühe mich der neuen Situation anzupassen und nach strenger Tagesordnung zu leben. Die ersten Wochen bestanden überwiegend aus Grundausbildung, zum Beispiel militärische Formen, den Umgang mit der persönlichen Waffe und Ausrüstung. Dann folgten Kenntnisse in der Automechanik sowie der verschiedenen Militärfahrzeuge, und natürlich viele Lehrfahrstunden auf den Lastwagen und anderen Fahrzeugen. Wie es das Dienstreglement der Schweizerischen Armee verlangt, mussten wir auch Nachtmärsche, Schiessübungen, Orientierungsläufe und Manöver absolvieren. Eine besondere Abwechslung war die „Demonstrations-Woche“ in Bern, wo wir unsere Fahrzeuge und Funkstationen zur Schau stellten. Eine ganze Woche in der Ausgangs-Uniform den Besuchern Auskunft geben war sehr angenehm und fast so etwas wie Urlaub.

Einmal musste ich nach einer Nachtübung die Truppe zurück in die Kaserne fahren. Wir waren alle müde, doch dies war kein Grund die Motorfahrer von der Rückfahrt zu dispensieren. Auf der Ladebühne des Lastwagens sassen meine Kameraden und schliefen. Da mein Beifahrer auch schläfrig war, wurde nichts gesprochen. Mit der Dunkelheit, der Stille in der Kabine und dem monotonen Motorenlärm hatte auch ich grosse Mühe die Augen offen zu halten. Plötzlich gab es einen Knall. Ich war zu nahe am Strassenrand gefahren und hatte einen Pfosten gestreift. Sofort war ich hellwach und versuchte den Lastwagen auf der kurvenreichen Strasse wieder korrekt auf die Fahrbahn zu bringen. Es war nichts geschehen und meine schläfrigen Kollegen hinten auf der Ladefläche schienen nichts gemerkt zu haben. Trotzdem beschäftigte mich dieser Vorfall noch wochenlang und es graute mir nur schon beim Gedanken, dass ich mit meiner menschlichen Fracht beinahe in den dunklen Abgrund gestürzt wäre. Immer wieder dankte ich meinem Schutzengel und flehte ihn an mich ja nicht zu verlassen und mich weiter vor Unheil zu beschützen.

Ich wusste, dass die Schule auch zur körperlichen und mentalen Stärkung beitragen sollte, doch sinnlose militärische Übungen im strömenden Regen fand ich eher absurd. Auch die Anstrengungen der Offiziere für rigorose Disziplin und Ordnung im Zimmer konnte ich verstehen, denn einige Burschen hatten diesbezüglich von zu Hause nicht viel mitgebracht. Allerdings schienen mir einige Vorschriften doch eher lächerlich. So konnte ich mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass wegen einer Zahnbürste im Glas über dem Bett, die nicht ordnungsgemäss nach rechts gerichtet war, die Schweiz einen Krieg verlieren würde. Auch die tägliche Hygiene wurde gefördert, etwas das für einige Burschen total unbekannt schien. So hatten wir zum Beispiel zwei Walliser in unserem „Schlag“ (Schlafraum) die es jeden Morgen schafften der Dusche zu entgehen. Einige vermuteten Hemmungen mit anderen nackt zu duschen oder sogar religiöse Gründe. Jedenfalls war wegen ihrer Ausdünstung und der penetranten Fuss-Schweiss die Luft im Raum oft unerträglich Da es sich für die Beiden oft nicht lohnte während dem Wochenende nach Hause ins Wallis zu fahren, blieben sie während dieser Zeit meistens in der Kaserne. So kam es, dass wir an einem Sonntagabend, als wie von unserem Urlaub zurückkamen, wieder ein äusserst grässlich stinkendes Zimmer vorfanden. Ich hielt mir die Nase zu und rannte sofort ans Fenster um es zu öffnen. Während dem Wochenende hatten die Beiden das Zimmer nie gelüftet. Doch sie protestierten sofort und meinten mit einem offenen Fenster würde es zu kalt im Zimmer. Doch diesmal bestanden alle anderen Rekruten auch auf frische Luft und forderten sie zudem auf unter die Dusche zu gehen. Doch die Beiden gingen auf unser Begehren nicht ein und blieben uneinsichtig. So kam einer der Rekruten auf die Idee den Beiden ihre Intimgegend mit Militärschuhwichse einzuschmieren und sie damit zu zwingen sich endlich zu waschen. Natürlich stäubten sie sich energisch, doch da wir in der Überzahl waren gelang es uns sie so lange festzuhalten bis die Arbeit getan war. Doch unsere Mühe war umsonst gewesen. Beide verschwanden sofort wieder trotzig unter der Militärwolldecke und verweigerten weiterhin eine Dusche. Doch am nächsten Morgen entkamen sie unserem Verlangen nicht mehr. Eskortiert drängten wir sie in den Duschenraum und fegten sie brutal mit einer Scheuerbürste sauber. Damit war die Luft im Zimmer für eine gewisse Zeit wieder erträglich.


(1) Auch wenn man in einen Graben gefahren war, konnte man dabei noch Spass haben und eine dramatische Szene vorgeben.

Auch wenn man in einen Graben gefahren war, konnte man dabei noch Spass haben und eine dramatische Szene vorgeben.


Die gute Kameradschaft unter den Rekruten hatte wegen diesem Vorfall nicht gelitten, denn wir verstanden uns erstaunlicherweise gut. Es war immer unterhaltsam im Zimmer, es wurde viel gelacht und gescherzt. Einmal überraschten wir den Korporal bei „Lichterlöschen“ mit einem „Gasmasken-Ballett“. Nur in den Unterhosen, dafür aber mit Gasmaske, Bajonett, „Gamelle“ und Besen produzierten wir uns vor den Kollegen. Zum Glück hatte der Korporal auch Humor, lachte und verlangte nur endlich Nachtruhe.


(2) Gasmaskenballet

Gasmaskenballet


Einmal bei einer Geländeübung fuhr ich einen „Dodge CC“, ein unmögliches, offenes Fahrzeug das wir nur „WC“ nannten. Es war schwierig zu fahren und so geschah es, dass ich auf dem Gelände eines Bauernhofes einmal in einen Graben rutschte. Das Ganze sah äusserst tragisch aus, doch da wir immer Lumpereien im Kopf hatten gestalteten wir die Szene noch etwas dramatischer. Wir setzten uns in das Fahrzeug und liessen uns wie Tote aus dem Führerstand hängen. Dabei hatten wir einen Riesenspass, machten Fotos und zogen dann das Fahrzeug ohne Probleme mit einem anderen „WC“ wieder aus dem Morast. Auch der Bauer war mir nicht böse und klagte nicht wegen Landschaden. Bei gemeinsamen Übungen mit den „Telefönlern“ oder den „Funkern“ fuhren wir auch Spezialfahrzeuge wie Funkstationen. Meistens konnten wir sie nach Absprache mit dem Bauern unter dem Vordach des Stalles stationieren. Allerdings war mir lieber, wenn man die Funkstation im Stall unterbringen konnte, denn in diesem Fall mussten wir sie nicht mit Netzen und Blachen tarnen. Nachdem die „Telefönler“ mit den Kabelrollen auf dem Rücken die Leitungen in der ganzen Gegen verlegt hatten, blieben wir manchmal einige Tage am gleichen Ort und verbrachten die Nacht oft im Heu oder Stroh. Im Gegensatz zu den „Übermittlern“, die meist während 24 Stunden ununterbrochen arbeiten mussten, genossen wir Motorfahrer die Zeit auf dem Lande.


(3) Bei einem Bier in der „Stützlifüfzg-Beiz“

Bei einem Bier in der „Stützlifüfzg-Beiz“


Fast jeden Samstagmittag hatten wir „Abtreten“ und mussten erst wieder am Sonntagabend um 24.00 Uhr in der Kaserne sein. Das erlaubte mir jedes Wochenende zu Hause zu sein und meine Kollegen zu sehen. Gleichzeitig brachte ich meiner Mutter meine schmutzige Wäsche. War dies einmal nicht der Fall, dann wurde die Wäsche per Militär-Sack hin und her geschickt. Während der Woche war ein abendlicher „Ausgang“ eher selten. Wenn dies der Fall war, dann fuhren wir manchmal zur „Stützlifüfzg-Beiz“, dem heutigen Gasthof Hecht in Winkel bei Bülach. Da wirtete seit dem 2. Weltkrieg Frau Hedy Meier, eine lustige, echte Gastwirtin die sich immer gut mit dem Militär verstand. Die Beiz war deshalb bekannt und abends sehr gut besucht. Da sich die Soldaten damals kaum mehr als 3 Bier zu je 50 Rappen leisten konnten, sagte sie beim Einkassieren einfach „äs Stützli füfzg». Und so schien der Preis für drei Bier nicht mehr übertrieben. Der Name „Stützli füfzg“ übertrug sich dann auf das ganze Wirtshaus und ist heute noch als „Stützli“ bekannt.

Die Zeit verging schnell und so auch die Rekrutenschule. Nach dem kalten Winter mit der seltenen „Seegfrörni“ war es unterdessen Frühling geworden und man freute sich nach Hause und ins berufliche Leben zurückzukehren. Dank guter Kameradschaft unter den Rekruten und konfliktfreier Beziehung mit den Vorgesetzten war es eine gute und abwechslungsreiche Zeit gewesen. Ich hatte nicht das Gefühl während den drei Monaten wertvolle Zeit meines Lebens verloren zu haben. Zudem war es sicher auch die damalige Sinnesart der Schule die einen Jüngling später prägte und ihn auf dem Weg zu einem selbständigen Mann unterstützte und förderte. Ausserdem habe ich gelernt wie man morgens das Bett richtig macht, wie man das Leintuch und die Wolldecke am unteren Ende der Matratze richtig faltet und anschliessend darunter verschwinden lässt.

Nach der Rekrutenschule blieb ich vorerst zu Hause bei meinen Eltern in Lachen und machte mit ihnen Ausflüge, zum Beispiel auf den Gantrisch und das Schwefelbergbad. Gleichzeitig schmiedete ich zusammen mit meinen Turnkollegen Peter Kälin, Willi Clerc und Josef Zweifel Ferienpläne. Wir entschieden uns für ein paar Tage am Genfersee und zwar im Zelt auf dem TCS Campingplatz „La Colline“ in Nyon. Von da machten wir Ausflüge und besuchten mit dem Schiff sogar Evian in Frankreich. Für den „Ausgang“ hatten wir uns entschlossen immer sehr elegant mit weissen Schuhen, weissen Hosen, weissem Hemd und Strohhut zu erscheinen. Das weisse Quartet war nicht zu übersehen und erntete viel Lob und Bewunderung bei den Mädchen. Aber auch im einfachen Trainings-Anzug des Turnvereins Lachen blieben wir auf dem Zeltplatz nicht unbemerkt, denn mit den weinroten, kurzen Hosen und dem blauen Oberteil mit weissen Streifen konnte man sich sehen lassen. Neben den vielen Zeltnachbarn hatten wir einen kleinen, ganz speziellen Camping-Freund, den „Hug“. Trotz den sprachlichen Schwierigkeiten blieb er immer in unserer Nähe und wollte immer mit uns spielen. Aber auch die schöne und kurzweilige Ferienzeit hatte bald ein Ende und wir mussten alle zurück in den normalen Alltag.

F.lli Märki, Impianti termici ed idraulici, Muralto-Locarno (21.08.1962 – 30.3.1963)
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10.3.  Lehr- und Wanderjahre – F.lli Märki, Impianti termici ed idraulici, Muralto-Locarno (21.08.1962 – 30.3.1963).

Während der Zeit In den Berner Lehrwerkstätten war unter den Lehrlingen ein Tessiner der Luciano Märki hiess. Er sprach wohl Schweizerdeutsch, aber bei technischen Begriffen hatte er Mühe. So bat er mich immer wieder um Hilfe und kam auch bei schwierigen Aufgaben zu mir. Da sein Vater eine ziemlich grosse Sanitär- und Heizungsfirma in Muralto hatte, bot er mir am Ende des Schuljahres eine Stelle als Sanitär-Installateur an. Diese für mich sehr attraktive Offerte liess mich nicht mehr los. Eigentlich hätte mich mein Vater nach der Lehre lieber im eigenen Geschäft gesehen, doch mit dem Argument erst anderswo noch Erfahrung zu sammeln willigte er schliesslich ein. Möglicherweise um zu sehen ob ich bei der Firma Märki gut aufgehoben sei, brachten mich meine Eltern mit dem Auto nach Locarno. Zu meiner grossen Überraschung wurden wir von den Märki’s sehr herzlich begrüsst und sogar zum Mittagessen eingeladen, was meine Eltern natürlich sehr beeindruckte. Die Firma hatte für mich ein schönes Zimmer gemietet und das erleichterte den Anfang am neuen Wohnort sehr. Doch Luciano zeigte sich nie und ich habe komischerweise auch während der ganzen Zeit im Tessin sowie später nie mehr etwas von ihm gehört. Ich musste einsehen, dass er während der Zeit in Bern ausschliesslich von mir profitierte und nun meine Hilfe nicht mehr brauchte. Da ich in naiver Weise geglaubt hatte er sei ein Freund, verletzte mich sein unverständliches Verhalten. Aber schliesslich war diese Erfahrung wohl nötig um mir für die Realität des Lebens die Augen zu öffnen.



(1) Die Baustelle des „Centro Commerciale“ gegenüber dem Bahnhof Locarno

Die Baustelle des „Centro Commerciale“ gegenüber dem Bahnhof Locarno


Sofort wurde ich auf der Baustelle des „Centro Commerciale“ gegenüber dem Bahnhof Locarno eingesetzt. Die unteren Stockwerke waren für Geschäfte vorgesehen, darüber das mehrstöckige Hotel „Muralto“ und auf dem Dach eine Attika-Wohnung des Besitzers des Bekleidungsgeschäftes „Feldpausch“. Es war eine ziemlich monotone Arbeit. Wir installierten die Abwasserleitungen aus Guss-Rohren. Die Fugen mussten mit Stricken abgedichtet und anschliessend mit flüssigem Blei ausgegossen und dann rundum „gestemmt“ werden. Das Gebäude hatte noch keine Fenster und so war der Arbeitsplatz ständig dem Durchzug ausgesetzt. Im Sommer war dies kein Problem, doch als es Winter wurde musste man sich warm anziehen. Mein Vorarbeiter war Deutsch-Schweizer und hiess Moser. Alle anderen Arbeiter kamen aus dem Tessin oder dem Centovalli in Italien. Wir hatten es gut zusammen und ich hatte mich bald an ihr Temperament gewöhnt.

Doch am Feierabend gingen alle nach Hause zu ihren Familien und ich war alleine in meinem gemieteten Zimmer bei der „Schlummer-Mutter“. Über das Wochenende nach Hause zu fahren kam nicht mehr in Frage, denn das Billet war zu teuer und so konnte ich mir diesen Luxus nur ab und zu leisten. Sofort suchte ich Kontakt mit anderen Deutsch-Schweizern und trat der protestantischen Jugendgruppe „Junge Kirche“ (JK) bei. Dort lernte ich sofort gleichaltrige Leute kennen die später sehr gute Freunde wurden. Diese schlugen mir auch vor, anstatt immer nur schnell etwas Kaltes zu verschlingen oder im Restaurant zu essen, mit ihnen in ihrem Jugendheim, dem "Casa Lydia", zu essen. Es handelte sich eigentlich um ein Mädchenheim der Stadtmission, doch der Leiter war schliesslich bereit mich und eine deutsche Zahnärztin als externe Kostgänger aufzunehmen. So radelte ich jeden Tag zu diesem Heim und genoss nicht nur die echt schweizerische Kost, sondern vor allem auch die Gesellschaft meiner JK-Kolleginnen.



(2) Das Jugendheim "Casa Lydia" oberhalb des Zentrums von Locarno

Das Jugendheim "Casa Lydia" oberhalb des Zentrums von Locarno


Wir hatten es immer sehr lustig und lachten wegen jedem Blödsinn am Tisch. Wie es sich für ein religiöses Haus gehörte, betete der Leiter vor und nach dem Essen. Oft kicherten die Mädchen auch während dem Gebet weiter, was den Leiter natürlich irritierte. Als ich einmal bei seinem andächtigen Gebet zu ihm hinüberschaute merkte ich, dass er gar nicht so konzentriert betete wie ich glaubte und uns dabei immer wieder beobachtete. Einmal ging ich mit zwei Kolleginnen nach dem Nachtessen auf ihr Zimmer. Wir hatten etwas zu besprechen, das wir unten am Esstisch nicht mit allen teilen wollten. Ich wusste, dass Männerbesuch in diesem Haus eigentlich verboten war, doch die Mädchen insistierten. Nach einer kurzen Weile riss jemand mit aller Gewalt und ohne anzuklopfen die Türe auf. Erschreckt schauten wir hin und sahen den Leiter des Heimes im Türrahmen stehen. Aus seinem Gesichtsausdruck konnte man sehen, dass er uns bei unsittlichem Treiben überraschen wollte. Da wir aber weit auseinander im Zimmer herumsassen, entstand ein Moment der Verwirrung beiderseits. Als er seinen Misserfolg einsah, befahl er mir das Zimmer sofort zu verlassen. Dieser Vorfall machte mich nachdenklich. Ich fragte mich wieso dieser Mann so reagiert hat und wieso er überhaupt auf solche Hintergedanken gekommen war. Ich hatte so meine Vermutungen, aber die Bestätigung bekam ich erst viel später als ich erfuhr, dass er das Heim wegen Unzucht verlassen musste.

Als die Leiterin der „Jungen Kirche“ aus Locarno wegzog, wurde ich überraschend an ihrer Stelle gewählt. Eigentlich hatte ihr Führungsstil mir nie so richtig zugesagt. Er war zu religiös und die gemeinsamen Abende konzentrierten sich einzig auf das Lesen der Bibel. Mir fehlte der Kontakt zur Realität. Da sich in der Gruppe einige Junge aus schwierigen Familienverhältnissen befanden, entschied ich mich die Abende anders zu gestalten und zusätzliche Aktivitäten zu schaffen. Ich suchte Tätigkeiten die exponierte Junge besser in einer Gruppe integrierten und vor schlechten Einflüssen schützen sollten. So beschlossen wir eine Theateraufführung in der Deutschen Schule aufzuführen. Das Stück hiess „Seilkameraden“ und war irgendwie symbolisch mit meinem Ziel zusammen etwas zu schaffen. Ich versuchte alle Mitglieder irgendwie an diesem Stück zu beteiligen, auch solche die keine Theater-Rolle übernahmen. Aus diesem Grund wurden die Kulissen selbst gebastelt und bemalt. Auch die elektrische Installation wurde von Mitgliedern ausgeführt. Wir hatten ja Maler, Elektriker, etc. in unsere Gruppe. Die Aufführung ende November 1962 wurde ein grosser Erfolg und ich war nachträglich erstaunt wie begeistert die Gruppe war und wie sich alle für das Projekt eingesetzt hatten.

Aber damit war ich noch nicht zufrieden, es musste noch mehr getan werden um den jungen Leute Lebensfreude und Sicherheit zu vermitteln. So organisierte ich an Sonntagen begleitete Ausflüge oder Wanderungen, zum Beispiel nach Indemini, hinauf zur Cardada, nach Brione oder einfach nur zum „Ronco-Stein“. Als es kälter wurde versammelten wir uns an Samstagabenden in der „Casa Olando“ in Losone zu einem Fondue. Das Lokal mussten wir beim Kirchenvorstand immer vorher reservieren. Es gab keine laute Musik dafür Kerzenlicht und tiefe Gespräche. Es wurde bald klar, dass einige der Jugendlichen das Bedürfnis hatten ihre Probleme offen zu diskutieren und dass sie Verständnis sowie Hilfe suchten. Die Zeit verging immer sehr schnell und es wurde oft, ohne es zu merken, ziemlich spät, aber nie zu spät um mit einem öffentlichen Verkehrsmittel nach Hause zu kommen. Leider schienen die Verantwortlichen der Kirche kein Interesse an unseren Diskussionen und dem friedlichen Zusammensein zu haben. Derweil verbreiteten sie bald das Gerücht, dass wir anstatt zu beten im Kerzenlicht schmusen würden und wollten uns deshalb das Lokal nicht weiter zur Verfügung stellen. Das konnte ich nicht akzeptieren und verlangte Beweise für die Beschuldigungen. Nachdem diese nicht geliefert wurden, meldete ich mich bei den Verantwortlichen und bedauerte, dass der unbekannte Überwacher der Kirchgemeinde bei uns keinen Augenschein genommen hatte. Wir hätten es nämlich geschätzt, wenn diese Erwachsenen, religiösen Menschen anstatt unbegründeter Anschuldigungen, unsere Fragen und Sorgen mit uns diskutiert hätten und uns gleichzeitig mit ihren Lebenserfahrungen beigestanden wären. Mit dieser Verteidigung war der Zwist vorderhand aus dem Weg geräumt und wir durften uns weiterhin in diesem Lokal treffen.



(3) Im Deutschschweizer Schulhaus versuchte ich die Pantomime des bekannten Schweizer Clowns Dimitri zu imitieren.

Im Deutschschweizer Schulhaus versuchte ich die Pantomime des bekannten Schweizer Clowns Dimitri zu imitieren.


Aber dann wagte ich nochmals eine Neuheit die von gewissen Leuten der Kirchgemeinde weder akzeptiert noch verstanden wurde. Zuerst organisierte ich im Deutschschweizer Schulhaus einen Fasnachtsabend mit Schnitzelbank und Pantomime. Unsere Jugendgruppe hatte ja das Theater von Dimitri besucht und so versuchte ich den grossen Künstler auf unserer Bühne selbst zu imitieren. Und dann ging ich mit der Gruppe offiziell an die Fasnacht. Für die Kirche war die Fasnacht ja das Fest des Teufels, der Versuchung und der Lust, also war mein Vorgehen ein Skandal. Allerdings hatte ich mir die begleitete Teilnahme an der Fasnacht vorher reiflich überlegt und gerade wegen Bedenken eine solche Entscheidung getroffen. Mir war nämlich bewusst, dass wenn ich den Mitgliedern die Fasnacht verweigerte, sie aus Neugier trotzdem gehen würden und dann eben wo möglich mit üblen Gestalten in Kontakt kommen würden. Genau dies wollte ich auf alle Fälle vermeiden. Am Nachmittag trafen wir uns auf der Piazza und genossen das Risotto-Essen, den farbenfrohen Fasnachts-Umzug, sowie die Konfetti-Schlacht. Alle waren zufrieden und fröhlich, etwas das allen guttat. Als dann später einige noch tanzen wollten, führte ich sie in ein Lokal wo ein Maskenball war. Aber um 23.00 verliessen wir das Lokal und gingen zusammen zurück ins Zentrum. Bei der „Funi-Station“ versicherte ich mich, dass diejenigen aus Orselina die letzte Bahn nicht verpassten und um sicher zu sein, dass alle wirklich nach Hause gingen. Meine Vorkehrungen hatten gewirkt und alle kamen gut nach Hause. Trotzdem musste ich erneut harte Kritik von seitens der Kirche einstecken. Aber ich diesmal nahm ich sie gelassen, denn mit den vielen zufriedenen Mitgliedern fühlte ich mich mit meiner Strategie bestätigt und richtig entschieden zu haben. Um junge Leute auf guten Wegen zu behalten genügen das Lesen der Bibel und das Abschirmen vor Gefahren nicht. Ich wollte mit ihnen zusammen das Leben so erfahren wie es ist; gefährlich und unberechenbar. Mit gemeinsamen Erlebnissen und anschliessenden, tiefen Gesprächen, auch auf religiöser Ebene, wollte ich sie auf das reale Leben ertüchtigen und gleichzeitig ihre persönliche Verantwortung stärken.


(4) Das Risotto-Essen sowie der Fasnachts-Umzug und Konfetti-Schlacht in Locarno.

Das Risotto-Essen sowie der Fasnachts-Umzug und Konfetti-Schlacht in Locarno.


Zwei Mädchen in der Jugendgruppe kamen aus „Chäs u Brot“, einer Siedlung im Berner Quartier Oberbottigen. Sie hiessen Erika und Anna, arbeiteten beim „Jelmoli“ als Verkäuferinnen und hatten ihre kleine Wohnung mit Blick auf die Piazza gleich nebenan. Beide hatten „Schätze“, die Erika einen Tessiner, den Carlo und die Anna einen Berner, den Gerhard. Sie waren immer fröhlich und so hatten wir es oft sehr lustig zusammen. Ein Freund von Carlo, der Antonio, spielte Orgel und so lud er uns einmal zu einem Orgelkonzert ein. Es war Winter und so war dies eine willkommene Abwechslung. Antonio übte normalerweise in einer Kirche im Maggiatal und so fuhr er uns in ein mir unbekanntes Dorf. Er hatte wohl die Schlüssel von der Kirche, fand aber leider den Lichtschalter nicht. Während Erika, Carlo und ich uns auf eine Kirchenbank setzten, suchte sich Antonio in der Dunkelheit den Weg durch das Kirchenschiff und hinauf zur Orgel. Erwartungsvoll sassen wir unten in der leeren, eiskalten Kirche und hörten wie sich Antonio an der Orgel zu schaffen machte. Und plötzlich war es soweit, wunderbare Töne begannen langsam die stockdunkle Kirche zu erfüllen. Die Melodien versetzten mich in eine Phantasiewelt und ich vergass die Kälte und alles andere in der Kirche. Die Orgelmusik eroberte die leere Kirche bis in die letzte Ecke und ihr Klang war ausserordentlich intensiv und eindrücklich. Es war ein magischer Moment den ich seither nie vergass. Seit diesem nächtlichen Erlebnis wurde die Orgelmusik etwas ganz Spezielles für mich und ich besuchte später Orgelkonzerte, wenn immer sich die Gelegenheit bot. Aber so magisch wie in der dunklen Kirche im Maggiatal waren sie nie mehr. Ganz spezielle Momente wie dieses Orgelkonzert waren das Fundament für eine Freundschaft die uns schliesslich das ganze Leben begleite und bis anhin nicht erloschen ist. Ich durfte sogar an der Hochzeit von Erika und Carlo dabei sein. Sie waren das allerschönste Hochzeitspaar der ganzen Welt. Nach der Ausbildung zum Gärtnermeister übernahm Carlo das Geschäft seines Vaters in Ponte Brolla. Anna und Gerhard hingegen hatten die Berufung als Missionare tätig zu sein und so verbrachten sie die grösste Zeit ihres Lebens in Äthiopien.

Ende Herbst erschien einmal ganz unerwartet Herr Märki auf der Baustelle. Während einem kurzen Gespräch fand er, dass ich mit meiner Ausbildung wohl zu anspruchsvollerer Arbeit als nur immer Ableitungen montieren fähig sei. Er schlug mir deshalb vor in seinem technischen Büro zu arbeiten. Sein Angebot war eine riesige Überraschung und begeisterte mich sofort. Mit der Bedingung, dass er mir vorher Zeit gewährt um meine Italienischkenntnisse entsprechend zu verbessern (im Tessin spricht man ja einen Dialekt), sagte ich sofort zu. Da er mit meiner Bedingung einverstanden war, suchte ich eine Sprachschule in Italien. Bald war ich fündig geworden und gestand meinen Eltern mein neuster Entschluss. Doch mein Vater war entsetzt und sofort dagegen. Er sagte der vornehme Herr Märki sehe die ehrbare Arbeit auf dem Bau als minderwertig und setze mir überhebliche Flausen in den Kopf. Damit war eine finanzielle Unterstützung von meinen Eltern bereits ausgeschlossen. Doch ich wusste was ich wollte und liess mich von meinem Ziel nicht abhalten. Schliesslich hatte ich mir ja geschworen mit der Mündigkeit mein Leben selbst in die Hände zu nehmen. Um genügend Geld für die Schule aufzubringen entschied ich mich für Überstunden auf dem Bau, etwas das ich während den kalten Wintermonaten eigentlich gerne vermieden hätte. Doch ich schaffte es, am 30. März nahm ich bei einem Fondue im Ristorante d’Arco Abschied von der Jungen Kirche, sowie von all den lieb gewordenen Freunden, und fuhr mit der Bahn nach Perugia.

 

Università Italiana per Stranieri, Perugia, Italia (1. April – 31. Mai 1963)
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10.4.  Lehr- und Wanderjahre – Università Italiana per Stranieri, Perugia, Italia (1. April – 31. Mai 1963) .


(1) Università Italiana per Stranieri, Perugia

Università Italiana per Stranieri, Perugia

 


(2) Aula per la sezione tedesca, curso medio

Aula per la sezione tedesca, curso medio


Es war eine lange Fahrt nach Perugia und als ich am nächsten Morgen in der Pensione Zangarelli, (Via Brugnoli 1) aufwachte, fühlte ich mich ziemlich verloren. Wie gewohnt stand ich um halb sieben Uhr auf und ging hinunter zum Frühstück. Doch da war kein Mensch und alle schienen noch zu schlafen. Plötzlich erschien eine Frau die mich total verstört fragte ob ich krank sei. Schliesslich wurde mir klar, dass hier die Uhren anders tickten als bei uns und das Frühstück nicht vor acht Uhr auf den Tisch kommt. Gegen neun Uhr waren schliesslich alle da, sieben Studenten aus der Schweiz und drei aus Italien. Sofort verstanden wir uns bestens und hatten es am Mittagstisch immer sehr lustig. Leider hatte sich niemand der Pensionäre für den „Curso medio“ eingeschrieben und so musste ich mich am ersten Tag an der Universität alleine zurechtfinden. Zu meiner Überraschung hatte es da Studenten aus allen Teilen der Welt und jeden Alters, ja sogar solche im Rentenalter. Auf dem Lehrplan entdeckte ich, neben den anderen Lektionen, auch zwei Stunden pro Woche „Storia civile d’Italia“. Da ich in der Schule das Fach „Geschichte“ überhaupt nicht mochte, wollte ich diese Stunden anfangs schwänzen. Doch aus Neugier ging ich trotzdem hin und wurde erst einmal von dem riesigen Andrang von Studenten überrascht. Wenn man nicht mindestens 10 Minuten vorher in der Aula war, fand man keinen Sitzplatz mehr. Der Grund war der Professor, oder besser gesagt seine Art zu unterrichten. Seine Lektionen waren ausserordentlich spannend, denn er präsentierte die Vergangenheit mit so viel Gestik, dass man von seinem Auftritt einfach mitgerissen wurde. Wenn er jemand mit einem Wörterbuch entdeckte, hielt er sofort inne und verlangte es wegzulegen. Er duldete nicht wenn Studenten zum Wörterbuch griffen. Er wollte, dass die Studenten, sich einzig auf seinen Vortrag und sein Gebärdenspiel konzentrierten. Er meinte, dass der Gebrauch des Wörterbuches für ihn der Hinweis war, dass er ein schlechter Professor sei. Ich war so begeistert von seinen Lektionen, dass ich schliesslich keine Lektion verpasste und begann mich intensiver mit der Geschichte zu befassen. Die interessanten Lektionen gaben mir aber auch Gründe um mit den drei italienschen Studenten in der Pension über ihr Land zu diskutieren.


(3) Pensione Zangarelli, Via Brugnoli 1
Pensione Zangarelli, Via Brugnoli 1



(4) Werner, Helen, Hans, Ida, Theres, Paolo, Silvia, ? und Gianni

Werner, Helen, Hans, Ida, Theres, Paolo, Silvia, ? und Gianni


In der Freizeit und an offiziellen Feiertagen unternahmen wir sieben Deutsch-Schweizer alles um möglichst viel vom Lande kennen zu lernen. So mieteten wir über Ostern ein Auto und fuhren zusammen nach Rom wo wir den Vatikan und die anderen Sehenswürdigkeiten besuchten. An Wochenenden ging es nach Assis, Viterbo, Montefiascone, Bolsena und nach Tarquinia um die bekannten Etrusker Nekropolen zu sehen. Als wir durch unsere italienischen Tischnachbarn vernahmen, dass in Gubbio „una Festa die Ceri“ (ein Fest der Kerzen) stattfindet, mussten wir aus Neugier natürlich auch dabei sei. Weiter machten wir Ausflüge an den See von Trasimeno, nach Firenze, Pisa und Siena. Auf diesen Ausflügen hatten wir es immer sehr kurzweilig und genossen die schöne und unbeschwerte Zeit in Italien.

Am 31. Mai war die Schule bereits zu Ende, doch ich hatte keine Lust sofort in die Schweiz zurückzukehren. Ich wollte noch mehr von Italien sehen und hegte den Plan bis nach Sizilien zu reisen. Doch meine einheimischen Tischnachbarn warnten mich und meinten ab Rom würde Italien nicht mehr existieren und ich würde Zustände wie in Afrika vorfinden. Doch sie konnten mich von meinem Vorhaben nicht abhalten. Ein Studien-Kollege, der Costas Paximadas, ein Grieche aus Thessaloniki, entschied sich mit mir zu reisen. Da wir Beide nicht viel Geld hatten, entschieden wir uns per „Auto-Stop“ den südlichen Teil Italiens zu entdecken.

Wir wollten keine Zeit verlieren und so machten wir uns nach den drei Monaten Studium sofort auf den Weg. Zuerst ging es etwas mühsam (mit 9 verschiedenen Autos) via Rom nach Napoli wo wir uns sofort im Hafen nach Palermo einschifften; in der dritten Klasse natürlich. Morgens um 07.30 Uhr kamen wir dort an und suchten uns zuerst eine günstige Unterkunft. Dann besuchten wir die Stadt und badeten sogar im Meer. Das Essen nahmen wir in der Mensa der Universität ein, denn dort war es am billigsten. Am nächsten Morgen wandelte ich noch etwas schlaftrunken zur Toilette. Doch spätestens vor der Türe zur Toilette wurde ich voll wach, denn es kam mir ein bestialischer Gestank entgegen. Als ich die WC-Türe öffnete musste ich feststellen, dass bereits alle anderen Pensionäre des Hauses die Toilette benutzt hatten und die WC-Schüssel daher bis fast an den Rand voll war. Schleunigst zog ich an der Kette des Spülkastens um die Exkremente runterzuspülen und um die Toilette sauber benützen zu können. Doch da hörte ich hysterische Schreie im Hausgang. Es war die Mama der Pension die mich beschimpfte, weil ich mir erlaubte zu spülen. Halb schläfrig hatte ich nicht bemerkt, dass eine Notiz über dem WC verlangte die Spülung wegen Wassermangels nicht zu betätigen. Die Mama schrie noch lange im Hause, aber irgendwie ignorierte ich sie. Mir war eine leere und saubere WC-Schüssel viel wichtiger. Ich hatte ja nicht gewusst, dass Wasser auf Sizilien Mangelware war und konnte anschliessend das Lamentieren der Mama auch verstehen. Ich hatte wertvolles Wasser ganz egoistisch für mich alleine vergeudet. Aber nun wusste ich, dass ich die Toilette nach Benutzung nicht spülen durfte, etwas das ich ganz sicher nicht nochmals ignorieren durfte. Dies war mein erstes Erlebnis auf Sizilien.

An diesem Tag ging die Reise dann weiter nach Agrigento und Caltanisetta, wo wir beim Dorf-Pfarrer Unterschlupf fanden. Am Morgen früh ging es weiter in Richtung Piazza Armerina. Allerdings hatten wir an diesem Morgen wenig Glück und machten einen grossen Teil des Weges bei strahlendem Wetter zu Fuss. Am Ziel angekommen besuchten wir die Villa Imperiale mit den sehr gut erhaltenen Mosaiken. Zum Glück fanden wir hier Leute die uns mit ihrem Auto bis nach Siragusa mitnahmen, wo wir in einem kleinen Hotel übernachteten. Ich hatte schon am Anfang der Reise bemerkt, dass mein Freund Costas, oder von uns auch „Biscotto“ genannt, sehr starken Fuss-Schweiss hatte. An diesem Abend erfüllte der üble Geruch das ganze Hotelzimmer und so bat ich ihn die Füsse und die Socken zu waschen. Als er nicht reagierte nahm ich kurzerhand die Socken, legte sie ins Waschbecken und wusch sie einigermassen geruchlos. Nachher hängte ich sie ans Fenster zum trockenen. Doch ich hatte nicht mir der Feuchtigkeit von Siragusa gerechnet und so waren sie am Morgen noch genau so nass wie am Abend zuvor. „Biscotto“ schätzte mein Waschfieber überhaupt nicht und da er keine Ersatz-Socken bei sich hatte, musste er ohne Socken in die Schuhe schlüpfen.

Am Morgen besuchten wir das römische Amphitheater, das griechische Theater und das „Ohr des Dionisios“, das 60 Meter lang und 23 Meter hoch ist. Die Leute, die uns am Vortag nach Siragusa mitgenommen hatten, luden uns ein sie weiter nach Catania und Taormina zu begleiten. Erfreut nahmen wir die Einladung an, denn so konnten wir unnütze Zeit am Strassenrand vermeiden. In Taormina nahmen wir dann den Bus bis nach Messina wo wir übernachteten. Schon um 05.15 Uhr mussten wir am nächsten Morgen aus dem Bett, denn wir wollten mit dem Zug um 06.10 zurück nach Napoli fahren. In Paestum machten wir einen Halt und besuchten den Tempel Poseidon. In Napoli fanden wir eine günstige Herberge und erinnerten uns erstmals an unsere italienschen Tischgenossen in Perugia. Ein Spaziergang in den Strassen der Altstadt war voll von Überraschungen und wir waren froh anschliessend wieder sicher im Hotel zu sein. Man war ja nie sicher von etwas getroffen zu werden das via ein Fenster entsorgt wurde. Von Napoli machten wir einen Tagesausflug nach Pompeji und besuchten die Überreste der römischen Stadt sowie den aktiven Vulkan von Solfatara. Am nächsten Tag ging es mit dem Schiff auf die Felseninsel Capri, eine Insel die man unbedingt einmal im Leben gesehen haben muss („Vedi Napoli e poi muori“). Am Samstag. 8. Juni, ging es mit der Bahn zurück nach Rom und von dort per „Auto-Stop“ nach Perugia. Wir hatten grosses Glück, denn sofort hielt ein Auto und der Fahrer nahm uns bis nach Perugia mit. Mit vielen schönen Erinnerungen im Gepäck und Wanzen in der Unterwäsche, kehrte ich in die Pension Zangarelli zurück, wo ich noch bis am 26. Juni blieb.


(5) Die bekannten Schkoladen-Küsse aus Perugia

Die bekannten Schkoladen-Küsse aus Perugia

 

 

F.lli Märki, Impianti termici ed idraulici, Muralto-Locarno (01.07.– 27.09.1963) 
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10.5.  Lehr- und Wanderjahre – F.lli Märki, Impianti termici ed idraulici, Muralto-Locarno (01.07.– 27.09.1963) .

Während der Zeit in Italien konnte ich meine Sprachkenntnisse sehr verbessern und fühlte mich daher sicher und bereit im technischen Büro von Märki’s zu arbeiten. Doch bald erhielt ich das Aufgebot für meinen ersten Wiederholungskurs (WK). Vom 10. bis 17. August war ich in Bülach und dann vom 6. bis 21.September in Lyss beim Brieftauben-Dienst. Kaum zurück in Locarno bat mich mein Vater um sofortige Hilfe. Er hatte den Auftrag für die sanitären Installationen im Neubau der Bank Bütschwil in Lachen bekommen und war schliesslich damit überfordert. Pflichtgetreu aber mit riesiger Enttäuschung, Traurigkeit und Frust verliess ich die Firma Märki. Alle meine Anstrengungen in Märki’s Büro zu arbeiten waren plötzlich wertlos und damit eine Illusion geplatzt. Aber auch Herr Märki schien enttäuscht und ich schämte mich ausserordentlich ihn nach all seinen Anstrengungen und nach so kurzer Zeit wieder verlassen zu müssen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mich mein Vater an sich binden wollte und dass er meine angestrebten beruflichen Ambitionen weder tolerieren noch verstehen konnte.

In Lachen beim Vater 28.09.1963 – 15.02.1964
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10.6.  Lehr- und Wanderjahre – In Lachen beim Vater 28.09.1963 – 15.02.1964.

Sofort nach der Ankunft in Lachen half ich meinem Vater und arbeitete auf der Baustelle der neuen Bank Bütschwil. Es war keine komplizierte Installation und wir kamen zügig voran, doch das Projekt war sichtlich eine riesige Herausforderung für meinen Vater. Ich spürte, dass er mit seinen 58 Jahren schon nicht mehr so wie früher belastbar war und versuchte dies auch zu verstehen. Doch gleichzeitig fühlte ich Unmut, weil ich eine berufliche Weiterentwicklung im Tessin verpasst hatte und er dies als normale Pflicht seines Sohnes verstand. Zudem hatte ich Mühe zu begreifen warum er nicht bereit war die Werkstatt etwas zu modernisieren oder wenigstens die Arbeitsplätze angenehmer zu gestalten. Nicht einmal die wenigen Glühbirnen mit ihrem schlechten Licht wollte er mit hellen Neonleuchten ersetzen. Seine Antwort war immer dieselbe: „Wir haben es immer so gemacht und ausser dir hat sich bis anhin niemand daran gestört“. Es blieb also alles beim Alten. Damit war mir klar, dass eine gute und harmonische Zusammenarbeit im Betrieb meines Vaters aussichtslos war und dass ich mir erneut für eine Alternative umsehen musste.

Gleichzeitig träumte ich oft von der glücklichen Zeit in Locarno und Perugia. Die damaligen Freunde und Bekannten waren mir ans Herz gewachsen und so blieb ich weiterhin in Kontakt mit ihnen. Im August erhielt ich von Elisabeth Tschanz eine Einladung für ein Pizza-Weekend in Sumiswald. Zu meiner Überraschung meldeten sich fast alle ex Bewohner der „Pensione Zangarelli“ für das Wochenende vom 12./13. Oktober und so zelebrierten wir als Erstes ein fröhliches Wiedersehen. Dann gab es viel zu erzählen, Fotos anzuschauen, italienische Musik ab Schallplatte zu hören und das feine Essen zu geniessen. Am Abend versuchte ich die ganze Gesellschaft mit einer Pantomime Vorstellung (Dimitri) zu unterhalten. Etwas melancholisch mussten wir uns dann am Sonntagnachtmittag leider wieder trennten um wieder unserer Arbeit nachzugehen.

Ein Freund erzählte mir von einer Alphütte im Wägital, die man im Winter möglicherweise mieten konnte. Da kamen mir gleich die freien Tage übers Neujahr in den Sinn und dass dies eine Möglichkeit wäre um dort, ohne jemand zu stören, Silvester zu feiern. Von dieser Idee waren wir sofort begeistert und begannen den Eigentümer ausfindig zu machen. Nachdem dies gelungen war, entschieden wir uns die Hütte, das „Ahöreli“, zusammen mit dem Besitzer zu besichtigen. Da es damals keine Strasse bis zur Hütte gab, fuhren wir zuerst mit dem Auto bis zur Sattelegg und gingen dann zu Fuss bis zum „Ahöreli“. Dort trafen wir uns mit dem Bauern, inspizierten die Hütte und einigten uns schon nach kurzer Zeit. Er war sehr freundlich und erlaubte uns sie sogar bis zur Ankunft seiner Kühe im Frühling benutzen zu dürfen. Natürlich war die Alphütte nur für den Sommerbetrieb gedacht und deshalb entsprechend einfach eingerichtet. Doch das störte uns nicht und liess uns von unserer Absicht Silvester dort zu verbringen nicht abhalten. Mit dieser positiven Nachricht war der Weg frei Freunde und Bekannte von der Silvester Party zu informieren. Bald hatten sich etwas zehn Personen für den gemeinsamen Silvester gemeldet und kamen dann ende Jahr auf den gleichen Weg von der Sattelegg zu Fuss zur Hütte. Zum Glück hatte es noch fast kein Schnee und so war der Weg problemlos begehbar.


(1) "Ahöreli" im Wäggital

"Ahöreli" im Wäggital

 

(2) "Ahöreli" im Wäggital

"Ahöreli" im Wäggital


Es war eine gemischte Gruppe von Freunden aus Lachen, der Zeit in Cressier und Perugia. Da es keinen Schnee hatte genossen alle erst einmal das schöne Wetter über dem Nebel und die wunderbare Natur. Nach einem fröhlichen Silvesterabend fanden alle irgendeine Beschäftigung im Haushalt. Im Winter gab es kein fliessendes Wasser und so mussten wir uns von draussen Schnee holen und ihn in dem riesigen Kupferkessel in Wasser verwandeln. Erst dann konnten wir uns einen Kaffee kochen. Eigentlich diente dieser Kessel im Sommer für die Käseproduktion und so musste er nun ungewollten „Winterdienst“ leisten. Ausser dem Kessel gab es in der Hütte eine Art offene Küche wo ein Kochherd mit Holzfeuerung stand. Nebenan war eine kleine Stube wo wir uns zum Essen, zum Jassen und faulenzen aufhielten. Obwohl aus dem erhofften Wintersport in diesen vier Tagen nichts geworden war, genossen wir die unbeschwerten Tage und bestiegen zusammen als Alternative bei fast frühlingshaftem Wetter sogar den „Kleinen Aubrig“.

Bereits im Februar war ich wieder im „Ahöreli“, und zwar zur Verlobung von meinen beiden Freunden Margrit und Werner. Unterdessen hatte es geschneit und so konnten wir die Alp nicht mehr von der Sattelegg her erreichen. Wir mussten deshalb den Höhenunterschied von 300 Meter vom Stausee im Vordertal bis zum „Ahöreli“ zu Fuss hinaufkraxeln und dabei unsere ganze Verpflegung mitschleppen. Doch es hatte sich gelohnt, das Wetter war traumhaft schön und die Stimmung perfekt. Aber es war nicht nur Verpflegung, sondern auch eine Flasche Schnaps die ich hinauf geschleppte. Als meine Mutter per Zufall die Flasche in meinem Gepäck entdeckte wurde sie plötzlich sehr aufgebracht. Sie schien überzeugt, dass ich nun Alkoholiker geworden sei oder auf dem besten Weg sei einer zu werden. Zum Glück konnte ich ihr schliesslich versichern, dass wir den Inhalt nur zum Flambieren und Einreiben bei Stauchungen benützen würden.

Für die Verlobung hatte ich mir ein ganz spezielles Ritual ausgedacht. Um zu beweisen, dass das zukünftige Paar bereit war das ganze Leben harmonisch zusammen zu leben und zu arbeiten, mussten sie mit einer grossen Säge einen etwa 40 cm dicken Baumstamm, oder „Trämel“, gemeinsam in zwei Stücke schneiden. Der symbolische Akt war gelungen, aber scheinbar war der Baustamm nicht dick genug gewesen um ein lebenslanges Zusammensein zu garantieren. Das „Ahöreli“ war uns allen sehr ins Herz gewachsen und so nahmen wir den mühsamen Aufstieg zu Fuss bis im Frühling immer wieder in Kauf. Aber eben, auch das gute „Ahöreli“ konnte mich von meinem ständigen Drang mich beruflich zu verändern nicht abhalten. Damals war das Finden einer Anstellung kein Problem. Und so musste ich meinem Vater eines Tages erklären, dass ich meinen Traum als Sanitär-Zeichner zu arbeiten nicht aufgegeben hatte und eine Anstellung in einem Ingenieur Büro in Zürich gefunden hätte. Er war natürlich alles andere als glücklich, doch ich musste diesmal hart bleiben und meinen eigenen Weg gehen.

Benz und Co. AG, Zürich (16.02.– 26.03.1964)
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10.7.  Lehr- und Wanderjahre – Benz und Co. AG, Zürich (16.02.– 26.03.1964).

Anfangs Februar begann ich in diesem Büro, wo mir sofort das Projekt der sanitären Installationen im Neubau einer Grossgarage übergeben wurde. Eigentlich war es ein sehr interessantes Projekt das mich hätte motivieren müssen. Doch die Stimmung im Büro war miserabel und so fühlte ich mich von Anfang an äusserst unwohl. Es war vor allem der mangelnde Kontakt unter den Arbeitskollegen. Immer war es mäuschenstill im Raum, denn niemand sprach während der Arbeit. Am Mittag nahm jeder sein Sandwich aus der Schublade und ass es hastig um nachher sofort wieder weiter zu arbeiten. Allerdings hinderte mich dieses Benehmen nicht ganz alleine auswärts in einem Restaurant das Mittagessen einzunehmen. Doch nach zwei Woche isoliert von den anderen Mitarbeitern zu funktionieren hatte ich bereits genug. Es war mir einfach alles viel zu steif und „bünzlig“ in dieser Firma. Nach dieser erneuten, unbefriedigenden Erfahrung wollte ich nur noch eines: weg aus dieser Firma. Aber zurück nach Hause mit den Problemen im Betrieb und den Spannungen in der Familie wollte ich auch nicht mehr.

Da ich immer wieder von den genossenschaftlichen Siedlungen in Israel, den Kibbuz, gehört hatte, kam ich auf die Idee für einige Zeit dort zu leben und dabei etwas Vernünftiges und Nützliches zu tun. Ich hatte scheinbar schon damals ein gewisser Helfersyndrom. Aber dann kam mir eines Tages ein Prospekt des SCI in die Hände. Man suchte Freiwillige für eine Baustelle in Algerien. Ohne lange und genau zu überlegen auf was ich mich da eigentlich einliess, meldete ich mich sofort an und verliess die Schweiz nachdem ich eine Zusage erhalten hatte. Natürlich war mein Entscheid ein ausserordentlicher Schock für meine Eltern und sie warnten mich in ein Land zu reisen, das eben erst einen Unabhängigkeits-Krieg (zwischen dem französischen Militär und der algerischen Unabhängigkeitbewegung FLN) und einen Bürgerkrieg (zwischen den algerischen Loyalisten und der FLN) hinter sich hatte. Natürlich war ich mir bewusst, dass sie sich Sorgen um mich machten, doch ich liess mich diesmal nicht von meinem Vorhaben abhalten und wollte ihre Warnungen nicht hören.

Service Civil International (SCI), Tlemcen, Algerien 01.04.– 31.08.1964 
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10.8.  Lehr- und Wanderjahre – Service Civil International (SCI), Tlemcen, Algerien 01.04.– 31.08.1964  .

Am 1. April 1964 sass ich im Zug nach Marseille um von dort ganz alleine mit dem Schiff nach Oran zu reisen. Obwohl ich den Sinn und Zweck des Zivildienstes verstand und die Nordafrika-Berichte des SCI gelesen hatte, war mir in diesem Moment eigentlich gar nicht bewusst auf was ich mich eingelassen hatte. Ich war ja schliesslich kein Kriegsdienstverweigerer und wusste deshalb nicht, wie man mich in einer Gruppe von Zivildienstlern aufnehmen würde. Auch wusste ich nichts über Algerien, seine Geschichte und seine Kultur. Aber das schien mir alles unwichtig zu sein. Der Drang von zu Hause wegzugehen war zu stark und so hoffte ich einfach, dass alles gut gehen wird. In Marseille war es regnerisch und schon dunkel als das Schiff Europa verliess. Es war also keine Kreuzfahrt mit Sonne und wunderbarer Aussicht auf das blaue Meer. Im Gegenteil, in der billigsten Klasse war man eingepfercht in grossen Schlafräumen und sah nichts als die weissen Innenwände des Schiffes. Zudem war starker Wellengang und so hatte ich bald mit der Seekrankheit zu kämpfen. Um zu vermeiden, dass meine Habseligkeiten nicht gestohlen wurden, hatte ich sie immer neben mir.


(1) Der absolute Kontrast : verschleierte Frauen vor der Werbung für einen Nachclub!

Der absolute Kontrast : verschleierte Frauen vor der Werbung für einen Nachclub!


Bei der Ankunft im Hafen von Oran war ich erst einmal überrumpelt von dem emsigen Treiben. Es schien mir komisch, dass die Männer in einer Art weissen, langen Nachthemden, der Djellaba, und weissem Turban herumrannten, während die Frauen, auch in weiss gekleidet, aber den Kopf mit einem weissen Tuch bedeckt hatten. Sie versteckten sogar ihr Gesicht darunter und zogen die beiden Seiten des Tuches wie ein Vorhang so zusammen, sodass sich eine kleine, dreieckige Öffnung vor einem einzigen Auge bildete. Aus diesem Dreieck wurde ich, der Weisse aus Europa, diskret beobachtet. Sobald ich zu ihnen hinschaute, wurde auch diese Öffnung geschlossen. Dieser erste Eindruck war für mich etwas beklemmend und unheimlich. Zum Glück wusste ich damals nicht, dass ich mich in der Stadt befand wo am Unabhängigkeitstag, am 5. Juli 1962, also vor nur zwei Jahren, eine wütende Menge von Einheimischen ein von Europäern (Pieds-Noir) bewohntes Quartier stürmte und allen Bewohnern die Kehle durchgeschnitten hatte. Man sagt, dass das Massaker damals zwischen 1'500 und 3'500 Tote forderte, aber genaue Zahlen gab es nie. Doch die jüngste Vergangenheit interessierte mich nicht. Auch in Oran war das Wetter nicht besser als auf dem Meer. Anstatt unter gleissender, nordafrikanischer Sonne suchte ich im strömenden Regen den Autobus der mich nach Tlemcen bringen sollte. Die Männer waren erstaunlich hilfreich und begleiteten mich bis an den Ort, von wo die Busse wegfuhren. Nach all den ersten Eindrücken fühlte ich mich auf der Fahrt nach Tlemcen aber doch langsam verloren und kleinmütig. Aus diesem Grund nahm ich nach der Ankunft in Tlemcen ein Taxi, das mich zum Hauptbüro des SCI brachte. Die Empfangs-Formalitäten waren schnell erledigt und sofort wurde ich in einen Landrover verfrachtet, der mich ins „Fort“ brachte, wo die Freiwilligen untergebracht waren.


a) Das „Fort“, die Unterkunft der Freiwilligen

Das „Fort“ befand sich auf einer Anhöhe nahe der marokkanischen Grenze und etwa 47 km von Tlemcen entfernt. Da man von hier einen freien Ausblick über das ganze Tal hatte, war es strategisch gut gelegen und wurde deshalb früher von der Armee sowie der französischen Fremdenlegion benutzt. Vor ihrem Abzug wurde viel demoliert und der Rest in einem miesen Zustand hinterlassen. Sämtliche Fenster und Türen wurden verbrannt, die elektrische Installation und die Wasserversorgung zerstört und die Wellblechdächer wahrscheinlich mit Maschinengewehren total durchlöchert. Das „Fort“, was auf Deutsch Festung heisst, war deshalb eher eine Ansammlung von verlotterten Behausungen, welche die Freiwilligen des SCI inzwischen nach und nach notdürftig reparierten.


(2) Das Fort, unsere Unterkunft auf dem Hügel, früher von der französischen Fremdenlegion benutzt

Das Fort, unsere Unterkunft auf dem Hügel, früher von der französischen Fremdenlegion benutzt


Es gab wohl elektrischen Strom, aber kein fliessendes Wasser auf dem „Fort“ und so musste man fast alle paar Tage mit dem Lastwagen hinunter zum Bach fahren, um dort mit einer Pumpe Wasser in die mitgebrachten Fässer zu pumpen. Zurück auf dem „Fort“ wurde das Wasser dann von diesen Fässern in einen grösseren Wassertank an der Aussenwand der Küche geleitet. An diesem Tank befand sich ein Wasserhahn an dem sich alle Bewohner mit dem kostbaren Nass bedienten. Es war auch die Stelle, wo die Köchinnen das nötige Wasser für die Mahlzeiten holten, wo man sich die Hände wusch, die Zähne putzte, etc. Da das Wasser aus dem Bach kam, war es empfohlen, nur abgekochtes oder mit Chlor behandeltes Wasser zu trinken. Natürlich gab es auch keine Waschmaschinen, und so kam jede Woche eine Frau aus dem Dorf, um für ein kleines Entgelt unsere Wäsche zu waschen. Mit vollem Vertrauen übergab ich ihr meine Wäsche. Doch nur schon nach wenigen Malen hatten die Elastikbänder meiner Unterhosen ihre Kraft verloren. Um die Unterhosen nicht ständig hochziehen zu müssen, kürzte ich die Elastik-Bänder fast jede Woche erneut. Als ich nach der Ursache suchte, fand ich heraus, dass die gute Frau die Wäsche mit Javelwasser reinigte. Das Produkt ist zwar sicher wirksam für die Desinfektion bei Viren, Bakterien und Pilzen, doch für meine Wäsche war es sichtlich ungeeignet. Obwohl ich vom Waschen keine Ahnung hatte, entschloss ich mich selbst zu waschen. Ich begann mit meinem heiss geliebten, grünen Pullover, der so schmutzig war, dass ich mich schämte ihn zu tragen. In der Küche suchte ich mir deshalb ein geeignetes Gefäss und fand eine grosse Frittierpfanne. Ich füllte die Pfanne mit Wasser, schüttete das Waschpulver dazu und tauchte dann meinen Pullover in das Seifenwasser. Anschliessend entfachte ich eine der Flammen am Gasherd und liess das Wasser warm werden. Natürlich war es mir zu langweilig neben der Pfanne zu warten und so machte ich unterdessen etwas anderes. Als ich zurückkam war das Wasser heiss und der Pullover auf der Seite des Pfannenbodens braun geworden. Mein schöner Woll-Pullover war angebrannt! Aber mein Jammern nützte nichts, denn ich hatte keinen anderen Pullover und musste ihn deshalb trotz seinem Schönheitsfehler weiterhin anziehen. Heute wäre er sicher eine ideale Kombination mit zerrissenen und verfärbten Jeans, ja vielleicht sogar eine Inspiration für Modeschaffende!

Es gab nur drei Toiletten, die aber eher so etwas wie Latrinen waren. Die Fäkalien fielen nicht in ein tiefes Loch, sondern in jedem WC in einem Behälter der eine antiseptische Lösung enthielt. Diese Behälter mussten von Zeit zu Zeit geleert und gereinigt werden. Dabei musste man die Behälter zu zweit ziemlich weit über unwegsamem Gebiet tragen und den Inhalt dann in ein bestehendes Loch zwischen Felsbrocken leeren. Wer kein gutes Schuhwerk hatte oder nicht gut zu Fuss war, riskierte ein Missgeschick, das nicht sehr angenehm sein konnte. Ausserdem fragte ich mich wo die Jauche anschliessend eigentlich hin floss und wo sie später wieder an die Oberfläche kam.


(3) Der Hauptplatz des Fort mit der Küche und dem Aufenthaltsraum hinten in der Mitte.

Der Hauptplatz des Fort mit der Küche und dem Aufenthaltsraum hinten in der Mitte.


Das „Fort“ war eingezäunt und die Behausungen parallel angeordnet, wobei sich dazwischen eine Art Garten befand. Sie waren alle sehr notdürftig eingerichtet und man schlief nicht in richtigen Betten, sondern in Schlafsäcken auf Feldbetten oder einfach auf einer Pritsche. Die Küche und der Aufenthaltsraum befanden sich am unteren Ende dieser Unterkünfte. Auch sie waren nur mit dem Wichtigsten eingerichtet und wenn es regnete, wurde man sich der vielen Löcher in den Wellblechdächern bewusst. Man versuchte jeweils mit Unterstellen von Eimern das Problem zu reduzieren. Etwas unterhalb dieses Gebäudes befand sich eine Dusche, die aber nur selten und nur an Wochenenden benutzt wurde. Sie war freistehend und sah aus wie eine Toilette. Auf ihrem Dach war ein 200-Liter Fass, das vor einer Dusche jeweils erst mittels eines Kunststoffschlauchs mit Wasser aus dem grossen Tank gefüllt werden musste. Von diesem Fass ging eine Leitung in die Dusche. Es wurde immer kalt geduscht, etwas das im Sommer kein Problem war, aber bei tiefen Temperaturen einigen Mut brauchte.


b) Die Umgebung.

Die Umgebung war unwirtlich und wurde vor allem von den vielen grossen, ja riesigen Felsbrocken, sowie den nahe gelegenen Bergen von bis zu 1500 Meter Höhe geprägt. Im Frühling, nach meiner Ankunft, waren die Gipfel morgens oft weiss „gezuckert“, denn es wurde immer sehr kalt in der Nacht. In der ganzen Umgebung wurden während der Kriege Tretmienen verlegt. Also verliess man weder die asphaltierte Strasse noch die Maultierpfade und riskierte auch keine gefährlichen Spaziergänge in der unberührten, wilden, aber schönen Natur. Nur der Himmel schien uns sicher und so genossen wir ihn besonders nachts. Ohne Dörfer oder Städte in der Nähe gab es keine künstliche Aufhellung des Nachthimmels oder moderner ausgedrückt: Lichtverschmutzung. Jeden Abend, aber speziell bei Leermond, war der Himmel ein unfassbares Spektakel. Millionen von Sternen schienen unaufhörlich über uns vorbeizuziehen. Oft legte ich mich auf den noch warmen Boden, um den Himmel zu beobachten und über das überwältigende Schauspiel zu staunen und zu träumen. Ich habe später nie mehr einen so schönen Himmel mit so vielen Sternen gesehen.


(4) Das kleine Dorf Khemis

Das kleine Dorf Khemis


In ein paar Kilometer Entfernung befand sich das kleine Dorf Khemis. Man konnte es gut und sicher zu Fuss erreichen. Die Dorfbewohner waren freundlich, aber auch zurückhaltend. Überall sah man Frauen bei der Arbeit. Sie beherrschten das Flechten von Körben und flachen, farbigen Tellern. Auf ihren einfachen Webstühlen fertigten sie wunderbare Decken und Sisal-Teppiche mit farbenfrohen Mustern. Die Männer hielten in kleinen Buden Zigaretten, Datteln und andere Kleinigkeiten feil. Obwohl man hier auch Salz, Zucker, Mehl und andere wichtige Lebensmittel fand, mussten wir für grössere Einkäufe nach Tlemcen fahren. Bei meinem ersten Besuch des Dorfes war ich sehr betroffen, ja sogar bestürzt über die Armut der Leute, ganz besonders aber beim Anblick der zerlumpten Kinder mit den schmutzigen Gesichtern. Trotz meines sehr mageren Geldbeutels kaufte ich kurz entschlossen eine Tüte Datteln und wollte diese den Kindern, so wie in der Schweiz, „ehr und redlich“ verteilen. Doch ich war naiv und hatte nicht mit der Reaktion hungernder Kinder gerechnet. Kaum hatte ich die Tüte mit den Datteln in den Händen und wollte mit der redlichen Verteilung beginnen, da wurde sie mir aus der Hand gerissen. Sofort balgte sich ein Schwarm kreischender Kinder vor mir auf dem staubigen Boden und jedes Kind versuchte eine Dattel zu erhaschen. Das Ganze dauerte nur Sekunden und ich blieb anschliessend wie versteinert noch eine Weile am gleichen Ort stehen. Es war das erste und letzte Mal, dass ich ein liebevoller Europäer sein wollte. Ich wurde mir bewusst, dass ich tatsächlich weder über das Land, seine Kultur, noch seine Religion etwas wusste. Es war höchste Zeit sich besser über Land und Leute zu informieren.



(5) Auf dem Sonntagssparziergang zum nahegelegenen Dorf Khemis

Auf dem Sonntagssparziergang zum nahegelegenen Dorf Khemis



Hinter dem Dorf erhob sich steil ein Berg von wo man eine wunderbare Aussicht auf das Dorf und das Tal hatte. Auf dem Gipfel befand sich die Grabstätte eines islamischen Heiligen, bzw. eines „Marabout’s“, denn im Islam gibt es ja keine Heiligen im christlichen Sinne. Er ruhte unter einem sehr alten Baum, umzäunt von einer kleinen, mit Kalk geweissten Mauer. Marabout’s waren oft auch Mystiker und so glaubte man, dass das Berühren seines Grabes Segen bringen würde. Nach altem Brauch umrundeten die Besucher das Heiligengrab drei Mal und baten dabei meistens um Heilung bei Krankheit oder auch Beendung von Fehden zwischen Familien. Manchmal wurden auch Opfergaben zurückgelassen und immer waren Leinen über seinem Grab gespannt, an denen farbige Tücher oder Teile von Kleidern hingen. Anfangs hatten wir keine Ahnung was der Grund für die im Winde flatternde Wäsche war. Erst später erfuhren wir, dass wenn man diese Textilien über dem Grab des Heiligen mit seiner Segenskraft vollsaugen liess, man seinen Segen nachher mit nach Hause nehmen konnte. Nachdem wir dies wussten, begegneten wir dieser Grabstätte bei Ausflügen auf den Berg mit viel mehr Respekt. Im Vergleich zu Grabstätten anderer „Marabout’s“ war diese eigentlich sehr bescheiden, denn oft wurde über das Grab noch eine Art Kuppel gebaut die dann das Grab zu einem weit sichtbaren Mausoleum machte.


(6) Die Grabstätte eines islamischen Heiligen, bzw. eines "Marabouts"

Die Grabstätte eines islamischen Heiligen, bzw. eines "Marabouts"


Weiter unten im Tal gab es grosse Felder, wo früher wohl Getreide und Mais angepflanzt wurden. Der Boden in der niederschlagsarmen Gegend war mager und felsig. Zudem hatte es auf diesen Feldern ausserordentlich viele Steine in allen Grössen, die eine effiziente Bepflanzung schwierig machten. Obwohl eine grosse Maschine an Ort bereitstand, um die Steine maschinell zu sammeln und zu entfernen, wurde sie nicht benutzt. Wahrscheinlich war sie ein Geschenk einer Hilfsorganisation gewesen, die es unterlassen hatte die Einheimischen für dessen Gebrauch zu schulen. Während der sechs Jahre Krieg war es unmöglich gewesen, die Felder normal zu nutzen. In dieser Zeit wurde die algerische Landbevölkerung abwechslungsweise entweder von der algerischen FLN oder von den französischen Truppen unter Druck gesetzt und musste so ihre letzte Habe dem Krieg opfern. Die Folge war Mangel an Getreide, der aber meistens mit Lieferungen der USAID überbrückt worden war. Nach dem Krieg wurden die Lieferungen von Getreide eingestellt und stattdessen einmalig Saatgut geliefert. Doch mangels klarer Kommunikation wurde das Saatgut von der Bevölkerung bedauerlicherweise als normales Getreide verzehrt und die Felder als Folge nicht angepflanzt. Als dann im kommenden Frühling die Lieferung von Getreide aus den USA ausblieb, gab es einen riesigen Aufschrei und die USAID wurde beschuldigt, die armen Bauern verhungern zu lassen. Ein solcher Fall war und ist noch immer ein klassischer Fall von ineffizienter und unkoordinierter Hilfeleistung in Entwicklungsländern.

 
c) Das Projekt


(7) Meine erste Begegnung mit dem Resultat eines sinnlosen Krieges.

Meine erste Begegnung mit dem Resultat eines sinnlosen Krieges.


Etwas unterhalb der Anhöhe hatten sich 37 von den ehemals 150 Familien niedergelassen, die während des Bürgerkrieges ihre Häuser verloren hatten und nun in Zelten oder Strohhütten hausten. Um sich nachts vor den wilden Tieren wie Schakale und Wildschweine zu schützen, waren diese Behausungen mit viel stachligem Gestrüpp überdeckt. Es war meine erste Begegnung mit dem Resultat eines sinnlosen Krieges. Der Anblick der Ansammlung von Strohhütten und der verarmten Leute machte mich fassungslos. Aber es gab mir gleichzeitig auch die Bestätigung, dass mein Entschluss richtig war, nach Algerien zu reisen und mit meinem Einsatz diesen Leuten eine menschenwürdige Bleibe zu verschaffen. Das Dorf der vertriebenen Leute, das früher Beni Hamou hiess, befand sich nicht weit von der improvisierten Siedlung entfernt, war aber bis zu 80% zerstört. Anfänglich war es für mich unerklärlich, wieso man dieses Dorf nicht wiederaufbaute und stellte diese Frage den verantwortlichen des SCI. Man sagte mir, dass es der Wille der algerischen Behörden gewesen sei, ein neues Dorf zu erstellen und dass der Kommandant der Armee jener Region vorgeschlagen hatte, dass sich SCI dem Bau des neuen Dorfes El Fas annehmen soll. Betroffene Dorfbewohner sagten mir allerdings später, dass der eigentliche Grund für ein neues Dorf ihr eigner Wille war. Sie wollten nicht zurück an einen Ort, wo es viele Tote gegeben hatte und deren Geist immer noch in den Ruinen weiterlebten. Die Toten durften nicht gestört werden.


(8) Das zerstörte Dorf El Fas in das niemand zurückkehren wollte.

Das zerstörte Dorf El Fas in das niemand zurückkehren wollte.


Anfangs waren die Leute im Zeltdorf sehr misstrauisch und der Kontakt schwierig. Nach 6 Jahren Krieg hatten sie kaum mehr Hoffnung auf Hilfe und so konnte man ihre Reaktionen nur zu gut verstehen. Doch als der Bau Wirklichkeit wurde, änderte sich die Situation, denn die Dorfbewohner wurden im Projekt integriert und das verbesserte den Kontakt merklich. Da es um ihr eigenes Dorf ging, verlangte der SCI, dass die Bewohner ihre Häuser gemeinsam mit den Freiwilligen erstellten. Abwechslungsweise arbeiteten deshalb jeden Tag ein paar Männer mit uns auf dem Bau. Doch ihre Arbeitsmoral liess meistens sehr zu wünschen übrig. Sie waren nicht gewohnt, so verlässlich wie wir zu arbeiten. Um sie zu motivieren und den Kontakt weiter zu fördern, teilten wir jeden Tag das Mittagessen mit ihnen auf dem „Fort“. Dies erlaubte uns gleichzeitig in fast kollegialer Atmosphäre etwas Arabisch zu lernen. Dabei fiel besonders ein junger, fröhlicher und immer hilfsbereiter Bursche auf. Er sprach etwas französisch und hiess Milou. Er fehlte nie auf der Baustelle und wusste auch immer zu vermitteln, wenn es Probleme mit den Einheimischen gab. Da er sich sehr für das Projekt einsetzte, entschied sich der Leiter, Milou als Vorarbeiter zu ernennen. Dies verursachte aber sofort Eifersucht unter den Einheimischen, doch als er sein Können bewies, wurde er auch von ihnen in seiner neuen Rolle akzeptiert. Milou teilte dann auch öfters seine Freizeit mit uns auf dem „Fort“ und begleitete uns Freiwillige auch auf unseren Spaziergängen.

Als das Projekt von den lokalen Behörden bewilligt war, begann der SCI sofort europaweit Freiwillige für die Aufbauarbeiten zu suchen. Leider machte man dabei den grossen Fehler alle Freiwilligen, die sich für einen Einsatz verpflichten wollten, ohne Interview oder Eignungstest anzunehmen. Dies führte dazu, dass ein grosser Teil dieser jungen Leute den psychischen Belastungen gar nicht gewachsen war und zudem keine Fachkenntnisse mitbrachten. Am schwierigsten war es für die Lehrer und Akademiker unter den Freiwilligen, denn die meisten waren manuelle Arbeit gar nicht gewohnt. Nur gute Absichten um zu helfen, genügten eben bei der harten Arbeit in einem Entwicklungsland meist nicht. So ereigneten sich nach etwa drei Wochen meistens moralische und gesundheitliche Zusammenbrüche von Freiwilligen. Man nannte dieses Phänomen auch „Kulturschock“. All die unzähligen und ungewohnten Eindrücke und Erlebnisse mental zu verarbeiten war nicht einfach und so traten auch bei mir Störungen auf. Immer wieder hatte ich hohes Fieber und konnte keine Nahrung zu mir nehmen, was mich natürlich sehr schwächte. Leider gab es zu dieser Zeit niemand auf dem „Fort“ der mir und weiteren Erkrankten hätte helfen können. Eines Tages kam unerwartet „Faith“ in meine Behausung. Sie arbeitete in der Küche und hatte gehört, dass es mir nicht gut ging. Sofort benachrichtigte sie Mary, die mich mit dem Landrover nach Tlemcen in eine Klinik brachte. Dort wurde eine Blutprobe genommen und auf Typhus geprüft. Nachdem sich das Resultat negativ erwies begann man zu vermuten, dass ich nicht wirklich krank war, sondern einfach an einem Kulturschock litt. So fanden meine Kollegen, dass ich erst einmal ein paar Tage Abwechslung „in der Zivilisation“, das hiess im Hauptsitz in Tlemcen unten in der Ebene, brauchte. Es war unglaublich, wie schnell ich mich in diesem „normalen“ Umfeld erholte und wieder zu Kräften kam. Zurück auf dem Fort nahm ich mir vor, öfters über das Wochenende einen Ausflug zu machen, um der damaligen miesen Stimmung auf dem „Fort“ zu entfliehen.


(9) Die Baustelle für das neue Dorf El Fas mit den Bergen im Hintergrund

Die Baustelle für das neue Dorf El Fas mit den Bergen im Hintergrund


Das Problem mit den unqualifizierten Freiwilligen hatte auch einen negativen Einfluss auf den Bau der vorgesehenen 37 Häuser. Durch die vielen Fehler wurde die Bauzeit ausserordentlich in die Länge gezogen. Obwohl es das Ziel gewesen war, nach lokaler Bauart zu bauen, sahen die aus Beton gegossenen Häuser schliesslich aus wie hässliche Bunker. Dabei wurden zum Beispiel die Aussparungen für die Befestigungen der Türen vergessen. Es war auch ein Wasser-Reservoir geplant, das mit Quellwasser gespeist werden sollte. Die Dorfbewohner konnten dann den täglichen Bedarf an Wasser direkt beim Reservoir abholen. Aus diesem Grund brauchte es keine Wasserleitungen in den Häusern und mein berufliches Wissen deshalb nicht erforderlich. Dafür durfte ich die vielen nötigen Löcher für die Montage der Türen von Hand spitzen, eine Arbeit die auch ein unqualifizierter Freiwilliger oder Männer aus dem Dorf hätten machen können. Den Bauingenieur, ein Engländer, schien diese absurde Situation nicht zu stören. Erst als er durch einen jungen Ingenieur aus Schweden ersetzt wurde, gab es eine Änderung. Als dieser erfuhr, dass ich auch Bauspengler war, durfte ich die Flachdächer mit Asphalt abdichten; eine Arbeit die mir leider auch nicht viel mehr Spass machte. Bedauerlicherweise war der Bau zu diesem Zeitpunkt aber schon zu weit fortgeschritten, um elementare Änderungen zu machen oder Verbesserungen anzubringen.


(10) Ein Haus neben der Baustelle, gebaut nach traditioneller Bauweise, also ohne Zement und Beton, sowie ohne externe Hilfe.

Ein Haus neben der Baustelle, gebaut nach traditioneller Bauweise, also ohne Zement und Beton, sowie ohne externe Hilfe.


Während wir „Experten“ aus Europa mit der Arbeit nur langsam vorankamen, beobachtete ich am Dorfrand einen jungen Dorfbewohner der sein Haus nach traditioneller Bauweise mit Lehm und herumliegenden Steinen selbst erstellte. Während in unserem Projekt nach fast zwei Jahren Bauzeit noch niemand ein Haus beziehen konnte, zog er schon nach wenigen Wochen in sein neues Heim. Dies war für mich der klägliche Beweis, dass das Projekt des SCI wohl gut gemeint war, aber zu stark nach europäischen Prinzipien geplant und mit viel zu viel idealistischen Ideen ausgeführt wurde.


(11) Dieser Zementblock wurde von Gilbert und Tony am 26.06.1964 eingefügt.

Dieser Zementblock wurde von Gilbert und Tony am 26.06.1964 eingefügt.


Auf der Baustelle gab es keine Toiletten, denn für die Einheimischen war es normal, sich jeden Tag irgendwo in der Natur einen Platz hinter Dornenbüschen zu suchen, um „seine Sache“ zu erledigen. Anfangs war dies für mich sehr ungewohnt und ich fühlte mich, ohne von vier Wänden umgeben zu sein, in der freien Natur irgendwie schutzlos. Auch fand ich es eine Sauerei, wenn sich jeder wahllos in der Umgebung erleichterte. Doch bald musste ich meine Meinung ändern. Da ich gut schweizerisch immer am gleichen Ort meinen Darm entleerte, entstand an diesem Ort eine Deponie von WC-Papier. Der Rest war aber auf mysteriöse Art immer verschwunden und die Stelle immer sauber und geruchlos. Eines Tages musste ich am gleichen Morgen nochmals zurück zu „meinem WC“ und musste feststellen, dass sich riesige Käfer an meinem Kot genüsslich machten. Scheinbar hatte ich ihnen vorhin ein Festmahl serviert. Damit war das Rätsel gelöst und ich wusste auch, warum ich selten in der Umgebung des Projektes auf übelriechende Rückstände von Einheimischen traf. Da sie kein WC-Papier brauchten, waren wir europäisch-stämmigen Freiwilligen somit die Einzigen, die ihr Land verschmutzten. Ihre Methode war diskussionslos 100% biologisch abbaubar und deshalb nicht zu verurteilen. Als Sanitär Installateur beschäftigte mich diese Einsicht aber trotzdem noch lange, denn als Menschen aus den hochentwickelten Staaten waren wir überzeugt, dass die Wasser-Spülung die einzig richtige Methode für die Eliminierung menschlicher Exkremente sei. Dabei wird total ignoriert, dass damit jeden Tag Unmengen von sauberem, aufbereitetem Trinkwasser verschmutzt wird und nachher als Abwasser erneut behandelt werden muss. Ein solch komplexes System ist sehr teuer und für viele Länder oft unerschwinglich. Natürlich funktioniert ihr natürliches System in grossen Agglomerationen oder Städten nicht mehr, doch die Erkenntnis wenigstens vernünftiger und sparsamer mit unserem Wasser umzugehen, ist mir geblieben. Auch bleibt mir die Hoffnung, dass eines Tages jemand ein System erfindet, dass auch für Städte ein 100% biologischer Abbau der Fäkalien erlaubt.


(12) Entlang der Grenze zu Marokko, ein Gebiet mit vielen Tretmienen.

Entlang der Grenze zu Marokko, ein Gebiet mit vielen Tretmienen.



(13) In einem Bachbett im Niemandsland, wo wir Sand und Steine für den Bau holten.

In einem Bachbett im Niemandsland, wo wir Sand und Steine für den Bau holten.


Die Beschaffung von Baumaterial war sehr schwierig. So musste zum Beispiel der benötigte Sand drei Mal pro Tag mit dem Lastwagen aus einem 20 Kilometer weit entfernten Bachbett geholt werden. Der Bach befand sich in einem Niemandsland, das heisst einem Gebiet, wo sich Marokko und Algerien seit Oktober 1963 wegen dem korrekten Grenzverlauf uneins waren. Die Streitigkeiten waren der Auslöser für  den algerisch-marokkanischen Grenzkrieg. In dieser Gegend hatte es deshalb noch überall Tretminen. Eines Tages verlor der Fahrer, der Günter aus Österreich, die Kontrolle über den Lastwagen und kam von der Strasse ab. Einer der Freiwilligen, der Ruedi aus der Schweiz, der sich auf der Brücke des Lastwagens befand, wurde dabei auf das Feld hinausgeschleudert. Da er bewusstlos am Boden lag, musste man ihn zurück zum Lastwagen transportieren. Wohl bewusst der Gefahr der vorhandenen Tretminen, machte sich der hünengrosse Österreicher auf den Weg. Ganz vorsichtig bewegte er sich vorwärts und konnte den Bewusstlosen schliesslich aufheben und ihn auf seinen Armen zurücktragen. Doch auf dem Rückweg explodierte plötzlich eine Mine, die er nicht gesehen hatte. Nun lagen zwei Verletzte am Boden. Dem Österreicher hatte es ein Bein abgerissen und der Schweizer war voll gespickt mit Minensplittern. Weitere Freiwillige und Männer aus dem Dorf, die auf dem Lastwagen waren, holten die Verletzten aus dem verminten Feld und brachten sie aufs „Fort“, von wo aus sie ins Krankenhaus nach Tlemcen gebracht wurden. Es war ein furchtbarer Schock für uns alle.


d) Das Leben auf dem “Fort“

Mein erster Eindruck vom “Fort“ war nicht berauschend. Bald musste ich feststellen, dass das ganze Projekt von Engländern geführt wurde und man das „Fort“ deshalb auch „Camp“ nannte. Der Verantwortliche, der Bauführer, die Köchinnen und Krankenschwestern, alle waren Engländer. So auch Matthew, der scheinbar krank war und seinen Bretterverschlag an der Aussenwand der Küche während meines ganzen Aufenthaltes nie verliess. Man brachte ihm das Essen und er wurde von seinen Landsgenossen sehr umsorgt, aber niemand konnte je erfahren, was ihm eigentlich fehlte. Und so lebten halt die Engländer isoliert von den restlichen Bewohnern auf dem „Fort“. Neuankömmlingen so wie ich, die nicht aus dem UK kamen, wurden vom Verantwortlichen des Camps ignoriert und nicht einmal begrüsst. Die Begründung war, dass wir für sie „green horns“ seien und erst beweisen müssten, dass wir unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt arbeiten und leben könnten! Natürlich waren wir „green horns“, naiv und total unerfahren, aber das war ja kein Grund, um uns bei unseren Anfangsschwierigkeiten nicht beizustehen. Manchmal hatte ich das Gefühl in einer englischen Kolonie oder einem Protektorat angekommen zu sein. Die Stimmung auf dem „Fort“ und auch bei der Arbeit war deshalb anfangs sehr deprimierend, ja unerträglich, was schliesslich Auswirkungen auch auf meine Gesundheit hatte. Allerdings hatte ich manchmal das Gefühl, dass die beiden gutmütigen Köchinnen mit der „englischen Führung“ nicht einverstanden waren, denn sie waren die Einzigen, die immer sehr nett und zuvorkommend mit uns Neuen und auch zu den Einheimischen waren. So erlaubten sie den Kindern des Flüchtlingsdorfes jeden Morgen aufs „Fort“ zu kommen, wo sie mit warmer Milch und einem Biskuit versorgt wurden. Es war immer sehr erfrischend die fröhlichen und lebensfrohen Kinder zu erleben; sorgenfreie Nachkommen mittelloser Eltern, die sich gar nicht bewusst waren, in welcher Armut sie aufwuchsen.


(14) Kinder vom Nachbardorf die auf eine Tasse Milch und ein Biskuit warten

Kinder vom Nachbardorf die auf eine Tasse Milch und ein Biskuit warten



(15) Anne im Aufenthaltsraum beim Ausschenken von Milch an die Kinder des Dorfes Khemis.

Anne im Aufenthaltsraum beim Ausschenken von Milch an die Kinder des Dorfes Khemis.


Die Gutmütigkeit unserer Köchinnen änderte allerdings nichts an ihren kulinarischen Künsten in der Küche, die ausgesprochen „British“ geprägt war. Ob man es liebte oder nicht, es gab jeden Morgen zum Frühstück Porridge (Haferbrei), Toastbrot, Margarine, Marmelade und Kaffee. Gegessen wurde wie im Militär aus verbeulten Tellern und getrunken aus verbeulten Tassen, beide aus Aluminium. Das Mittagessen war einfach, aber monoton und oft ungenügend, um unsere hungrigen Mägen zu sättigen. Am Abend gab es oft nur ein paar Sardinen aus der Büchse und dazu ein Stück Brot. Da es ein grosses Angebot an guten und günstigen Nahrungsmitteln in Algerien gab, schlug ich den Köchinnen vor, zur Abwechslung einmal einen Früchtekuchen zu backen. Zu meiner Überraschung wurde mein Vorschlag positiv aufgenommen. Schon nach ein paar Tagen wurde der Ofen angeheizt und ich freute mich auf eine feine Aprikosenwähe. Doch als ich sah, dass der Teig mit Aprikosensteinen belegt wurde und ohne Früchte gebacken wurde, wurde mir bewusst, dass das Resultat wohl nicht meinen Erwartungen entsprechen konnte. Als der Kuchenboden gebacken war, öffnete die Köchin eine Dose Aprikosen-Konfitüre und verteilten den Inhalt darauf. Es war eine ungewöhnliche Wähe, wobei das Essen viel Geschick erforderte. Kaum hatte man ein Stück abgeschnitten lief die Konfitüre nach allen Seiten und tropfte auf den Tisch. Eine der Köchinnen schien zudem eine Künstlerin zu sein, denn sie konnte gleichzeitig kochen, lesen und rauchen. Sie kreierte sehr innovative Gerichte, so zu Beispiel Zitronensuppe, Orangensuppe and dergleichen! Als eine Glarnerin, wir nannten sie das „Müggli“, zu unserer Gruppe stiess, hatte ich bald eine Verbündete. Wir baten die Projektleitung an unserem Nationalfeiertag, dem 1. August, die Küche übernehmen zu dürfen und ein echt schweizerisches Gericht als Tagesmenu zu servieren: Rösti, Spiegelei und Tomatensalat. Natürlich meinten die Engländer, das sei ja nichts Weiteres als „Mashed Potatoes“, doch ihre Meinung war uns nicht wichtig. Die Hauptsache war, den anderen Freiwilligen eine Abwechslung zu bieten, ein Versuch der sehr gut ankam und von allen sehr geschätzt wurde. Die Rösti war auch mit den algerischen Kartoffeln wunderbar geraten.

Bei meiner Ankunft musste ich auch feststellen, dass niemand eine Unterkunft für mich vorbereitet hatte. Zum Glück war da ein Schweizer, der mich während der ersten zwei Wochen in seiner Behausung aufnahm. In der Zwischenzeit musste ich mir aber in der Freizeit selbst eine der verlotterten Behausungen bewohnbar machen. Und wieder war niemand da, um mir dabei behilflich zu sein. Zum Glück kamen bald nach meiner Ankunft weitere „Kontinental-Europäer aufs „Fort“ und so wurde das Leben erträglicher. Zum Beispiel der Gilbert aus Belgien, Rolf aus Deutschland, Heinz und Günther aus Österreich. Zudem besuchten uns nun regelmässig zwei Ärztinnen und zwei Krankenschwestern, die in der Umgebung Gesundheits-Zentren bedienten. Sie waren immer eine willkommene Abwechslung und stärkten unser Bewusstsein gegenüber den sturen Engländern. Besonders Ina, die Krankenschwester aus Deutschland, lockerte die Stimmung jedes Mal auf. Sie versuchte auch unseren Aufenthaltsraum ein bisschen freundlicher zu gestalten. Eines Tages entschied sie spontan, Lampenschirme für die grellen Glühbirnen über den Tischen im Wohnraum zu basteln. Sie nahm runde, leere Weichkäse-Schachteln, A4 Blätter und fertigte mit Wasser und Mehl einen Leim. Dann wurde es schwieriger und so half ich ihr beim Aufkleben der weissen A4 Blätter auf die leeren Schachteln. Am anderen Tag war der Leim getrocknet und wir konnten die hausgemachten Lampenschirme montieren. Mit so wenig Material und Aufwand war der Aufenthaltsraum besonders abends gemütlicher geworden. Ina hatte auch bemerkt, dass es mir oft nicht super zu Mute war und so wiederholte sie jedes Mal: „Hänschen, lass Dich nicht runterkriegen!“ Dieser Satz half mir später oft aus schwierigen Situationen und ist mir das ganze Leben lang in meinen Ohren geblieben.


(16) Der Eingang zu meiner Behausung war die zweite Türe links vom Wasserturm (der ausser Betrieb war)

Der Eingang zu meiner Behausung war die zweite Türe links vom Wasserturm (der ausser Betrieb war)


Da meine Behausung die Belegung einer zweiten Person erlaubte, wurde Gilbert nach seiner Ankunft bei mir einquartiert. Natürlich wurde es dadurch etwas eng im Raum, aber ich war froh nicht mehr alleine zu sein. Bald kaufte er sich einen farbigen Sisalteppich, den er an die Wand hängte. Dies machte den Raum sofort viel schöner und gemütlicher. So wie alle anderen musste auch er im Turnus eine Woche lang früh am Morgen Porridge zubereiten. Doch er nahm seine Aufgabe nicht ernst und rührte den heissen Porridge nur von Zeit zu Zeit. Währenddessen suchte Gilbert etwas „Richtiges“ zu Essen, denn er hatte immer Hunger. Aber der Kühlschrank war mit einer Kette umgeben und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Niemand konnte etwas naschen und seinen nächtlichen Appetit stillen. Er sagte mir auch, dass in Belgien der Porridge an die Schweine verfüttert würde und er deshalb lieber das Endprodukt, das Schwein, geniesse. Allerdings hatte seine Nachlässigkeit Folgen, denn wenn der Porridge nicht ständig gerührt wurde brannte er an. Während einer Woche hatte die Lieblingsspeise der Engländer deshalb einen „verbrannten“ Beigeschmack, etwas das sie überhaupt nicht schätzten und welches ihnen schliesslich den ganzen Tag verdarb. Eine Woche später war es meine Aufgabe diese Leibspeise zu kochen. Dazu musste man schon am Vorabend die verschiedenen Getreidesorten abwägen und im Wasser einweichen. Bei dieser Vorbereitung entdeckte ich im Getreide überall krabbelnde Würmer. Sofort meldete ich dies dem Teamleiter. Doch der lachte nur und sagte, ich soll bitte mit meiner Arbeit weitermachen, denn Würmer seien Proteine und deshalb eine Anreicherung des Frühstücks. Da ich ihn scheinbar etwas verwirrt anschaute, meinte er weiter, dass die Würmer ja durch das Kochen zu Grunde gehen und deshalb ohne Probleme gegessen werden können. Und so war es dann auch, allerdings wusste nur ich, mit was der Porridge verfeinert war.

Schon ein paar Wochen nach meiner Ankunft entwickelte sich an meinem linken Oberschenkel ein riesiger Abszess. Er wurde immer grösser und tat außerordentlich weh. Damals waren wir auf dem „Fort“ medizinisch noch schlecht versorgt und so entschloss ich meinen Abszess selbst aufzuschneiden. Ich hatte nicht erwartet, dass es in der Schwellung eine so riesige Menge Eiter hatte und dass ich nachher mit einer Vertiefung an dieser Stelle leben musste. Einige Wochen später erwickelte sich ein weiteres Eitergeschwür unter dem linken Arm. Es wurde bald so gross, dass ich den Arm nur mit Mühe senken konnte. Als der Schmerz so unerträglich wurde und ich deshalb kaum mehr arbeiten konnte, beschloss die Brigitte, unsere Ärztin aus Wien, mit mir zur bulgarischen Klinik in Tlemcen zu fahren. Sie hatte das Aufschneiden des „Furunkels“ auf dem „Fort“ als zu riskant beurteilt. Doch mit den starken Schmerzen war die holperige Ausfahrt zur Klinik kein Genuss. Es folgten dann später noch weitere „Eissen“, die aber weniger gross wurden. Ich fragte mich natürlich immer wieder wieso ich unter solchen Eitergeschwüren litt. Vielleicht lag es am Trinkwasser das wir uns fast jeden Tag aus dem Bach besorgten? Er führte ja nicht immer kristallklares Wasser und man hatte keine Ahnung wer sich darin schon gebadet hatte oder was im Bach alles entsorgt worden war. Ausserdem gingen wir ja selbst manchmal im Stausee oder dann im kühlen Bach unten bei Dorf Khemis baden. Aber es hätte ja auch das unausgeglichene Essen sein können? Eine klare Ursache für meine Furunkel konnte ich leider nie herausfinden.



(17) Gemeinsames Singen am Abend

Gemeinsames Singen am Abend


Mit der Ankunft von weiteren Freiwilligen waren die Engländer plötzlich in der Minderheit. Zudem waren die Neunankömmlinge meist Fachleute, die wussten was sie machten und das wirkte sich dann auch sehr positiv auf das Projekt aus. Die Stimmung verbesserte sich damit nicht nur auf dem „Fort“, sondern auch auf der Baustelle. Wir „Neuen“ pflegten einen ganz anderen Kontakt zu einander, sowie zu den Einheimischen und versuchten das harte Leben auf verschieden Arten erträglicher zu gestalten. Wir sassen abends oft zusammen, diskutierten oder sangen Lieder. Einmal machten wir ein Lagerfeuer und genossen den wunderbaren Sternenhimmel, etwas, das vorher nie möglich gewesen wäre. Aber die Engländer gesellten sich nicht zu uns. Etwas später am gleichen Abend entdeckte jemand ein ungewöhnliches Licht hinter dem Aufenthaltraumes. Als wir zur Erkundung hinliefen, entdeckten wir ein zweites Lagerfeuer, das den Himmel erhellte. Die Engländer hatten ihr eigenes Feuer entfacht und sassen genau so wie wir nun im Kreise. Da wir eine solche Trotzreaktion nicht verstehen konnten, kehrten wir sehr konsterniert zu unserer Feuerstelle zurück und versuchten ihren Eigensinn mit einem Glas Bier zu vergessen.

An einem Abend als es schon dunkel war, fuhr ein Militärlastwagen in den Hof. Sehr skeptisch näherten wir uns dem Fahrzeug und entdeckten auf der Ladebrücke ein riesiges Wildschwein. Da für Mohammedaner der Verzehr von Schweinefleisch verboten ist, hatten die Soldaten die gütige Idee ihre Jagdbeute uns zu überlassen. Aber die Übergabe musste sehr diskret geschehen und vor Einheimischen geheim gehalten werden. Zum Glück war kürzlich ein Franzose auf dem „Fort“ angekommen, der von Beruf Metzger war. Sofort hängte er das Tier an der Decke auf, öffnete den Bauch und nahm die Eingeweide heraus. Wegen der sommerlichen Hitze musste alles sehr schnell gehen und so wurde auch entschieden, die Leber noch am gleichen Abend zu verspeisen. Bis spät in die Nacht zerschnitt er das Schwein fachgerecht in handliche Stücke. Da unser Tiefkühler viel zu klein für diese Menge Fleisch war, legte er einen Teil davon in Salz ein. Das Fell und die Schlachtabfälle wurden sofort weggebracht und an einem Ort deponiert, wo sich nachher Schakale und andere Tiere noch am Festmahl beteiligen konnten. Nun hatten wir endlich auch einmal Fleisch auf dem Menuplan. Leider gibt es in Entwicklungsländern keine Geheimnisse, denn schon am nächsten Morgen kamen aufgebrachte Arbeiter zu uns. Irgendwie hatten sie von dem nächtlichen Geschenk erfahren und behaupteten, dass nun die Küche, die Teller, das Besteck und das ganze Fort unrein geworden seien. Sie wollten deshalb nichts mehr zu sich nehmen, was aus unserer unreinen Küche kam. Die Situation war sehr angespannt und so blieben sie für ein paar Tage dem „Fort“ und dem Mittagessen fern. Auch die Kinder kamen nicht mehr zum morgendlichen „casse-croute“ zu uns aufs „Fort“. Die Spannung löste sich nur langsam, aber schliesslich normalisierte sich der tägliche Ablauf wieder. Leider habe ich nie erfahren, wie die Arbeiter und ihre Familien beschwichtigt werden konnten.

Wir hatten ja nur jedes zweite Wochenende frei und so war ich anfangs selten unterwegs. Doch der neue Geist auf dem „Fort“ motivierte mich und die Anderen die Gegend und das Land ein bisschen besser kennen zu lernen. Die erste Reise war organisatorisch bedingt, denn ich musste mich auf der Botschaft in Algier melden. Da sich Ruedi, der zweite Schweizer, der dies bis anhin unterlassen hatte, entschieden wir uns zusammen zu fahren. Für die Reise per Autostop brauchten wir viel mehr Zeit als angenommen. Das erlaubte uns aber die Gegend in Ruhe zu geniessen. Im Gegensatz zu den Bergen in der Gegend von Tlemcen, war hier alles flach und sehr fruchtbar. Kilometerweit hatte es Orangen, Zitronen und Feigenbäume. Dazwischen gab es riesige Ländereien mit Weintrauben und Gemüse; in diesem Frühling vor allem Lauch und Artischocken. Dann war ich vor allem überrascht wie modern und sauber Algier war. Auf der Strasse kamen wir ins Gespräch mit Studenten. Sie wollten wissen wieso wir in „ihrem Land“ weilten. Als wir den SCI erwähnten meinten sie argwöhnisch, dass diese Organisation ausländische Lehrer in abgelegenen Orten einsetze um dort den Kindern europäische Werte beizubringen. Sie schienen zu ignorieren, dass diese Lehrer freiwillige Arbeit leisteten und zudem in äusserst notdürftigen Unterkünften lebten. So fragte ich diese intellektuellen Jungen wieso nicht sie an Stelle der Ausländer in den abgelegenen Dörfern unterrichten würden und die mühsame Arbeit anderen überliessen? Arabisch sprechende Lehrer wären doch eigentlich logischer? Doch davon wollten sie nichts wissen und wiesen auf ihre Berufskarriere in urbanen Gegenden hin. Ich hätte gerne noch weiter mit ihnen argumentiert und diskutiert, doch leider war unsere Zeit sehr limitiert und wir mussten wieder zurück aufs „Fort“.

Ein anderes Mal wurde uns erlaubt, mit dem Lastwagen nach Béni-Saf ans Meer zu fahren. Béni-Saf, liegt in der Provinz Ain Temouchent, etwa 80 km südwestlich von Oran entfernt. Nach all den erlebten Widerlichkeiten war dieses Wochenende eine willkommene Abwechslung und Erholung für alle. Wir badeten, sonnten uns oder faulenzten einfach am Strand. Es war eine Bucht wo früher wohlhabende Franzosen ihr Wochenendhaus hatten. Nun standen alle leer und ausgeplündert am Strand. Wir beschlagnahmten ein Haus und liessen uns dort für die zwei Tage nieder. Am Abend machten wir ein Feuer am Strand und sangen im hellen Mondschein Lieder, bis wir uns dann müde in die Schlafsäcke zurückzogen.


(18) Der Strand von Beni Saf mit den verlassenen Ferienhäusern.

Der Strand von Beni Saf mit den verlassenen Ferienhäusern.




(19) Ein verdientes und entspannendes Wochenende zusammen am Strand von Beni Saf.

Ein verdientes und entspannendes Wochenende zusammen am Strand von Beni Saf.


Einmal wollte Gilbert übers Wochenende das Dorf El-Aricha in der Wüste besuchen. Natürlich war ich sofort bereit mit ihm zu fahren. Unsere Autostop Route führte uns zuerst nach Sebdou und dann weiter nach El-Aricha. Es war schon fast Abend, als wir dort ankamen. Gilbert suchte eine Möglichkeit, um die Nacht dort zu verbringen. Aber El-Aricha war damals nur eine Ansammlung von ein paar Häusern und so war ich eigentlich enttäuscht von dem Ort. Während ich es vorzog, im rötlichen Abendlicht die Wüste zu entdecken, liess ich Gilbert nach einem Nachlager Ausschau halten. Der Wüstenboden war hart, bedeckt mit Steinen und ohne jegliche Vegetation. Plötzlich merkte ich, dass sich bei jedem Schritt irgendetwas auf dem Boden bewegte. Es war als ob tausende von grossen Flöhen bei jedem Schritt vor mir herspringen würden. Da es schnell dunkel wurde, konnte ich nicht feststellen, um was für Tiere es sich handelte. Zudem erschien in der Ferne ein Tier, das wie ein Schakal aussah. Plötzlich wurde ich ängstlich und lief so schnell als möglich zurück ins Dorf. Dort meldete mir Gilbert, dass es im Dorf weder Hotel noch Herbergen gab. Er hatte aber mit dem Verantwortlichen der Krankenstation gesprochen und erreicht, dass wir dort übernachten konnten. Der fröhliche Gilbert war für einmal ganz ruhig und ich hatte das Gefühl, dass auch er enttäuscht von unserem mühsam erreichten Reiseziel war, es aber nicht zugab. Auch fand niemand eine Erklärung für meine Beobachtung in der Wüste.

Ein anderes Mal überzeugte mich Ina nach Melilla, die spanische Enklave an der nordafrikanischen Küste zu besuchen. Das Wort Enklave suggerierte irgendetwas Aussergewöhnliches, ja vielleicht sogar Abenteuerliches. Wieder war die Reise per Autostop lange und mühsam. Als wir schliesslich ankamen, war es schon fast ganz dunkel. Da wir kein Geld hatten beschlossen wir in den Schlafsäcken am Strand zu übernachten. Wir suchten uns einen trockenen Platz und legten uns auf den Sand. Eigentlich wollte Ina „Melilla by night“ sehen, doch wir waren beide zu müde, um noch in die Stadt zu laufen. Da wir ganz alleine am Strand lagen, überfiel uns plötzlich ein mulmiges Gefühl. Plötzlich fühlten wir uns nicht mehr in Sicherheit. Was war, wenn uns jemand überfällt oder beraubt? Aber wir hatten keine andere Wahl als am Meer zu übernachten. Also blieben wir am Ort und versuchten zu schlafen. Doch dies gelang uns sehr schlecht und so waren wir am nächsten Morgen alles andere als frisch und erholt. Zudem waren wir gezwungen, gleich wieder zurückzufahren, um auch wirklich zur richtigen Zeit wieder im „Fort“ zu sein. Die Anstrengung um Melilla zu sehen, hatte sich auch diesmal kaum gelohnt.

Ein weiteres Mal war ich zusammen mit Ina nach Tlemcen gefahren. Beim Bummeln durch die Altstadt sahen wir zu unserer Überraschung Milou aus einem alten Haus treten. Da uns seine Anwesenheit in der Stadt sehr überraschte, riefen wir sofort nach ihm. Doch er schien uns zu ignorieren und ging weiter. Unsere Neugier liess uns aber nicht los und so verfolgten wir ihn, bis wir ihn zu Rede stellen konnten. Er schien äusserst verlegen und wollte erst keine Antwort geben. Doch nach einer Weile erzählte er uns beschämt die Wahrheit. Er wollte in ein paar Wochen heiraten und bereitete sich nun auf die Hochzeit vor. Wir nahmen deshalb sofort an, dass er sich in Tlemcen befand, um Einkäufe für das Fest zu tätigten. Doch wir hatten uns getäuscht. Der Grund seines Besuches in Tlemcen war etwas ganz anderes, etwas das uns sprachlos machte. Er sagte, dass nach alter Tradition in seinem Dorf eine Witwe dem zukünftigen Bräutigam vor seiner Heirat das Wissen der Begattung übermitteln muss, wobei das Praktikum auch dazu gehöre. Da Milou die Witwe des Dorfes zu alt und äusserst hässlich fand, suchte er sich eine Alternative: das Wissen in einem Freudenhaus zu erwerben. Das Freudenhaus war eine weitere Offenbarung, denn wir glaubten Prostitution sei in arabischen Ländern verboten, aber scheinbar war auch da viel geduldet, solange es diskret hinter Türen stattfand. Was uns aber auch beschäftigte, war die Tatsache, dass der arme Milou einen ganzen Monatslohn für diese Unterweisung geopfert hatte. Es gibt wohl Sachen auf der Welt, die man nicht verstehen kann und die wir auch nicht verstehen müssen.

Lennart, der neue Bau-Ingenieur aus Schweden, hatte auf dem Hinweg nach Algerien in Oujda Halt gemacht und dort Freunde kennengelernt. Diese Leute wollte er besuchen und bat mich mitzukommen. Wieder war ich sofort bereit, denn das Reisen war jedes Mal eine willkommene Abwechslung. Wie immer versuchten wir per Autostop die Strecke zu bewältigen. Wir standen am Strassenrand ausserhalb von Tlemcen und warteten auf eine gütige Seele, die uns mitnehmen würde. Plötzlich kam uns der Landrover des SCI entgegen und wir hofften schon, dass er auf unser Zeichen reagieren und anhalten würde. Am Steuer sass unser Projektleiter und auf dem Nebensitz seine Freundin. Beide ignorierten uns und fuhren weiter in Richtung Marokko. Eigentlich hatten wir uns an eine solche Reaktion schon längst gewöhnt, doch in dieser Situation tat es trotzdem weh. Das Glück hatte uns aber nicht verlassen und bald nahm uns jemand sogar bis mitten in die Stadt Oujda mit. Bald schon waren wir bei den Freunden von Lennart angekommen, wo wir sehr herzlich empfangen wurden. Sie hatten für uns ein wunderbares Essen zubereitet, ein Essen, das ich sehr genoss. Zu unserer grossen Überraschung fand an diesem Wochenende ein riesiges Fest statt. Man sagte, dass es zu Ehren der Geburt des Thronfolger Mohammed VI vor einem Jahr stattfand. Die Gastgeber nahmen uns deshalb mit zu einem Rundgang in der Stadt. Es waren viele Leute aus der Umgebung in die Stadt gekommen, die meisten um die „Fantasia“ oder das Reiterspiel zu sehen. Diese Jahrhunderte alte Tradition ist etwas Ähnliches wie ein Pferderennen. Dabei galoppierten die Reiter in traditionellen weissen Gewändern, mit einer meist historischen Schrotflinte in einer Hand, auf wunderbaren Rassepferden und mit hoher Geschwindigkeit in einer geraden Linie nebeneinander. Am Ende der ca. 200 Meter langen Strecke feuerten die Reiter gleichzeitig mit ihren Flinten in die Luft, was ein unglaubliches Spektakel war.


(20) Traditioneller „El Alaoui“ Kriegstanz

Traditioneller „El Alaoui“ Kriegstanz


Auf einem anderen Platz führten Männer, begleitet vom Rhythmus der Trommeln, den traditionellen „El Alaoui“ Kriegstanz vor. Die Männer, alle in weiss gekleidet und auch mit einer Flinte in der Hand, tanzten Arm in Arm wie zusammengeschweisst und bewegten dabei ihre Körper nach vorne und hinten. Dabei stampften sie auf den Boden, um ihre Verbundenheit, Kraft und Ausdauer zu beweisen. Früher war der Tanz auch Symbol für eine zerreissfeste Einheit im Falle von feindlichen Angriffen. Dieses Fest war für mich ein aussergewöhnliches und hinreissendes Erlebnis, das mich nahezu in Trance versetzt hatte. Dabei waren mir all die glücklichen Augen der Festbesucher nicht entgangen und so schrieb ich in einem Brief an meinen Eltern nachher folgendes:

„Ich hätte jubeln können so etwas Schönes zu sehen. Die Leute tanzten mit einer solchen Hingabe, wie ich es bis anhin noch nie gesehen habe. Die Augen glühten und der lachende Mund mit den leuchtend, weissen Zähnen bewirkte bei mir, dass mir das Wasser kalt den Rücken hinunterlief. Man muss die Leute gesehen haben, sonst kann man deren Musik nicht verstehen“.

Der Ausflug nach Oujda in Marokko hatte sich mehr als gelohnt und wir waren anschliessend auch wieder gut zum „Fort“ zurückgekehrt.


(21) Assistent von Brigitte beim Zahn ziehen.

Assistent von Brigitte beim Zahn ziehen.


Da auf dem „Fort“ oft Krankenschwestern oder Ärztinnen vorbeikamen, nahmen sie sich auch der Gesundheitsprobleme des Teams sowie der Arbeiter an. Einmal hatte ein Arbeiter ein Problem mit einem Zahn. Brigitte, eine der zwei Ärztinnen, entschied den Zahn zu ziehen. Doch ohne Zahnarzteinrichtung musste man improvisieren. So bat sie mich den Kopf des Arbeiters während der Prozedur so wie den Schraubstock festzuhalten. Das war meine erste „medizinische“ Erfahrung. Später durfte ich Ina einen halben Tag lang bei ihrer Arbeit in einem „Dispensaire“ begleiten. Vor der Krankenstation warteten schon unzählige Patienten bei unserer Ankunft, meistens Frauen und Kinder. Eine ältere Frau fiel mir besonders auf, denn sie schrie unaufhörlich vor sich hin und verlangte sofort eine Spritze, um ihre Schmerzen zu lindern. Ina machte ihre Arbeit ohne der Frau Aufmerksamkeit zu schenken. Als ich Ina auf das Schreien aufmerksam machte sagte sie, die Frau komme jeden Tag. Dann nahm sie eine Spritze, füllte sie mit einer Flüssigkeit und rief die Dame. Sofort nach der Injektion war die Frau wieder munter und hatte keine Schmerzen mehr. Nach so einem „Wunder“ wollte ich natürlich von Ina wissen, was sie ihr wohl gespritzt hatte? Mit ihrem verschmitzten Lächeln antwortete sie mir: destilliertes Wasser! Die Situation verblüffte mich ausserordentlich. Doch noch mehr war ich von Inas praktischer Erfahrung im Feld beeindruckt. Sie wussten wie mit Einheimischen umzugehen und bot den erkrankten Leuten eine echte und pragmatische Hilfe, ohne die eigene Motivation je zu verlieren. Jeder Freiwillige muss sich bewusst sein, dass viele Patienten nicht über das gleiche Wissen verfügen und die Kommunikation deshalb entsprechend angepasst werden muss. Auch ich war oft in Situationen wo ich kaum wusste wie reagieren. So begegnete ich eines Abends vor dem grossen Tor des „Fort“ einem älteren Mann. Wie viele im Dorf war er mit einem braunen Djellaba bekleidet. Er plauderte mit mir über die Natur und Neuigkeiten im Dorf. Beim Abschied suchte er etwas in den Taschen des Djellaba und übergab mir dann mit einem glücklichen Lächeln eine grüne Pille. Ich war gerührt über sein Zeichen des Vertrauens und bedankte mich sehr. Sicher bedeutete sie für ihn etwas Wertvolles und er war sicher lange für diese Pille in der Krankenstation angestanden. Um ihn nicht zu beleidigen tat ich so, als ob ich sie auch wirklich einnehmen würde. Aber eben, obwohl der Mann es mit mir gut gemeint hatte, konnte ich mit meinem kritischen Wissen diese Pille nicht einfach schlucken.

Am Abend oder nachts, wenn die Krankenstation geschlossen war, kamen manchmal auch Leute mit dringenden Fällen zu uns auf das „Fort“. Sie wussten ja, dass manchmal Krankenschwestern bei uns waren. Und so hörte man eines Abends jemand am geschlossenen Tor nach einem Arzt rufen. Brigitte, die zu dieser Zeit noch auf dem „Fort“ weilte, rannte sofort hin um zu sehen, was los war. Nach kurzer Zeit kam sie zurück und sagte sie müsse mit dem Fall ins Spital fahren. Da sie nachts nicht gerne alleine unterwegs war, bat sie um einen Mitfahrer. Da sich niemand meldete, war ich bereit Brigitte zu begleiten. Es handelte sich beim Patienten um einen etwa 6-jährigen Buben, dem scheinbar ein Esel in seinen Penis gebissen hatte. Aber wir glaubten seinem Vater nicht und vermuteten, dass der Unfall eher bei der Zirkumzision des Buben passiert war, aber das würde man uns natürlich niemals gestehen. Scheinbar war die Eichel fast ganz abgetrennt und das war auch der Grund wieso er einen Eingriff im Krankenhaus brauchte. Als wir ankamen, war es schon spät und keine Ärzte mehr anwesend. Brigitte wollte, dass ich auch bei der Behandlung bei ihr bleibe. Nach einer Weile kamen zwei Ärzte, die aber eher wie Nachtwächter aussahen. Durch das getrocknete Blut konnte der Knabe seine Blase nicht mehr entleeren und so war sie dem Bersten nahe. Die zwei Personen, die sich als Ärzte ausgaben, zogen sich grüne Operationsschürzen an und wollten dem Knaben deshalb vorerst ein Katheter setzen. Doch sie versuchten mit einer Grösse, die für Erwachsene gedacht war. Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen warf sie einer der Beiden einfach frustriert auf den Boden und versuchte es mit einer anderen Sonde. Doch auch diesmal hatten sie kein Glück. Schliesslich drückten sie einfach wild auf die Blase und hofften damit eine Entleerung der Blase zu erreichen. Bis anhin konnte ich dem Schauspiel geduldig zusehen. Doch plötzlich glaubte ich mich in einem Schlachthaus und hatte das Gefühl mich übergeben zu müssen. Ich rannte hinaus ins Freie, wo ich erst einmal frische Luft brauchte. Es dauerte noch eine Weile, bis Brigitte schliesslich auch zum Auto zurückkam. Auch sie schien vom Gesehenen bestürzt zu sein und sprach auf dem ganzen Heimweg fast nichts. Sie meinte nur kurz, dass es schlimmer sei als angenommen. Am folgenden Wochenende fuhren Birgitte und ich nach Tlemcen, um dem Kleinen im Krankenhaus zu besuchen. Doch leider fanden wir ihn nicht und niemand konnte uns sagen, was mit dem Knaben geschehen war. Jemand meinte er sei immer noch auf der Intensivstation, aber mehr konnten wir nicht erfahren. Die Geschichte machte mich traurig und mit dem Erlebten im nächtlichen Krankenhaus konnte ich nur hoffen, dass mich mein Schicksal und mein Schutzengel vor einem Aufenthalt in einem algerischen Krankenhaus verschonen.

Ein anderes Mal fuhr eine Camionnette (Kleintransporter) sehr lautstark in den Innenhof des „Fort“. Es war gegen Abend und so waren eigentlich alle Freiwilligen von der Arbeit zurück. Doch niemand schien gewillt nachzuschauen, denn bei solch temperamentvollen Fahrern musste man sich in Acht nehmen; der Bürgerkrieg war ja noch in allen Köpfen. Doch der Fahrer schrie andauernd „accident, accident!“ und so ging ich hinaus und wollte sehen was los war. Der Fahrer zeigte auf die Ladebrücke wo irgendetwas in einer Wolldecke eingewickelt lag. Er zog die Decke weg und da lag ein Junge ohne Beine und ohne linken Arm. Wieder war es eine Tretmine die explodiert war. Es war ein grauenhafter Anblick. Hilflos rief ich meine Kollegen um zu entscheiden, was zu tun war. Gemeinsam rieten wir dem weinenden Vater seinen Sohn nach Tlemcen ins Spital zu bringen. Selbst wenn an jenem Tag Ärzte oder Krankenschwestern auf dem „Fort“ gewesen wären, sie hätten ihm nicht helfen können. In einem solch hoffnungslosen Fall konnte man im Geheimen nur hoffen, dass der Junge auf dem Weg nach Tlemcen von seinem Schicksal erlöst wurde. Auch in diesem Fall haben wir nie erfahren, was weiter geschehen war. Die schrecklichen Resultate der Tretminen aber machten uns klar, dass sie schon längst verboten und deren Produktion definitiv eingestellt sein müssten.

Aber damit ist das Kapital Tretmine noch nicht beendigt. An einem freien Samstag sassen wir im Aufenthaltsraum am Kartenspielen als ein erst kürzlich eingetroffener Afroamerikaner eintrat. Es kam zu uns, legte eine Tretmine auf den Tisch und fragte ahnungslos, ob einer von uns wisse, was dies wohl sei. Alle sprangen auf und schrien: Eine Tretmine! Gelassen nahm der Schwarze die Mine und warf sie einfach durchs offene Fenster ins Freie. Natürlich erwarteten wir einen riesigen Knall, doch nichts passierte. Sofort rannten wir aus dem Haus um die Tretmine zu suchen, doch wir fanden sie nicht. Damit wurde auch unser Wohngebiet zur Gefahrenzone. Trotz stetiger Aufmerksamkeit wurde die Mine schliesslich nie gefunden. Der Amerikaner aber schien den Ernst der Situation nie begriffen zu haben und lächelte einfach weiter vor sich hin. Nachdem er später weitere so komische Reaktionen hatte, wurde mir bewusst, dass er geistig unberechenbar war. Aber er war nicht der Einzige auf dem „Fort“ mit psychischen oder persönlichen Problemen. Die Meisten hatten sich dem SCI nicht nur angeschlossen, um Gutes zu tun, sondern in der Hoffnung gleichzeitig ihren persönlichen Problemen entfliehen zu können, sie zu lösen oder wenigstens zu verdrängen. Irgendwie war ich diesbezüglich keine Ausnahme, denn ich verliess die Schweiz ja auch nicht nur aus Nächstenliebe oder Abenteuerlust.


(22) Arbeiten bei grösster Hitze auf den Dächern

Arbeiten bei grösster Hitze auf den Dächern


All die Unfälle mit Tretminen beschäftigten mich immer mehr und ich begann mir fundamentale Fragen zu stellen. War es vernünftig seine Gesundheit oder sogar sein Leben zu riskieren, während die einheimische Bevölkerung unseren Helferwillen oft gar nicht versteht, ja vielleicht sogar falsch interpretiert? War der Aufbau des Dorfes durch Ausländer, und zudem oft unprofessionellen Freiwilligen, die richtige Lösung gewesen? War das von uns mit viel Einsatz Erreichte wirklich von Nutzen und auch nachhaltig? Ich wusste es nicht und werde es auch nie wissen. Aber mit meinen Fragen wurde ich plötzlich unsicher und war nicht mehr überzeugt von dem, was ich in diesem Projekt leistete. Als ich dann an einem sehr heissen Nachmittag alleine auf einem Dach die Fugen mit Asphalt abdichtete, kam die Einsicht: die Zeit war gekommen, um meinen Einsatz für den SCI zu beenden und Algerien zu verlassen. Ich hatte nämlich beobachtet, wie einige Männer vom Dorf anstatt für ihr Haus zu arbeiten, im Schatten eines Baumes ihren Tee genossen und plauderten. In diesem Moment kam ich mir vor wie ein einfältiger Esel und fragte mich, ob dies in der Schweiz wohl auch möglich wäre. Würde mir ein Algerier aus Mitleid mein Haus neu aufbauen, während ich im Schatten meinen Tee geniessen würde?


(23) Inspirierende Arbeitsmoral

Inspirierende Arbeitsmoral


Gleichzeitig war mir aber bewusst, dass ich meinen bescheidenen Beitrag für ein neues Dorf niemals mit dem vergleichen konnte, was ich nach den 4 Monaten an unvergesslichen Eindrücken, Erfahrungen und Erlebnissen mit nach Hause nehmen durfte. Die Zeit in Algerien war nicht immer einfach gewesen, aber extrem reich an Erfahrung, etwas, das uns alle gestärkt, geprägt und überlebensfähiger gemacht hat. Waren wir Freiwilligen vielleicht diejenigen, die schlussendlich durch das Projekt am meisten profitiert hatten?“ Ja, und vielleicht hatte Friedrich Nietzsche recht, wenn er einmal schrieb: „Denn, glaubt es mir! – das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit euresgleichen und mit euch selber!“ (Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, § 283).

Ich war nie Kriegsdienstverweigerer und auch der Einsatz in dem Projekt des Service Civil International“ in Algerien konnte daran nichts ändern. Aber während der Zeit in Algerien konnte ich ganz persönlich erfahren wie viel Leid und Elend ein Krieg in einem Land verursacht. Gleichzeitig wurde mir aber auch die Motivation der Dienstverweigerer begreiflich. Le Déserteur“, ein Lied das wir abends oft am offenen Feuer zusammen sangen, machte mich jedes Mal nachdenklich und traurig. Die klagenden Worte und die wehmütige Melodie hallen noch immer in meinen Ohren. Hier der Texte des Lieds :

Monsieur le Président
Je vous fais une lettre
Que vous lirez peut-être
Si vous avez le temps
Je viens de recevoir
Mes papiers militaires
Pour partir à la guerre
Avant mercredi soir
Monsieur le Président
Je ne veux pas la faire
Je ne suis pas sur terre
Pour tuer des pauvres gens
C'est pas pour vous fâcher
Il faut que je vous dise
Ma décision est prise
Je m'en vais déserter

Depuis que je suis né
J'ai vu mourir mon père
J'ai vu partir mes frères
Et pleurer mes enfants
Ma mère a tant souffert
Elle est dedans sa tombe
Et se moque des bombes
Et se moque des vers
Quand j'étais prisonnier
On m'a volé ma femme
On m'a volé mon âme
Et tout mon cher passé
Demain de bon matin
Je fermerai ma porte
Au nez des années mortes
J'irai sur les chemins

Je mendierai ma vie
Sur les routes de France
De Bretagne en Provence
Et je dirai aux gens:
Refusez d'obéir
Refusez de la faire
N'allez pas à la guerre
Refusez de partir
S'il faut donner son sang
Allez donner le vôtre
Vous êtes bon apôtre
Monsieur le Président
Si vous me poursuivez
Prévenez vos gendarmes
Que je n'aurai pas d'armes
Et qu'ils pourront tirer

 

Die Heimreise und Aufenthalt in der Schweiz (01.09.– 28.09.1964)
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11.  Die Heimreise und Aufenthalt in der Schweiz (01.09.– 28.09.1964)

Als ich mich entschloss das „Fort“ zu verlassen, hatte auch Ina bereits im Sinn nach Hause zu fahren. Da wir Beide auf der Heimreise Marokko entdecken wollten, entschieden wir uns zusammen zu fahren. Zu zwei ist eine Reise nicht nur angenehmer, sondern in Nordafrika für Frauen vor allem sicherer. Ina war nämlich vorher einmal mit „Faith“, einer unserer Köchinnen, in Marokko unterwegs und erlebte dort sehr unangenehme Situationen. Somit wurde ich irgendwie auch ihr Beschützer auf der Reise. Allerdings war ich für ihre Sicherheit auch keine absolute Garantie. Genau während dieser Zeit wurde nämlich bekannt, dass junge Paare auf ihrer Reise durch Marokko verschwanden. Die Burschen wurden meistens umgebracht und die Mädchen verschleppt. Man sagte, dass sie vorwiegend nach Ägypten gebracht und dort an reiche Araber veräussert wurden. Sie verbrachten dann später ihr junges Leben entweder in einem Harem oder in einem Nachklub als Tänzerinnen. Da Kidnapper blonde Frauen, so wie die Ina, sicher immer im Visier hatten, waren wir unserem Risiko bewusst. Trotzdem gaben wir unsere Reisepläne nicht auf und machten uns am 1. September schon um 06.00 Uhr morgens auf den Weg. Vom „Fort“ wurden wir mit dem Landrover des SCI nach Tlemcen gebracht. Hier erledigten wir einige administrative Angelegenheiten und machten einen letzten, wehmütigen Spaziergang hinauf zur Corniche. Um 11.00 Uhr machten wir uns dann auf den Heimweg. Doch an diesem Tag wir hatten kein Glück und so mussten wir nach 3 Stunden Geduld schliesslich den Bus bis zur Marokkanischen Grenze nehmen. Von hier ging es dann per Autostopp weiter bis nach Oujda wo wir bei Bekannten übernachteten.


(1) Grab eines Heiligen (Marabout ) bei Maghnia ca. 10 km vor der Grenze zu Marokko.

Grab eines Heiligen (Marabout ) bei Maghnia ca. 10 km vor der Grenze zu Marokko.


Am anderen Morgen war schon um halb fünf Tagwache, denn wir hatten eine lange Reise vor uns. Wir wollten nach Figuig, eine Oase die etwa 370 km südlich von Oujda in der Wüste liegt. Ohne viel Geld in der Tasche hatten wir ein weiteres Mal keine andere Wahl als per Autostop zu reisen. An diesem Tag hatten wir aber viel Glück. Schon um 05.50 reagierte ein Franzose auf unser „Tramper-Zeichen“ und nahm uns in seinem VW bis zur Provinzhauptstadt Bouarfa mit, wo wir schon um 09.00 Uhr eintrafen. Damals wurde in dieser Gegend noch Manganerz abgebaut und so hätten wir den Ort auch per Bahn erreichen können, aber eben per Anhalter war eine Mitreise kostenlos.

Bis Bouarfa war die Strasse asphaltiert gewesen, doch nun begann eine Naturstrasse die durch eine Steinwüstenlandschaft bis zur 110 km entfernten Oase Figuig führte. Da dieser Weg nur selten befahren wurde, und wenn dann nur von überladenen Lastwagen, sassen wir nach zwei Stunden immer noch am Strassenrand und hofften auf eine gütige Seele, die uns mitnehmen würde. Nach einer Weile an der prallen Sonne kam ein Soldat und lud uns zu einer Erfrischung in ihrem Aufenthaltsraum ein. Etwas misstrauisch folgten wir ihm und waren überrascht als da noch weitere Soldaten waren. Natürlich wollten sie wissen was wir hier am Rande der Wüste suchten. Als sie erfuhren, dass wir per Autostop nach Figuig wollten, schüttelten sie ihre Köpfe und lachten. Sie erklärten uns, dass wir per Autostop nie von hier wegkommen würden und offerierten uns mit ihrer typischen Gastfreundschaft erst einmal einen köstlichen Pfefferminztee. Einer der Soldaten hatte sich inzwischen an den Weg durch die Wüste gestellt und hielt jeden Lastwagen an. Und tatsächlich fand er einen Fahrer der bereit war uns bis nach Figuig mitzunehmen. Natürlich war die Führerkabine schon mit drei Mann besetzt, doch irgendwie musste man eine Lösung finden. So entschied ich mich auf die Bedachung des Lastwagens zu klettern um dort auf einem Reserverad Platz zu nehmen und die Fahrt durch die Wüste mit Panoramasicht zu geniessen. Ina hatte das Privileg in der engen Kabine zu reisen. Unterdessen war es ja bereits sehr warm geworden, doch im Windzug auf dem Dach des Lastwagens war es für mich ganz erträglich.


(2) Zwischenhalt mitten in der Wüste

Zwischenhalt mitten in der Wüste


Etwa auf halbem Weg hielt der Lastwagen plötzlich mitten in der Wüste an. Ich kletterte vom Lastwagen um zu sehen was der Grund des Unterbruches war und um gleichzeitig meine steif gewordenen Beine zu bewegen.Es war eine artesische Quelle wo sich nun alle versammelten und sich erfrischten. Hier entschied Ina meinen Platz auf dem Dach zu übernehmen und den Rest der Reise im Reserverad auf dem Dach des Lastwagens zu verbringen. Dann ging es sofort wieder weiter, denn scheinbar wollte man noch vor dem Einbrechen der Nacht ankommen. Und das schaffte der Fahrer ohne Probleme und fuhr uns schon um ca. drei Uhr sogar direkt vor das Gebäude des „chef de cercle“, oder Provinzverwalter.

Scheinbar hatten die Soldaten in Bouarfa den „chef de cercle“ von Figuig aus angerufen und ihm unsere Ankunft mitgeteilt, denn ein sehr gepflegter, westlich gekleideter Herr empfing uns am Eingang des Gebäudes wie Staatsoberhäupter persönlich. Dann führte er uns in seinen Palast und wies uns zwei Gemächer mit Dusche und WC zu, einen Komfort den wir schon lange nicht mehr geniessen durften. Allerdings wurden wir wieder etwas misstrauisch und fragten uns ob diese Freundlichkeit eine Gefahr für Ina sein könnte, denn in einem Einzelzimmer konnte ich sie ja nicht beschützen. Aber da wir nicht verheiratet waren gab es gar keine andere Wahl, wir durften nicht im gleichen Zimmer die Nacht verbringen. So entschieden wir uns dem vornehmen Hausherrn zu vertrauen und bezogen unsere Zimmer. Sofort nahmen wir eine Dusche und ruhten uns von der strapaziösen Reise aus. Etwas später kam ein Diener der uns mitteilte, dass wir uns zum Nachtessen bereit machen sollten. Und da gab es erneut eine Überraschung, denn wir wurden nicht in den Speisesaal geführt, sondern gebeten in einem Jeep Platz zu nehmen. Wieder überkam uns ein komisches Gefühl und wir fragten uns was das nun soll und wohin die Fahrt wohl gehen würde. Ohne Erklärungen schien uns alles sehr mysteriös. Das Fahrzeug fuhr los und raste durch die stockdunkle Nacht. Nach einer Weile hielt es vor einem kleinen Gebäude an und wir wurden in einen, mit Petrollampen, erhellten Innenhof mit weiss gestrichenen Mauern geführt. Dort befanden sich bereits einige Männer, alle in weissen Djellaba gekleidet und mit weissem Turban auf dem Kopf. Sie sassen auf dem mit farbigen Matten ausgelegtem Boden und tranken Minze Tee. Höflich wurden wir gebeten uns zu setzen. Dann kam ein Diener mit einer Schale und einer silbernen Kanne. Er stellte sich vor uns und bat uns die Hände hinzuhalten. Dann liess er sachte Wasser über unsere Hände fliessen, sodass wir sie waschen konnten. Das schmutzige Wasser fing er mit der Schale unter den Händen auf. Anschliessen gab er uns ein Tuch um die Hände zu trocknen und verschwand dann wieder in der Dunkelheit. Dieses Ritual wiederholte sich bei allen Anwesenden, denn es wurde ja nachher mit den Fingern gegessen. Danach trugen weissgekleidete Diener grosse Platten mit wunderbaren Köstlichkeiten in den Innenhof und legten sie vor unsere Füsse. Der Anblick des Festessens und über uns der Nachhimmel mit Millionen von Sternen waren absolut überwältigend. Zudem spielte ein Mann in einer Ecke auf seiner Flöte arabische Melodien. All dies erinnerte uns an die morgenländischen Erzählungen aus „Tausendundeine Nacht“ und mit einemmal glaubten wir es wahrhaftig erleben zu dürfen. Dieser romantische Abend, der Sternenhimmel und die marokkanische Gastfreundschaft waren unvergesslich schön. Leider hatte auch dieser märchenhafte Traum ein Ende und so ging es nach dem Essen wieder äusserst rassig durch die Dunkelheit zurück nach Figuig, wo wir noch die ganze Nacht von diesem aussergewöhnlichen Erlebnis träumten.

Am anderen Morgen wurden wir zum Frühstück mit dem Hausherrn geladen. Wieder geschah dies in einem sehr gediegenen Rahmen, sodass wir uns in einem 5-Sterne Hotel glaubten. Es wurden Speisen serviert, die wir schon lange nicht mehr geniessen durften. Wir sprachen über den fabelhaften Abend am Vortag und wurden uns erneut bewusst, dass wir ein unglaubliches Privileg hatten so etwas überhaupt erleben zu dürfen. Nach dem Frühstück überliess uns der Hausherr einem Soldaten, der den Auftrag hatte uns durch die Oase zu führen. Als wir aus dem Palast traten waren wir überrascht festzustellen, dass wir uns auf einer kleinen Anhöhe befanden. Seit unserer Ankunft hatten wie die Oase ja noch nie bei Tag gesehen. Von dieser Erhebung hatte man eine grandiose Aussicht über die ganze Oase. Im rosa Morgenlicht waren die mehr als 100 000 Dattelpalmen ein äusserst überwältigender Anblick. So etwas Wunderbares hatten wir noch nie gesehen und blieben sprachlos stehen.



(3) Die märchenhafte Oase Figuig im Morgenlicht

Die märchenhafte Oase Figuig im Morgenlicht


Doch der Soldat schien unsere Faszination nicht zu verstehen und bat uns weiter zu gehen. Wahrscheinlich war das Leben der Einheimischen doch nicht so paradiesisch wie wir es uns während unserem kurzen Besuch vorstellten. Als Selbstversorger kämpften sie ja nicht nur für ihr Überleben, sondern auch für das Gleichgewicht der ökologisch sensiblen Oase. Auf einem schmalen Fussweg führte er uns dann hinunter in die Gärten. Er erklärte uns, dass die Dattelpalmen die darunter wachsenden Obstbäume wie Feigen-, Granatapfel- und Mandelbäume vor der starken Sonneneinstrahlung schützten. Diese wiederum schützten am Boden wachsende Kulturen wie Getreide, Kartoffeln, Gemüse, Kräuter usw. Meistens führte unser Weg im wohltuenden Schatten an Wasserkanälen entlang.


(4) Wasserauffang-Becken für die Bewässerung der Oase

Wasserauffang-Becken für die Bewässerung der Oase


Dabei erwähnte er, dass dieses Wasser von etwa 20 artesischen Quellen in der Gegend rund um die Oase stamme. Von diesen Quellen wurde das Wasser über Rinnen oder unterirdischen Kanälen, den Khettaras, zu den Gärten geleitet. Als Sanitär Installateur, faszinierte mich hier vor allem das geniale und ausgeklügelte Verteilsystem des Wassers, das all die verschiedenen, individuellen Felder mit dem kostbaren Nass versorgte. Das Wasser schien unaufhörlich in alle Richtungen zu fliessen und sich dabei fröhlich mit gurgeln und plätschern bemerkbar zu machen. So etwas zu sehen und zu erleben war einfach unbeschreiblich, und dies mitten in der Wüste! Ja, diese Oase war für mich das echte Paradies auf Erden.


(5) Das ausgeklügelte Verteilsystem des wertvollen Wassers

Das ausgeklügelte Verteilsystem des wertvollen Wassers


Inzwischen hatte der „chef de cercle“ die Rückfahrt nach Bouarfa organisiert, diesmal nicht mühsam hoch auf einem Lastwagen, sondern in seinem Jeep und in seiner Begleitung. Nur ungern verliessen wir nach dem gemeinsamen Mittagessen diese märchenhafte Oase. Die Rückfahrt durch die Wüste war in seinem Auto natürlich viel komfortabler als auf dem Dach eines Lastwagens und erlaubte uns auch die Gegend ohne Stress und in Ruhe nochmals zu bewundern. In Bouarfa verabschiedete sich der freundliche „chef de cercle“ und wir bedankten uns für die ausserordentlich grosszügige Gastfreundschaft. Nachher machten wir uns sofort auf die Suche nach einer günstigen Unterkunft, die wir auch bald fanden. Anschliessend besuchten wir die Manganerz-Minen wo wir sogar in den Berg hineingelassen wurden. Nach einem kleinen Imbiss legten wir uns schon früh abends zur Ruhe, denn der Bus nach Ouarzazate fuhr schon um sechs Uhr morgens weg und da er nur zwei Mal in der Woche diese Strecke fuhr, wollten wir ihn auf keinen Fall verpassen. Um Mitternacht wurde heftig an unsere Zimmertüre geklopft. Erschrocken und schlaftrunken ging ich sofort zur Türe. Als ich sie öffnete standen zwei Polizisten breitspurig vor mir und verlangten unsere Reisepässe. Respektvoll holte ich die zwei Dokumente und übergab sie ihnen. Nachdem die Beiden bemerkten, dass wir nicht den gleichen Familiennamen hatten, fragten sie uns ob wir verheiratet seien? Ahnungslos verneinte ich die Frage. Wahrscheinlich erwarteten sie nichts anderes als genau diese Antwort, denn sofort hiess es wir hätten eine Straftat begangen. Nach marokkanischem Gesetz durften damals unverheiratete Leute nicht im gleichen Zimmer die Nacht verbringen und so sagten sie uns wir wären festgenommen und dürften am nächsten Tag nicht weiterreisen. Während ich dieses Schicksal, immer noch schlaftrunken und ratlos anhörte und mich sogar schuldig fühlte, stand plötzlich Ina neben mir. Sie hatte die ganze Konversation vom Bett aus mitbekommen und stellte sich nun wie eine wehrhafte Germanin vor die beiden Staatsangestellten. Sie sagte, dass wegen des ständigen Risikos von Männern belästigt zu werden, das Alleine-Reisen für Frauen in Marokko unmöglich sei. Weiter erwähnte sie, dass sie vor einigen Wochen mit einer Freundin unterwegs gewesen sei und Beide wegen einem Versuch von Vergewaltigung mit zerrissenen Kleidern nach Hause zurückkehren mussten. Darum hätte sie mich gebeten mit ihr zu reisen und sie vor sexuellen Übergriffen vor respektlosen und giererfüllten Männern zu beschützen. Alleine hätte sie viel zu grosse Angst gehabt die Reise zu unternehmen. Und um die Sache noch ein bisschen pikanter zu gestalten fügte sie bei, dass sie wohl nach ihrer Rückkehr die Presse von dem Vorfall orientieren würde und zudem Touristinnen vor Reisen nach Marokko in Zukunft bestimmt abrate. Die Polizisten waren plötzlich kleinlaut und zogen sich mit unseren Reisepässen zurück. Nach einer Weile kamen sie zurück und gaben mir die Pässe wieder zurück. Ewas verlegen schenkten sie uns gleichzeitig eine nagelneue Militär-Feldflasche und wünschten uns eine gute Nacht, sowie für den folgenden Tag eine gute Reise. Die schlagfertige Ina hatte uns mit ihrer Geistesgegenwart vor einem Gefängnisaufenthalt in Marokko gerettet. Trotzdem schliefen wir nachher nicht mehr so getrost wie vorher und hofften nur, dass die Polizei oder das Militär ihre Entscheidung bis zu unserer Abreise am Morgen nicht doch noch ändern würde.

Sobald die Sonne aufging waren wir auf dem Platz von wo die Fern-Busse wegfuhren. Auf der Strecke hinter dem Hohen Atlas war es unmöglich mit Autostop vorwärts zu kommen und so fuhren wir mit dem regulären Bus nach „Ksar Es-Souk“ oder heute Errachidia genannt. Der Weg war äussert beschwerlich, denn die Strasse durch die Wüste war in einem sehr schlechten Zustand, ja eher ein Bachbett. Dafür war die Gegend umso faszinierender. Immer wieder hielt der Bus in romantisch-schönen Dörfern an, wo Leute in ihren traditionellen, blauen Kleidern aus- und einstiegen. Unterwegs sahen wir viele Nomaden-Siedlungen mit ihren Kamelen, Ziegen und Schafen. In Errachidia fanden wir für die Nacht einen Gratis-Unterschlupf bei „Jeunesse et Sport“. 


(6) Auf dem Markt in Errachidia

Auf dem Markt in Errachidia


Am nächsten Tag ging die Fahrt auch wieder früh am Morgen via Tinghir nach Ouarzazate weiter. Erneut war die Fahrt äusserst interessant und unbeschreiblich schön. Besonders eindrucksvoll war Tinghir mit seinen mehrgeschossigen und imposanten Lehmbauten. Das Dorf liegt auf einer Höhe von 1’340 Metern über Meer und wurde auf unfruchtbaren Böden errichtet. Damit blieben die fruchtbaren Oasen, wie fast überall im Süden Marokkos, von menschlicher Überbauung verschont.


(7) Die eindrucksvollen, mehrgeschossigen Lehmbauten in Tinghir.

Die eindrucksvollen, mehrgeschossigen Lehmbauten in Tinghir.


In Tinghir wechselte der Busfahrer. Da der Neue französisch sprach, kamen wir bald mit ihm ins Gespräch. Als er erfuhr, dass wir in Algerien freiwillige Arbeit geleistet hatten, lud er uns nicht nur zum Mittagessen ein, sondern auch mit ihm bis nach Marrakesch zu fahren. Zudem bot er uns eine Gratis-Übernachtung in Ouarzazate an, und zwar in der Unterkunft der Buschauffeure im Areal der Buszentrale. Dies schien uns erst ein bisschen suspekt, denn nach den Erfahrungen in Bouarfa musste man auf alles gefasst sein. Doch mit unserem bescheidenen Reisebudget waren wir schliesslich froh Geld sparen zu können und willigten ein. Als sich dann nachts die Fensterläden immer wieder bewegten, wurde es uns doch etwas unheimlich. Ich konnte mir vorstellen, dass es neugierige Busfahrer waren die sich vor unserm Zimmer tummelten. Doch wir waren zu müde um die ganz Nacht abwechselnd Wache zu halten und so fielen wir bald in einen gesunden Tiefschlaf.

Am nächsten Morgen ging die Fahrt weiter nach Marrakesch. Dazu mussten wir das Gebirge des Hohen Atlas überqueren. Ab Ouarzazate kehrte die Strasse deshalb der Wüste den Rücken und führte mit vielen engen Kurven über den, auf 2’260 Meter gelegenen, Gebirgspass „Tizi n’Tichka“. Von da hätte man normalerweise einen wunderbaren Blick über die Berge des Hohen Atlas gehabt. Doch an diesem Tag hatten wir kein Glück, denn es war kalt und neblig, sodass wir es vorzogen den kurzen Halt in einem geheizten Café auf der Passhöhe zu verbringen. Während Ina und ich ein warmes Getränk vorzogen, bestellte der Fahrer ein „Coca-Cola Spécial“. Da ich noch nie von so einem Getränk gehört hatte, fragte ich ihn was an diesem Getränk so speziell sei. Er zwinkerte und sagte: Wein! Da in Marokko der Ausschank von Alkohol verboten ist, wird er diskret in einer Coca-Cola Flasche serviert. Allerdings gelingt dies in einer Coco Cola Flasche wohl nur mit Rotwein unbemerkt! Nach dem kurzen Aufenthalt ging es genau so kurvig wieder bergab bis nach Marrakesch, wo wir wieder in eine wärmere Gegend kamen. Eigentlich wollte uns der Busfahrer in der Villa eines Freundes unterbringen, doch wir zogen es vor in ein kleines Hotel zu ziehen. Da er Präsident eines Fussballclubs war, nahm er uns am Nachmittag mit an einen Match. Ich hätte lieber etwas von der bekannten Stadt gesehen und so langweilte ich mich fürchterlich. Doch wir konnten diese gute gemeinte Einladung nicht abschlagen, sonst wäre der fürsorgliche Fahrer wahrscheinlich beleidigt gewesen.


(8) Im Garten der Villa eines Freundes des Bus-Chauffeurs

Im Garten der Villa eines Freundes des Bus-Chauffeurs


Am anderen Morgen drängte uns der Fahrer erneut in die Villa seines Freundes zu ziehen. Ich war dagegen, doch Ina hatte keine Vorbehalte und sah unerwartet nochmals eine Möglichkeit Geld zu sparen. Nach langem hin und her übersiedelten wir schliesslich zu seinem Freund in eine vornehme Villa. Schon am Vortag hatte ich an den Strassenrändern Verkäufer mit Schafsköpfen gesehen. Nun musste ich nach unserer Ankunft zusehen wie der Gastgeber hinter dem Haus genau solchen Köpfen über einem Feuer das Fell abgebrannte. Noch konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese „Delikatesse“ für das Mittagessen vorgesehen war. Im Salon des Gastgebers hatte es weder Tisch noch Stühle, sondern nur Sofas entlang den vier Wänden, so wie es in arabischen Ländern meistens die Regel ist. Also bat er uns auf diesen Sofas Platz zu nehmen und uns zu entspannen. Er schaltete seinem Plattenspieler an und berieselte uns mit klassischer Musik. Am Mittag wurde dann eine Silberplatte mit den halbverkohlten Schafsköpfen in den Raum getragen und vor unseren Füssen auf den Boden gelegt. Begleitet mit klassischer Musik schien mir diese Mahlzeit total absurd und löste bei mir alles andere als Entzücken hervor. Mit Wehmut musste ich an das Nachtessen in der Wüste bei Figuig denken. Der Hunger war plötzlich weg und ich wusste nicht wie ich mich aus der widrigen Situation herausreden konnte. Ich war mir bewusst, dass es wohl eine grosse Ehre war, überhaupt Schafsköpfe essen zu dürfen, aber ich hätte an deren Stelle lieber ein Stück Brot mit Käse gehabt. Zu Glück gab es noch Beilagen die uns mundeten und es erlaubten unser Gesicht zu wahren.

Nach der Siesta fragte der Hausherr ob Ina ein Bad nehmen möchte. Da er mich offensichtlich für einen solchen Genuss nach der Strapaze durch die Wüste ausschloss, fand ich dies erneut seltsam. Doch Ina sah in diesem Angebot überhaupt kein Problem und willigte sofort ein. Unterdessen harrte ich besorgt im Salon und hätte die Zeit eigentlich lieber genutzt um Stadt kennen zu lernen. Erst gegen Abend als Ina frisch gebadet und wunderbar riechend wieder aus dem Bad kam, war der Fahrer bereit mit uns in die Stadt und die farbenfrohen Souks zu fahren. Ich hätte auch gerne gebadet oder wenigstens geduscht um mich endlich wieder einmal sauber zu fühlen. Stattdessen wurde dann in der Stadt wenigstens mein geheimer Hunger endlich mit einem fein grillierten Poulet gestillt. Und das genoss ich auch ungeduscht oder gebadet. Zurück in der Villa wurde der Salon zu einem Nachtlager umfunktioniert, denn wir schliefen in unseren Schlafsäcken auf dem Boden, das heisst auf den schönen Teppichen.

Am nächsten Morgen war plötzlich eine junge Dame mit uns im Haus. Sie gab sich als Freundin des Hausherrn aus und erklärte, dass sie zum Mittagessen ein Couscous zubereiten würde. Gleichzeitig bat sie Ina ihr in der Küche behilflich zu sein. Die neugierige Ina war natürlich sofort einverstanden und so fuhren wir Männer nochmals in die Stadt. Diesmal hatten wir genügend Zeit um herumzuschlendern und die lebendige, farbenfrohe Innenstadt zu geniessen. Am Mittag, als wir hungrig nach Hause kamen, war der Couscous noch nicht bereit und wir mussten uns schliesslich bis um drei Uhr gedulden. Wieso die Zubereitung so viel Zeit brauchte habe ich nie erfahren. Aber das Warten hatte sich gelohnt, denn das Essen war nicht nur ausgezeichnet, sondern auch reichlich. Darum brauchten wir anschliessend eine verdiente Siesta. Gegen Abend fuhren wir nochmals in die Stadt und genossen diesmal ausser dem Souk vor allem „Djemaa el Fna“, den weltberühmten mittelalterlichen Markt- und Henkerplatz. Auf diesem sehr lebendigen Platz sahen wir orientalische Geschichtenerzähler, Schlangenbeschwörer, Gaukler und vieles mehr. Die Stimmung auf diesem Platz war besonders bei Sonnenuntergang und dann nachts unbeschreiblich faszinierend.


(9) Ein Wasserverkäufer auf dem mittelalterlichen Markt- und Henkerplatz „Djemaa el Fna“.

Ein Wasserverkäufer auf dem mittelalterlichen Markt- und Henkerplatz „Djemaa el Fna“.


Am anderen Tag, unterdessen war es 9. September geworden, mussten wir schon um vier Uhr früh aufstehen. Der Hausherr hatte sich nämlich bereit erklärt uns vor seinem Arbeitsbeginn noch bis nach Casablanca mitzunehmen und uns dort kurz die Stadt zu zeigen. Dann verabschiedeten wir uns herzlich von dem netten und ausserordentlich grosszügigen sowie gastfreundlichen Herrn und machten uns auf den Weg nach Rabat. Dort trafen wir ganz zufällig den Franzosen, der uns von Oujda nach Bouarfa mitgenommen hatte. Aber leider konnte er uns diesmal nicht mitnehmen. Auf der schon damals stark befahrenen Strasse nach Tanger war es nicht einfach jemanden zu finden der bereit war ein junges Paar mitzunehmen. Um nicht zu lange am Strassenrand zu warten, bat mich Ina hinter einen Baum zu stellen. Unterdessen stellte sich die blonde Ina an den Strassenrand und zeigte mit hochgezogenem Jupe ihr rechtes Bein. Dieser Köder funktionierte und sofort hielt ein Fahrer mit einem rassigen Auto an. Natürlich hatte mich der Lenker des Autos nicht bemerkt und so war er überrascht, als plötzlich noch ein Junge ins Auto stieg. Doch er sagte nichts und fuhr los. Ina und ich hatten abgemacht, dass ich immer auf dem hinteren Sitz des Fahrers Platz nehme, sodass ich ihm im Falle eines Übergriffs auf Ina sofort den Kopf hätte nach hinten ziehen können. Die Fahrt ging zügig voran, doch plötzlich schwenkte er bei einer kleinen Strasse nach rechts ab. Auf einer Naturstrasse ging die Fahrt dann weiter, vorbei an Feldern ins Unbekannte. Als ich den Fahrer fragte ob dieser Weg wirklich nach Tanger führe meinte er kurz angebunden, dass er uns zuerst noch eine Hühnerfarm zeigen möchte. Da er uns auf diesen Abstecher nicht vorbereitet hatte, wurden wir misstrauisch und sagten, dass wir kein Interesse an Hühnerfarmen hätten und am selben Abend noch in Tanger sein müssten. Doch er schien uns zu ignorieren und fuhr einfach weiter. Jetzt begannen wir heftig zu protestieren und verlangten eine sofortige Umkehr. Unsere scharfe Ablehnung schien ihn zu überraschen, denn er machte kehrt und fuhr ohne ein Wort zu verlieren zurück. Doch sobald wir wieder auf der Hauptstrasse waren, befahl er uns plötzlich auszusteigen. Erleichtert stiegen wir aus dem Wagen und fragten uns was der Mann wohl mit uns vorhatte? Obwohl sich Ina nun nicht mehr so sexy an den Strassenrand getraute, hatten wir Glück und fanden andere Fahrer die uns auf der langen Strecke sicher ans Ziel brachten. Wir hatten auch Glück in Tanger sofort eine günstige Unterkunft zu finden und legten uns nach dem langen Tag sofort todmüde ins Bett.

Am nächsten Tag beschlossen wir einen Ruhetag einzuschalten und noch einen weiteren Tag in Nordafrika zu bleiben. Wir wussten ja eigentlich gar nichts über Tanger und so wurde dieser Tag zu einer Art Unterweisung in Geschichte. Wir staunten nicht schlecht als wir erfuhren, dass der Ort schon im 5. Jahrhundert v. Chr. von den Griechen (Karthagern) gegründet worden war. Später geriet der Ort unter römische Herrschaft bevor er im Jahre 702 von den Arabern erobert wurde. Dann folgten die Portugiesen, dann die Spanier und die Briten, bis Tanger im Jahre 1684 schliesslich an Marokko übergeben wurde. Obwohl dies sehr interessant war, hatten wir aber keine Lust Spuren der Vergangenheit aufzuspüren und Stunden in Musen zu verbringen. Dafür gingen wir, wie die vielen Touristen, in die beliebte Medina (Altstadt) mit ihren Märkten, den Handwerksbetrieben und Cafés. Das emsige Treiben im Souk fanden wir viel interessanter. Was uns da besonders auffiel waren die Rif-Berber Frauen mit ihren grossen Strohhüten und den rot-weiss gestreiften Röcken. Sie sassen überall an Strassenrändern und verkauften Früchte und Gemüse oder handgefertigte Souvenirs. Diese farbenfrohe Kleidung war typisch in der Gegend von Tanger und Tétouan. Wir hatten schon während der ganzen Reise hinter dem Hohen Atlas beobachtet, dass die Frauen je nach Ort und Region verschieden gekleidet waren. Auch die Art der Kopfbedeckung änderte sich immer wieder, auch für Männer. Ein geübtes Auge konnte deshalb immer schnell erkennen woher jemand kam und zu welcher ethnischen Gruppe die Person gehörte. Eine „Dächlichappe“ oder Baseballkappe wie wir sie bei uns trugen, sahen wir nie. Wie wir dann selbst erfahren mussten, ist eine solche Kopfbedeckung in der Wüste ziemlich untauglich. Ein Kopftuch hingegen schützt nicht nur den Kopf, sondern auch das Gesicht und vor allem auch den Nacken vor Wind und Sand in der Wüste. Nur zu schnell war der letzte Tag auf afrikanischem Boden vorüber, ein Tag an dem wir wieder viel Neues gesehen und gelernt hatten.

Am folgenden Tag schifften wir uns für die Fahrt nach Algeciras ein. Die Stadt liegt noch in der Strasse von Gibraltar, allerdings schon auf der Mittelmeerseite. Wir verloren hier keine Zeit und nahmen dort sofort ein anderes Schiff, das uns nach Gibraltar brachte. Auf dem Schiff trafen wir zwei Schweizer die von ihrer Reise genau so viel zu erzählen wussten wie wir. Die Südspitze der iberischen Halbinsel steht seit 1704 unter der Souveränität des Vereinigten Königreiches, wird aber auch von Spanien beansprucht. Bei der Ankunft staunten wir deshalb über das heftige Treiben und besonders über die grosse Anzahl von verschiedenen Währungen die hier gewechselt wurden. Nach einem kurzen Rundgang in der Stadt und einem gemeinsamen Mittagessen mit unseren Reisekollegen aus der Schweiz wollten wir natürlich auch den „Fels von Gibraltar“ sehen. Wir beschlossen zusammen mit einem Taxi zu diesem Wahrzeichen der Stadt zu fahren um von dort einen Überblick auf die Gegend zu haben. Weil auf diesem Felsen freilebende Affen vorkommen, wird er auch „Affenfelsen“ genannt. Auf dem Weg zu den Aussichtspunkten kann man sie nicht verpassen, denn sie sind überall und sprangen sogar auf unsere Köpfe. Obwohl man sie freilebend bezeichnet, schienen sie uns eher wie Haustiere die regelmässig von Menschen gefüttert werden. Gibraltar ist auch durch diese Tiere ein Touristenort geworden. Wir waren den grossen Rummel in dieser Stadt nicht mehr gewohnt, blieben aber trotzdem noch eine Nacht in Gibraltar und übernachteten in einer Jugendherberge.

Am nächsten Morgen machten wir uns gegen Mittag auf den Weg nach Malaga, doch an der spanischen Grenze fand Ina ihren Pass nicht mehr. Wie ein Wunder hatte ihn jemand gefunden und so musste sie wieder zurück in die Stadt um ihn dort abzuholen. Dann nahmen wir erneut einen Anlauf um nach Malaga zu kommen, doch bei dem emsigen Verkehr war das extrem schwierig. Schliesslich hatte jemand mit uns Erbarmen und brachte uns bis ausserhalb der Stadt zu einer wichtigen Strassenkreuzung. Doch da hatte es bereits schon viele andere junge Leute die versuchten mit Autostop weiter zu kommen. Es bestand eine richtige Konkurrenz. Doch nach einer Weile Geduld hatten wir Glück und ein englischer Geschäftsmann hielt sein Fahrzeug neben uns an. Es schien froh jemand gefunden zu haben, der ihn auf seinem Weg nach Malaga begleitete. Da Ina die englische Sprache besser beherrschte als ich, unterhielten sich die Beiden auf dem ganzen Weg vortrefflich. Bei der Ankunft vor seiner noblen Absteige, dem 5 Sterne-Hotel Miramar, lud uns der leutselige Herr am Abend zu einem „Drink“ ins Hotel ein. Wie immer war ich skeptisch, doch Ina sah in seiner Einladung weder ein Problem noch eine Gefahr. Nachdem wir für uns ein günstiges Zimmer gefunden hatten und uns da ausgeruht hatten, folgten wir seinem Angebot und besuchten ihn im Hotel. Wir hatten nämlich einen Riesenhunger und hofften fest, dass er uns zum Nachtessen einladen würde. Nachdem er uns in der Lobby empfangen hatte, bat er uns in seine Suite. Wieder beschlich mich ein seltsames Gefühl, liess mir aber nichts mehr anmerken. Er war sehr galant, öffnete sofort eine Flasche Whiskey, die er vorher im Duty-Free Shop in Gibraltar gekauft hatte, und füllte drei Gläser. Ich hätte lieber einen Süssmost oder einfach ein Glas Wasser getrunken. Da wir ja seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatten knurrte mein leerer Magen schon eine Weile unaufhörlich. Daher konnte ich nur hoffen, dass es zum Whiskey wenigstens ein Aperitif-Gebäck zum knabbern geben würde und stiess mit den beiden Wohlgelaunten an. Aber es gab nichts für meinen Magen. Ina und der Engländer schienen keinen Hunger zu haben und amüsierten sich köstlich miteinander. Da ich mit meinen limitierten Sprachkenntnissen nicht mithalten konnte, fühlte ich mich zunehmend ausgegrenzt. Dafür gesellte sich der Whiskey zu mir und nahm meinen Kopf in Beschlag. Dabei wurde ich sehr müde und wollte nichts anderes als mich zur Ruhe legen. Doch Ina hörte nicht auf mein Drängen das Hotel zu verlassen und schwatze weiter bis die ganze Flasche Whiskey leer war. Beide hatten nicht bemerkt, dass es unterdessen weit über Mitternacht geworden war und damit auch der Engländer das Nachtessen verpasst hatte. Total betrunken und immer noch mit leerem Magen verabschiedeten wir uns schliesslich und verliessen torkelnd das noble Hotel.

Ab diesem Moment machte das Gedächtnis nicht mehr mit und es bleibt deshalb ungewiss wie wir zu unserer billigen Unterkunft zurückfanden und ob wir überhaupt dort übernachtet hatten. Die Erinnerungsfähigkeit kam jedenfalls erst wieder ab dem nächsten Morgen zurück und zwar bei Sonnenaufgang auf den Burgmauern des „Castillo de Gibralfaro“. Hatten wir vielleicht hier im Freien übernachtet? Jedenfalls waren wir trotz Katerstimmung und flauem Gefühl im Magen bereits wieder fähig die Aussicht über die Stadt zu geniessen. Gegen Mittag trafen wir den Engländer erneut, denn er wollte uns die Stadt zeigen und mit uns ausserhalb der Stadt ans Meer fahren. Der nette Mann gab sich wirklich sehr Mühe und wir genossen den sorglosen Morgen am Meer. Auch das Wetter machte mit und wir wären so gerne noch länger geblieben. Doch unser Reiseplan musste eingehalten werden und so machten wir uns am späteren Nachmittag, als es nicht mehr so heiss war, auf den Weg nach Granada. Auf dieser Strecke waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs und so ging unsere Reise erst beim Eindunkeln weiter. Als wir endlich in einer Art Mini Van Platz genommen hatten, entdeckten wir hinter unserem Sitz so etwas wie ein menschliches Bein. Es lag auf einem Blechgeschirr und war mit Blut verschmiert. Ina lachte und meinte es sei doch nur ein Schinken, ein „Jamón Ibérico“. Doch ein solcher Schinken wäre doch nicht so lang wie ein menschliches Bein und blutig dazu? Da wir uns mit dem Fahrer nicht verständigen konnten, wurden wir unsicher und misstrauisch. Als dann der Fahrer noch plötzlich auf einer total verlassenen Strecke anhielt, den Motor abstellte und ausstieg, bekamen wir Angst. Draussen war es stockdunkel und so wäre aussteigen und wegrennen wohl sinnlos gewesen. Während er mit einer Taschenlampe etwas am Motor hantierte, hatten wir keine andere Beschäftigung als immer wieder das blutige Bein hinter uns zu inspizieren. Ina war überzeugt, dass es kein menschlicher Körperteil war, konnte aber auch nicht sagen was es anderes sein könnte. Endlich stieg der Fahrer wieder ein und die Fahrt ging weiter. Wir bedauerten, dass wir uns mit ihm nicht verständigen konnten, denn dies hätte unsere Besorgnis sicher klären können. Nach etwa einer Stunde kamen wir sicher in Granada an. Da es schon spät war, brachte uns der Mann zu einem kleinen, günstigen Hotel. Mit dieser Geste bewies er, dass er kein Bösewicht war. Doch bevor wir uns von dem Fahrer verabschiedeten wollten wir wissen, ob das Hotel überhaupt Zimmer für unseren Geldbeutel hatte und wie es drinnen aussah. Dies führte sofort zum Dilemma wer von uns Beiden dies nun tun sollte. Da ich Ina nicht alleine mit dem Fahrer im Auto lassen wollte, schlug ich vor, dass Ina ins Hotel gehen soll. In einem Hotel konnte ihr ja nichts geschehen. Doch als sich unser Fahrer und ich fast eine halbe Stunde gedulden mussten, bekam ich Angst. Was war wohl mit ihr geschehen? Als sie zurückkam, gestand sie Belästigungen und dass man sie in ein Zimmer einschliessen wollte. Da es schon sehr spät war und wir die Bereitwilligkeit des Fahrers nicht weiter strapazieren wollten, entschieden wir uns dann aber trotzdem in diesem äusserst lärmigen Hotel zu übernachten.

Am nächsten Morgen war die nächtliche Fahrt nach Granada noch nicht ganz vergessen, doch nach dem Besuch der Kasbah „Alhambra“ auf dem Sabikah-Hügel kamen wir bald wieder auf andere Gedanken. Diese Stadtburg gilt als eines der schönsten Beispiele der islamischen Kunst. Der maurische Bausstil faszinierte mich so gewaltig, dass ich ständig fotografieren musste. Besonders die Decken der Säle, die Stalaktitengewölbe, konnte ich nicht genug bewundern. Aber auch der Löwenhof mit den Löwenbrunnen, Comares, der Myrtenhof mit der spiegelglatten Wasseroberfläche im Becken waren unbeschreiblich schön. Die Alhambra war damals noch nicht die meistbesuchte Touristenattraktion Europas und so konnte ich noch Fotos ohne störende Leute knipsen. Nach einem Bummel im schönen Garten und Teichbereich der Burg kehrten wir überwältigt ins Hotel zurück. Doch damit war die Neugier noch nicht gestillt. Trotz Müdigkeit wollten wir noch unbedingt die berühmten und geheimnisvollen Zigeunerwohnungen in den Höhlen im Sacromonte Viertel besuchen. In der Stadt hatten wir zuvor zwei Deutsche Tramper getroffen die auch zu den Höhlen wollten und so fuhren wir abends zusammen in dieses Quartier. Es befand sich direkt gegenüber der Alhambra auf der anderen Flussseite des Darro und erlaubte von hier wunderbare Fotos von diesem imposanten Bauwerk zu knipsen. In den weiss getünchten Höhlen der Zigeuner waren die Wände mit glänzenden Kupferkesseln an den Wänden geschmückt. Natürlich wollten wir die berühmten Flamenco-Tänze in diesen Höhlen nicht verpassen und warteten bis fast Mitternacht. Wahrscheinlich hatte uns diese lange Wartezeit zermürbt, denn der Auftritt der Zigeuner, der „Gitanes“, überzeugte uns nicht und auch ihre Musik liess uns nicht in Trance versetzen. Das Ganze kam uns äusserst kommerziell vor und wir vermissten die elektrisierende Leidenschaft der Tänzer und das Feuer in den Augen der Zigeuner. Etwas enttäuscht kehrten wir deshalb nachher in unsere Pensionen zurück.


(10) Im märchenhaften Garten des Alhambra

Im märchenhaften Garten des Alhambra


Granada hatte uns so beeindruckt, dass wir am anderen Morgen noch den „Palacio de Generalife“, oder auch Sommerpalast genannt, besuchten. Ursprünglich war der „Generalife“ über einen überdachten Fußweg über die Schlucht hinweg mit der Alhambra verbunden. Er besteht aus dem Hof des Wasserkanals, dem Garten der Sultanin und Pavillons, alles eingerahmt von Blumenbeeten, Brunnen, Wasserspielen und Kolonnaden. Mit all den vielen farbigen Blumen schien uns die Anlage schlicht zauberhaft schön. Man sagte uns, dass der „Generalife einer der ältesten verbleibenden maurischen Gärten sei. Nach dem Mittag waren wir wieder auf der Suche nach einer guten Seele die uns nach Sevilla bringen würde. Bis nach Antequera hatte wir Glück, zwei Spanier waren bereit uns mitzunehmen, aber weiter nach Sevilla kamen wir nur noch mit einem öffentlichen Bus. In Sevilla suchten wir dann verzweifelt eine Unterkunft. Sevilla war halt bei Touristen schon damals bekannt und so erweiterte sich die Suche bis an den Stadtrand. Schliesslich fanden wir eine Bar deren Besitzer bereit war uns ein Zimmer zu vermieten. Das Gebäude hatte, wie die meisten Gebäude in Andalusien, einen Innenhof. Die Bar war im Erdgeschoss und fast die ganze Nacht offen. Der Lärm und das Geschrei im Innenhof waren unerträglich und widerhallten rücksichtslos an den Mauern bis in unser Zimmer. Einmal ging ich hinunter um zu sehen wieso die Leute so schrien. Aber da war nichts Aussergewöhnliches zu bemerken, ausser dass sich alle einfach sehr laut unterhielten. Zudem war es sehr heiss und vermieste uns zusätzlich einen guten Schlaf. Als dann endlich Ruhe einkehrt war, die Temperatur erträglich geworden war und als wir endlich hätten schlafen können, war es bereits Morgen und wir mussten aufstehen. Doch beim Sonnenaufgang war aber in Sevilla, ausser der Müllabfuhr, kein Mensch auf der Strasse und so mussten wir uns bis fast neun Uhr gedulden um ein Frühstück zu bekommen. Aber da wir immer noch sehr müde waren, benutzten wir die Zeit um noch ein bisschen zu schlafen.

Was uns in Sevilla am Meisten interessierte war die Altstadt mit den historischen Gebäuden. Schon von weit bat Sevilla mit den zahlreichen Türmen von allen Seiten einen imposanten Eindruck. Islamisierte Berber eroberten die Stadt im Jahre 712 und prägten schliesslich die Altstadt mit ihren engen Gassen. Zum Glück hatten wir uns einen Stadtplan besorgt, denn sonst wären in dem riesigen Labyrinth total verloren gewesen. In den Gassen bemerkten wir die zahlreichen palastartigen Gebäude im altrömischen Stil, mit den schönen, marmorgetäfelten Höfen. Sonst aber beherrschte die orientalische Bauweise die Altstadt. Nicht zu übersehen war die Kathedrale Maria de la Sede, die früher eine Moschee war, und der weitsichtbare, viereckige Glockenturm „Giralda“. Er wurde ursprünglich von Abu Iussuf Lakub im Jahre 1196 als Minarett der Moschee gebaut. Es fiel uns auf, dass der Turm im innern keine Treppen hatte, sondern Rampen. Man erklärte uns, dass die arabischen Machthaber damals die Höhe von 82 Metern nicht zu Fuss, sondern mit dem Pferd erreichten. Dann besuchten wir das zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende „Alcázar“, oder maurischer Palast genannt, mit den prächtigen Sälen und Hallen sowie den schönen Gärten. Direkt am Fluss Guadalquivir bestaunten wir den zwölfeckigen „Torre del Oro“ der ursprünglich zur Bewachung des Flusses und Schutz der Stadt diente. Man sagte uns, dass der Turm früher mit vergoldeten Keramikkacheln verkleidet war und deshalb heute „Goldturm“ genannt wird. Natürlich besuchten wir auch einen der bekanntesten Plätze Sevillas, die „Plaza de España“. Er wurde ursprünglich zum Anlass der Iberoamerikanischen Ausstellung im Jahre 1929 im Maria-Luisa-Park erstellt. An diesem Tag zeigte der Thermometer 34°C und so versuchten wir uns in diesem Park mit seinen vielen schattenspendenden Bäumen von den anstrengenden Besuchen etwas auszuruhen.

Cordoba war unser nächstes Ziel und so standen wir am nächsten Morgen erneut mit winkender Hand auf der Strasse. Und wieder hatten wir Glück und waren schon in kurzer Zeit vor der sogenannten Römischen Brücke (Puente Viejo), der Brücke die über den Guadalquivir zur Altstadt von Cordoba führt. Von dieser Brücke hatte man eine wunderbare Aussicht auf die Mezquita. Aus unserem Reiseführer entnahmen wir, dass die geschichtsträchtige Stadt schon im Jahre 169 v. Chr. von den Römern besetzt wurde und sich später als Corduba zum Hauptort Südspaniens entwickelte. Im Jahre 711 wurde die Stadt von den Mauren eingenommen und wurde ab 756 Hauptstadt des „Umayyadischen Emirats von Córdoba“. Spannungen zwischen Christen, Juden und Muslimen scheinen aus dieser Zeit nicht bekannt. Im Rahmen der Zurückeroberung (der Reconquista) im Jahre 1236 wurde Cordoba von den christlichen Truppen aus Kastilien erobert. Während des spanischen Unabhängigkeitskrieges wurde die Stadt dann im Jahre 1808 von französischen Truppen eingenommen, ausgeplündert und zum großen Teil zerstört.

Was uns aber besonders Beeindruckte war die Mezquita-Kathedrale, das absolut bedeutendste Bauwerk der Stadt. Beim Betreten waren wir nicht nur überwältigt von den vielen rot-weiss gestreiften, übereinander liegenden Hufeisenbögen, die auf 856 Säulen aus Jaspis, Onyx, Marmor und Granit ruhen, sondern auch über ihre Ausdehnung. Die Gebetshalle allein nimmt knapp zwei Drittel der ganzen Flächen ein und ist damit einer der grössten Sakralbauten der Welt. An dem Ort wo heute die Moschee steht war früher ein römischer Tempel und danach eine westgotische Kathedrale. Nach ihrer Zerstörung durch die Muslime im Jahre 784 wurde an dieser Stelle mit dem Bau dieser Moschee begonnen. In den zwei folgenden Jahrhunderten wurde sie immer wieder erweitert. Eine dominierende Zentralkuppel so wie andere Moscheen hatte sie nie. Die heutige Ausdehnung erlangte das Gebäude in den Jahren 987/988 mit der Erweiterung der Außenschiffe und des Orangenhofes (spanisch: Patio de Naranjas). Dazu kam die wohl bedeutendste Gebetsnische maurischer Herkunft, ein gewölbter Schrein mit byzantinischen Mosaiken. Während der Rückeroberung durch die Christen im Jahre 1236 wurde die Moschee zur christlichen Kathedrale geweiht und das Minarett mit einem Kreuz versehen. Die Moschee war so groß, dass man in ihrer Mitte ab dem Jahr 1523 ein gewaltiges Kirchenschiff im Stil der Renaissance einbauen liess. Natürlich machten wir dann auch noch einen Streifzug durch die Altstadt und bewunderten die schöne „Plaza de la Corredera“, ein beeindruckender Platz wo früher Stierkämpfe ausgetragen wurden. Wie immer schien uns die Zeit zu kurz bemessen um noch mehr zu entdecken und länger zu bleiben. Aber wir waren vernünftig und zogen uns in die Herberge zurück um uns für den nächsten Tag auszuruhen.

Es war noch dunkel als wir uns am nächsten Morgen sehr früh auf den Weg nach Madrid machten. Bis uns ein Lastwagenfahrer ein Stück weit mitnahm, mussten wir sehr lange auf der Landstasse zu Fuss gehen. Anschliessend hatten wir gleich wieder Glück und fanden ein Ehepaar aus Spanien das uns bis an unser Ziel mitnahm. Dies erlaubte uns sogar noch am Nachmittag die Stadt zu erkunden und in den Strassen der Grossstadt zu bummeln. Wir hatten uns in einer der vielen Pensionen mitten in der Stadt installiert. Das erlaubte eine maximale Bewegungsfreiheit zu Fuss. Schon am anderen Morgen gingen wir in Richtung „Prado Museum“, wo wir erst einmal lange bei der Kasse anstehen mussten. Es war mein erster Besuch in einem Museum und auch meine erste Begegnung mit der klassischen Malerei. Ina wusste da schon viel mehr Bescheid und so kam ich mir wie ein Banause vor oder eben wie ein Bub vom Land, und dies obwohl mein Onkel Heiri Kunstmaler war. Aber ich brauchte nicht lange um mich in der Umgebung von Kunst wohl zu fühlen. Bei einigen Bildern musste ich einfach innehalten und staunen. Von meinen bevorzugten Malern kaufte ich Postkarten um sie zu Hause meinen Eltern zu zeigen. Obwohl mir Ina von den Bildern total absorbiert schien, hatte sie die Werbung für einen Stierkampf desselben Abends nicht übersehen. So schlug sie plötzlich vor diesem Stierkampf, oder „corrida de toros“, beizuwohnen. Sie argumentierte, dass man in Spanien die Gelegenheit einen Stierkampf zu sehen nicht verpassen sollte. Ich hatte keine grosse Lust, bin dann aber trotzdem abends mit ihr hingegangen. Zu Beginn der Veranstaltung zogen die Beteiligten in die Arena ein und präsentierten sich dem Publikum. Da waren erst einmal die stolzen „Matadores“, dann die “Picadores“ oder Lanzenreiter und die „Banderilleros“. Nach dieser ersten Phase, die man „Paseillo“ nannte, stand jeder Stier einzeln nacheinander einem Matador gegenüber. Und jedem Stier wurde während einem ziemlich ungleichen Kampf schliesslich triumphierend das Leben ausgelöscht. Obwohl ich für diese „Schlachterei“ kein Verständnis fand, faszinierten mich die Musik und die Stimmung in der Arena. Noch lange widerhallten in meinen Ohren die leidenschaftlichen und glühenden Rufe „Olé!“.

Als wir dann spät abends wieder zurück in unsere Pension kamen musste ich feststellen, dass all mein Erspartes das ich unter der Matratze versteckt hatte, verschwunden war. Eigentlich waren es „nur“ 20 US Doller, aber damals waren diese mehr als 100 CHF wert und für mich eben fast ein Vermögen. Ich wollte dieses Geld nicht mit in die Stadt mitnehmen und glaubte es dort in Sicherheit. Sofort meldete ich das Verschwinden der Vermieterin. Doch diese meinte ich hätte eine Lüge erfunden um von ihr zu Geld zu erpressen oder die Miete nicht bezahlen zu müssen. Sie schrie vor sich hin und konnte sich vor Wut und Empörung kaum erholen. Ich liess sie schreien und ging verzweifelt in unser Zimmer zurück. Ich war mir bewusst, dass damit meine Reise zu Ende war. Mein restliches Geld war mit diesem Vorfall noch knapper geworden und Ina meinte sie hätte keine Reserven um mir beizustehen. Am anderen Tag ging ich zu Polizei, doch die Agenten lachten nur. Wie konnte man so naiv sein und sein Geld unter einer Matratze verstecken? Dann versuchte ich es beim Schweizer Konsulat. Aber auch da fand ich kein Verständnis. Wie die Vermieterin in der Pension meinte der Staatsfunktionär am Schalter, dass ich diese Geschichte nur erfunden hätte um Geld vom Konsulat zu ergattern. „Da könnte jeder kommen und Geld verlangen“, sagte er schnippisch. Ich versprach ihm das geliehene Geld in der Schweiz sofort wieder zurück zu zahlen. Aber er blieb stur. Nach seiner Erfahrung würde das Geld sowieso nie zurückbezahlt. Als ich mich dann noch getraute zu fragen wie ich jetzt ohne Geld wieder nach Hause kommen würde, meinte er höhnisch: per Autostop! Ja, diese Reisemethode kannte ich ja schon seit einer Weile und man konnte damit tatsächlich Geld sparen. Aber er schien zu ignorieren, dass man fürs Übernachten, das Essen und Trinken auch Geld braucht und dass meine restlichen Batzen nun wohl kaum mehr dazu reichen würden. Frustriert und traurig zog ich mich in die verwünschte Pension zurück.

Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von Ina. Natürlich versuchte ich zu verstehen, dass sie noch weitere Museen besuchen wollte. Trotzdem hatte ich Mühe mit der Tatsache, dass sie mich mit meinem Schicksal alleine liess. Zudem hatte ich als einsamer Bursche nun viel mehr Mühe jemanden zu finden der auf meine international bekannte „Anhalter-Geste“ reagieren würde. Ausserdem glich ich nach drei Wochen Entdeckungsreise eher einem abgemagerten Landstreicher und war offensichtlich alles andere als geschniegelt. Ausserdem plagten mich immer wieder Flöhe und sehr schmerzhafte Furunkel. Es wurde schon dunkel als endlich ein Auto anhielt. Ein Ehepaar aus Genf hatte meine Schweizerfahne auf meinem Reisesack gesehen und sich deshalb entschieden mich bis nach „Medinaceli“ mit mitzunehmen. Im Auto entstand bald eine rege Konversation und ich musste von meiner abenteuerlichen Reise erzählen. Als sie erfuhren was mir auf der Botschaft in Madrid passiert war wurden sie sprachlos, denn Beide arbeiteten als Berater auf genau dieser Botschaft. Sie waren überzeugt, dass die Botschaft in jedem Fall Schweizer Staatbürgern beistehen müsste und dass der Beamte eine persönliche und falsche Entscheidung getroffen hatte. Aus diesem Grund waren die Beiden sofort bereit mir weiter zu helfen und mich am nächsten Tag in ihrer schönen Limousine bis nach Barcelona mitzunehmen. Ich schätzte Ihre Einladung ausserordentlich, denn die Tramperei hatte mich sehr müde gemacht.

Auf dem Weg zur Hauptstadt Kataloniens entschieden sich „meine beiden Chauffeure“ am nächsten Tag in der Provinz Tarragona einen Zwischenhalt zu machen. Sie wollten das Monestir de Santa Maria de Poblet besuchen. Es schien ganz normal, dass ich sie dabei begleitete und auch die Zisterzienser-Abtei kennen lernen durfte. Die Abtei war damals noch weitgehend unbekannt und wurde erst im Jahre 1991 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Obwohl ich den Besuch sehr interessant fand, hatte ich meinen Kopf anderswo. Ständig fragte ich mich wie ich mit dem wenigen Geld im Sack nach Hause kam. In Barcelona wohnte Ruth, eine Bekannte die ich aus der Zeit in Perugia kannte, und so hoffte ich, dass ich bei ihr eine Schlafgelegenheit finden würde. Als ich meine Gedanken mit dem Ehepaar teilte, fuhren sie mit mir bis in die Stadtmitte und liessen mich erst aussteigen als wir fast vor dem Haus waren wo Ruth wohnte. Ich schätzte ihre schlichte Grosszügigkeit ausserordentlich und so verabschiedete ich mich von ihnen mit grosser Dankbarkeit.

Ruth hatte mir geschrieben, dass sie bei einer älteren Frau und ihrem Sohn als Haushälterin arbeite und gleichzeitig die spanische Sprache lerne. Und nun stand ich also vor einer grossen Türe mit der Hausnummer die mir Ruth angegeben hatte, doch die Türe war geschlossen. Über die hauseigene Sprechanlage teilte ich Ruth meine Ankunft mit. Etwas bedrückt teilte sie mir mit, dass sie leider niemand ins Haus und noch weniger in die Wohnung lassen dürfe. Entgegen den Befehlen des Hausherrn und mit schlechtem Gewissen liess sie die alte Frau während einigen Minuten alleine und begrüsste mich dann draussen vor dem Hauseingang. Die Situation war ihr äusserst peinlich und sie versuchte sich zu entschuldigen. Zudem schien sie verängstigt und so versuchte ich sie zu beruhigen. Als sie erkannte wie ausgehungert ich war, brachte sie mir nachher etwas Kleines zu essen und zu trinken. Da ich mich auf der Türschwelle des Hauses nicht aufhalten durfte, nahm ich die willkommene Verköstigung auf dem Trottoir, mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt, wie ein Bettler ein.

Ruth hatte mir auch geschrieben, dass ihr Arbeitgeber Direktor in einem Hotel sei und dass er für mich sicher eine Unterkunft finden würde, ja mich vielleicht sogar in seiner Wohnung schlafen liess. Bevor er nach Hause kam musste ich allerdings weiter auf der Strasse vor der Haustüre harren. Ich wartete sehr lange, es wurde Nacht und auf den Strassen wurde es ruhig und gefährlich. Ich fühlte mich plötzlich miserabel und total mutlos. Nach Mitternacht kam der elegante Herr endlich nach Hause. Er ignorierte mich und verschwand wortlos im Haus. Bis er wieder an der Haustüre erschien musste ich nochmals lange warten. Dann forderte er mich auf in ein Taxi zu steigen und mit ihm in die Stadt zu fahren. Während der Fahrt sprach er kein Wort mit mir und so wusste ich weder wie er hiess noch was er mit mir vorhatte. Er gab nur dem Chauffeur Anweisungen und nach etwa 20 Minuten stiegen wir in einer dunklen Strasse aus. Er klatschte in beide Hände und rief mit kräftiger Stimme: „Sereno“! Damals gab es in jeder Strasse Barcelonas einen Nachtwächter, den „Sereno“. Er sorgte nachts für Sicherheit und Ordnung. Wie aus dem Nichts erschien ein dunkel gekleideter Mann der an einem Eisenring eine grosse Anzahl Schlüssel mit sich trug. Mit diesen hatte er zu allen Häusern an dieser Strasse Zugang. Auf Befehl des Hoteldirektors öffnete er die Tür eines Hauses und liess uns eintreten. Anfangs hatte ich das Gefühl in einer Pension zu sein, denn eine Frau musterte uns kritisch durch ein kleines Schalterfenster. Doch dann musste ich bald mit Entsetzen feststellen, dass er mich in ein Freudenhaus gebracht hatte. Er stand inzwischen herrisch vor dem Schalter und feilschte wortlaut mit der Puffmutter. Ich begann zu verstehen, dass er für mich einfach „nur“ ein Zimmer mieten wollte. Das aber gefiel der Besitzerin überhaupt nicht, denn so wurde das Zimmer ja gar nicht effizient genutzt und zudem blieben ihre Damen arbeitslos. Trotzdem willigte sie schliesslich ein, allerdings mit der Bedingung meinen Reisepass bei ihr zu hinterlegen. Nachdem der Hoteldirektor die Rechnung beglichen hatte, verschwand er sichtbar angewidert in der dunklen Nacht. Die Frau brachte mich dann mürrisch zu einem Zimmer im Obergeschoss. Ich war todmüde und liess mich sofort auf das grosse Bett fallen, wo ich wie betäubt bis fast am Mittag des nächsten Tages liegen blieb. Erst als mich scheue Sonnenstrahlen am Morgen weckten stellte ich fest, dass das Zimmer rosa tapeziert war und an den Wänden sowie an der Decke Spiegel angebracht waren. So war das also in einem Puff: man konnte sich von allen Seiten beschauen. Als ich mit Schrecken überall mein schlaftrunkenes und ausgemergeltes Gesicht entdeckte zog ich mich sofort an, verlangte meinen Reisepass am Empfang und verliess beschämt das Haus. Ich wollte mir sofort eine „anständige“ Pension suchen.

An diesem Tag konnte sich Ruth ausnahmsweise für einige Stunden frei machen und so half sie mir am Vormittag eine andere Unterkunft zu finden. Leider suchten wir vergebens. Es war halt immer noch Hochsaison und die günstigen Unterkünfte deshalb voll ausgebucht. Dies war ja wahrscheinlich auch der Grund gewesen warum der Hoteldirektor für mich keine normale Unterkunft gefunden hatte und sich dann für die Notlösung „Freudenhaus“ entschieden hatte. Nach einem gemeinsamen Mittagessen entschied ich Barcelona sofort zu verlassen und mit der Bahn etwas ausserhalb der Hauptstadt Kataloniens, nach Arenys de Mar, zu fahren. Ruth bedauerte die unglückliche Situation und dass sie mir nicht helfen konnte, aber eigentlich bedauerte ich sie genauso. Ein komisches Gefühl sagte mir nämlich, dass sie von ihrem Arbeitgeber wie eine Sklavin behandelt und ausgenutzt wurde. Sie musste rund um die Uhr für ihn und seine Mutter anwesend sein. Diese Vermutung und all die ungewohnten Erlebnisse während den letzten 24 Stunden hatten mich nachdenklich gemacht. Zudem schmerzte mich erneut ein Furunkel, diesmal am Hals. Ich wurde mir bewusst, dass ich Ruhe, Abstand vom Erlebten und vor allem Schlaf brauchte. Zu Glück fand ich in Arenys de Mar sofort ein Nachtlager in der Jugendherberge. Doch der Abszess liess mich kaum schlafen und so erwachte ich am nächsten Tag erneut todmüde. Da sich die Sonne an diesem Morgen hinter Wolken versteckte, entschied ich erst einmal in der Herberge zu bleiben und einfach nur zu schlafen. Als dann am Mittag der Abszess unerwartet aufbrach und der Schmerz plötzlich verschwunden war, machte ich am Nachmittag einen Spaziergang am Meer und beobachtete die Fischer. Endlich fand ich die längst fällige Entspannung und war bereit wieder etwas Energie zu tanken. Natürlich hatte mich die lange Reise nicht nur mental gefordert, sondern mir auch körperlich stark zugesetzt. Mit dem unregelmässigen und oft ungenügenden oder schlechten Essen hatte ich an Gewicht verloren. Ich war mir deshalb bewusst, dass ich mit meiner aktuellen Erscheinung meine Eltern erschrecken würde. So gönnte ich mir noch zwei Tage absolute Ruhe in Arenys de Mar aus, bevor ich mich auf den Weg nach Hause getraute. Da ich das „Trampen“ inzwischen äusserst satthatte, entschied ich das verbleibende „Vermögen“ in eine Fahrkarte mit der Bahn von Barcelona in die Schweiz zu investieren. Die langen Stunden im Zug waren etwas mühsam gewesen, aber dann war ich schliesslich froh wieder zu Hause zu sein und endlich wieder im eigenen Bett schlafen zu dürfen
EK/WK in Schwyz (3.10 -24.10. 1964)
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11.1.  Die Heimreise und Aufenthalt in der Schweiz (01.09.– 28.09.1964) – EK/WK in Schwyz (3.10 -24.10. 1964) .

Nach meiner Rückkehr aus Algerien arbeitete ich die paar Tage bis zum meinem zweiten militärischen Wiederholungskurs (WK) bei meinem Vater. Auf diese Weise konnte ich mich erneut auf ein geregeltes und diszipliniertes Leben vorbereiten. Diesmal musste ich in Schwyz einrücken. Wegen meinem Aufenthalt in Algerien hatte ich mein reguläres Aufgebot verpasst und musste meinen obligaten WK nun in einer anderen Einheit nachholen. Im Gegensatz zu meinem ersten WK war der Dienst in Schwyz äusserst langweilig. Als Motorfahrer hatten wir selten etwas zu tun und so suchte ich mir oft eine Beschäftigung in der Militär-Küche. Nach dem Vorbereiten der bekannten „Militär-Käseschnitten“ oder dem Rüsten von Gemüse hatte ich wenigstens immer das Gefühl etwas Nützliches getan zu haben. Auch das Wetter machte den Dienst nicht angenehmer, denn es war meistens regnerisch und kalt. Nach zwei Wochen in der Küche waren Manöver in der ganzen Gegend und eine Dislozierung der Funkstationen angesagt. Ich war der Fahrer eines Funkteams das sich versteckt in einem Bauernhaus oberhalb des Klosters von Einsiedeln installiert hatte. Aber auch hier herrschte meistens Langeweile. Ich verbrachte die meiste Zeit auf der Heubühne oder darunter im Stall bei den Kühen wo es wenigstens angenehm warm war. Erst am Abend wurde es irgendwie spannend, denn es war ja Manöver angesagt und man wusste nie wann man angegriffen wurde. Als Motorfahrer musste ich deshalb auch öfters die Wache übernehmen. Beim „Wache schieben“, alleine vor einem Kuhstall auf der Anhöhe über Einsiedeln, wurde es mir manchmal schon unheimlich zu Mute. Nach dem Abbruch der „Mobilisation“ fuhren wir zurück nach Schwyz, wo wir endlich wieder in einem Bett schlafen konnten. Leider ärgerte mich erneut unser Feldweibel. Jeden Morgen schrie er mit äusserst schriller Stimme „Tagwache“ in den Schlafraum. Dann machte er einen Rundgang und schlug zusätzlichen mit seinen Militärschuhen gegen jedes einzelne Doppelbett, sodass das Eisengestell zu zittern begann. Ich hatte das Gefühl, dass uns der gehasste Feldweibel jeden Tag mit seinem Auftreten Eindruck machen wollte. Dabei war er ja nicht einmal fähig einen intakten Mannschaftsgeist zu schaffen und wenn wir Ausgang hatten, dann kehrten die meisten besoffen in die Unterkunft zurück. Ich fühlte mich äusserst unwohl in dieser Einheit und konnte mir deshalb nicht vorstellen weitere WK’s mit diesen Leuten zu absolvieren. Mit dem Vorwand in Zukunft oft im Ausland tätig zu sein, stellte ich den Antrag anders eingeteilt zu werden. Und wieder hatte ich Glück, denn sehr schnell bekam ich den Bescheid, dass ich ab sofort bei der Funker Kompanie 20 eingeteilt sei. Das war wirklich das Beste was mir passieren konnte, denn diese Einheit war das ganze Jahr im Dienst und so konnte ich das Datum für den WK nach meiner persönlichen Agenda abstimmen.

Walter Matter, Bern (16.11.1964 – 30.09.1965)
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11.2.  Die Heimreise und Aufenthalt in der Schweiz (01.09.– 28.09.1964) – Walter Matter, Bern (16.11.1964 – 30.09.1965).

Nach dem WK arbeitete ich erneut bei meinem Vater, doch leider fand ich zu Hause die erwünschte Harmonie wieder nicht. Ich war unglücklich und zu allem Übel wurde ich der Verbitterung über den erbarmungslosen Abbruch meiner Anstellung bei F.lli Märki in Muralto nicht los. Da ich weiter den grossen Wunsch hatte als Sanitär-Zeichner zu arbeiten, bewarb ich mich in Bern beim Ingenieur Büro W. Matter. Zu meiner grossen Überraschung wurde meine Bewerbung positiv beantwortet und man schlug mir sogar vor die Stelle sofort anzutreten. Herr Matter wusste, dass ich kein Sanitär-Zeichner war und nur sehr kurz in Locarno in einem Büro gearbeitet hatte. Trotzdem gab er mir die Gelegenheit mich in seinem Büro weiter zu entwickeln. Natürlich war ich mir bewusst, dass ich meinem Vater mit dieser Entscheidung keine Freude bereitete, doch mein eigener Weg zu gehen hatte diesmal Priorität. Nach kurzer Zeit fand ich eine kleine Mansarde an der Effingerstrasse und zog nach Bern.

Und wieder hatte ich Glück oder mein Schutzengel meinte es gut mit mir, denn ich fühlte mich in diesem Büro sofort sehr wohl und wurde von den Arbeitskollegen sofort aufgenommen. Zu meinem Erstaunen wurden mir sofort zwei grosse Projekte übergeben: eine Grossmetzgerei und ein Krankenhaus. Diese Tatsache motivierte mich ausserordentlich und ich war glücklich endlich eine Tätigkeit zu haben die mich voll befriedigte. Herr Matter überwachte meine Arbeit wie bei einem Lehrling und das schätzte ich sehr. Neben der Anfertigung von Plänen durfte ich sogar bald alleine die Baustellen besuchen und den Verlauf der Arbeiten an Ort und Stelle verfolgen und überwachen. Zudem hatte ich mich für die Abendkurse Fachrechnen, Kunststoff IIc, Kunststoff IId und Rechtskunde in den Lehrwerkstätten der Stadt Bern eingeschrieben. Ich war sehr wissensgierig und dies obwohl ich manchmal nach einem harten Arbeitstag meine Augen während den Kursen nur mit grosser Mühe offenhalten konnte.



(1) Im Ingenieur Büro W. Matter in Bern

Im Ingenieur Büro W. Matter in Bern


Die Stimmung im Büro war immer sehr entspannt und fröhlich. Einmal entschlossen wir uns zusammen ein Wochenende in der Doldenhornhütte über Kandersteg zu verbringen. Wir hatten viel Spass und am Samstagabend imitierte ich mit einer Pantomime-Nummer den bekannten Dimitri. Aber auch unter der Woche hatten wir es immer friedlich zusammen. Vor mir hatte Heinz, der Lehrling, seinen Arbeitsplatz. Wir verstanden uns sehr gut und so neckten wir uns ständig. Einmal im Herbst legte er mir eine überreife Pflaume in meinen rechten Schuh. Natürlich hatte ich seinen Scherz nicht bemerkt und zog den Schuh wie immer mit viel Tempo an. Ja, er hatte mich erwischt, aber ich zahlte es ihm zurück. Er hatte einen „Chlüpperlisack“ mit einer Kapuze. Darin versteckte ich eine WC-Papier-Rolle. Auf den ersten paaren Blättern hatte ich mit roter Tinte Flecken gemalt und sie dann aus der Kapuze hängen lassen. Der gute Heinz war, wie jeden Abend, in grosser Eile und so bemerkte er mein Mitbringsel in seiner Kapuze nicht. Er rannte mit dem wehenden WC-Papier durch die ganze Stadt bis zum Bahnhof. Erst im Zug bemerkte er den Scherz und so lachten sich am nächsten Tag im Büro alle halb tot. Natürlich musste ich Rache erwarten und auf die musste ich auch nicht lange warten, bald hatte ich eine reife Tomate in der Jackentasche! Heinz spielte zu Hause auf einer elektronischen Orgel und erzählte immer wieder von seinen privaten Auftritten. Eines Tages rief ich ihn telefonisch im Büro an und stellte mich als Monsieur Dupont vor. Natürlich verstellte ich meine Stimme und sagte ihm ich hätte von seinem Talent gehört und würde ihn gerne mal persönlich für eventuelle Konzerte treffen. Er war sofort begeistert und träumte bereits von einer grandiosen Musikkarriere. Er verkündete dem ganzen Büro, dass er in drei Tagen ein Treffen im Rest. „Monbijoux » mit einem Monsieur Dupont hätte. Er freute sich so riesig, dass ich schliesslich ein schlechtes Gewissen bekam. Trotzdem liess ich ihn an das Rendez-Vous gehen, rief ihn dann aber im Restaurant an um ihm mitzuteilen, dass Monsieur Dupont heute verhindert sei. Erst als er wieder in unserm Büro war gestand ich ihm meinen schlechten Scherz. Alle lachten, aber für ihn schien damit eine Traumwelt zusammengebrochen zu sein und so tat er mir schliesslich sehr leid. Ich wurde mir bewusst, dass ich mit seinen Gefühlen gespielt hatte und das war ja keinesfalls meine Absicht gewesen. Ich entschuldigte mich gebührend bei ihm und machte anschliessend keine Streiche mehr.



(2) WK Kp. 20 in Grafenort oder « Détachement Beaujolais »

WK Kp. 20 in Grafenort oder « Détachement Beaujolais »


Im Mai bekam ich das Aufgebot für den WK/EK vom 14.5. – 2.6. in der neuen Übermittlungs-Einheit Fk.Kp. 20. Diesmal musste ich in Grafenort im Kanton Nidwalden einrücken, wo wir in Militärbaracken untergebracht waren. Sofort fühlte ich mich dort wohl und fand die Vorgesetzten sehr angenehm. Es war vor allem der leutselige Hauptmann aus dem Tessin, der sehr viel zu der angenehmen Stimmung beitrug. Dies war sehr wichtig, denn die Einheit hatte einen 24 Stunden-Betrieb und war das ganze Jahr im Einsatz. Gleich zu Beginn des Wiederholungskurses teilte er uns mit, dass es keinen Tagesbefehl, kein Hauptverlesen und keine wöchentliche Inspektion der persönlichen Ausrüstung gab. Dafür würde er sich aber erlauben irgendwann während der Woche in den Unterkünften Kontrolle zu machen, denn Ordnung sei für ihn nicht nur an Kontroll-Tagen selbstverständlich. Auch sollte ein Soldat nicht nur an einer Materialkontrolle eine tadellose persönliche Ausrüstung vorweisen können, sondern jeden Tag. Zudem erwarte er immer ein gepflegtes Erscheinen und saubere Schuhe. Der ganze Tagesablauf verlief deshalb ruhig und diszipliniert. Es gab kein Geschrei bei Tagwache und niemand brüllte sinnlos in der Gegend herum. Ohne das Militär Reglement zu ignorieren, verlangte dies von allen Beteiligten eine grosse Portion Flexibilität. Zum Beispiel schrieb das Reglement pro Tag eine Stunde Sport vor. Mit einem 24 Stunden-Betrieb war dies schwierig zu machen. So verlangte der Hauptmann, dass sich alle eine Stunde pro Tag im Freien individuell sportlich betätigen. So spielten die einen Fussball während die anderen mit Joggen unterwegs waren. Laut Regelement musste während den drei Wochen WK auch ein Orientierungslauf durchgeführt werden. Der Hauptmann bereitete einen Lauf mit 10 Kontrollposten vor. Zu meiner Überraschung teilte er dann mit, dass er den Lauf als sehr streng einstufe, aber mit einem Minimum von fünf angelaufenen Posten zufrieden sei. Zuerst waren alle davon begeistert, doch dann entstand etwas das ich nicht erwartet hätte. Entweder wollte keiner ein „Weichei“ sein und sich mit nur fünf angelaufenen Posten lächerlich machen oder dann war gerade seine Minimalforderung ein Ansporn sich selbst ein ehrgeizigeres Ziel zu setzen. Jedenfalls entstand so etwas wie ein Konkurrenzkampf und schliesslich hatten alle die 10 Posten angelaufen. Im Nachhinein fragte ich mich ob der Hauptmann mit seinem Angebot wohl nur sehen wollte wer körperlich und psychisch fit sei. Jedenfalls wäre der Lauf für mich kaum so amüsant gewesen, wenn wir alle 10 Posten auf Befehl hätten anlaufen müssen! Diese schlaue Taktik des Hauptmanns hatte mich überzeugt und sie dann in meinem späteren Leben mit dem gleichen Erfolg angewendet.


(3) Telephone Zentrale mit 24-stündiger Besetzung.

Telephone Zentrale mit 24-stündiger Besetzung.

 

(4) Teamgeist auch beim gemeinsamen Geschirr trocknen.

Teamgeist auch beim gemeinsamen Geschirr trocknen.


Dem etwas molligen Hauptmann lag sehr viel daran die Mannschaft immer gut zu verpflegen. Er erlaubte sogar ein Glas Wein zum Essen und machte uns Fahrer für den Einkauf der guten Tropfen verantwortlich. In der Küche war ein Koch der zu Hause ein eigenes Restaurant führte. Jeweils am Sonntag hätte der Hauptmann gerne eine etwas bessere Mahlzeit auf dem Tisch gehabt, doch der Koch hatte sein Budget einzuhalten. So schlug er vor, dass jeder Wehrmann am Sonntag mit einem Franken das Budget des Kochs aufbessert. Alle waren sofort damit einverstanden und so konnte dieser uns jeweils herrliche Gerichte auftischen, zum Beispiel folgendes Sonntagsmenu:

Apéritif
Vin Blanc de la Région Rhénane,
Niersteiner Domtal 1963
Kröver Nacktarsch 1963
 
Premier
Entrecôte du Chef
Bouquet Garni à l’Obwaldienne
Pommer Rissolées
 
Dessert
Crème SUCHARD à l’Hawaiienne

Ein solch festliches Essen liess uns jedes Mal für kurze Zeit den WK vergessen. Bein Einkauf von Wein erstand ich gleichzeitig auch weisses Tischpapier und deckte damit die groben Holztische. Da sich unsere Unterkunft mitten in einer Wiese befand war es kein Problem auch noch einen Blumenstrauss zu machen und damit den Sonntags-Tisch noch schöner zu gestalten. Ja die drei Wochen in Grafenort waren super, kameradschaftlich sowie kulinarisch! Aber eben, die drei Wochen waren schnell vorbei und ich musste zurück an die Arbeit.

Das Ingenieur Büro von Herrn Matter befand sich nicht weit vom „Salon de Beauté“ der Tante Hedy, eine meiner Tanten in Bern. Ich besuchte sie oft nach der Arbeit zu einem kleinen Schwatz, denn sie hatte immer eine gute Laune und wusste immer etwas zu erzählen. Da sie für ihre Generation sehr weltoffen war, fehlte es uns nie an Gesprächstoff und es schien zuwischen uns auch keinen Alterunterschied zu geben. Ihre Vergangenheit war nicht immer rosig gewesen und dies hatte sie wahrscheinlich gezwungen immer das Beste aus der Realität zu machen. Sie hatte ihre Wohnung ganz nach ihrem Geschmack eingerichtet, einiges selbst gebastelt und sogar eine elektrische Feuerstelle (cheminée) im Wohnraum installiert. Ihr Sohn arbeitete in der Kosmetik-Branche und unterstützte seine Mutter immer beispielhaft. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er meine Besuche bei seiner Mutter gar nicht besonders schätze. Immer wenn ich sie besuchte verabschiedete er sich rasch und versuchte nie mit mir ins Gespräch zu kommen. Durch Tante Hedy lernte ich bald die sehr grosse Familie kennen und fühlte mich gleich ein fester Teil davon. Ein besonders Erlebnis war jeweils ein gemeinsamer Besuch im Kursaal. Ich war ja bis anhin noch nie in einem so grossen Saal gewesen und staunte über die grosszügige Bauweise. Meistens spielte dort am Samstagabend ein Orchester. Die Tanzfläche wurde auch von der Familie Schölly rege benutzt, wobei ich vor allem mit den beiden Töchtern von Tante Trudy, der Theres und der Heidi, tanzte. Theres hatte ein Freund der auch meistens dabei war. Obwohl mein Vater und auch Tante Gritli, eine Schwester von Tante Hedy, einen Stammbaum hatten erstellen lassen, wusste niemand ganz genau wie wir eigentlich verwandt waren. Nur eines war sicher, ich war väterlicherseits mit ihnen verwandt und der Anfang lag so lange zurück, dass wir im Grunde gar nicht mehr verwandt waren. Trotzdem wurden die familiären Bande all die Jahre gepflegt und die Kontakte aufrechterhalten.

Um ihr Einkommen ein bisschen aufzubessern vermietete meine Tante eines ihrer Zimmer. Sie sagte mir, dass der gegenwärtige „Zimmerherr“ sein ganzes Leben lang am Japanischen Kaiserhof als Koch gearbeitet hatte. Regelmässig überwies er während all der Jahre sein Erspartes als sichere Vorsorge an seine Bank in der Schweiz. Als er das Pensionsalter erreichte hatte und in die Schweiz zurückkam musste er feststellen, dass seine Vorsorge von der Familie bereits aufgebraucht war. Es blieb ihm nichts anderes übrig als erneut eine Arbeit zu suchen. Er hatte Glück und dank seiner Sprachkenntnisse fand er eine Stelle bei der Firma „Mauler & Cie. SA“ in Môtier. Dieser Familienbetrieb pflegte schon seit mehr als 185 Jahren die Kunst der Herstellung von „Vins Mousseux“. Der ehemalige Koch hatte nun die Aufgabe die Stammkundschaft regelmässig zu besuchen und an Ausstellungen und Fachmessen neue Abnehmer für den Schweizer Champagner zu finden. Da er mit dieser Aktivität sehr viel unterwegs war, entschied er sich erst einmal ein Zimmer zu mieten. Und da hatte er nochmals Glück, denn meine Tante hatte zu diesem Zeitpunkt ihr Zimmer frei. Nach einer gewissen Zeit schlug er meiner Tate vor ihn zu begleiten um an den Messen zu assistieren. Nur zu gerne nutzte sie die Gelegenheit auf Reisen zu gehen und Neues zu entdecken. Doch die Verwandten hatten für diese „Geschäftsreisen“ kein Verständnis und kritisierten meine Tante. Ich aber konnte ihre Vorurteile nicht verstehen, denn nach meinem Verständnis unterstützte sie ja nur den vom Schicksal geprüften Zimmerherrn, den „Saali“, der nach seiner Pensionierung weiter arbeiten musste um überleben zu können. Erst viele Jahre später, als er bereits gestorben war, erfuhr ich, dass die Beiden in Wirklichkeit in einer Beziehung gelebt hatten. Ich hatte dies damals gar nicht gemerkt und hätte dies als anständiger Bursche von den Beiden auch gar nie vermutet. Und hätte ich es damals gewusst, dann wäre es für mich kein Grund gewesen sie zu kritisieren. Sie hatten ja nur versucht in Glück und Zufriedenheit miteinander zu leben und so etwas war ja auch damals nicht strafbar!

Der Lehrling Heinz hatte meinen Streich schnell vergessen und da er im letzten Lehrjahr war musste er seine Energie nun auf die Vorbereitung seiner Abschlussprüfung konzentrieren. Immer wieder meinte er ich zeichne besser als ein Lehrling und könnte doch die Prüfung genau so gut bestehen wie er. Zuerst lachte ich nur, aber dann begann ich mir zu überlegen ob dies ohne offizielle Lehrzeit überhaupt möglich sei. Heinz fand heraus, dass dies denkbar sei sofern ich beweisen konnte mindestens 5 Jahre als Zeichner gearbeitet zu haben. Natürlich konnte ich dies nicht ausweisen und zudem fehlten mir ja die nötigen Fachstunden. Heinz argumentierte, dass ich ja Weiterbildungskurse (Kalkulation, Fachrechnen, Kunststoff IIc, Kunststoff IId und Rechtskunde) gemacht habe und damit das nötige, theoretische Wissen schon lange habe. Er konnte mich schliesslich überreden und so meldete ich mich zu Lehrabschlussprüfung an. Beim Beweis des nötigen Praktikums zählte ich halt einfach meine Jahre als Sanitär-Installateur dazu. Ich hatte also ein bisschen geschummelt. Aber ich war mir bewusst, dass weiter nichts Schlimmeres passieren konnte als die Prüfung nicht zu bestehen. Aus diesem Grund hatte ich Herrn Matter von diesem Abenteuer nichts gesagt und einfach einen Tag frei genommen. Und zu meiner grossen Überraschung glückte mir die Lehrabschlussprüfung mit Bestnoten und hatte nun mit dem Fähigkeitsausweis als Sanitärzeichner offiziell drei Berufe.


(5) Zeugnis der Lehrabschlussprüfung als Sanitärzeichner

Zeugnis der Lehrabschlussprüfung als Sanitärzeichner


Leider konnte ich meinem „Lehrmeister“ Herr Matter nicht nur diese gute Nachricht überbringen, sondern musste ihm gleichzeitig auch mitteilen, dass ich sein Büro wieder verlassen würde. Ich hatte mich nämlich schon seit Monaten nochmals für einen Einsatz im Ausland umgeschaut. Dabei hatte ich erfahren, dass die Schweiz, genau wie die USA, eine Art „Peace Corps“ aufbauen möchte und mich deshalb sofort beim Delegierten für technische Zusammenarbeit Schweizer Freiwillige für Entwicklungsländer des Eidg. Politischen Departement in Bern gemeldet. Und wieder hatte ich Glück, denn ich hatte eine Zusage für einen Vorbereitungskurs bekommen und brauchte nun Zeit für die Vorbereitung. Herr Matter war natürlich erst einmal überrascht plötzlich einen weiteren Sanitärzeichner in seiner Gruppe zu haben, aber dann gleichzeitig auch enttäuscht ihn sogleich wieder zu verlieren. Trotzdem verstand er mein Verlangen nach Veränderung und so trennten wir uns mit gegenseitigem Respekt und Dankbarkeit. Es tat mir leid ihn, sein Büro und meine geschätzten Kollegen zu verlassen, denn ich durfte ja eine schöne und gute Zeit mit ihnen verbringen. Aber eben, mein Drang die Welt zu entdecken war halt damals doch stärker gewesen.

In Lachen beim Vater (01.10.1965 – 09.01.1966)
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11.3.  Die Heimreise und Aufenthalt in der Schweiz (01.09.– 28.09.1964) – In Lachen beim Vater (01.10.1965 – 09.01.1966).

Da ich wusste, dass alle Bewerber vom Schweizerischen Politischen Departement vor einer Rekrutierung auf „Herz und Nieren“ geprüft wurden, fand ich es einfacher während dieser Zeit bei meinen Eltern zu wohnen und sie gleichzeitig im Betrieb zu unterstützen. Ich war so flexibler und war auf Abrufe immer bereit. Und ich sollte recht bekommen, denn schon der Fragebogen, den man nach der Anmeldung erhielt und auszufüllen hatte, wies den Umfang eines mittleren Lexikons auf. Entsprachen die Antworten im Fragebogen den Erwartungen, wurde man zu einer Eignungsprüfung eingeladen der, bei Bewährung, eine medizinische Prüfung am Schweizerischen Tropeninstitut folgte. Danach wurden die Sprachkenntnisse sowie die berufliche Begabung geprüft, worauf der Zahnarzt und sogar der Psychiater auf den Plan traten. So musste ich mich auf dem Flugplatz in Dübendorf melden um dort im Militär-Labor den Rorschacher-Test zu machen. Dies ist ein Tintenkleckstest der von Psychoanalytikern und Psychiatern mit dem Ziel angewendet wird die gesamte Persönlichkeit des Kandidaten zu erfassen. Ein Expertenkollegium entschied dann über die „provisorische“ Aufnahme für den Kurs. Und ich hatte erneut Glück, ich bekam die Bestätigung für die Teilnahme am zweimonatigen Ausbildungskurs, dessen Vertrag ich am 26.11.1965 unterschrieb. Und auch darin wurde erneut erwähnt, dass die Zulassung zum Ausbildungskurs noch kein definitiver Vertragsabschluss zum Einsatz bedeute. Natürlich waren meine Eltern nicht begeistert von meinem neuen Vorhaben, wollten mich aber davon nicht abhalten. Sie hatten wahrscheinlich gesehen wie professionell und sorgfältig die Rekrutierung vor sich ging und damit Vertrauen in mein neues Vorhaben bekommen. Zudem hatten sie sicher auch bemerkt, dass ich im Vergleich zu meiner planlosen Ausreise nach Algerien diesmal mit ganz anderen Voraussetzungen die Schweiz verlassen würde.


(1) St. Antönien im Winter 1965/66

St. Antönien im Winter 1965/66


Die Zeit bis zu diesem Kurs nützte ich auch um alte Bande im Dorf zu pflegen oder neu zu beleben. Zusammen mit Heinz, meinem ehemaligen Welschlandkameraden, mieteten wir das Hotel Alpina in St. Antönien, das schon eine Weile nicht mehr im Betrieb war. Dann luden wir alle unsere Freunde und Bekannte zu einer Silvester-Party ein. Zu meiner Überraschung reagierten die Meisten begeistert und so kamen schliesslich um die zwanzig Personen in das verschneite Tal. Einige kamen von sehr weit her, so wie der Lennart aus Schweden oder der Rolf aus Deutschland, beides Freunde aus der Zeit in Algerien. Aber da waren auch Ida, Helen und Werner, die mit mir in der gleichen Pension in Perugia waren. Zudem einige die wir seit dem Welschland-Jahr kannten und die ihre eigenen, uns unbekannten Freunde, mitnahmen. Natürlich waren auch die Freunde meiner Schwester dabei. Das Haus war also voll mit fröhlichen jungen Leuten die gemeinsam kochten und den Haushalt machten. Wie wir die ganze Logistik damals meisterten und das Hotel schliesslich wieder sauber dem Vermieter zurückgaben, bleibt ein Rätsel. Auf alle Fälle erlebten wir unbeschwerte und schöne Tage. Das Neue Jahr hatte sehr gut begonnen und ich konnte nur hoffen, dass dies auch während den kommenden Monaten so andauern wird.


(2) Silvester 1965/66 in St. Antönien

Silvester 1965/66 in St. Antönien

 

Ausbildungskurs für den Einsatz in Rwanda (10.01. – 09.03.1966)
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12.  Ausbildungskurs für den Einsatz in Rwanda (10.01. – 09.03.1966)

Der erste Teil des Kurses fand im Tessin statt. Wir waren zehn Teilnehmer, davon zwei Ehepaare und sechs Ledige, die am ersten Tag mit Minibussen von Locarno in das ziemlich verlassene Dorf Moghegno im Maggiatal gebracht wurden. Dort standen uns drei alte, unbewohnte Häuser zur Verfügung. Zwei Häuser, das Haus „Kamerun“ und „Rwanda“ dienten als Unterkunft und ein Drittes für die Leiter des Kurses und als Kurslokal. In den Häusern hatte es wohl Strom, aber kein fliessendes Wasser, nur Holzöfen und keine Toiletten, dafür eine improvisierte Latrine am Rand des Dorfes. Die Küche war äusserst einfach eingerichtet und bestand eigentlich nur aus einer Feuerstelle. Wasser musste man am Dorfbrunnen holen, eben da wo man sich auch morgens bei eisiger Kälte zur Katzenwäsche traf.


(1) Katzenwäsche bei eisiger Kälte am Dorfbrunnen

Katzenwäsche bei eisiger Kälte am Dorfbrunnen


Es war ja Winter und so hatte es auch im Tessin Schnee gegeben. Genau mit diesen Einschränkungen wollte man uns auf die Realität in einem Entwicklungsland vorbereiten und uns gleichzeitig beobachten wie man die neue Situation und weitere Herausforderungen meisterte. Sofort nach der Ankunft wurde uns klar gemacht, dass wir nicht für Ferien ins Tessin gekommen waren. Nachher ging es rasch zur ersten Aufgabe: Bezug der Häuser, Verteilung der Zimmer und der verschiedenen Arbeiten im Haus. Die Kursleiter hielten sich diskret zurück und wir mussten dies ganz alleine meistern. Allerdings wurde bestimmt, dass in jedem Haus nur ein Ehepaar wohnen dürfe. Da wir einander nicht kannten war dies gar nicht so einfach. Nach langem Palaver meisterten wir die Lage jedoch problemlos. Jeder fand ein entsprechendes Zimmer und eine Hausarbeit die für ihn stimmte. Ich hatte Glück und übernahm mit einem Kollegen die Küche. Am Abend wurden wir in den Kursraum gerufen, wo uns ein Begrüssungsbrief übergeben wurde. Darin stand folgendes:


„Der Freiwillige arbeitet auf seinem Beruf in einem Entwicklungsland. Er soll seine Fachkenntnisse der Bevölkerung zur Verfügung stellen und weitergeben. Er soll auch versuchen, seine Umgebung zur Selbsthilfe anzuregen. Der Freiwillige lebt eng mit den Einheimischen zusammen. Seine Lebensweise ist darum bedeutend einfacher als in der Schweiz. Sehr oft sind die körperlichen und seelischen Belastungen weitaus grösser. Der Freiwillige soll mindestens 21 Jahre alt sein, seine berufliche Ausbildung abgeschlossen haben und medizinisch den erhöhten Anforderungen genügen. Er soll bereit sein, zwei Jahre als Freiwilliger zu arbeiten.“

Und damit sich niemand Illusionen bezüglich Entgelte machte, wurde auch gleich noch die finanzielle Situation erläutert:

„Wir sorgen für den Lebensunterhalt der Freiwilligen. Ein bescheidenes Taschengeld ist inbegriffen*. Wir übernehmen seine vollständige Versicherung, die Kosten für Hin- und Rückreise, und wir leisten einen Beitrag an die persönliche Ausrüstung. Der Freiwillige hat Anrecht auf einen Lohnausgleich von monatlich Fr. 210.--, der in der Schweiz ausbezahlt wird. Zudem stehen ihm einige Ferientage im Einsatzland zu.

Die Lebenskostenentschädigung in Rwanda betrug Frs. Rw. 9600.-- oder ungefähr US $ 88.-- pro Monat, was mit dem damaligen Wechselkurs von 4.385 etwa 385.-- CHF war.

Anschliessend wurde uns klar gemacht, dass wir als Freiwillige der Schweizerischen Eidgenossenschaft immer auch unser Land vertraten. Ein tadelloses Benehmen während dem ganzen Auslandaufenthalt war deshalb unerlässlich. Bald wurde uns bewusst, dass der Kurs sehr militärisch geführt wurde und das Programm nicht nur anspruchsvoll, sondern auch zeitlich fast den ganzen Tag in Anspruch nahm. Die Ausbildung begann morgens 08.00 Uhr und dauerte oft bis abends um 23.00 Uhr. Um 11.00 Uhr gab es einen Unterbruch für die Zubereitung der Mahlzeit und des Mittagessens. Auch am Abend gab es eine Pause für das Nachtessen. Kochen war ein fester Bestandteil des Kurses. Eine minimale Kenntnis in diesem Bereich sowie einer ausgeglichenen, korrekten Ernährung wurde als sehr wichtig für einen Einsatz in einem Entwicklungsland gewertet. Jede Woche gab es einen Menuplan der genau eingehalten werden musste. Die Zutaten wurden von den Kursleitern besorgt und uns jeden Morgen übergeben. So stand eines Tages „Chicken Curry“ mit Reis und Gemüse auf dem Menuplan. Zu unserer Überraschung war bei den Zutaten ein lebendiges Huhn. Die Erklärung der Kursleiter war einleuchtend: In Afrika ist abgepacktes, geschnetzeltes Hühnerfleisch meistens nicht erhältlich und wenn ja, dann wird wegen unbefriedigender Qualität von dessen Verzehr abgeraten. Also geht man zuerst auf den Markt und kauft sich dort ein Huhn, tötet es zu Hause und reisst ihm anschliessend die Federn aus.


(2) Gemeinsames Federn rupfen....!

Gemeinsames Federn rupfen....!



(3) Zubereitung von vorgegebenen Mahlzeiten ausschliesslich im Kamin (sogar das Brot).

Zubereitung von vorgegebenen Mahlzeiten ausschliesslich im Kamin (sogar das Brot).


Dies durften wir dann ausnahmsweise gemeinsam mit unseren Kollegen vom anderen Haus ausführen. Während dies die Schlachterei erleichterte, wurde uns aber bewusst wie gedankenlos wir uns heutzutage ernähren. Kaum jemand denkt vor einer riesigen Auswahl von schön präsentiertem und präpariertem Fleisch in Metzgereien an den unvermeidlichen Tod der Tiere. Dieses Bewusstsein scheint uns verloren gegangen zu sein. Aber an diesem blutigen Morgen erlebten wir den Tod sehr realistisch, und dies obwohl uns dabei schöne, weisse Federn um die Ohren flogen. Es war eine Erfahrung die man nicht gleich wieder vergass und die uns in eine harte und vergessene Realität zurückbrachte. Anschliessend wurden das Huhn und die Zutaten in einem Kupfer-Kessel im offenen Feuer zubereitet. Auch diese Art von Kochen war mir fremd, doch man gewöhnte sich bald daran. Man musste nur immer aufpassen, dass das Feuer weder zu stark noch zu schwach war. Die Kursleiter gaben uns immer wieder neue Anleitungen und so gelang es uns sogar unser eigenes Brot im Cheminée zu backen. Allerdings verlangte diese Art von Kochen und Backen sehr viel Zeit, doch später am Einsatzort wusste man die erworbenen Fähigkeiten sehr zu schätzen.

Im Kursraum wurden wir in Fächern wie Geographie, Volkswirtschaft, Soziologie, Ethnologie, Hygiene und natürlich dem Erlernen der entsprechenden Sprache des Einsatzlandes (für mich Ruandisch) unterrichtet. Da wir uns nach dem Abschluss des Kurses trennten und entweder nach Nepal, Kamerun, Rwanda oder Dahomey (seit 1990 Benin) ausreisten, war dieses Fach individuell. In meinem Fall war es Kinyarwanda oder Ruandisch, eine extrem schwierige Sprache. Grosses Gewicht wurde auf den Umgang mit Menschen und auf den Respekt ihrer Kultur sowie deren Gewohnheiten gelegt. Ein weiteres Fach war der Umgang mit Jeeps und Lastwagen. Schliesslich war es wichtig, dass alle wenigstens das Wechseln eines Autoreifens beherrschten, einen Ölwechsel selbst machen konnten und wussten wie ein Motor funktioniert. Diese Spezialausbildung machten wir in der Militärkaserne in Losone. Natürlich gehörte auch die Beherrschung des Fahrzeuges dazu. Da ein Kollege nur einen Lehrfahrausweis hatte, wurde ich als Beifahrer bestimmt. So sass ich an einem Morgen auf unserm Weg zur Fachausbildung in Losone erneut neben ihm. Ich hatte sofort bemerkt, dass die Strasse an schattigen Stellen vereist war und bat ihn die Geschwindigkeit zu drosseln. Aber er schien meine Anweisung zu ignorieren. Energischer machte ich ihn nochmals auf die Gefahr aufmerksam, aber dann war es bereits zu spät. Der VW-Bus kam ins schleudern und prallte rechts gegen eine halbhohe Steinmauer. Dies geschah so heftig, dass das Auto nach links umkippte und mitten auf der Strasse liegen blieb. Zum Glück fiel es nicht auf die Seite wo sich die Doppeltüre des Wagens befand und so bestand wenigstens die Möglichkeit sich aus dem Wagen zu befreien. Doch ich wusste, dass es hinter den Passagieren Kanister mit Benzin hatte und durch ein Leck an einem Kanister Feuer ausbrechen könnte. Von Panik erfasst forderte ich die Insassen schreiend auf so schnell wie möglich aus dem Fahrzeug zu klettern. Schliesslich hatten wir Glück im Unglück, das Auto ging nicht in Flammen auf und es gab auch keine Schwerverletzten. Nur ich war trotz Sicherheitsgurten mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt und wurde anschliessend mit einer Hirnerschütterung ins Spital der Kaserne Losone eingeliefert. Das bedeutete für mich nicht nur eine Woche Spitalaufenthalt, sondern auch eine Woche weniger Ausbildung, etwas das ich sehr bedauerte. Zur Grundausbildung gehörte auch die Fähigkeit sich unwegsamem Gelände zu behaupten. Dies war vor allem wichtig für Kandidaten die für Nepal vorgesehen waren. Diese Ausbildung wurde an einem steilen Felsen ausgeführt, der sich auf dem Weg von Arcegno nach Intragna befand. Natürlich hatte ich, wie alle anderen, keine Ahnung vom Bauen von Seilbrücken oder vom Klettern und Abseilen. Nach theoretischen Anleitungen kamen die praktischen Übungen, dies auch mit dem Ziel gleichzeitig die Teamarbeit, das Vertrauen zu sich selbst sowie den Kollegen zu fördern. Am Ende dieser Schulung gelang es schliesslich allen sich ohne Furcht von ganz oben an der Steilwand abzuseilen. Alle hatten es geschafft und waren somit auf solche Herausforderungen vorbereitet. Obwohl ich später in Rwanda nie in eine Lage kam wo ich diese Kenntnis hätte anwenden müssen, war es doch eine Erfahrung die ich nicht hätte missen wollen.


(4) Autounfall auf der Strasse von Moghegno nach Losone

Autounfall auf der Strasse von Moghegno nach Losone


Einmal am späten Abend, als alle schon bettreif waren, bat uns der Leiter der schweizerischen Freiwilligen für Entwicklungshilfe, Dr. Michael von Schenck, im Kursraum kreisförmig Platz zu nehmen. Mit ernster Mine wollte er von jedem Einzelnen wissen wieso er sich entschied als Freiwilliger in einem Entwicklungsland zu arbeiten? Zuerst entstand Totenstille, denn so eine Frage konnte eine Falle sein und schliesslich eine Absage für den Einsatz bedeuten. Mit viel Mut begannen die Ersten mit ihren Begründungen. Die Meisten argumentierten mit der Überzeugung den armen Leuten in Entwicklungsländern helfen zu müssen. Andere waren überzeugt, dass ein persönlicher Einsatz in Entwicklungsländern eine religiöse Pflicht sei. Total entspannt sagte schliesslich einer, dass er einfach die Welt sehen möchte, das nötige Geld aber dafür nicht habe. Zudem sei er zu jung und unerfahren um einen Posten bei einer multinationalen Firma zu ergattern. So hoffte er seinen Traum mit einem Einsatz als Freiwilliger zu kombinieren und seine Reise- und Abenteuerlust auf diese Weise zu befriedigen. Jetzt schauten alle betreten auf Dr. von Schenck. Man sah den lebensfrohen Burschen bereits die Koffer packen und nach Hause fahren. Doch es kam ganz anders als alle dachten. Lächelnd verkündete uns der Leiter, dass der Bursche mit seiner unbeschwerten Einstellung der Einzige sein werde, der seinen Einsatz ohne Enttäuschung überleben werde. Der Gedanke helfen zu müssen sei wohl gut gemeint, würde aber von Einheimischen oft gar nicht verstanden, besonders wenn niemand um Hilfe gebeten hatte. Wenn man die Hilfe aufdränge entstünde auf beiden Seiten nur Irritation, Frust, Enttäuschung und schliesslich ein Scheitern. Diese Erfahrung hatte ich ja schon bei mir selbst und später in Algerien gemacht. Unterdessen verstand ich diese Ansicht als Weisheit die nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch bei der Erziehung in Europa angewendet werden sollte.

Er gab uns zu bedenken, dass viele Eingeborenen ihre Erlebnisse aus der Kolonialzeit nicht vergessen hätten und dass in der Vergangenheit Begegnungen mit „anspruchsvollen, arroganten, technischen Experten“ oft nicht glücklich verlaufen waren. So dürfe man nicht erwarten sofort Sympathie zu spüren oder sogar einheimische Freunde zu haben. Zudem werde es, wie in der Schweiz, Einheimische geben mit denen nicht auszukommen sei. Auch würde kein einziger Einheimischer auf uns warten und uns bei der Ankunft auf dem Flugplatz vor Dankbarkeit mit Tränen in den Augen umarmen. Die Leute hätten während tausenden von Jahren mit den Voraussetzungen ihres Landes gelebt und sich ohne unsere Einmischung entsprechend angepasst und entwickelt. Sie wüssten daher ganz genau wieso und warum sie gewisse Sachen taten. Sicher würden wir manchmal bestimmte Tätigkeiten absurd finden und in Versuchung kommen darüber zu lachen. In einer solchen Situation müsse man sofort einen geistigen Rollenwechsel vornehmen und sich vorstellen wie wir selbst reagieren würden, wenn uns ein Ausländer ständig sagen würde, was wir alles falsch machten. Dies galt auch für die Bekleidung, die sich während Jahrhunderten dem jeweiligen Klima angepasst und bewährt hatte. Was würden wir sagen, wenn man unsere Art der Bekleidung kritisieren oder sogar in Frage stellen würde?

Mit diesen Ausführungen wollte er uns nicht nur vor übertriebenen Erwartungen, sondern auch vor Überheblichkeiten warnen. Auch würden wir nicht für eine gewinnbringende Aktiengesellschaft arbeiten und sollten uns deshalb anfangs erst einmal die Zeit nehmen um sich respektvoll in der neuen Umgebung einzuleben. Und sollte sich tatsächlich einmal ein Drang entwickeln um etwas besser zu machen als die Einheimischen, dann immer zuerst selbst ausprobieren. Und wenn sich eine Verbesserung positiv bestätigt, dann stillschweigend von den Einheimischen kopieren lassen. Auf alle Fälle nie auf eine Änderung drängen, denn wir würden dies auch nicht schätzen. Diese Betrachtungen und Ratschläge hatten mich sehr beeindruckt. Sie zeigten sich nicht nur ausserordentlich wertvoll bei meinem Einsatz in Rwanda, sondern auch später überall in meinem Berufsleben.


(5) Unsere Kursleiter im Gespräch mit dem Dorfpfarrer

Unsere Kursleiter im Gespräch mit dem Dorfpfarrer


Um all das Gelernte zu verarbeiten, gab es am Wochenende eine verdiente Pause. Diese benutzten wir manchmal für einen Bummel in Locarno und einmal sogar für einen Ausflug auf die Cardada, wo wir bei prächtigem Wetter in der herrlichen Winterlandschaft neue Energie tankten. Manchmal gab es auch die Möglichkeit für einen kurzen Spaziergang in Moghegno oder mit dem Signor Reverendo, dem Dorfpfarrer, einen kleinen Schwatz zu machen. Oder dann machten wir zur Abwechslung in der Küche der Unterkunft eine italienische Nachspeise, eine „Zabaglione“ oder Weinschaumcreme.

In der letzten Woche des Kurses wurde plötzlich die Zusammensetzung der Bewohner in den zwei Häusern angeordnet. Es wurde verlangt, dass die beiden Ehepaare im gleichen Haus wohnen müssten. Zwei Ledige mussten deshalb umziehen. Da dieser Wechsel mitten im Unterricht geschah entstand sofort ein kleines Chaos. Unser Haushalt hatte nämlich inzwischen problemlos funktioniert, aber nun musste man sich plötzlich neu organisieren. Ganz diskret beobachteten unsere Kursleiter unser teilweises lautes Treiben. Wir hatten nicht bemerkt, dass dieser Umzug ein Bestandteil des Kurses war und man uns testen wollte um zu sehen wie wir in Stresssituationen reagieren würden.

Am 14. Februar begann in Basel der zweite Teil des Ausbildungskurses. Wir waren im Hotel Schauenburg bei Liestal einquartiert. Auch hier wurde wieder sehr viel Wert auf die Beherrschung der jeweiligen einheimischen Sprache gelegt, wobei neu auch Französisch dazu kam. Dann wurde die Schweizer Geschichte aufgefrischt, denn es wäre für einen Freiwilligen unverzeihbar gewesen, wenn er im Ausland nichts über sein eigenes Land und dessen Vergangenheit zu erzählen gewusst hätte. Gleichzeitig wurde von uns erwartet, dass wir uns Kenntnisse der afrikanischen Geschichte, deren Kulturen sowie Religionen erwarben, und dazu gehörte auch der Islam. Zum besseren Verständnis besuchten wir das Museum der Kulturen in Basel. Aber auch punkto Kunst sollten wir nicht als Banausen ins Ausland reisen. Mit einer professionellen Führung besuchten wir das Kunstmuseum wo über die bekanntesten Maler und deren Stilrichtungen gesprochen wurde.

Eines der ersten und erfolgreichsten Projekte der schweizerischen Entwicklungshilfe war damals TRAFIPRO, eine Genossenschaft mit damals etwa 75'000 Mitgliedern, die sich in erster Linie mit dem Verkauf und der Verteilung der Kaffeeproduktion ihrer Mitglieder befasste und sie mit den täglichen Konsumgütern versorgte. In diesem Projekt arbeiteten Experten und Freiwillige zusammen. Aus diesem Grund war es wichtig, dass auch wir eine gewisse Kenntnis vom Handel hatten und wussten wie eine Kooperative funktioniert. Wir verglichen ländliche Genossenschaften, so wie sie in Entwicklungsländern bestehen, mit solchen in Industrieländern. Und diese Realität durften wir ganz ausgeprägt bei einem Besuch im Hauptsitz der COOP in Muttenz erleben. Zum Glück waren hier die Verantwortlichen sehr offen um unsere oft kritischen Fragen anzuhören. Auch diese Erfahrung erlaubte uns später die Realität in einem anderen Licht zu sehen.

Ein wichtiger Teil des zweiwöchigen Programms in Basel war der Gesundheit und der Tropenmedizin gewidmet. Dies geschah im Schweizerischen Tropeninstitut, wo wir über die verschiedenen tropischen Krankheiten und deren Symptome informiert wurden. Gleichzeitig gab man uns Ratschläge wie man sich davor schützt und vor allem auch in Bezug auf die persönliche Hygiene in tropischen Ländern. Auch wurden wir auf giftige Tiere und Insekten aufmerksam gemacht, besonders auf diejenigen die bekannt für die Übertragung von Krankheiten waren. Um sie im Einsatzland sofort zu erkennen, wurden uns die meisten dieser Insekten im Labor gezeigt. Da im Einsatzland ein Arzt oder eine Krankenschwester nicht immer einfach zu erreichen war, mussten wir lernen uns selbst zu helfen. So wurde uns die Technik der Injektion erklärt und wir mussten uns anschliessend gegenseitig eine Injektion machen. Dabei passierte einem Kollegen ein Missgeschick. Die Nadel der Spritze war gebrochen und es musste ein Arzt gerufen werden um den abgebrochenen Teil im Arm chirurgisch zu entfernen. Diese Erfahrung erhöhte unser Respekt gegenüber medizinischen Anwendungen. In einem Entwicklungsland war es auch möglich, dass man „Weisse“ bei Komplikationen bei einer Entbindung zu Hilfe rief. So wurde auch dieses Gebiet ausführlich besprochen und praktische Übungen mit Puppen gemacht. Am Schluss erhielten alle ein Sortiment der wichtigsten Medikamente, inklusive Reserve Spritzen, die wir dann auf die Reise mitnahmen. Dabei war auch „Camoquin“ ein Medikament das Malaria hätte vermeiden sollen.

Wie in Moghegno hatten wir jeweils am Ende der Woche den prallvollen Kopf, gefüllt mit Eindrücken, Erfahrungen und sehr viel Theorie. So durften wir am Sonntag die Denkmaschine abstellen und sie während einem ganzen Tag so richtig auslüften. Und so machte sich die ganze Gruppe auf um die Spuren der Römer zu suchen. In Windisch, im Kanton Aargau wurden wir dann fündig und besuchten das Amphitheater. Es wurde in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Ch. errichtet und ist die grösste Anlage dieser Art in der Schweiz. Diese kurze aber interessante Abwechslung tat scheinbar allen gut und stärkte uns für den dritten Teil des Kurses, der am 7. Mai in Bern begann. Wir waren im Jugendhaus Marzili einquartiert, also sehr nahe beim Bundeshaus wo wir während drei Tagen hauptsächlich administrative und finanzielle Angelegenheiten erledigten. Es waren die letzten Tage des Kurses. Alle hatten die vielen Hürden geschafft und waren nun einsatzbereit. In diesem Moment wurde uns bewusst wie sehr uns der intensive Kurs zusammengebracht hatte und dass dieser Abschied für uns die letzte Prüfung darstellte….!

Zum Schluss gab uns Dr. Michael von Schenck noch folgendes mit auf den Weg:

  • Jede wirtschaftliche Entwicklung ist ohne Investitionen von Material, Arbeit und Zeit undenkbar. Dies kostet Geld. Wer sein ganzes Geld für den täglichen Bedarf und Bequemlichkeiten ausgibt, kann für die Zukunft nicht investieren. Die Entwicklungsaufgaben der Zukunft können nur gelöst werden, wenn wir bereit sind zu verzichten.
  • Wo wenig Geld ist, muss dieser Verzicht bereits bei den naheliegenden Dingen des täglichen Lebens beginnen. Es ist der Verzicht auf Kleinigkeiten.
  • Als Freiwilliger leben heisst die Notwendigkeit dieses Verzichtes einzusehen und ihn freiwillig und bewusst während einer gewissen Zeit zu leben.
  • Der Verzicht kann nicht gepredigt, sondern muss vorgelebt werden. Hier kann nur das Beispiel überzeugen.
  • Dennoch: Das Leben des Freiwilligen besteht nicht nur aus Verzicht. Neue Erfahrungen bringen persönlichen Gewinn.


Das alles hiess für mich nichts anderes als dass wir Freiwilligen nicht nur für die Entfaltung guter diplomatischer Beziehung dienten, sondern indirekt auch als Vorreiter für die spätere Entwicklung von Handel und Industrie dienten. Das spielte für mich allerdings keine Rolle denn ich war mir bewusst, dass die Erfahrung für mich von grosser Wichtigkeit war.

Abschliessend wurde dann noch die folgende afrikanische Weisheit erwähnt:

„Wer sein Zelt nie verlassen will, wird es nie zu etwas bringen!“

Das Land
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13.1.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967) – Das Land.



(1) Auf dem Markt auf einem der vielen Hügel

Auf dem Markt auf einem der vielen Hügel


Im Herzen von Afrika liegt ein Land, das landschaftlich, geographisch und topografisch der Schweiz sehr ähnlich ist: Rwanda. Wie die Schweiz ist Rwanda ein Binnenstaat und befindet sich auf einer Wasserscheide, genauer gesagt dem Kongo und dem Nil. Es war schon früher eines der dichtest besiedelten Länder des Kontinentes und liegt auf einer durchschnittlichen Höhe von 1’600 Metern. Die Bevölkerung bestand seit Urzeiten aus drei ethnischen Rassen, den herrschenden Tutsi, den untergebenen Hutus und den Batwa. Erst im Jahre 1879 gelang es den ersten Europäern in das hügelige Land einzudringen. Das damalige Gebiet Ruanda-Burundi wurde im Jahre 1885 Deutschland oder genauer der Deutsch-Ostafrikanischen Kolonie zugeteilt, doch im ersten Weltkrieg besetzten dann die Belgier die Gegend. Da das Land keine Bodenschätze besass, waren beide Kolonial-Staaten an diesem Gebiet kaum interessiert und nutzten es vor allem als strategische Militärbasis. Erst im Jahre 1930 begann man mit dem Anbau von Kaffee, verbesserte die Strassen und förderte den Schulunterricht. Bis zu dieser Zeit waren die protestantischen und katholischen Missionen die einzigen Institutionen, die sich für die Entwicklung dieses Landes engagierten. Gegen das Ende der Kolonisation in den 1960er Jahren ergriff Belgien zunehmend Partei für die Hutus und unterstützte sogar den Aufstand gegen die dominierende Tutsi-Dynastie. Im Jahre 1962 wurden Rwanda und Burundi zwei unabhängige Staaten und Rwanda provozierend als „Hutu-Republik“ ausgerufen. In den Folgejahren wurden bei Unruhen über zehntausend Tutsis von radikalen Hutus bestialisch umgebracht. Hunderttausende von Tutsis entflohen deshalb dem grausamen Genozid nach Burundi, in ein Land, das im Gegensatz zu Rwanda, mit der Unabhängigkeit offiziell eine Monarchie unter König Mwambutsa IV geworden war. Im Jahre 1966 wurde er von seinem Sohn abgesetzt, flüchtete in die Schweiz, wo ihm Asyl gewährt wurde und im Jahre 1977 dort starb. In seinem Testament erwähnte er den Willen nie mehr in sein Heimatland zurückgebracht zu werden und so wurde er in Meyrin bei Genf beigesetzt. Trotz den äusserst schwierigen Umständen in den folgenden Jahren ist die Schweiz in Rwanda seit 1963 durch einen Diplomaten vertreten. Dieser war damals gleichzeitig persönlicher Berater des ersten Staatsoberhauptes, Grégoire Kayibanda.


(2) Typische Haartracht von Tutsi-Frauen

Typische Haartracht von Tutsi-Frauen

 

 

 

Die Schweizer Entwicklungshilfe
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13.2.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967) – Die Schweizer Entwicklungshilfe .
Im Jahre 1960 wurde der Dienst für Technische Zusammenarbeit gegründet und im Jahre 1961 das Amt eines Delegierten für Technische Zusammenarbeit geschaffen. Dieser Dienst war damals dem Eidgenössischen Politischen Departement unterstellt. Im Jahre 1977 wurde der Dienst in Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe (DEH) und dann im Jahre 1996 in Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) umbenannt. Anfangs Januar 1961 entschied man mit erst bescheidenen, finanzierbaren Projekten zu beginnen und sich nicht von Prestige-Vorhaben blenden zu lassen. In diesem Prozess wurden Rwanda sowie Nepal, Kamerun und Dahomey, Schwerpunkte der Schweizerischen Entwicklungshilfe. Nebst Ärzten und einem Geologen wurden in Rwanda zuerst Experten der Einkaufs- und Verkaufsgesellschaft TRAFIPRO (Travail, Fidélité et Prospérité) zur Verfügung gestellt. Es war lange ein Erfolgsprojekt, das aber leider nach dem zweiten Völkermord im Jahre 1994 kläglich scheiterte. Daneben kamen vor allem Projekte in die Auswahl, für die das gefragte Wissen in der Schweiz vorhanden war, zum Beispiel Land- und Forstwirtschaft, Viehzucht, Käseproduktion, Tourismus, Handel, etc. Für diese Einsätze wurden erst Experten eingesetzt. Nach dem Vorbild des „Peace Corps“ in den USA wurden dann allmählich auch Einsätze für Freiwillige möglich. In Rwanda waren im Jahre 1966 etwa 10 junge Leute in verschiedenen Berufen tätig. Zum Beispiel als Krankenschwester, Lehrer, Soziologe, Ingenieur und auf der Baustelle des „Collège officiel de Kigali“.


(1) Eröffnung einer neuen TRAFIPRO-Filiale auf dem Lande.
Eröffnung einer neuen TRAFIPRO-Filiale auf dem Lande.

 


(2) .....und der riesige Andrang !

.....und der riesige Andrang !

 

(3) ....so sah der Ansturm durchs Fenster in der Filiale aus!

....so sah der Ansturm durchs Fenster in der Filiale aus!

Natürlich war die Schweiz nicht das einzige Land, das Rwanda damals in seiner Entwicklung unterstützte. Was mich aber verblüffte war festzustellen, dass die damalige Republik Formosa (heute Taiwan) bereits schon eine Weile mit einem überraschenden Projekt im Lande tätig war. Ohne grosses Aufsehen und sehr diskret wurde in den Sumpfgebieten Reis angepflanzt. Obwohl ich diese Art von Hilfe sehr pragmatisch fand schien sie mir äusserst gewagt, denn bis anhin war nämlich Reis kein traditionelles Nahrungsmittel. Und so fragte ich mich ob dieses Projekt je erfolgreich sein konnte. Und tatsächlich, trotz den turbulenten Jahren haben diese Reisfelder überlebt und sich sogar vervielfacht. Inzwischen ist dieser „einheimische Reis“ sogar zu einem wichtigen Grundnahrungsmittel des Landes geworden und dies obwohl sich die Taiwanesen nach ein paar Jahren aus dem Projekt zurück gezogen hatten. Der Grund war Rwanda’s Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit China, worauf sie das Land verlassen hatten und die Reisfelder den Chinesen überliessen.



(4) Die von der Republik Formosa erstellten Reisfelder

Die von der Republik Formosa erstellten Reisfelder

 

 

 

 

Das Projekt
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13.3.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967) – Das Projekt.



(1) Zufahrt zur Baustelle auf dem Hügel

Zufahrt zur Baustelle auf dem Hügel


Im Jahre 1965 arbeiteten zwei Architekten in der Schweiz (Roland Leu und Urs Hettich) an einem Projekt für die erste staatliche, überkonfessionelle Mittelschule mit Internat für 320 Schüler, dem „collège officiel de Kigali“. Es handelte sich um ein gemeinsames Projekt der Schweiz, dem Rwandesischen Staat, der „Mission des Eglises Protestantes de la Suisse romande“ und der „Action du Jeûne fédéral. Das Projekt hatte die Vorgabe die Gebäude der Topographie des Geländes und dem lokalen Klima anzupassen. Zudem waren ein sinnvoller Umgang und Einsatz von lokal verfügbaren Materialien zu berücksichtigen, allerdings ausser roten Backsteinen. Die lokalen Behörden meinten, dass sie solche Steine schon zur Genüge bei den von Missionen errichteten Kirchen und Schulen gesehen hätten. Es waren weder falscher Aufwand noch Luxus erwünscht, sondern einfache, weiss getünchte Mauern, überdacht mit Eternit- Regenrinnen. Bald wurde der Kredit für die erste Etappe von allen Beteiligten bewilligt und so konnte der Bau beginnen. 

Das attraktive Projekt war auf einem Hügel, dem Murabaturo (der Unwirtliche), nur wenige Kilometer von Kigali entfernt vorgesehen, wobei der Rwandesische Staat das Baugelände zur Verfügung gestellt hatte. Das Gelände entsprach genau dem Namen des Hügels: es war trostlos! Man fand auf dem Hügel nichts als Steine, dürres Gras, einige Ziegen und Wurzelstöcke von geschlagenen Eukalyptusbäumen. Der steinige und fast kahle Hügel schien sonderbar in der üppigen Vegetation der Umgebung. Es war auch rätselhaft wieso sich in dem dicht besiedelten Land bis anhin niemand auf dem mysteriösen Hügel niedergelassen hatte! Vielleicht kam der Regierung das Projekt deshalb gerade recht um die geheimnisvolle Ausstrahlung der kahlen Anhöhe endlich zu beenden und diese zu besiedeln?


(2) Der Hügel Murabaturo (der Unwirtliche) und die Baustelle im Jahre 1967

Der Hügel Murabaturo (der Unwirtliche) und die Baustelle im Jahre 1967


Für die zwei Architekten war der Anfang sehr schwierig und mühsam. Sie mussten sich auf dem Hügel zuerst einfache Unterkünfte bauen, um sich und die Baustelle einzurichten. Dabei erhielten sie aber bald Unterstützung von drei Freiwilligen: Martin Hinderling, der die Bauleitung übernahm und gleichzeitig Gruppenchef wurde und das Ehepaar Christine und Gilbert Brunet, welches sich dem Sekretariat und dem Zeichnungsbüro annahm. Leider musste dieses Ehepaar nach einem Unfall des Ehemannes bald in die Schweiz zurückkehren. Im Januar 1966 wurden sie dann von Lisbeth Müller, als Bauzeichnerin und Maurice Pasquier als Maurer ersetzt. Nachdem zwei temporäre Häuser gebaut waren, begann man sofort mit den Fundamenten der Klassenzimmer und der ersten Wohnhäuser für die Lehrer. Das erste war für den Direktor der Schule und drei Studios für Lehr-Personal vorgesehen. Zudem wurde unten am Hügel eine Unterkunft für die zukünftigen Hausangestellten (houseboys) gebaut. Da diese Unterkunft auch für uns Freiwillige gedacht war, nannte man es auch „Maison Suisse“. Es war ein U-förmiges Gebäude das sich der Neigung des Geländes anpasste. Die seitlichen Räume waren deshalb stufenartig angeordneten und die seitlichen Räume nur über Treppen zugänglich. Ganz zu unterst befand sich ein gemeinsamer Waschraum mit zwei Toiletten (Türken-WC) und einer Dusche. Seitlich und oben befanden sich acht kleine Zimmer von knapp 7 m² (2.20m x 3.20m), ein Wohnraum, eine Küche und ein Essplatz. Es war eine äussert einfache Konstruktion. Im ganzen Gebäude waren Zement- oder Steinböden der normale Standard, die Wände waren nicht verputzt, dafür weiss gestrichen. Es gab keine Haustüre und so hatte man jederzeit von überall freiem Zugang ins Haus. Es gab wohl Wasser im Haus, aber keinen Strom und natürlich kein Telefon.

Die Reise nach Kigali und meine Unterkunft
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13.4.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967) – Die Reise nach Kigali und meine Unterkunft.
Am 12. März machte ich mich auf den Weg nach Kigali. Er führte mich zuerst nach Brüssel, wo ich während dem Transit Aufenthalt Freunde aus der Zeit in Algerien traf und gleichzeitig die Sehenswürdigkeiten der Stadt sehen wollte. Am Abend des 14.3. ging es dann mit SABENA, mit Zwischenhalten in Athen und Entebbe nach Kigali, wo ich am 15. März um 09.30 Uhr ankam. Als ich aus dem Flugzeug stieg war ich erstaunt nur eine hexagonale Aluminium Hütten neben der Piste zu sehen. Damals gab es tatsächlich noch keinen Terminal und so glaubte ich zuerst, dass sich der Pilot in der Destination geirrt hätte oder einfach irgendwo im Busch gelandet war. Aber er hatte sich nicht geirrt und ich war wirklich in Kigali, im Herzen von Afrika angekommen. Nach der Passkontrolle in einer dieser Aluminium-Hütten konnte man seinen Koffer dann auf dem Flugfeld holen. Sie waren nach dem Ausladen einfach neben dem Flugzeug unter freiem Himmel auf die rote Erde gestellt worden. Die ganze Situation war für mich zuerst ziemlich unwirklich. Aber dann holten mich Mr. Boillod, der Direktor der Schule und seine Frau in die Realität zurück. Sie waren mir unbehelligt bis zum Flugzeug entgegengekommen. Das waren noch Zeiten ohne all die Sicherheitsvorkehrungen! Freundlich empfingen sie mich und machten mich anschliessend mit den anderen Freiwilligen bekannt, dem Bauführer Martin Hinderling, der Bauzeichnerin Elisabeth Müller und dem Maurer Maurice Pasquier.


(1) Die Abfertigungs- und Ankunfts-Einrichtung des Flugplatzes im Jahre 1966
Die Abfertigungs- und Ankunfts-Einrichtung des Flugplatzes im Jahre 1966



(2) Das Flugzeug der SABENA, das mich nach Kigali brachte

Das Flugzeug der SABENA, das mich nach Kigali brachte


Ausser der asphaltierten Flugpiste und den etwa 200 Metern Strasse im Zentrum von Kigali gab es damals nur Naturstrassen in Rwanda. So ging es auf der roten, staubigen Strasse vom Flugplatz auf den Hügel zum „Maison Suisse“, wo mir ein Zimmer zugewiesen wurde. Die Möblierung war sehr bescheiden und bestand einzig aus einem Bett, einem kleinen Einbauschrank, einem Stuhl und einem kleinen Tisch. Wenn mir meine Kollegen nicht vorher freundlicherweise Blumen ins Zimmer gestellt hätten, wäre ich mir eher wie ein Mönch in einer Klosterzelle vorgekommen. Das Zimmer war wirklich sehr klein und hatte nur ein ganz schmales Fenster, so wie eine Schiessscharte, das gegen den Innenhof gerichtet war. Auch tagsüber war es deshalb düster im Zimmer. Zudem waren die Bauarbeiten noch im Gange und die Mauern nicht trocken. Die Drainage-Rohre hinter dem Haus waren auch noch nicht verlegt worden und so wurde das Regenwasser von den Grundmauern absorbiert. Aus diesem Grund war es feucht in den Zimmern, was die Kleider nicht wohlriechender machte und Lederartikel wie Gürtel sogar grün anlaufen liess. Maurice war erst kurz vor meiner Ankunft in das Haus eingezogen und so begannen wir es zusammen bewohnbar zu machen.


(3) Die beiden kleinen Zimmer von Maurice und mir.

Die beiden kleinen Zimmer von Maurice und mir.


Da Rwanda so ziemlich unter dem Äquator liegt, ist der Sonnenaufgang das ganze Jahr um ungefähr sechs Uhr morgens und der Sonnenuntergang um etwa sechs Uhr abends. Das bedeutete sehr lange Nächte, was ohne Strom anfangs schon ziemlich gewöhnungsbedürftig war. Doch man hatte keine andere Wahl, als sich anzupassen und die dunklen Stunden mit Petroleumlampen zu erhellen (mit den geräuschlosen Aladdin Glühlichtlampen oder den lauten, tragbaren und sehr hellen Petromax Lichtmaschinen). Am 5. Mai kam dann endlich die Kiste mit meinen persönlichen Effekten und der Standard-Ausrüstung für Volontäre im „Maison Suisse“ an. Zu dieser Ausrüstung gehörten Moskitonetze, Plastik-Mottenschränke, Militär-Wolldecken und vieles mehr, aber leider kein einziges Radio. Ohne Neuigkeiten aus der Schweiz, fühlte man sich deshalb oft sehr von der Welt abgeschnitten. Dafür bekamen wir einen Gasherd und einen Gas-Kühlschrank für unsere Küche. Einen Teil der Ware, die wir nicht sofort brauchten, wurde in einem der freien Zimmer im „Maison Suisse“ gelagert. Der Gasherd und der Gas-Kühlschrank wurden gleich in der Küche installiert. Dabei wurde uns sofort klar, dass der Durchzug und der starke Wind bei Unwetter für diese Geräte ein Problem waren. Zum Beispiel wurde die feine Kontrollflamme des Kühlschranks sehr leicht durch einen Windstoss ausgelöscht und dann waren unsere Tiefkühlprodukte jedes Mal verloren. Aber eigentlich beschäftigte uns anfangs hauptsächlich die Dusche. Es gab ja nur kaltes Wasser und so war mein berufliches Wissen schon in den ersten Tagen gefragt. Wie damals in Algerien schlug ich vor, das Wasser in einem 200 Liter-Fass über der Dusche zu erwärmen. Sofort machten wir uns an die Arbeit und erstellten über der Dusche eine Betondecke. Darauf wurde ein Raum für die Feuerstelle geschaffen. Über der Feuerstelle wurde dann das Fass installiert und der nötige Kamin errichtet. Da man das Fass vom Innenhof sehen konnte, schlug Maurice vor es mit einer Mauer zu umgeben. Er gab sich grosse Mühe und bald verwandelte sich die unansehnliche Installation in ein schneeweisses, zeitgenössisches Kunstobjekt auf das wir beide stolz waren.

Natürlich freuten wir uns, endlich mit warmem Wasser duschen zu können und begannen das Wasser im Fass aufzuheizen. Der Kamin funktionierte perfekt und das Feuer brannte schön und ruhig unter dem Behälter. Dann aber gab es plötzlich einen Knall, die Mauern bekamen Risse, Mauerteile lösten sich und stürzten zu Boden. Entsetzt verfolgten wir das Schauspiel und konnten nicht verstehen, wie und warum das geschah. Doch dann wurde uns sofort klar, dass sich das Fass bei der Erwärmung ausgedehnt hatte. Da es durch die Abdeckmauer eingeengt war, hatte es keine andere Wahl als sich den nötigen Platz zu verschaffen. Dass dabei unser Kunstwerk beschädigt wurde, schien dem Fass egal zu sein. Vielleicht war es aber einfach verdrossen, weil man es vom Sitzplatz aus nicht bewundern konnte und rebellierte auf seine Weise. Zuerst schämten wir uns über den unverzeihbaren Denkfehler. Doch Maurice liess sich von dem Desaster nicht beeindrucken und machte sich sofort an die Arbeit um die Anlage wieder in Stand zu stellen. Diesmal aber liess man dem Fass genügend Platz, um sich auszudehnen und sich wohl zu fühlen. Dann erst konnten wir uns endlich mit warmem Wasser duschen. Leider war dies aber nur an einem Samstag möglich, denn das Aufheizen des Wassers war viel zu aufwändig, um diesen Komfort jeden Tag geniessen zu können.


(4) Das Kamin unserer Warmwasseraufbereitung nachdem sich das 200-Liter Fass im Kamin ausgedehnt hatte.

Das Kamin unserer Warmwasseraufbereitung nachdem sich das 200-Liter Fass im Kamin ausgedehnt hatte.


Fast zur gleichen Zeit waren meine beruflichen Fachkenntnisse in der Küche, das heisst beim Schüttstein oder Ausguss gefragt. Der Ablauf war immer verstopft. Es wurde vermutet, dass Abfälle in den Ausguss geworfen wurden. Doch es stellte sich bald heraus, dass die Ableitung viel zu klein dimensioniert war. Es gab keine andere Lösung als die ganze Ableitung mit grösseren Röhren zu ersetzen, auch die im Zementboden verlegten. Natürlich löste ich bei meinen Vorgängern keine Begeisterung aus, schliesslich waren die Leitungen von ihnen ausgewählt und installiert worden. Doch glücklicherweise hatte ich nicht zu grosse Mühe, sie mit meinem Fachwissen zu überzeugen. Dann entdeckten wir bald ein Problem im Aufenthaltstraum. Durch die Fugen zwischen Mauer und Decke kamen nicht nur Insekten herein, sondern auch Staub, Erde und Partikel der Faserzement - Wellelementen (ETERNIT). So entschlossen wir uns eine Zwischendecke aus Schilf einzubauen. Das löste nicht nur das Problem, sondern machte den Raum auch viel wohnlicher.


(5) Bei der Gartengestaltung unseres Innenhofes half sogar unser Kostgänger und Experte Herr Zingg mit.

Bei der Gartengestaltung unseres Innenhofes half sogar unser Kostgänger und Experte Herr Zingg mit.


Als das Haus einigermassen bewohnbar war, machten wir uns sofort an die Gestaltung des kleinen Innenhofes. Da auch diese Fläche abfallend war entschlossen wir uns das Gelände aufzuschütten sodass eine Terrasse entstand. Damit konnte man nicht nur das Regenwasser zurückhalten, sondern eine ebene Rasenfläche schaffen. Dazu musste allerdings zuerst eine Stützmauer erstellt werden. Immer abends und in der Freizeit machten wir uns an den Aushub eines Grabens für das Fundament. Doch der Boden erwies sich als äusserst hart und so hackten wir mit unseren Pickeln viele Stunden ohne grossen Fortschritt. Maurice sagte, man nenne diese spezielle, rote Erde „Laterit“ und dass die ausserordentliche Härte typisch für dieses Material sei. Allerdings brachte uns sein Wissen auch nicht schneller vorwärts. Ausser Eukalyptus und wildem Gras wuchs in dieser roten Erde normalerweise nichts. Eines Tages kam ein Nachbar und fragte uns, wieso wir „Weissen“ eine so harte Arbeit selbst machen würden. Wir antworteten so wie wir es in Moghegno gelernt hatten: wir wollten ein Vorbild sein und uns nicht wie Kolonialisten benehmen. Da lachte der Nachbar und meinte, wir hätten doch schon den ganzen Tag gearbeitet und sollten uns nun ausruhen. Dann fragte er lakonisch, ob wir geizig seien, denn wir könnten uns doch das Delegieren dieser Arbeit sicher leisten. Er würde sie gerne machen, denn mit dem Entgelt könnte er seine Familie besser ernähren. Diese Antwort machte uns perplex und nachdenklich. Nach ein paar Tagen entschlossen wir ihm diese harte Arbeit zu überlassen und unsere Energie auf das Projekt zu konzentrieren. Damit leisteten wir unsere ganz persönliche Entwicklungshilfe.

Als die Mauer fertig erstellt war, wurde der Innenhof mit einigermassen guter Erde aufgefüllt und mit Rasen bepflanzt. Dann wurden Bäume und Sträucher gesetzt, sodass wir bald einen schönen Garten hatten. Wann immer wir Blumen bekamen, wurden sie im Garten eingepflanzt. Wir wollten auch eigene Passionsfrüchte (Maracuja) haben, und so zogen wir Drähte über den Hof, sodass sich die Kletterpflanze voll entwickeln konnte. Vorne, über der neu erstellten Stützmauer, entstand bald noch eine elegante Feuerstelle wo man abends grillieren oder einfach das Feuer geniessen konnte.


(6) Beim Bau des Gartengrills

Beim Bau des Gartengrills



(7) Eingang zum „Maison Suisse“, unserer Unterkunft.

Eingang zum „Maison Suisse“, unserer Unterkunft.


Vor dem Haus wurde die Zufahrt verbreitert und ein Parkplatz für 2 Fahrzeuge erstellt. Dann montierten wir beim Eingang Holzlamellen, um uns vor den neugierigen Augen der vorbeigehenden Leute besser abzuschirmen. Neben dem Haus bauten wir ein Triebbeet und säten Gemüse und Blumen. Die Samen hatte ich aus der Schweiz mitgenommen, aber scheinbar war ihnen das Klima nicht genehm oder dann sagte ihnen die Erde nicht zu, denn nichts wollte spriessen. Dafür trampelten Kühe und Ziegen in das 50 cm hohe Trieb-Beet und zerstörten damit unsere Illusion eigene Salate, Karotten, etc. essen zu können. Wir erinnerten uns an die Aussage des Nachbarn und besorgten unser Gemüse dann auf dem Markt von Einheimischen. Wir wollten auch eigene Eier und so kauften wir ein Huhn und einen Hahn. Aber irgendwie klappte auch dieser Versuch nicht. Das Huhn drehte den Kopf schon nach ein paar Tagen immer nur nach hinten und konnte sich deshalb nicht mehr selbst ernähren. Man nahm an, dass ihm jemand nachts den Kopf umgedreht hatte. Tatsächlich wurde zu dieser Zeit nachts einmal eingebrochen, jedoch ohne dass uns etwas gestohlen wurde. Jedenfalls konnte das arme Huhn den Kopf nicht mehr nach vorne drehen. Ich hatte Bedauern und gab ihm anfangs die Körner in den Schnabel. Dabei hoffte ich auf ein Wunder, doch als nichts passierte und das Huhn zudem keine Eier legte, endete es samt seinem Partner im Kochtopf.

Natürlich hatten wir seit dem Kurs in Moghegno genügend Kochkenntnisse um selbst zu kochen. Doch bald wurde uns bewusst, dass man neben der strengen Arbeit auf dem Bau nicht auch noch kochen und sich dem ganzen Haushalt annehmen konnte. So entschieden wir uns jemand für den Haushalt zu suchen. Schon seit wir ins Haus eingezogen waren kamen immer wieder junge Burschen die sich für eine solche Stelle anboten. In Afrika werden diese männlichen Hausangestellten seit der Kolonialzeit „Houseboys“ genannt. Durch eine Empfehlung engagierten wir dann einen Burschen der sehr kompetent war, aber wegen Diebstahl bald wieder entlassen werden musste. Dann kam „Célestin“, ein scheinbar scheuer Mann. Bald stellte sich heraus, dass er überhaupt keine Erfahrung von der Küchenarbeit hatte und so blieb mir nichts anderes übrig als mein, in Moghegno erworbenes Wissen weiterzugeben. Zudem war er äusserst langsam und total unfähig seine Arbeit zu organisieren oder wenigstens zeitgerecht zu erledigen. Oft hatte es abends noch Berge von ungebügelter Wäsche im Wohnraum ohne, dass er erklären konnte was er den ganzen Tag gemacht hatte. Da unsere Garderobe sehr bescheiden war und wir am nächsten Tag etwas zum Anziehen brauchten, liess ich ihn einmal abends nicht nach Hause. Im Licht der Petroleumlampe blieb ich neben ihm, bis alle Arbeit erledigt war. Doch auch diese Lektion brachte keine Früchte, er war für die Hausarbeit einfach nicht geeignet. Dabei konnten wir uns nicht einigen ob er wirklich so einfältig war oder ob er uns einfach nur provozieren wollte. Sein Name „Célestin“, was „himmlisch“ heisst, passte überhaupt nicht zu ihm. Er nervte uns jeden Tag und trotzdem hatten wir nicht den Mut ihn zu entlassen. Irgendwie tat er uns auch leid. Und so hatten wir keine andere Wahl als uns immer wieder selber der Küche und unserer Verpflegung anzunehmen.

Bis mein Kochbuch mit dem Umzugsgut aus der Schweiz angekommen war, standen auf dem Menüplan anfangs hauptsächlich Gerichte, die einfach und schnell zubereitet waren: Teigwaren, Reis, Fleisch und viel Früchte. Ein von einer indischen Familie, den Rajans, geführtes Lebensmittel-Geschäft war das Einzige wo wir Europäer Einkäufe machten konnten. Aber auch da war die Auswahl meistens sehr beschränkt und vieles nur sporadisch erhältlich. Frische Butter gab es nie und man hatte keine andere Wahl, als sich an gesalzene Margarine zu gewöhnen. Beim einzigen Bäcker in der Stadt, einem Belgier, holten wir regelmässig das benötigte Brot. In seinem Laden bediente seine etwas schlampig gekleidete Frau, die man nie ohne farbige Lockenwickler (Bigoudi) auf dem Kopf sah. Jedes Mal fragte ich mich, ob sie wohl am Abend einen hohen Besuch erwartete und wieso wir Kunden es nicht verdienten ein bisschen gepflegter empfangen zu werden. Aber dann musste ich feststellen, dass die meisten Belgierinnen mit Lockenwicklern in der Stadt unterwegs waren, eine eigenartige Gewohnheit die einem mit der Zeit nicht mehr auffiel.


(8) Das von der Indischen Familie Rajans geführte Lebensmittelgeschäft in Kigali

Das von der Indischen Familie Rajans geführte Lebensmittelgeschäft in Kigali


Früchte und Gemüse kauften wir immer auf dem Markt oder von den Hausierern die fast täglich im „Maison Suisse“ vorbeikamen. Wann immer erhältlich gab es deshalb zum Frühstück ein Stück Papaya oder dann Ananas. Da die gekauften Konfitüren mehr aus Chemie bestanden als aus Früchten, machte ich diese selbst. Besonders die Orangen-Konfitüre aus unbehandelten Früchten war jeweils ein Genuss. Da die kleinen Ananasse, die in Rwanda wuchsen, sehr viel Säure hatten und mein Magen diese nicht ertrug, kochte ich die Scheiben einfach ein paar Minuten und so hatten wir immer ein feines Ananas-Kompott. Erst als wir den Gasherd und einen Gas-Kühlschrank in der Küche hatten, wurden die Menüs ein bisschen anspruchsvoller, besonders an Sonntagen, wenn Besuch angesagt war. Ich versuchte es mit typisch Schweizer Gerichten wie Rösti mit Spiegelei, Speck mit Bohnen, Hörnli-Auflauf, Griesspudding und mehr. Mit der Standard Ausrüstung hatten wir auch einen Wasserfilter bekommen, denn es wurde uns empfohlen das Leitungswasser nicht zu trinken. Zuerst kochten wir das Leitungswasser während 20 Minuten und liessen es dann in der Pfanne abkühlen. Erst dann wurde das Wasser in den Gravitationsfilter gegossen, wo Bakterien, Protozonen und anderen Krankheitserreger herausgefiltert wurden. Es war ein zweiteiliger 10-Liter-Behälter der Marke KATADYN. Im oberen Teil hatte es drei silberimprägnierte Keramikelemente, durch die das Wasser in den unteren Teil tropfte. Am unteren Teil befand sich ein Ventil, wo unser Trinkwasser dann frei von Mikroorganismen entnommen werden konnte. Dieses Wasser brauchte man auch zum Zähneputzen. Zudem hatten wir in unserer Standardausrüstung Kaliumpermanganat. Es sollte vor Amöben und anderen Darmkrankheiten schützen und so brauchten wir es vor allem um Salate und Gemüse zu waschen. Bei der Zugabe dieser Chemikalie färbte sich das Wasser bau-violett und war bereit vorhandene Bakterien zu töten. Da das Frischgemüse aber bei zu langem „Wässern“ den Geschmack oft total veränderte, war es bei uns nicht sehr beliebt.

Als dann die Bauarbeiten endlich vollendet waren, zogen auch die ersten „Houseboys“ unserer Vorgesetzten ein. Plötzlich waren wir nicht mehr alleine im Haus und mussten nun auch den Waschraum, WC und Dusche mit ihnen teilen. Dies brauchte anfangs beiderseits etwas Überwindung und Vertrauen. Kaum einen Monat nach dem Bezug unserer Unterkunft, wurde auch Herr E. Zingg aus Bern für einige Wochen bei uns einquartiert. Er kam als Experte für das DEZA nach Rwanda. Da es damals in Kigali keine Hotels gab und Reisende normalerweise nur bei Bekannten oder bei den verschiedenen Missionen Unterschlupf fanden, wurde die Lösung im „Maison Suisse“ vorgezogen. Der neue Bewohner war bedeutend älter als wir und deshalb eine willkommene Bereicherung im Hause. Zusammen verbrachten wir viele nette Stunden beim abendlichen Kartenspiel oder dann am Sonntag beim gemeinsamen Mittagessen mit anderen Freiwilligen. Die Lebenserfahrung von Herrn Zingg und seine eigenwilligen Ansichten waren aber auch oft Anstoss für heftige Diskussionen. Schon Mitte Mai besuchte uns der Leiter der schweizerischen Freiwilligen für Entwicklungshilfe, Dr. Michael von Schenck. Er wollte nicht nur die Baustelle sehen, sondern auch unsere Unterkunft im „Maison Suisse“. Zu unserer grossen Erleichterung schien er nicht nur unsere Arbeit zu schätzen, sondern auch unsere Unbefangenheit mit anderen Menschen unter demselben Dach zu wohnen.


(9) Gemeinsames Mittagessen mit unserm Mitbewohner Herrn Zingg aus Bern

Gemeinsames Mittagessen mit unserm Mitbewohner Herrn Zingg aus Bern


Am 27. Juli erschien ganz unerwartet und unangemeldet ein neuer Freiwilliger. Die Mission hatte scheinbar erfolglos beim DEZA einen Elektroinstallateur für den Bau verlangt. Als sich kein solcher Kandidat in der Schweiz auftreiben liess, suchte die Mission in Belgien und fand den André Luc. Da wir davon nichts wussten, konnten wir ihm auch seine Unterkunft nicht vorbereiten. Aber da wir an das Improvisieren gewohnt waren, konnte er bald bei uns im „Maison Suisse“ einquartiert werden. Luc war ein quicklebendiger Bursche, der aber anfangs alles in Frage stellte, etwas das uns oft sehr irritierte. Es brauchte eine gewisse Zeit bis er merkte, dass er in Afrika war und sich der neuen Umgebung anzupassen hatte. Obwohl wir ja auf dem Hügel zu dieser Zeit noch keinen Strom hatten, mussten die Häuser und die Schule doch schon jetzt mit der nötigen Installation ausgestattet werden. Er kam also gerade zur richtigen Zeit, denn es ging ja mit den Bauten sehr rasch vorwärts.

Die Aufteilung der Aufgaben auf der Baustelle
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13.5.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967) – Die Aufteilung der Aufgaben auf der Baustelle.
Bis anhin bestand das Bauteam aus einem Architekten, einem Ingenieur (Bauführer), einer Bauzeichnerin und einem Maurer. Sie waren nicht nur für die Bauarbeiten verantwortlich, sondern hatten noch viele zusätzliche Aufgaben wie Steinbruch, Zementsteinfabrikation, Vorfabrikation von Betonelementen, Schreiner- und Malerarbeiten, erste Hilfe bei Unfällen und vieles mehr. Zudem gab es mit einer Baustelle von fast 200 Arbeitern auch sehr viele administrative Arbeiten wie Korrespondenz, Bestellungen, Salärzahlungen, Zollformalitäten, etc. zu erledigen. Besonders die Vorbereitung der Löhne für so viele Arbeiter war sehr aufwändig. Da sie in bar ausbezahlt wurden musste jedes Mal sichergestellt werden, dass für jeden Arbeiter die nötige Anzahl der entsprechenden Noten vorhanden war. Bei der Auszahlung hatte Elisabeth immer Unterstützung von Maurice oder Martin, dem Bauführer, sowie den beiden Vorarbeitern.

Eigentlich hätte mit mir noch ein Schreiner das Team ergänzen sollen, doch dann hiess es man hätte aus Platzmangel auf ihn verzichtet. Damit wurde mir neben der Planung und Ausführung der Wasserversorgung, noch die Schreiner- und Malerarbeiten zugewiesen. Da ich schon als Kind sehr gerne mit Holz arbeitete, war diese zusätzliche Verantwortung keine Last, sondern eher ein Glücksfall. Da Lisbeth, die Bauzeichnerin, neben der Vorfabrikation noch einen Teil der Administration bewältigen musste, übernahm ich zusätzlich Arbeiten die den Innenausbau der Wohnhäuser betrafen. Dazu gehörten die abgehängten Decken, die Installation der Küchen, Bäder und WC, sowie teilweise auch die Umgebungsarbeiten. Da ich eigentlich Architektur studieren wollte, machte mir auch diese Aufgabe sehr viel Spass. Nachdem ich mich ein bisschen eingelebt hatte, merkte ich bald, dass ich in einem wirklich guten Team arbeiten durfte. Mit dem Fortschritt der Bauarbeiten und der vorzeitigen Inbetriebnahme der Schule, stiegen die Anforderungen an das Team aber beträchtlich. Manchmal war die Arbeit auch mit Risiken und Gefahren verbunden, zum Beispiel als ein Wasserreservoir installiert werden musste!


(1) Ohne die nötigen Einrichtungen musste immer irgendwie improvisiert werden. Hoffentlich geht diemal nichts schief???

Ohne die nötigen Einrichtungen musste immer irgendwie improvisiert werden. Hoffentlich geht diemal nichts schief???

 

(2) Uff, noch einmal Glück gehabt!

Uff, noch einmal Glück gehabt!

 

Die Fahrt mit Heimo’s nach Kampala
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13.6.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967) – Die Fahrt mit Heimo’s nach Kampala.
Ganz unerwartet hatte ich am 20. Mai, also schon nach 2 Monaten, die Gelegenheit mit der Familie Charles Heimo, Délégué du Conseil fédéral suisse à la Coopération technique, nach Kampala zu fahren. Ein Auto, ein VW Käfer, war zur Auslieferung in der Niederlassung in Kampala bereit und sollte dann von mir nach Kigali gefahren werden. Die Reisen nach Kampala benutzte man immer um gleichzeitig noch persönliche Einkäufe zu machen, denn das Angebot in Kigali war sehr bescheiden und viele Artikel nur sporadisch erhältlich. Ausser Gemüse und Früchte musste alles importiert werden und so fehlten einmal während Wochen Zündhölzer. Da wir mit unseren Petroleumlampen von diesen abhängig waren, bat ich meine Mutter anfangs immer wieder solche in ihren Briefen beizulegen. In Kigali gab es damals auch nur ein einziges, kleines Geschäft, das etwas Baumaterial verkaufte. Aus diesem Grund bestellten wir grössere Mengen von Zement, Eisenprofilen, Fensterscheiben und vieles mehr bei einem Grossisten in Uganda. Die Reisen nach Kampala dienten auch um die Kontakte mit den Lieferanten zu pflegen und so freute mich sehr auf diese „Auslandreise“.

Um 10 Uhr morgens fuhren wir los. Die Naturstrasse nach Uganda führte durch den Kagera-Nationalpark (heute Akagera-Nationalpark genannt). Der Park wurde im Jahre 1934 von Belgien gegründet und hatte damals eine Fläche von 2’500 km². Mit dem Bevölkerungsdruck und Bürgerkriegen ist die Fläche in den letzten 50 Jahren auf ca. 900 km² geschrumpft und damit sank auch die Zahl der wilden Tiere. Damals konnte man auf der ganzen Fahrt nach Uganda immer wieder Tiere auf freier Wildbahn beobachten. Als wir uns der Grenze näherten stiessen wir unverhofft auf einen Unfall. Ein Lastwagen war mit einer Limousine (Mercedes) zusammengestossen. Die leicht verletzten Insassen des Mercedes waren Russen, wahrscheinlich Diplomaten. Wie der Unfall geschah konnten wir nicht erfahren. Da keine sofortige medizinische Hilfe nötig war, entschlossen wir uns die Unfallstelle neben der Strasse durch das hohe Steppengras vorsichtig zu umfahren und dann den Unfall an der Grenze zu melden. Auf den schmalen Naturstrassen war das Kreuzen bei Gegenverkehr immer sehr gefährlich und konnte fatal ausgehen. Die Gegend war ja nicht bewohnt und mobile Telephone gab es damals noch nicht. So konnte man nur hoffen, dass noch weitere Leute auf der gleichen Strecke unterwegs waren und die nötige Hilfe bieten konnten.


(1) Auf den schmalen Naturstrassen durch den Kagera-Nationalpark gab es immer wieder Unfälle.

Auf den schmalen Naturstrassen durch den Kagera-Nationalpark gab es immer wieder Unfälle.


Bei uns verlief anschliessend alles problemlos und bald waren wir in Kikagati. Bei einem Wegweiser mit der Aufschrift „Toni Nutti“ verliessen wir die Hauptstrasse und fuhren auf einem schmalen, einspurigen Weg durch üppige Vegetation bis er plötzlich am Ufer eines reissenden Flusses, dem Kagera, endete. Mitten im Fluss und umspült von wilden Wassermassen entdeckten wir eine Insel. Und in diesem Moment überraschte uns Herr Heimo mit der Ankündigung, dass wir auf dieser einsamen Insel übernachten würden. Zuerst schien mir dies unmöglich, denn wie sollten wir über das wilde Wasser kommen? Doch dann zeigte er auf ein Drahtseil, das von der Insel über den Fluss bis ans Ufer gespannt war, es gab also so etwas wie eine private Seilbahn.


(2) Die private Seilbahn zur Insel von Toni Nutti.

Die private Seilbahn zur Insel von Toni Nutti.


Neben der Verankerung des Seiles an unserer Uferseite war eine Glocke befestigt, mit der wir uns bemerkbar machten. Ich hatte das Gefühl, dass uns jemand auf der Insel mit einem Feldstecher beobachtete. Es war nämlich bekannt, dass Besucher nur sehr selektiv auf die Insel gelassen wurden. Jedenfalls erschien am anderen Ufer bald ein einheimischer Hausdiener, der uns etwas zurief. Doch mit dem tosenden Lärm des Flusses verstanden wir nichts. Dann begann er an einer Kurbel zu drehen und setzte damit eine Art Gitterkorb in Bewegung, der sich uns langsam auf dem Seil näherte. Im Gitterkorb war eine Nachricht, die nach unseren Namen fragte. Nachdem wir uns identifiziert hatten, wurde das Gefährt wieder zurück auf die Insel geholt. Da die Heimo’s unseren Besuch schon in Kigali angemeldet hatten, kam das komische Gefährt bald wieder an unser Ufer zurück, diesmal mit der Erlaubnis für die Überfahrt. Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass um das Drahtseil nicht zu überlasten, nicht mehr als zwei Personen gleichzeitig transportiert werden durften. Auch das Gepäck musste separat transportiert werden. So begannen wir in den hüfthohen, viereckigen Käfig aus Metallgewebe zu steigen. Über unseren Köpfen waren zwei Stahlrollen am Rahmen des Käfigs installiert, die das Transportieren des Gefährtes auf dem Stahlseil erlaubten. Obwohl ich an Seilbahnen gewohnt war, hatte ich in diese rudimentäre Installation wenig Vertrauen. Wir wussten, dass wir turbulentes Wasser überquerten wo Krokodile und Flusspferde sich tummelten und wo bei einem Seilbruch wenig Hoffnung auf ein Überleben bestand. Die Überfahrt war ausserordentlich faszinierend, aber auch sehr furchteinflössend. Niemand sprach ein Wort bis wir sicher auf der Insel angekommen waren.


(3) Der wildromantische aber unberechenbare River Kagera.

Der wildromantische aber unberechenbare River Kagera.


Auf der Insel wurden wir von deren Besitzerin, Toni Nutti, herzlich willkommen geheissen. Sie führte uns zu ihrem Haus, das sich mitten in einem wunderbaren Garten befand. Nachdem sie uns die Zimmer gezeigt hatte, liess sie uns erst einmal von unseren Strapazen ausruhen. Etwas später empfing sie uns zu einem ausgezeichneten Nachtessen, ein Essen das ich mir auf dieser einsamen Insel nicht im Traum hätte vorstellen können. Später sassen wir dann alle am Kaminfeuer, tranken Whiskey und hörten ihren äusserst spannenden Geschichten und Erlebnissen zu. Toni Nutti war eine zierliche, exzentrische alte Dame mit einem widerspenstigen Charakter, vor der aber alle grossen Respekt hatten. Sie kam ursprünglich aus Italien und reiste im Jahre 1925 mit ihrem Mann ins ehemalige Deutsch-Ostafrika. Sie erzählte, dass sie zu Fuss erst das Gebiet von Tanganjika erforschten und dann nach Westen bis ins Ruwenzori-Gebirge, wo Gorillas lebten, weiterzogen. Natürlich hatten sie Träger die sie auf dem Weg begleiteten und das Gepäck, die Lebensmittel und andere Utensilien transportierten. Dann umkreisten sie den südlichen Rand des Viktoriasees und stiessen auf den reissenden Fluss Kagera. Dieser Teil des oberen Nils blieb damals unbeachtet und bildet heute auf seiner ganzen Länge von 900 km die natürliche Grenze zwischen Rwanda, Uganda und Tansania. Dann kehrte das junge Paar an das nördliche Ufer des Flusses Kagera zurück, wo sie jeden Abend an einem anderen Ort ihr Zelt aufbauten. So wurden sie nicht nur mit ihrer Umgebung, sondern auch mit den Einheimischen vertraut. Auf ihren Streifzügen fiel ihnen eines Tages ein besonderer Ort auf. Der Fluss war bewegter als an anderen Orten und es gab dort starke Stromschnellen. Dabei wurde ihnen plötzlich klar, dass ihr Gegenüber nicht die andere Seite des Flusses war, sondern eine überwachsene Insel, die scheinbar der Aufmerksamkeit früherer Kartographen entgangen war. Natürlich wollten sie ihre neuste Entdeckung sofort erkunden und riskierten dabei die äusserst gefährliche Überquerung des Flusses. Die Insel war ungefähr 500 Meter lang und 300 Meter breit und bei starkem Regen von turbulenten und sehr gefährlichen Stromschnellen umgeben. Während sie die Insel auskundschafteten machten sie eine spannende Entdeckung, die schliesslich ihr weiteres Leben bestimmt hatte: „die königlichen Trommeln“!


(4) Das ganz spezielle Haus von Toni Nutti auf der Insel.

Das ganz spezielle Haus von Toni Nutti auf der Insel.


Zu dieser Zeit gab es in Unganda ein Königreich das Baganda hiess und dessen König Kabaka genannt wurde. Vor seiner Herrschaft gab es oft Stammesfehden und so wurden in jener ungewissen und unstabilen Zeit die königlichen Trommeln auf einer Insel im Kagera versteckt. Leider konnte dieser geheime Platz später nicht mehr gefunden werden und so schienen diese ganz speziellen Trommeln verloren. Nun aber hatte sie Toni Nutti auf dieser geheimnisvollen Insel wiedergefunden. Aus diesem Grund machten sich Toni Nutti und ihr Mann auf, um beim herrschenden Kabaka von Baganda eine Audienz zu erbitten. Dies wurde ihnen gestattet und so wurden sie am königlichen Hof freundlich empfangen. Sie berichteten über diese mysteriöse Insel und was sie da gefunden hatten. Der König war so glücklich, dass er ihnen aus Dankbarkeit die Insel schenkte. Die beiden Forscher waren überglücklich, begannen sich dort niederzulassen und seither wohnte Toni Nutti das ganze Jahr auf der Insel. Allerdings wusste man am Schluss ihrer Erzählung nicht genau, ob es sich um eine Sage handelte, oder ob es sich tatsächlich so abgespielt hatte. Da sie nie von ihrem Mann sprach, konnte man auch nicht erfahren was mit ihm geschehen war!

Fasziniert von ihren Erzählungen gingen wir nachher ins Bett und träumten von der längst vergangen Pionierzeit. Vorher aber warnte sie uns, nachts aus dem Haus zu gehen. Es gab nämlich Flusspferde, die nachts auf der Insel herumstreiften. Um dies zu illustrieren fügte sie hinzu, dass es vor ihrem Haus einmal einen Kampf zwischen zwei Flusspferden gab. Dabei wurde nicht nur der Kaninchenstall zertrümmert, sondern auch der Gemüsegarten flach getrampelt! Auch riesige Krokodile würden nachts auf der Insel gesehen. Sie sagte, dass sie einmal Krokodil-Eier in der Badewanne aufbewahrt hatte. Eines Morgens waren alle ausgeschlüpft und krabbelten im ganzen Haus herum. Warum sie Krokodil-Eier aufbewahrte sagte sie nicht, aber wir vermuteten, dass diese für den Frühstückstisch vorgesehen waren…! Für mich aber war es die Tatsache, dass wir uns auf einer Insel mitten in einem wilden Fluss befanden, was mich noch eine Weile wachhielt. Aber dann siegte die Müdigkeit und ich erwachte erst wieder als am nächsten Morgen die Sonne schon am Himmel stand.

Nach einem herrlichen „English breakfast“ hatten wir noch Zeit das Haus und den Garten zu besichtigen. Am Vortag war es ja schon früh dunkel geworden und so schauten wir uns das Haus erst jetzt genauer an. An allen Wänden hatte es Fotos von Persönlichkeiten und berühmten Filmstars die auf ihrer Insel übernachtet hatten. Da wir nun zu diesen erlesenen Leuten gehörten, fühlten wir uns schon sehr geehrt. Draussen vor dem Haus erwartete uns ein romantischer und faszinierender „Garten von Eden“. Es gab alles mögliche Pflanzen und Blumen. Toni Nutti hatte sogar eine einzigartige Orchidee auf der Insel gefunden, die scheinbar nirgendwo anders auf der Welt existiert. Auch hatte sie neue Arten von Insekten entdeckt. Toni hatte auch zahme Antilopen, die sie verletzt oder als Waisen aufgenommen hatte und nun pflegte. Sie war eine aussergewöhnliche Frau und wir bedauerten es ausserordentlich sie und die Insel wieder verlassen zu müssen. Nur zu gerne wäre ich noch ein bisschen länger geblieben um noch mehr von ihren spannenden Geschichten zu hören. Da Toni Nutti mit den Bagandas befreundet war und Präsident Milton Obote deren Königreich noch in der gleichen Woche abschaffte, zirkulierte später das Gerücht ihrer Deportation durch seine Leute. Aber wie viele andere Geschichten, hat man dafür bis anhin keine festen Beweise.


(5) Eine zahme Zwerg-Antilope die Toni Nutti auf ihrer Insel pflegte.


Unsere Reise ging dann über Masaka weiter nach Kampala, wo wir im Speke Hotel übernachteten. Das Hotel wurde ungefähr im Jahre 1920 gebaut, also während der Britischen Kolonialzeit. Und dies spürte man schon beim Betreten des vornehmen, echt englischen Hotels. Wenn einem dies bei der Ankunft nicht aufgefallen war, dann sicher punkt 07.00 Uhr, wenn sich ein kleines Türchen beim Eingang des Zimmers öffnete und ein „Early morning tea“ hereingeschoben wurde. Natürlich erschrak ich das erste Mal, denn niemand hatte mich auf diese koloniale Tradition aufmerksam gemacht. Dann trafen wir uns zum Frühstück, das wieder alles bis jetzt erlebte übertraf. Ein englisches Frühstück mit Eiern, Speck, Kartoffeln echter Butter und weiteren Leckerbissen schienen mir eher ein Mittagessen als ein Frühstück. Es war einfach himmlisch, besonders wenn ich an unser spartanisches Frühstück auf dem Hügel in Kigali dachte! Da es Sonntag war, besuchten wir zuerst den Gottesdienst in der Anglikanischen Kirche und fuhren nachher nach Entebbe, wo wir den Leiter der schweizerischen Freiwilligen für Entwicklungshilfe, Dr. Michael von Schenck trafen.


(6) Das geschichtsträchtige Hotel Speke aus der Kolonialzeit.

Das geschichtsträchtige Hotel Speke aus der Kolonialzeit.


Am nächsten Tag wollten wir den bestellten VW Käfer bei der VW Niederlassung abholen, doch da war kein Auto für uns. Erst einen Tag später, am 24. Mai, teilte man uns mit, dass wegen einer Verwechslung unser Wagen schon von jemand anderem aus Kigali abgeholt worden war! Und genau an diesem Tag befahl der selbst ernannte Staatspräsident Milton Obote dem Armeekommandant Oberst Idi Amin den Königspalast der Bagandas anzugreifen, König Mutesa II festzunehmen und das Volk zu vernichten. Es gab Krawalle in der Stadt und so wurde ab 19.00 Uhr eine Ausgangssperre ausgerufen. Da der König entweichen konnte, wurden sofort alle wichtigen Zufahrtswege von und nach Kampala mit tiefen Gräben unpassierbar gemacht. Aber man erwischte den König nicht und er konnte trotz allen Vorkehrungen nach England entkommen, wo er einige Jahre später unter äusserst verdächtigen Umständen verstarb.

Am anderen Tag gingen die Ausschreitungen weiter und der Präsidentenpalast wurde niedergebrannt. Trotzdem gingen wir zur VW Niederlassung und brachten da alle unsere Einkäufe in Sicherheit. Man sagte uns, dass wegen den Strassensperren niemand das Land verlassen könne. Am 26: Mai gab es dann eine Hoffnung auf eine Rückreise. Die Polizei hatte einen Konvoi mit einem Lastwagen an der Spitze und einem Landrover mit Soldaten am Ende vorbereitet. Acht Ausreisewillige trafen sich mit ihren Autos um 11.45 Uhr an dem vorgegebenen Sammelpunkt und fuhren dann um 13.00 Uhr weg. Ganz langsam bewegte sich die beschützte Kolonne Richtung Masaka und Mbarara bis an die Grenze. Die verschiedenen Quergräben waren alle zugeschüttet und so waren wir gegen Mitternacht wieder in Kigali. Ja, es war eine spannende, interessante, aber auch aufregende Reise und ein willkommener Ausgleich zur harten Arbeit auf dem Hügel gewesen.

Die tägliche Arbeit auf dem Bau
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13.7.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967) – Die tägliche Arbeit auf dem Bau.

Jeden Morgen stiegen wir zu Fuss vom „Maison Suisse“ hinauf zur Baustelle ganz oben auf dem Hügel. Die Arbeit begann um 07.00 Uhr. Von 12.00 bis 13.00 Uhr war Mittagspause und um 16.30 Feierabend. Am Samstag arbeiteten wir normalerweise nur am Morgen. Meistens trafen wir auf dem Weg zum Hügel Arbeiter, die aus allen Richtungen zusammenströmten und dann mit uns bis zur Baustelle gingen. Oben angekommen meldeten sich die Arbeiter im Baubüro, wo sie sich registrierten und von den beiden Vorarbeiter, Félicien und Fidel, ihre Aufträge erhielten. Die beiden Männer waren sehr vertrauenswürdig und nahmen uns viel Arbeit ab. Sie lösten aber auch oft zwischenmenschliche Probleme unter den Arbeitern und waren als Übersetzer unentbehrlich. Natürlich hatten wir Wörter wie „Mwaramuteso“ (guten Tag), „Murakoze“ (Danke), „Amafranga“ (das Geld), „Umuti“ (die Medizin), „Yego“ (ja) und andere Wörter im Kurs in Mogheno gelernt, aber auf der Baustelle war dieser beschränkte Wortschatz natürlich völlig ungenügend. Zum Glück sprachen sehr viele Arbeiter Französisch und so konnten wir uns wenigsten mit den Meisten von ihnen verständigen. Trotzdem fanden es Maurice und ich wichtig die einheimische Sprache zu beherrschen. Félicien war sofort bereit uns abends nach der Arbeit dabei zu helfen. Doch unser gut gemeintes Bestreben für fliessende Kommunikation auf Kinyarwanda (Rwandisch) liess sehr bald nach und wir gaben den Unterricht schliesslich auf. Die Sprache war für uns einfach zu schwierig und die Wörter zu fremd um sie im Kopf zu behalten. Man konnte sie mit nichts Bekanntem in Verbindung bringen und den „urufunguzo“, den Schlüssel zur mentalen Registrierung deshalb unmöglich finden.

Die provisorischen Bau-Baracken waren mit Erde und Bambus erstellt worden und U-förmig um einen offenen Platz angeordnet. Hier wurde hauptsächlich die Vorfabrikation von Betonelementen gemacht. In den Bau-Baracken waren das Büro der Vorarbeiter und die Lagerräume für Zement und allerhand Baumaterial. Auf der anderen Seite war die Schreinerei die auch sehr viel Platz brauchte. Jeder Arbeiter brachte sein eigenes, persönliches Werkzeug mit, etwas das uns viele Probleme ersparte. Die Ausnahme waren die Sanitär Installateure, die teilweise mit unseren eigenen Werkzeugen arbeiteten.


(1) Unser Lehrling Uwimana beim Gewinde schneiden.

Unser Lehrling Uwimana beim Gewinde schneiden.


In den ersten Wochen musste ich mich vor allem den verstopften Leitungen und dem Abwasser im Allgemeinen annehmen. Ebenfalls bei den zuerst erstellten Häusern waren die Ableitungen viel zu klein dimensioniert und mussten deshalb ausgewechselt werden. Und wieder fühlte ich mich unwohl beim Abändern von Installationen, die meine Kollegen erstellt hatten. Auch die schon verlegten Ableitungen in den Fundamenten der Häuser für Lehrer musste durch grössere Rohre ersetzt werden. Das Abändern war auch für die Installateure keine motivierende Arbeit, denn nun mussten sie ihre eigene Arbeit wieder demontieren. Ich versuchte die bedauerliche Arbeit mit etwas Fachausbildung zu verbinden. Es war ja keiner der drei Installateure fachlich ausgebildet. Der Älteste, der Gérard, hatte wohl etwas Erfahrung, aber das genügte den Ansprüchen auf dieser Baustelle nicht. Er hatte einen Helfer, den Martin, der ausser Gewinde schneiden nicht zu mehr fähig war. Da ich wusste, dass sehr viel Arbeit auf die Beiden zukommen wird, entschloss ich mich noch einen dritten Installateur, den Charles, und einen Lehrling, der Uwimana hiess, einzustellen. Die mit der praktischen Arbeit kombinierten Unterrichtsstunden wurden für mich spannender als ich mir vorgestellt hatte. Gleichzeitig war ich erstaunt wie schnell die drei Burschen Fortschritte machten. Auch wünschte ich mir, dass sie die Installations-Pläne einmal selbst und ohne meine Hilfe lesen konnten. Dieses Ziel wurde dann später auch tatsächlich erreicht.
 


(2) Anleitung beim Verlegen von Abwasserleitungen (im Hintergrund Maurice, der Maurer).

Anleitung beim Verlegen von Abwasserleitungen (im Hintergrund Maurice, der Maurer).


Bei meiner Ankunft war der Bau des Hauses für den zukünftigen Direktor weit fortgeschritten und das Dach bereits mit den trapezförmigen Dachrinnen gedeckt. Auch die ersten acht Klassenzimmer sowie das „maison de surveillance“, das unten an den Klassen angebaut war, nahmen Formen an. Es fehlte nur noch die Überdachung mit den über sieben Meter langen Dachrinnen. Diese waren aus Faserzement und wurden von der Firma ETERNIT in Bujumbura hergestellt. Für bessere Festigkeit wurde den ETERNIT Produkten Asbest beigefügt, wobei wir damals von den Gesundheitsrisiken dieses Materials natürlich noch keine Ahnung hatten. Die „bacs“ wie wir sie nannten, kamen per Lastwagen von Burundi nach Kigali. Da die Naturstrassen damals meistens in sehr schlechtem Zustand waren, kamen mit fast jeder Lieferung zerbrochene Rinnen auf dem Hügel an. Dies verursachte nicht nur Verzögerungen auf dem Bau, sondern stellte uns auch vor die Frage wie wir die vielen gebrochenen Rinnen entsorgen konnten. Schliesslich kamen die Architekten auf die Idee die Dächer der zukünftigen Gebäude so zu gestalten, dass auch diese Rinnen gebraucht werden konnten. Wir machten ein genaues Inventar von all den verschieden langen Rinnen und verwendeten sie dann später bei neuen Bauten. Natürlich mussten die „bacs“ dazu auf die entsprechende Masse zugeschnitten (gesägt) werden, wobei natürlich Asbeststaub entstand. Doch eben, wir waren uns über das Risiko einer „Asbestlunge“ (Asbestose) nicht bewusst und es ist mir schliesslich kein Arbeiter oder Freiwilliger bekannt der deswegen erkrankt wäre.

Schon nach ein paar Wochen entstanden zwischen unserem Bau-Team und dem zukünftigen Direktor der Schule immer wieder Spannungen. Nach seiner Meinung gingen die Arbeiten viel zu langsam vorwärts und so begann er sich in unsere Arbeiten einzumischen. Er wollte auch so schnell als möglich in sein Haus einziehen und zudem einen nicht vorgesehenen Annex daneben bauen lassen. Auch hatte er sich in den Kopf gesetzt schon im Herbst die Schule in Betrieb zu nehmen, etwas das uns unmöglich schien. Zudem verlangte er immer wieder Änderungen, was für uns nicht nur Verzögerungen bei den Bauarbeiten bedeutete, sondern auch Überstunden und manchmal sogar das Arbeiten am Wochenende. Nach einer gewissen Zeit fühlten wir uns als Freiwillige nicht nur ausgebeutet, sondern auch ungerecht behandelt. Während wir weiterhin in unserer äusserst bescheidenen Unterkunft hausten, wohnten die Lehrer nun in neuen, komfortablen Häusern. Mit dieser neuen Situation und den ständig neuen Ansprüchen genau dieser Bewohner entstanden Spannungen und unsere ursprüngliche Motivation begann zu leiden. Natürlich wussten wir, dass der Direktor später für die ganze Schule verantwortlich sein wird, aber wir duldeten seinen ständigen Druck und seine hemmungslose Einmischung in technischen Belangen nicht mehr. Wir wurden uns auch immer mehr bewusst, dass unsere Arbeit mit vier Projekt Partnern nicht einfach war. Da wir durch das DEZA in Bern rekrutiert und nach Rwanda geschickt worden waren, schien uns logisch, dass das DEZA als unser Arbeitgeber auch für den Bau verantwortlich war. Dabei ignorierten wir aber die Tatsache, dass es eigentlich die „Mission des Eglises Protestantes de la Suisse romande“ war, die das Projekt vorgeschlagen hatte und deshalb auch mitreden durfte. Auch war es die Mission die nach dem Ende der Bauarbeiten die Schule übernahm. Damit hatte der Direktor, der von der Mission gestellt wurde, auch das Recht zu wissen was auf dem Bau geschah. Bei einer langen, gemeinsamen Aussprache konnten wir unsere Standpunkte schliesslich offen darlegen und die Missverständnisse klären. Ein kleines Misstrauen gegenüber dem Direktor blieb aber leider trotz allem bestehen.


(3) Mit einen improvisierten Kran wurde es möglich die Decke des Administrationsgebäudes zu erstellen.

Mit einen improvisierten Kran wurde es möglich die Decke des Administrationsgebäudes zu erstellen.


Das Administrationsgebäude war zweistöckig vorgesehen und dies stellte uns vor grosse Herausforderungen. Für so einen Bau hätte man normalerweise einen Kran gebraucht, aber wir hatten kein solches Gerät. Und so suchte vor allem Maurice eine Lösung um das Baumaterial sicher auf diese Höhe hochzuziehen. Und es ging nicht lange bis er einen improvisierten Kran entworfen hatte, den man auf dem Bau selbst anfertigten konnte. Natürlich hatte dieses Gerät nichts gemeinsam mit einem modernen Kran, aber es erlaubte wenigstens schwere, vorfabrizierte Elemente bis zum ersten Stockwerk hinauf zu heben und dort einzubauen. Dieses Gebäude war aber auch für mich meine Herausforderung, denn im Erdgeschoss mussten acht WC Anlagen und vier Handwaschbecken installiert werden. Die einzigen Türken-WC-Anlagen, die wir damals in Kampala gekauft hatten, schienen englische Modelle aus der Kolonialzeit und entsprachen nur bedingt unseren Anforderungen. Vor allem die störanfälligen Spülkästen aus Gusseisen machten mir Sorgen. Da keine Ersatzteile erhältlich waren, fragte ich mich wie man die Spülkästen später einmal in Stand halten konnte. Die Erfahrung mit diesen miesen Apparaturen aus Uganda gab mir aber schliesslich Beweis genug um die Bauführung zu überzeugen, in Zukunft die WC Anlagen und andere Sanitäre Apparate sowie die dazugehörigen Armaturen aus der Schweiz zu importieren. Ich dachte vor allem an die geplanten, zweistöckigen Gebäude mit den Schlafräumen, den „dortoirs“ und die Waschküche, wo die Anforderungen an die Installationen noch grösser waren. Nach einigen Diskussionen wurde mein Vorschlag angenommen und so konnten in den zwei Gebäuden moderne WC-Anlagen installiert werden. Wie sich später herausstellte, war der Import eine weise Entscheidung gewesen, denn die Anlagen funktionierten noch Jahrzehnte später problemlos.

Noch in der Schweiz hatte ich Werkzeuge und weiteres Material für die sanitären Installationen der Seefracht beigepackt. Als die Werkzeuge dann nach fast einem Jahr geduldigen Wartens endlich auf dem Bau ankamen, liess ich sie zur Sicherheit sofort mit roter Farbe kennzeichnen. Nun brauchte es ein Lager für diese Werkzeuge und weiteres Material wie Röhren, Fittings und Armaturen. Das bestehende Lager wurde deshalb vergrössert. Bis anhin wurden die Gewinde mit Fasern von Hanfsäcken abgedichtet. Diese Improvisation befriedigte nicht immer und oft tropften die Leitungen nachher an diesen Stellen. Jetzt hatten wir endlich richtigen Hanf und Unschlitt, ein Fett das die Dichtigkeit der Schraubgewinde garantierte. Und jetzt konnte ich mich auch der Wasserversorgung des Hügels annehmen, denn bis anhin hatten wir nur einen provisorischen Anschluss für die Baustelle. Unten am Fusse des Hügels führte eine Wasserleitung vorbei, die Kigali mit dem köstlichen Nass versorgte. An dieser Leitung wurde anfangs provisorisch unsere Baustelle angeschlossen. Nun aber musste dieser Anschluss definitiv erstellt werden und die Wasserversorgung der ganzen Schule im Detail geplant werden. Bis anhin diente auf der Baustelle ein grosses, rundes Metallfass auf zwei Stützen als Wasserreserve im Falle von Unterbrüchen. Um später die ganze Anlage ohne Unterbrüche immer mit Wasser versorgen zu können, planten und bauten wir darum einen dreistöckigen Wasserturm. Von hier wurde das Wasser in die verschiedenen Gebäude verteilt. Da der Hügel viel tiefer als Kigali lag, hatte das Wasser in der Zuleitung einen viel zu hohen Druck für unsere Hausinstallationen. Da nun das Wasser zuerst in den Wasserturm geleitet wurde, hatte es nur noch den statischen Druck des Turms und schadete den Installationen nicht mehr.

Obwohl damals noch nicht von Umweltschutz gesprochen wurde, war es für uns schon ein sehr aktuelles Thema. So erstellten wir um die Häuser terrassenartige Gärten, um die Erosion zu vermindern und das Bepflanzen mit Bäumen und Büschen zu ermöglichen. Auch für das Abwasser wurden Lösungen gesucht. Natürlich wäre für die Schule ein gesamthaftes Abwassersystem ideal gewesen, doch mit der Topographie des Hügels wäre dies damals zu aufwändig gewesen. So erstellten wir für jedes Gebäude eine dreiteilige Klärgrube („fosse septique“) und damit verbunden eine Sickergrube, die das geklärte Wasser aufnahm. Da der Boden des Hügels ausserordentlich hart war, brauchte deren Aushub ohne maschinelle Hilfe immer sehr viel Zeit. Das Regenwasser wurde nicht gefasst, aber mit den erstellten Terrassen floss es wenigstens nicht mehr einfach den Hügel hinunter, sondern konnte langsam im Boden versickern. Damit sollte auch die Oberfläche des Hügels mit der Zeit etwas grüner werden.

Nach einer gewissen Zeit hatten wir bemerkt, dass die meisten Arbeiter nicht gewohnt waren selbst zu denken und ausschliesslich von den Befehlen von uns „Weissen“, den „Umusungus“ abhängig waren. Diese Situation schien uns nicht nur absurd, sondern erlaubte uns auch nicht gewisse Arbeiten zu delegieren. Aus diesem Grund versuchten wir mit viel Dialog das Vertrauen der Arbeiter zu fördern und sie dabei zu motivieren, selbst gewisse Verantwortung zu übernehmen. Wir wollten unbedingt erreichen, dass sie ihre Arbeit auch ohne unseren ständigen Präsenz verrichten konnten. Wir hatten nämlich auf der Baustelle einer Belgischen Firma festgestellt, dass deren Arbeiter so behandelt wurden als ob sie kein Hirn hätten. Wurde zum Beispiel einem Arbeiter befohlen ein Loch zu graben, dann musste er einfach graben bis der Chef zurückkam und er ihm befahl aufzuhören. Der Arbeiter durfte nicht fragen wie gross oder wie tief das Loch sein sollte. Zudem waren die Unternehmer immer mit einer Flinte auf dem Bau unterwegs, etwas das mir sehr missfiel und mich an die Zeit der Kolonisation erinnerte. Ich war äusserst froh, dass wir auf unserer Baustelle solche Zustände nicht kannten und uns jederzeit ohne Angst und ohne Waffen auf dem Hügel bewegen konnten. Dafür fehlten uns oft die nötigen Materialien und Werkzeuge, was uns jeden Tag erneut zwang zu improvisieren. Ausser einem Betonmischer hatten wir keine Baumaschinen. Ohne Schaufelbagger mussten deshalb alle Gräben von Hand ausgehoben werden, was natürlich sehr viel Zeit und Arbeitskräfte brauchte. Aber auch Geduld, Toleranz und Flexibilität waren ständig gefragt, alles Fähigkeiten ohne die man in Afrika nicht überlebt. Es gab Situationen wo wir sehr harten Prüfungen ausgesetzt waren. Diese Erfahrungen haben uns aber nicht nur geprägt, sondern waren später in unserem Leben von grossem Nutzen.


(4) Ohne die nötigen Geräte arbeitete man oft ziemlich archaisch auf dem Bau.

Ohne die nötigen Geräte arbeitete man oft ziemlich archaisch auf dem Bau.


Manchmal wurde ich auch nach Kigali gerufen um defekte sanitäre Installationen in Häusern von anderen Schweizern zu reparieren, meistens beim Personal der Botschaft oder bei Experten, die für die Schweiz in Rwanda tätig waren. Damals gab es halt noch keine einheimische Handwerker die man hätte rufen können. Ich machte diese Arbeit nicht immer gerne, denn während dieser Zeit war ich nicht präsent auf dem Bau, und das wollte ich, wenn immer möglich vermeiden. Zudem wurde meine Arbeit ausserhalb des Projektes meistens als selbstverständlich betrachtet. Aber auch aus anderen Gründen wurde ich nach Kigali gerufen. Einmal suchte die Mission einen Blutspender. Die Frau eines Mitarbeiters war hochschwanger und man erwartete eine schwierige Geburt, die eine Bluttransfusion nicht ausschloss. Sie informierten sich auf der Botschaft und fanden heraus, dass ich genau die benötigte Blutgruppe hatte. Natürlich war ich damit einverstanden und fuhr zur Mission. Da war ein Arzt der mir das Blut entnahm und gleich der Frau wieder injizierte. Die ganze Prozedur schien mir doch ein bisschen rudimentär und riskant. Doch scheinbar haben die Mutter sowie das Kind überlebt. Ich habe sie später nie mehr gesehen und ein Dank ist bis anhin auch ausgeblieben.

Auf dem Bau hatten wir einen Lastwagen und eine Peugeot-Camionette zur Verfügung. Den Lastwagen brauchten wir hauptsächlich für den Transport von schweren Materialien. Er diente auch zum Transport der Arbeiter, die in Remera wohnten. Jeden Samstagnachmittag brachte sie unser Fahrer nach Hause und holte sie am Montagmorgen früh wieder ab. Einmal war der Lastwagen fast 2½ Monate ausser Betrieb, weil das nötige Ersatzteil lokal nicht erhältlich war. Das Fahrzeug hatte uns während dieser Zeit sehr gefehlt und die Abläufe auf dem Bau nicht einfacher gemacht. Die Peugeot-Camionette diente als „Mädchen für alles“. Erstens aber für die vielen Transporte von Material das auf dem Bau gebraucht wurde. Zum Beispiel transportierten wir regelmässig Bretter vom Bau zur Schreinerei unten am Hügel, wo wir sie mit der Hobelmaschine eines Belgiers viel schneller bearbeiten konnten als von Hand. Sehr viel Kontakt hatten wir mit den „Frères Salésiens“ der Mission „Salésiens de Don Bosco“. Sie hatten eine Metallwerkstatt und eine Möbelschreinerei. Sie lieferten uns die Metallfensterrahmen und vieles andere mehr. Man konnte sich immer auf sie verlassen und sie waren auch immer sehr zuvorkommend. Was mich bei ihnen immer beeindruckte war ihre pragmatische Art wie sie junge Einheimische professionell ausbildeten; eigentlich genau so wie wir es uns selbst zum Ziel gesetzt hatten. Am Wochenende brauchten wir die Peugeot-Camionette um unsere wöchentlichen Einkäufe zu machen oder am Samstagabend um nach Kigali in den Ausgang zu fahren. Nach der provisorischen Eröffnung des Collège war die Peugeot-Camionette plötzlich zweimal in der Woche für den Schulbetrieb reserviert. Hatte dieses Fahrzeug eine Panne, was öfters vorkam, dann schuf dies jedes Mal nicht nur beträchtliche Probleme auf der Baustelle, sondern auch für uns selbst. Ohne Fahrzeug oder Mitfahrgelegenheit war ich einmal gezwungen nach Mitternacht zu Fuss von Kigali nach Hause zu marschieren. Dies war auch oft der Arbeitsweg von Elisabeth, vor allem wenn auch ihr kein Fahrzeug zur Verfügung stand. Er führte durch eine Wohngegend und dann durch das „Marais“, ein Sumpfgebiet. Zum Glück ist mir, und besonders Elisabeth, auf diesem nicht ungefährlichen Weg nie etwas passiert. Wir hatten uns schon etliche Male über unsere begrenzte Mobilität beklagt, aber weder „Bern“ noch die Mission schienen unser Problem zu erkennen. Nach vielen Monaten Geduld bekamen wir dann unverhofft zwei Mobylettes, oder Töffli, mit denen Maurice und ich wenigstens in dringenden Fällen nach Kigali fahren konnten. 


(5) Endlich ein bisschen mobil.

Endlich ein bisschen mobil.


Bei schlechtem Wetter aber kam auch das beste Fahrzeug an seine Grenzen. Da die Strassen keinen Asphaltbelag hatten, wurden sie bei Regen schnell unpassierbar. Die Oberfläche wurde matschig und äusserst glitschig. Da der Weg vom Hügel mit ziemlich starker Neigung hinauf nach Kigali führte, wurde es deshalb bei schlechtem Wetter meistens unmöglich die Stadt mit einem Auto zu erreichen. Sogar Lastwagen hatten ihre Probleme. Man blieb im Schlamm stecken und musste einfach warten bis die Sonne die Erde wieder ein bisschen trocknete. Aber da wir unsere Erfahrungen gemacht hatten, riskierten wir bei Regen oder Sturm nichts und blieben einfach geduldig zu Hause. Der Regen dauerte ja meistens nicht lange und die starke Sonne festigte die Strasse dann sofort wieder.

Eines Tages erschien unerwartet ein Lastwagen mit zwei riesigen Kisten aus Europa auf dem Hügel. Der Inhalt enthielt gebrauchte Kleider die von der protestantischen Kirche in der Westschweiz gesammelt worden waren. Und da die Ware nun in Rwanda war, wurden wir von den Missionaren in Kigali gebeten, diese Kleider an unsere Bauarbeiter zu verteilen. Kleider wahllos und gratis abzugeben passte mir aber gar nicht. Ich erinnerte mich an die Kindheit wo ich sehen musste wie wenig die geschenkten Sachen geschätzt wurden. Seither wusste ich, dass alles, was man gratis verteilt, für den Empfänger keinen Wert hat. Natürlich wäre es ideal gewesen, wenn man die Arbeiter zuerst über die Herkunft und den Sinn der Lieferung hätte informieren können. Doch dies schien uns nicht nur schwierig, sondern auch heikel. In Rwanda sind die Leute stolz und das Verteilen von gebrauchten Kleidern hätte unter Umständen falsch interpretiert werden können. Mit einer Verteilaktion wie der von der Mission verlangt, ignorierte man nach unserer Auffassung aber nicht nur die Würde der Arbeiter, sondern konnte auch den Eindruck erwecken, dass wir Volontäre unwahrscheinlich reich waren. Der Anblick von Weissen mit so vielen Kleidern hätte bei gewissen Leuten die Lust entfachen können, sich später bei uns mit weiteren Kleidungsstücken zu versorgen. Ein einziges gestohlenes Stück würde ja bei so einem Reichtum kaum auffallen! Wir diskutierten manche Tage, wie wir uns am Besten und problemlos von den Kleidern entledigen konnten. Letztendlich fanden wir eine Lösung, die in erster Linie im Interesse der Arbeiter war. Jeder sollte das Kleidungsstück erwerben können, das ihm gefiel und das er auch wirklich brauchen konnte. So entschieden wir uns einstimmig für eine Versteigerung. Wir stellten uns neben die zwei Kisten auf unseren Lastwagen und liessen die Arbeiter für jedes Kleidungsstück den jeweiligen Preis bieten. Der Ansturm war gross und so half neben dem ganzen Bauteam sogar die Frau des Schuldirektors bei dieser Auktion mit.


(6) Ein grosser Ansturm bei der Versteigerung der Kleider, wo nicht nur das ganze Bauteam, sondern auch die Frau des Schuldirektors mithalf.

Ein grosser Ansturm bei der Versteigerung der Kleider, wo nicht nur das ganze Bauteam, sondern auch die Frau des Schuldirektors mithalf.


Die Preise wurden sehr tief angesetzt und waren eigentlich eher symbolischer Natur. Aber auf diese Art wurden die Kleider bewusst erworben, etwas das von den Einheimischen auch als normal verstanden wurde. Da sie bei uns ein reguläres Einkommen hatten, konnte man sie nicht als arm bezeichnen und zudem hatten sie ja auch immer Geld um abends ein Primus (Bier) zu erstehen. Es war sicher möglich, dass uns einige wegen den tiefen Preisen sogar belächelten oder dann einfach Freude hatten, ein guter Kauf gemacht zu haben. Ein lautes Kichern ging aber immer durch die Reihen, wenn man Damenunterwäsche feilhielt, denn niemand hatte den Mut für solche Artikel die Hand in die Höhe zu strecken. Für unser Team war es aber schliesslich eine gut gelungene Versteigerung und dies schien es auch für die Arbeiter zu sein, denn sie schienen abends alle zufrieden nach Hause zurück zu kehren. Dafür bekam ich eine böse Schelte von der Mission, als ich den Ertrag der Auktion ablieferte. Es gab keinen Dank für unsere Mühe und man nannte unsere Aktion eine schändliche Ausbeutung von armen Leuten. Es tat mir leid, dass diese Missionare nach so vielen Jahren Erfahrung in Afrika nicht mehr von der Empfindlichkeit und den Umgangsformen der Einheimischen mitbekommen hatten.


(7) Die ersten 8 Klassenzimmer und das Administrations-Gebäude. Im Vordergrund das im Bau befindliche Gebäude für die Unterkunft der Schüler.

Die ersten 8 Klassenzimmer und das Administrations-Gebäude. Im Vordergrund das im Bau befindliche Gebäude für die Unterkunft der Schüler.


Obwohl kaum 20% der Schulanlage gebaut war, hatte sich der Direktor, Herr Boillod, störrisch durchgesetzt und die Schule im September 1966 mit 60 Schülern provisorisch eröffnet. In aller Eile mussten deshalb eine provisorische Küche, Duschen und WC’s erstellt werden, alles Arbeiten die gar nicht vorgesehen waren und den normalen Fortschritt auf dem Bau erneut verzögerten. Wir hatten grosse Mühe mit dieser Zwängerei und so entstanden auch wieder Spannungen im Team. Der Bau des ersten Schlaftraktes war wohl im Bau, aber eine Alternative war nicht vorhanden. So hatten die Schüler keine andere Wahl als in den Klassenzimmern neben dem Studium auch zu essen und schlafen. Zudem tummelten sich die Schüler in der Freizeit auf der Baustelle, etwas das wir nur mit Mühe tolerieren konnten. Schliesslich hätte dabei ein Unfall passieren können und dies konnten wir mit einer solchen Situation nicht verhindern. Mit dem Schulbetrieb mitten in einer Baustelle schien sich auch bei den Schülern ein Stress aufzubauen. Eines Tages herrschte schon früh morgens ein Tumult in der Schule. Nachdem eine Fensterscheibe in Brüche ging, eine die aus Uganda mit viel Aufwand sicher und unversehrt auf dem Hügel angekommen war, warfen die Schüler ihr Frühstück ins Freie. Sie beschwerten sich, dass ihnen mit Rattenkot verunreinigtes weisses Brot vorgesetzt worden war. Der Direktor reagierte äussert gelassen. Er erklärte den Studenten, dass das Brot zugekauft wurde und er deshalb Beweise brauche um bei der Bäckerei zu reklamieren. Da sich die Schüler mit dieser Erklärung nicht zufriedengaben, kündete er einen sofortigen Unterbruch des Schulbetriebes an und zwar solange bis die nötigen Beweise vorhanden waren. Die Schule blieb fast drei Tage geschlossen und so auch die Küche. Die angehenden Akademiker schienen plötzlich sehr verwirrt und suchten nach Beweisen. Doch die Bauarbeiter, für die solches Brot Luxus war, hatten die weggeworfenen Stücke schon längst eingesammelt, gereinigt und gegessen. Schliesslich blieb ihnen nichts anders übrig als sich demütig für ihre unüberlegte Rebellion zu entschuldigen. Für mich blieb aber anschliessend die Frage, ob eine Schule die nach europäischem Standard geführt wird und Studenten an weisses Brot gewöhnt, diese wohl gleichzeitig ihres traditionellen Frühstücks entwöhnt? Wurde hier eine Elite gefördert die sich später nicht mehr mit dem Rest der Bevölkerung identifizieren konnte?

Nur einige Wochen später kamen Mädchen zu einem Schüleraustausch auf den Hügel. Alle waren mit sehr kurzen Mini-Jupes gekleidet. Natürlich war ich mir bewusst, dass zu jener Zeit Mini-Jupes die grosse Mode waren. Doch wenn ich an ihre traditionellen, langen und eleganten Röcke dachte, schien mir diese neue Mode total absurd. Zu allem Übel konnte man nun ihre oft krummen Beine sehen, also alles andere als Elegant. Aus diesem Grund konnte ich es eines Tages nicht lassen als eine Gruppe von Mädchen zu fragen wieso sie so kurze Röcke trugen? Fast im Chor antworteten sie mir lächelnd: „Monsieur, nous sommes des évoluées!“ was so viel bedeutet wie « Wir sind eben Fortschrittliche! Eine solche Antwort hatte ich nicht erwartet und erwiderte etwas enttäuscht, dass ich die traditionelle Kleidung ihrer Mütter vorziehe. Wieder fühlte ich eine Art Überheblichkeit der Schüler gegenüber den ungebildeten Einheimischen die rund um den Hügel wohnten. Und erneut fragte ich mich, ob sich die Schule dieser ungesunden Entwicklung und „modernen“ Denkweise der Schüler bewusst war?


(8) „Education physique“ in der freien Natur

„Education physique“ in der freien Natur


Da die Schule noch keinen Turnlehrer gefunden hatte, wurden Maurice und ich gebeten zweimal pro Woche, zusätzlich zu unserer Arbeit, die Schüler mit „éducation physique“ fit zu halten. Anfangs empfand ich diese zwei Stunden als zusätzliche Belastung, doch nach einer gewissen Zeit wurden sie zu einem willkommenen Ausgleich zur normalen Arbeit. Bis zum Unabhängigkeitstag von Rwanda am 1. Juli 1967 hatte ich mit den Burschen zwischen 16 und 20 Jahren schon einiges geübt. Das Collège war nämlich eingeladen worden sich an diesem Fest in Kigali mit Turnübungen zu präsentieren. Für die Schüler war dies natürlich eine ausgesprochen grosse Ehre und so bereitete ich mit ihnen eine spezielle Nummer mit verschiedenen Pyramiden vor. Die Darbietung war ein voller Erfolg und wir ernteten vom Präsidenten und den offiziellen Gästen viel Applaus. Auch bei der offiziellen Eröffnung des „Collège officiel de Kigali“ am 6. Juli 1967 präsentierten sich die Schüler mit Turnübungen den offiziellen Gästen. Für diese zwei Anlässe liess ich für alle rote Turnhosen mit weissen Streifen nähen. Das sah sehr professionell und gepflegt aus. Da man keinen geeigneten Stoff in Kigali fand, versuchte ich es während eines Besuches in Kampala. Dort fiel mir auf, dass sämtliche Geschäfte in den Händen von Indern waren. Aber gerade dies motivierte mich ein von Einheimischen geführtes Stoffgeschäft zu suchen. Doch es war alles nur Zeitvergeudung, es gab kein von Ugandern geführtes Geschäft und so musste ich den roten Baumwollstoff schliesslich doch bei einem Inder kaufen. Manchmal bat uns der Direktor auch Sonntagsspaziergänge mit den Schülern zu machen. Einmal hörte ich auf einer solchen Wanderung wie mich gewisse Schüler hinter meinem Rücken beurteilten. Sie sagten ich sei doch auch nur so ein Arbeitsloser, den man zur Beschäftigungstherapie nach Afrika geschickt habe. Da gab es für mich eindeutig Erklärungsbedarf! Ich versammelte die Jungen um mich und erklärte ihnen wie und warum ich nach Rwanda kam. Dann fragte ich sie nach dem Grund ihrer Überzeugung, dass ich arbeitslos war. Sie sagten mir, dass sie in ausländischen Zeitungen und der Boulevardpresse von Arbeitslosigkeit in Europa gelesen hätten, wussten aber nicht um welches Land es sich gehandelt hatte. Während ich vorher ganz alleine und fast abgesondert der Gruppe vorausging, war ich plötzlich in ihrer Mitte, wo sich nun ein angeregter Dialog entwickelte. Der Bann war gebrochen und die echte Kommunikation konnte beginnen. Solche Momente schienen mir sehr wichtig, um Missverständnisse abzubauen und neues Vertrauen zu schaffen. Aber dazu braucht es gegenseitige Bereitschaft zu ehrlichem Dialog.


(9) Vorführung am Nationalfeiertag

Vorführung am Nationalfeiertag

 

(10) ....und den traditionellen Trommeln

....und den traditionellen Trommeln


Ende November fuhr ich mit einem Kollegen nach Kampala um Einkäufe für den Bau zu machen. Doch an der Grenze von Uganda hatten wir Probleme. Man verlangte von uns ein Depot von 3000 Schillinge für unsere „Camionette“. Damit hatten wir nicht gerechnet und da wir nicht so viel Geld bei uns hatten, mussten wir wieder zurück nach Kigali fahren. Dort versuchten wir diesen Betrag irgendwo aufzutreiben. Ramsas, der Besitzer des Lebensmittelgeschäftes war schliesslich bereit uns auszuhelfen. Zwei Tage später fuhren wir schon um 04.30 Uhr in Richtung Grenze los. Diesmal gab es keine Probleme und wir konnten die Grenze problemlos überqueren. Bei Toni Nutti machten wir einen Halt, um ihr einen Besuch abzustatten. Vor dem Einnachten waren wir dann in Kampala, wo wir in einem einfachen Hotel übernachteten. Die Einkäufe machten wir meistens bei Doshi, einem Inder, bei dem man alles kaufen konnte. Sein Laden war nicht sehr gross, aber scheinbar hatte er ein riesiges Netz von Zulieferern. Manchmal mussten wir deshalb zwei Tage warten bis die von uns bestellte Ware bereit war.

Nach einem anstrengenden Tag sassen wir auf dem Balkon des Hotels und tranken ein Bier. Es war eine laue Nacht und plötzlich überfiel mich ein urmenschliches Bedürfnis, wie ich es vorher noch nie gespürt hatte. Nachdem mein Kollege schon längstens schlief, schlich ich aus dem Hotelzimmer und ging in das „New-Life“ Quartier. Wir waren schon am Vortag dort und hatten in der Mengo-Bar etwas getrunken. Da es Montag war, waren fast keine Leute da und die Auswahl an einheimischen Tänzerinnen daher gross. Wie im Rausch war die Wahl bald gemacht, der Tarif ausgehandelt und das Taxi bestellt. Irgendwie schien meine normale Hirnfunktion ausser Betrieb zu sein. Obwohl ich keine Ahnung hatte wo wir hinfuhren stieg ich unbekümmert in das Taxi und war euphorisch, endlich so ein Abenteuer gewagt zu haben. Erst als wir schon eine Weile unterwegs waren, begann ich mich zu fragen wo wir eigentlich hinfuhren. Nach etwa einer halben Stunde hielt das Auto irgendwo im Busch an. Da es Leermond war, sah man ausser zwei Strohhütten, die der Taxichauffeur mit seinen zwei Scheinwerfern anleuchtete, absolut nichts. Dann sagte die schöne Dame, wir seien am Ziel angekommen. Zuerst klopfte sie an die kleine Holztüre der Hütte links. Die Türe öffnete sich nicht, weil scheinbar ihre Schwester schon mit einem Kunden da war. Dann versuchte sie es bei der zweiten Hütte. Doch da regte sich nichts. Plötzlich nahm sie eine Kauerstellung ein. Sie hatte ein dringendes Bedürfnis und erleichterte sich in eine Rinne die eigentlich für das Regenwasser in den Erdboden gehauen worden war. Dann gurgelte das Nass an mir vorbei und verschwand in der Dunkelheit Afrikas. Erleichtert stand sie dann auf und klopfte diesmal viel stärker an die Türe der zweiten Hütte. Langsam begann sich mein dominierender Urdrang zu verflüchtigen. Ich unterbrach sie bei ihrem Versuch, in die Hütte zu kommen und fragte wieso das Taxi immer noch da sei. Etwas schnippisch fragte sie mich, wie ich denn später ein Taxi bestellen wolle? In dieser Gegend gab es weder Licht noch Telefon, nur dunkle Nacht. Da erst wurde mir klar, dass ich bis anhin noch gar nie wirklich in Afrika angekommen war. Endlich öffnete sich die Türe und ein kleines Mädchen erschien im Scheinwerferlicht des Taxis. Beim Anblick des schlaftrunkenen Mädchens, das wegen meinem biologischen Bedürfnis ins Freie gejagt wurde, wurde mir elend. Nachdem es in der Dunkelheit verschwunden war, bat sie mich in die Hütte zu kommen. Doch als ich im Türrahmen stand und das äussert primitive Nachlager mit trockenen Bananenblätter auf dem Erdboden sah, kam endlich mein Schutzengel und befreite mich von meinen afrikanischen Fantasien. Äusserst beschämt entschuldigte ich mich bei der Dame, übergab ihr, was wir abgemacht hatten und rannte zurück zum Taxi. Nun konnte ich nur noch hoffen, dass er mich nicht beraubt und anschliessend im Dunkel stehen lässt, oder noch schlimmer mich als Geisel für Erpressungen weiterreicht. Aber mein Schutzengel begleitete mich sicher bis ins Hotel. Die ganze Nachte ärgerte ich mich über mein unvernünftiges Benehmen und dass ich mich in ein so gefährliches Abenteuer eingelassen hatte. Zudem war es für mich eine schlimme, persönliche Niederlage, denn bis anhin war es mir gelungen, immer meinen gesunden Menschenverstand zu wahren. Da ich das Erlebnis dieser Nacht aus Scham mit niemandem teilen wollte und konnte, hat es mich später noch lange beschäftigt und vielleicht sogar ein bisschen traumatisiert. Dabei musste ich oft an die vielen Missionare in Afrika denken, also Männer bei denen solch natürliche Bedürfnisse ganz sicher auch auftreten und diese durch ihr Gelübde mit eiserner Enthaltung und Selbstdisziplin unterdrücken müssen. Es ist tatsächlich nicht einfach mit den Bedürfnissen der Natur immer weise umzugehen.

Nach einer Woche in Kampala wollten wir endlich wieder zurück auf den Bau. Wir hatten wohl die Ware, aber von Doshi die nötigen Unterlagen und Rechnungen noch nicht erhalten. Auch die Belege des Devisenwechsels fehlten. Damals waren die Grenzbeamten alle Inder und wir wussten, dass sie meistens alles sehr genau kontrollierten. Wenn sie schlechter Laune waren, musste man sich in Geduld üben, ruhig bleiben und sich ja keine Spässe erlauben. Mein Kollege hatte es schliesslich geschafft, alle Unterlagen aufzutreiben. Sofort fuhren wir weg, doch schon in Mbarara hatten wir eine Panne und am Zoll mussten wir trotz perfekter Vorbereitung noch zwei Stunden peinliche, bürokratische Kontrolle über uns ergehen lassen. Doch schliesslich konnten wir die Grenze überqueren und zurück auf den Hügel fahren. Ja, bei Fahrten von und nach Uganda musste man immer mit Überraschungen rechnen.

Da es auf dem Bau immer wieder kleinere Verletzungen gab, entschied sich Elisabeth jeden Abend nach der Arbeit die Verletzten nach Möglichkeit zu betreuen. Punkto Este Hilfe hatten wir ja im Kurs in Moghegno sehr viel gelernt. Zudem hatten wir eine sehr gut bestückte Apotheke mit unserer Standardausrüstung mitbekommen, die es mit der Auswahl von Medikamenten leicht mit der eines staatlichen „Dispensaires“ aufnehmen konnte. Natürlich waren wir keine Ärzte, doch die Arbeiter hatten Vertrauen in die Fachkenntnisse von Elisabeth und so wurde abends die Schlange von wartenden Leuten mit der Zeit immer länger. Ich hatte das Gefühl, dass sich nicht nur die Arbeiter, sondern bald die ganze Gegend um den Hügel von Elisabeth pflegen liess. Manchmal machte ich auf meinem Heimweg bei ihrem „Dispensaire“ einen Halt und war jedes Mal überrascht wie diszipliniert die Patienten waren. Einmal kam ein älterer Mann mit einer etwa 5 cm grossen, sehr eitrigen Wunde am Bein. Elisabeth reinigte sie äusserst professionell und meinte, dass dieser Fall neben einem antiseptischen Verband noch eine einmalige Antibiotika-Behandlung benötige. Sie gab ihm die nötigen Instruktionen und bat ihn nach ein paar Tagen nochmals vorbei zu kommen. Ganz per Zufall sah ich den Mann, als er zur Kontrolle zurückkam. Zu meiner grossen Überraschung war die Wunde sauber und mit einer feinen, neuen Haut überdeckt. Es schien mir fast wie ein Wunder. Doch Elisabeth meinte, dass die Einheimischen noch nicht resistent gegen Antibiotika seien und schon kleine Dosen grosse Wirkung haben können. Trotz dieser einleuchtenden Antwort, staunte ich über die schnelle Heilung und über den unermüdlichen Einsatz von Elisabeth. Und nach diesen freiwilligen Überstunden auf dem Bau, ging Elisabeth meistens noch zu Fuss nach Kigali wo sie wohnte.

Einmal war ich zu einer Benefiz-Veranstaltung des Rotary-Clubs eingeladen. Warum ich diese Ehre hatte weiss ich nicht mehr, aber es war ein wirklich schöner und eleganter Abend. Wie es bei einem solchen Anlass üblich ist, gab es eine Tombola. Ich war in bester Laune und leistete mir sogar ein Los. Zu meiner grossen Überraschung gewann ich ein 2-Platten-Elektrorechaud. Da wir keinen elektrischen Strom auf dem Hügel hatten, war der schöne Preis für mich leider wertlos. Da ich mir vorstellen konnte, wer diesen Preis gespendet hatte, besuchte ich den grosszügigen Wohltäter in seinem Geschäft. Es war Herr Israel, ein hässlicher, griesgrämiger und äusserst geiziger Belgier. Er war damals der Einzige in Kigali, der mit Baumaterial und Haushaltgeräten handelte. Mit seinem Monopol waren auch wir auf dem Bau von ihm abhängig und kauften immer für sehr viel Geld alles Mögliche bei ihm ein. Da er keine Konkurrenz hatte, war es bei ihm unmöglich zu feilschen und man bezahlte was er verlangte. Zudem fragte er mich jedes Mal ob ich Schweizer Franken wechseln möchte. Immer wollte er Devisen haben. Mehr aus Entgegenkommen und im Bewusstsein der schwierigen finanziellen Lage im Lande, wechselte ich mein Geld anstatt auf der Bank deshalb meistens bei ihm. Nach all meinem Entgegenkommen erwartete ich natürlich, dass er nun auch mir einen Gefallen tun würde. Ich erzählte ihm meine Geschichte und bat ihn deshalb das gespendete Rechaud zurückzunehmen und mit etwas einzutauschen das ich tatsächlich brauchen konnte. Doch er verneinte sofort. Er gab wohl zu, dass das Gerät von ihm stammte, aber er wollte es nicht zurücknehmen. Schnippisch meinte er ich solle doch das Rechaud anderswo loswerden und es sei nicht sein Problem, wenn bei uns kein Strom vorhanden sei. Seine störrische Antwort empörte mich ausserordentlich, und dies nicht nur weil wir sehr gute Kunden waren. Konsterniert packte ich das elektrische Rechaud unter den Arm und sagte ihm beim Ausgang, dass ich in Zukunft meine Devisen ordnungsgemäss auf der Bank wechseln werde. Ab diesem Tag vermied ich seinen Laden und versuchte Alternativen für unseren Bedarf auf dem Bau zu finden.

Im Juli 1966 wurde Herr Hans Karl Frei Schweizer Botschafter in Kigali. Nach der offiziellen Amtseinsetzung gab es einen Empfang in der „La Sierra“ wo auch der amtierende Präsident Grégoire Kayibanda anwesend war. Schon im August gab es dann einen weiteren Empfang im „La Sierra“, diesmal zu Ehren des Botschafters August Linth, der in Bern für die Technische Zusammenarbeit verantwortlich war. Wir Freiwilligen fühlten uns jedes Mal ausserordentlich geehrt, auch eingeladen zu sein und die hohen Persönlichkeiten persönlich kennen zu lernen.

 

Die Freizeit
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13.8.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967) – Die Freizeit.

(1) Frauen tragen ihre geflochtenen Körbe an unserem Haus vorbei zum Markt.
Frauen tragen ihre geflochtenen Körbe an unserem Haus vorbei zum Markt.


Da wir nach der Arbeit meistens sehr müde waren, verbrachten wir die Abende normalerweise zu Hause. Mit der frühen Dunkelheit und ohne Radio oder Fernsehen gab es keinen Grund lange aufzubleiben und so gingen wir meistens sehr früh ins Bett. Manchmal las ich noch eine Weile oder beantwortete Briefe aus der Schweiz. An Wochenenden trafen wir uns oft mit anderen Freiwilligen aus der Schweiz. Entweder kamen sie zu uns ins „Maison Suisse“ oder dann besuchten wir sie an ihrem Einsatzort. Meistens aber waren wir mit Elisabeth, der Bauzeichnerin und Rosmarie zusammen. Sie teilten zusammen ein kleines Haus im Zentrum von Kigali. Eigentlich war es nur ein grosses Zimmer das gleichzeitig als Wohn- und Schlafraum diente. Weil ihr Daheim von aussen fensterlos aussah, nannten wir es den „Bunker“. Obwohl ihr Zuhause sehr klein war, war es auch eine Art „Absteige“ für Freiwillige die irgendwo ausserhalb Kigalis arbeiteten und manchmal für ein paar Tage in die Hauptstadt kamen. Rosmarie arbeitete als Sekretärin bei der Direktion der TRAFIPRO in Kigali und lernte damit viele Leute kennen die in Kigali lebten, Leute die sie dann auch uns vorstellte und uns mit ihnen bekannt machte. 

So lernten wir auch Leute von der Deutschen Welle kennen. Sie arbeiteten auf einem Nachbar-Hügel, wo sie eine Sendestation für Afrika betrieben. Sie wohnten in einer eigenen Siedlung mit sehr schönen, europäisch eingerichteten Häusern. Sie hatten alle ungefähr das gleiche Alter wie wir und so trafen wir uns natürlich auch im „Club Belge“. Ab und zu wurden wir auch zu Partys auf ihren Hügel eingeladen oder dann zu einem Frühschoppen am Sonntagmorgen am Schwimmbad.

Einmal war Maurice mit Bekannten auf der Jagd. Er ging öfters mit ihnen, doch meistens kamen sie mit leeren Händen zurück. Einmal aber hatten sie tatsächlich Glück und einige Rebhühner geschossen. Sie wollten die Vögel später einmal gemeinsam geniessen und baten daher Rosmarie und Elisabeth, diese in ihrem Tiefkühlfach zu lagern. Die Zeit verging und die Rebhühner blieben im Tiefkühlfach. Eines Tages lud mich Rosmarie zum Nachtessen im „Bunker“ ein. Schon an der Türe empfing mich ein herrlicher Duft, aber noch konnte ich nicht erahnen was sie gekocht hatte. Sie hatte ein Schmunzeln im Gesicht und bat mich Platz zu nehmen. Da fiel mir auf, dass sie den Tisch viel schöner gedeckt hatte als sonst, eine Flasche Rotwein und Weingläser waren bereitgestellt und eine Kerze schaffte eine festliche Stimmung. Aber eigentlich gab es nichts zu feiern. Rosmarie hatte es einfach satt die Rebhühner im Tiefkühlfach zu hüten und so entschied sie die Viecher im Ofen zu braten. Da sie eine gute Köchin war, umwickelte sie die Vögel vorher mit Speckstreifen und servierte sie dann mit feinen Beilagen. Es war wirklich ein ausgezeichneter Schmaus und dabei amüsierten wir uns natürlich köstlich über diesen Streich. Aber wir konnten das schlechte Gewissen nicht ganz ignorieren und fragten uns im Geheimen, was Maurice und seine Jagdkollegen wohl sagen werden, wenn sie erfuhren, dass die Rebhühner bereits verspeist waren? Und tatsächlich erinnerten sie sich einige Wochen später an ihre Beute, aber Rosmarie wusste immer eine Antwort, um ihre Unschuld zu beweisen.

Nicht weit von ihrem Haus befand sich das einzige Kino der Stadt, das „Ciné Kigali“. Da unser Sackgeld sehr bescheiden war, sahen wir uns dort nur selten Filme an. Am selben Ort war das Restaurant „La Sierra“, welches wir aus dem gleichen Grund nur bei ganz speziellen Anlässen betraten, zum Beispiel bei offiziellen Empfängen. Am meisten trafen wir uns im „Club Belge“, der einzige Ort wo es am Samstagabend Musik gab und wo man sogar tanzen konnte. Man fühlte sich dort sehr wohl und lernte immer wieder neue Leute kennen. Als Mitglied konnte man dort auch Tennis spielen und das Schwimmbad benutzen, etwas das für uns nicht möglich war. Ausser den Russen trafen sich fast alle Ausländer in diesem Club, so auch die Inder und Pakistani, die Geschäfte in Kigali hatten. Während die pakistanischen Familien sich uns gegenüber sehr offen gaben und gerne mit uns plauderten, blieben die Inder immer ganz strikte unter sich und die Mädchen schlugen Einladungen zum Tanzen aus. Komisch, dass sie uns dann beim nächsten Einkauf von Lebensmitteln plötzlich wieder schätzten! Nur einmal „verirrte“ sich ein junger Russe in den Club. Sofort wurde er in unsere Gesellschaft aufgenommen und wir luden ihn anschliessend sogar zum Mittagessen auf dem Hügel ein. Zu unserer Überraschung erschien er tatsächlich gegen Mittag im „Maison Suisse“ und so verbrachten wir einen netten Nachmittag zusammen. Nach diesem Besuch haben wir ihn aber nie mehr gesehen. Wir mussten annehmen, dass der russische KBG von seinem Kontakt mit uns erfahren hatte und ihn zur Strafe nicht nur von seinem Posten entfernte, sondern sofort zurück nach Russland geholt hatte.

Maurice und ich waren damals mit etwas über 20 Jahren noch sehr jung, und so suchten wir nach der harten Arbeit und dem eintönigen Leben auf dem Hügel immer etwas Abwechslung. Wir hatten auch Lust, das Land besser kennen zu lernen und benutzten jede Gelegenheit, dies auch zu tun. So auch über die Ostertage 1966, wo wir mit Elisabeth und Rosmarie den Kagera-Park besuchten. Zuerst fuhren wir mit dem VW der beiden Mädchen nach Kiziguro, wo wir hofften bei der Missionsstation der « Weissen Väter“ oder den „Pères Blancs“ ein Nachtquartier zu finden. Und wir hatten Glück, es war für uns noch Platz in ihrem „Guesthouse“. Von Kigali bis nach Kiziguro waren es nur 41 km, doch mit dem schlechten Zustand der Strasse brauchten wir doch sehr viel länger, als wir dachten. Doch die Zeit reichte noch um am gleichen Tag kurz nach Gabiro zu fahren, um dort die Eintrittskarten für den Besuch des Nationalparks am nächsten Tag zu besorgen. Bis zum Nachtessen waren wir wieder zurück bei den « Weissen Vätern », wo sie uns mit ihren vielen Anekdoten aus ihrem reich erfüllten Leben beeindruckten. Am nächsten Morgen machten wir uns schon sehr früh auf den Weg, doch leider regnete es in Strömen. Aber wir liessen uns davon nicht abhalten und entdeckten schon bald verschiedene Tiere wie Büffel, Antilopen, Gazellen, Nilpferde und Wildschweine. Nach einer Weile Fahrt auf einem holperigen Weg verlangte Rosmarie dringend einen „technischen“ Halt. Mitten in einem Park mit wilden Tieren schien uns dies etwas riskant, denn mit dem Regen sah man die Tiere erst ganz nahe. Doch Rosmarie liess nicht locker bis ich den Wagen anhielt. Kaum war sie aus dem Auto ins Freie gekrochen und in Kauerstellung für ihr dringendes Bedürfnis bereit, da kam eine ganze Familie Wildschweine genau auf sie zu gerannt. Mit einem lauten Schrei sprang Rosmarie in die Höhe und suchte so schnell wie möglich wieder Sicherheit im Auto. Alle anderen im Auto lachten sich halb tot und bewunderten unterdessen die dicke, runde Wildschweinmutter mit ihren unzähligen, niedlichen Nachkömmlingen die ihr folgsam hinterher rannten. Leider hatte der Regen die Strassen unterdessen teilweise sehr aufgeweicht und so waren gewisse Teilstücke auf der Rückkehr oft schwer passierbar.


(2) Schwierige Strassenverhältnisse bei Regen im Kagera Park

Schwierige Strassenverhältnisse bei Regen im Kagera Park


Aber auch dies war ein Teil des Abenteuers, das wir trotz üblem Wetter genossen. Bereits um 16.00 waren wir wieder zurück im „Guesthouse“ wo wir uns von den Strapazen bis zum Nachtessen ausruhten. Am anderen Morgen, am Ostermorgen, erfuhren wir, dass es zur Feier des Tages Zebra-Ragout zu Mittagessen gab. Ein solches Mahl wollten wir natürlich nicht verpassen und kehrten deshalb erst am Nachmittag nach Kigali zurück. Am Morgen hatte ich auf dem Markt einen sehr schönen Schädel eines Büffels entdeckt und ihn schliesslich gekauft. Diese wunderbare Trophäe montierte ich später an die Wand beim Eingang des „Maison Suisse“ als Schutz vor bösen Geistern!

Wenn es die Arbeit auf dem Bau erlaubte und wenn wir eine Mitfahrgelegenheit hatten, besuchten wir auch gerne Schweizer Freiwillige im Busch (wir nannten dies „dans la brousse“), so beispielsweise in Kabgay wo sich das Hauptgebäude und Lager der Genossenschaft TRAFIPRO und die Garage ihrer Transportfahrzeuge befanden. Drei Freiwillige, Heinz Probst, Peter Lehmann und Peter Vögtlin, arbeiteten dort zusammen mit Experten aus der Schweiz. Einmal waren wir dort zu einer Party eingeladen. Plötzlich langweilten wir uns so sehr, dass Rosmarie um 22.00 Uhr vorschlug noch schnell nach Butare zu einer anderen Party zu fahren. Alle wussten, dass zu dieser Zeit Ausgangssperre war. Doch wir fuhren trotzdem los und wie es kommen musste, wurden wir schon bald von der Polizei angehalten. Natürlich spielten wir die Unwissenden, doch es nützte nichts und es wurde uns verboten weiterzufahren. Auch eine Rückkehr nach Kabgay kam nicht in Frage. So hatten wir Zeit um mit den Polizisten zu verhandeln. Dabei kam mir plötzlich in den Sinn, dass ich einmal den Bibliothekar der Universität in Butare kennen gelernt hatte. Ich gab diese Person als unsere Referenz an und bat die Polizei, uns doch wenigstens dort übernachten zu lassen. Da der Bibliothekar scheinbar bekannt war, rief ihn die Polizei sofort an und dieser bestätigte ihnen, dass er uns aufnehmen würde. So hoben sie die Barriere und wir konnten weiterfahren. Der Bibliothekar war natürlich nicht erfreut über unseren Leichtsinn und gab uns erst eine Schelte für die Dummheit, bei einem „couvre-feu“ auf die Strasse zu gehen. Die Polizei hätte ja auf uns schiessen können. Da er kein Gastzimmer hatte, oder es wenigstens vorgab, mussten wir auf dem Boden im Wohnzimmer übernachten. Da es in Butare abends kalt sein kann, gab es glücklicherweise in den meisten Häusern Teppiche am Boden. Und so war unser Nachlager wenigstens nicht allzu hart. Wir sind nachher nie mehr bei einem „couvre-feu“ auf Reisen gegangen!

Auch der Direktor von TRAFIPRO wohnte in Kabgay. Als er einmal ein paar Tage nach Jakarta musste, bat er Rosmarie während seiner Abwesenheit in seinem Haus zu wohnen. Mit den ständigen Einbrüchen war es einfach zu riskant ein Haus unbewohnt zu lassen. Während dieser Zeit herrschten im Lande zudem latente Unruhen. Der Auftrag war für Rosmarie deshalb nicht gefahrlos und so bat sie mich das Haus über das Wochenende mit ihr gemeinsam zu hüten. Es war ein sehr grosses Haus und so entschieden wir, dass Rosmarie im Schlafzimmer des Direktors schläft und ich mich im Wohnraum auf der anderen Seite des Hauses für die Nacht einrichte. Da wir wussten, dass draussen Nachtwächter das Haus bewachten, waren wir über die Möglichkeit eines Einbruchs nicht beunruhigt und so schliefen beide wie Murmeltiere bis die Sonne wieder aufging. Erst beim Frühstück stellten wir fest, dass etwas nicht in Ordnung war. Nach einem Rundgang im Haus stellten wir fest, dass der Kassenschrank im Büro des Direktors verschwunden war! Jemand hatte den schweren Tresor aus Stahl mit samt dem Inhalt abtransportiert. Wir schauten uns fassungslos an und wussten zuerst gar nicht, was nun zu tun war. Wie war das möglich gewesen? Warum hatten wir nichts gehört? Und wieso hatten draussen die Nachtwächter nicht Alarm geschlagen? Ich schlug vor, sofort zur Polizei zu fahren. Doch Rosmarie hatte einen kühleren Kopf als ich. Sie hatte mich ins Haus geholt ohne vorher ihren Chef zu informieren. Sofort sich bei der Polizei zu melden hätte deshalb auch mich verdächtig gemacht. Also musste ich erst aus dem Haus verschwinden und sofort nach Kigali zurückfahren. Erst dann liess Rosmarie die Polizei ins Haus. Wie ein Buschfeuer jagte nun die Nachricht vom Einbruch beim Direktor von TRAFIPRO sofort durch das ganze Land. Ohne Zeugen wurde Rosmarie plötzlich auch verdächtigt und kam sogar als Komplize der Diebe in Frage. Aber wer waren die Diebe? Vielleicht die Nachtwächter im Einverständnis von Rosmarie? Alles war nun plötzlich möglich geworden und ich hoffte nur, dass mich niemand im Haus oder beim Wegfahren am Morgen gesehen hatte. Sonst wäre ich sicher auch noch verdächtigt worden. Ich war beunruhigt, konnte aber mit niemandem über meinen Ausflug nach Kabgay sprechen. Wie immer zog sich der Fall in die Länge und Rosmarie musste beim Verhör aussagen. Aber dann legte sich tiefes Schweigen über diese Angelegenheit.

Bei einem Besuch in Kabgay schenkten mir die beiden Freiwilligen einen Hund. Er war noch sehr jung und niedlich. Zuerst wusste ich gar nicht, was ich mit dem Tier anfangen sollte, doch schon nach ein paar Tagen hatte ich ihn ins Herz geschlossen. Er folgte mir auf Schritt und Tritt. Er begleitete mich sogar auf die Baustelle und blieb immer in meiner Nähe. Ich nannte ihn „Bili-Bili“ so wie das scharfe Chili-Gewürz in Rwanda. Er war kein guter Wachhund, denn nachdem er den ganzen Tag mit mir auf dem Bau war, brauchte er nachts auch seine Ruhe. Alle liebten ihn, sogar die Arbeiter. Bei seinem Erscheinen wussten sie immer, dass ich auch in der Nähe war. Einmal hatte jemand auf dem Bau die Spitze seines Schwanzes rot gestrichen. Wahrscheinlich wollte ein Spaßvogel ihn genau so markieren wie ich dies mit dem Werkzeug der Sanitär Installateure getan hatte und damit darauf hinweisen, dass er mir gehörte.


(3) „Bili-Bili“ mein treuer Begleiter nicht nur zu Hause sondern auch auf dem Bau.

„Bili-Bili“ mein treuer Begleiter nicht nur zu Hause sondern auch auf dem Bau.


In Rwamagana, etwa 50 Kilometer östlich von Kigali, waren Ursula Schneider und Christine Gysi, zwei weitere Freiwillige, im Einsatz. Sie arbeiteten als Krankenschwestern im Krankenhaus mit Dr. Hildebrand, einem Schweizer Arzt. Nachdem ich einige Male auf dem Baugerüst das Gleichgewicht verlor und Arbeiter mich festhielten bevor ich in die Tiefe stürzte, benutzte ich bei einem Besuch die Gelegenheit, mich bei Dr. Hildebrand untersuchen zu lassen. Er nahm eine Blutprobe und fand bald heraus, dass ich Malaria hatte. Da ich zur Vorbeugung wie angeordnet regelmässig „Camoquin“ schluckte, machte mir diese Diagnose erst gar keinen Sinn. Doch Dr. Hildebrand sagte, dass mit der Einnahme von „Camoquin“-Tabletten die Malaria normalerweise nur versteckt bleibe, aber nicht geheilt sei. In meinem Fall hatte mein Köper die nötigen Abwehrkräfte nicht mehr, und dies bewirkte leichte Malariaanfälle. Im Tropeninstitut in Basel wurde dann nach meiner Rückkehr die Art meiner Malaria bestimmt und anschliessend entsprechend behandelt. Eine der bekannten Nebenwirkungen von „Camoquin“ sind Schwindel und vor allem Verlust des Sehvermögens. Und tatsächlich brauchte ich schon wenige Jahre später eine Brille. „Camoquin“ oder andere Medikamente das Chinin enthielten, habe ich später nie mehr genommen. Ein anderes Mal waren wir bei Dr. Hildebrand an einem Sonntag zum Essen eingeladen. Es gab ein herrliches Gulasch. Nach dem Essen machten wir einen Spaziergang bis zum See. Als wir zurückkamen, zeigte er uns hinter dem Haus ein aufgespanntes Fell. Dann erklärte er uns mit einem verschmitzten Lächeln, dass das aufgespannte Fell von dem Affen sei, den wir vorhin verspeist hätten…!

Und da war noch Rita Mader. Sie war Lehrerin an der „Ecole Sociale“ und war bei den Missionsschwestern „Unserer lieben Frau von Afrika“ in Zaza untergebracht. Sie war schon früher einmal in Rwanda tätig und unterrichtete von 1963 bis 1965 für den „Orden des Fegefeuers“ an der „Ecole Sociale de Butare“ in Butare. Zurück in der Schweiz hatte sie Heimweh nach Afrika und meldete sich deshalb bei der DEZA für einen Einsatz als Freiwillige in Rwanda. Nach dem obligaten Vorbereitungskurs in Moghegno kam sie im Dezember 1966 wieder zurück nach Rwanda. In Zaza wohnte sie genau so spartanisch wie wir und da sie auch kein Auto zur Verfügung hatte, sah man sie selten an Treffen von Freiwilligen. Da sie für eine Mission arbeitete waren wir überzeugt, dass sie nicht nur scheu, sondern auch sehr religiös sein musste. Wir waren darum überrascht als man sie auf einmal in Begleitung eines Beamten der Deutschen Botschaft in Kigali sah. Und so wurde aus der zurückgezogenen Rita im verlassenen Zaza wie ein Wunder eine Diplomatin und Ehefrau mit zwei Mädchen.


(4) Die hügelige Landschaft in Rwanda

Die hügelige Landschaft in Rwanda


In Remera unterrichteten Alice und Theo Margot, beide auch Freiwillige, in einer Mädchenschule. Meistens fuhren Maurice und ich zusammen mit unserem Arbeitertransport nach Remera. Es war immer eine sehr schöne Fahrt durch die hügelige Landschaft. Der Ort war etwas abgelegen, doch gerade diese Einsamkeit gefiel mir sehr, und so genoss ich jedes Mal das ruhige Wochenende. Manchmal kamen noch andere Leute bei Margot’s auf Besuch und bereicherten den Abend mit Gesprächen oder einem Kartenspiel. Bei anderen Gelegenheiten kamen Theo und Alice auch nach Kigali und besuchten uns dann auf dem Hügel oder wir trafen uns bei Elisabeth und Rosmarie in der Stadt. Über die Ostertage im März 1967 hatten Theo und Alice eine Reise nach Burundi geplant. Ganz unerwartet fragten sie mich, ob ich mitfahren möchte. Natürlich sagte ich sofort zu. Die Reise ging zuerst von Kigali über alle möglichen Hügel nach Butare und dann weiter nach Bujumbura am Tanganjikasee, dem zweitgrössten See Afrikas. Von dort machten wir verschiedene Ausflüge und natürlich auch nach Ujiji, wo ein Gedenkstein an das Zusammentreffen der beiden Entdecker Schwarzafrikas, Livingstone und Standley, am 10. November 1871, erinnert. Beide hatten ja die Quelle des Nils gesucht, und dies hatten wir nun auf unsere Weise auch gemacht.


(5) Der Gedenkstein für die beiden Afrikaforscher Stanley und Livingstone die sich am 10. November 1871 mitten in Afrika getroffen haben

Der Gedenkstein für die beiden Afrikaforscher Stanley und Livingstone die sich am 10. November 1871 mitten in Afrika getroffen haben


Dann besuchten wir das „Collège Saint Esprit“, eine riesige, moderne Schulanlage nach europäischem Muster, ein Projekt von dem man nur träumen konnte. Beim Gedanken an unsere Schule auf dem „Murabaturo“ fühlte ich mich plötzlich wie ein hoffnungsloser Anfänger aus der Steinzeit. Bujumbura schien Kigali Jahrzehnte voraus zu sein. Es gab moderne Gebäude und sogar ein ansehnliches Hotel, das von Griechen geführt wurde. Aber dann wollten wir weiter über kongolesisches Gebiet durch das Rusizi Delta nach Bukavu. Doch als wir zur Rusizi Brücke kamen sahen wir, dass sie irgendwann gesprengt worden war und die Teile seither im Fluss lagen, eine Überquerung also unmöglich. Wir mussten umkehren und zurück nach Bujumbura fahren. Schade nur, dass uns dies niemand vorhergesagt hatte. Dafür entdeckten wir in diesem Delta unzählige Rugos, die traditionelle Behausung der Völkergruppe Tutsi. Wahrscheinlich waren es Tutsis die aus Rwanda geflohen waren und nun dort wohnten, denn die Gegend schien aus einer anderen Zeit und in krassem Kontrast zum modernen Bujumbura. Und so nahmen wir halt den Weg durch burundisches Gebiet nach Bukavu-Cyangugu-Butare und zurück nach Kigali. Es war eine Reise, die nicht nur interessant war, sondern mir auch erlaubte die Entwicklung der beiden Länder aus einer neuen Perspektive zu sehen.


(6) Rugos, die Behausung der lokalen Bevölkerung, so auch meiner Nachbarn.

Rugos, die Behausung der lokalen Bevölkerung, so auch meiner Nachbarn.


In Remera wohnte auch Schwester Klara Gut aus dem Kanton Zürich. Sie war eine äusserst pragmatische Missionarin und hatte mit Spenden aus der Schweiz ein „Dispensaire“ errichtet, das am 15. Juli 1967 eingeweiht wurde. Es war ein kleines Gebäude, in dem sie ambulante Behandlungen vornehmen konnte. Die Patienten schätzten sie sehr und so war der Zulauf immer gross. Dabei fiel ihr auf, dass sehr viele Kleinkinder nach der Geburt oder dann beim Abbruch der Muttermilch und Übergang auf die normale Nahrung, starben. Sie hatte darum den Wunsch dem „Dispensaire“ noch eine „Maternité“ oder Entbindungsstation anzufügen. Bei einem der vielen Besuchen bat sie mich um technische Hilfe und Beratung bei der Definition der nötigen Einrichtungen. Ich erstellte eine Liste von den nötigen sanitären Apparaten, die ich für sie nach meiner Rückkehr in der Schweiz bestellte.


(7) Schwester Klara bei der Einweihung des neuen Dispensaires am 15.7.1967

Schwester Klara bei der Einweihung des neuen Dispensaires am 15.7.1967


Remera war auch ein Ort wo geheiratet wurde, so auch am 13. August 1966 einer unserer Schreiner und Gewerkschafter Higiro Philippe. Er wohnte ziemlich weit entfernt von Remera irgendwo einsam in der Natur, wo man sein Heim nur zu Fuss erreichen konnte. Natürlich wurde seine Hochzeit durch die Teilnahme von „Umusungus“ zu einem Grossereignis und bald wurden wir von einer so grossen Masse von Leuten begleitet, dass es für uns fast beängstigend wurde. Aber der Marsch hatte sich gelohnt, denn eine eindrücklichere, afrikanische Hochzeit habe ich nachher nie mehr erlebt. Zuerst traf man sich in der Kirche, einem sehr einfachen Gebäude, das gar nicht nach einem religiösen Ort aussah. Nach der kirchlichen Trauung ging man zusammen mit dem Brautpaar, wieder in einer riesigen Masse von Leuten, zu ihrem Heim. Higiro besass zu meiner Überraschung bereits ein solides, rechteckiges Haus, also keinen Rugo (Strohhaus) mehr, und das Dach war mit Ziegeln bedeckt. Nachdem all die vielen geladenen Gäste eingetroffen waren, hörte man von weitem Trommelschlag der immer näher kam. Dies entfachte in mir eine berauschende Stimmung in der ich mich ganz intensiv in Afrika fühlte. Wir fragten uns, wer wohl aus dem Busch erscheinen würde. Es war die Familie der Braut, die in Begleitung von Trommlern ankam. Wie es an solchen Anlässen üblich war, wurde den Gästen Bananen- und Hirsebier angeboten. Dieses Bier wurde mit einem Bambusröhrchen aus einer Kalebasse (ausgehöhlter und getrockneter Kürbis) getrunken. Eigentlich war ich überrascht, dass Maurice und ich zu dieser Hochzeit eingeladen waren. Auf der Baustelle war Philippe immer sehr wortkarg gewesen, und man wusste nie genau was er dachte. Es war allerdings bekannt, dass er von den Arbeitern gefürchtet war und sehr viel Autorität hatte. Bis die zivile Hochzeitszeremonie beendet war, sassen wir geduldig während Stunden unter einer Art Pergola, die mit Eukalyptus-Ästen überdeckt war. Während dieser langen Zeit überlegte ich mir, wie ich an seiner Stelle meinen Lebensstandard verbessern könnte. Da er scheinbar einen grossen Landbesitz hatte, fragte ich ihn etwas später was seine Frau während seiner wöchentlichen Abwesenheit in Kigali mache? Er sagte, sie würde einfach den Haushalt besorgen. Da sie nach meiner Meinung damit ziemlich unterbeschäftigt war, schlug ich ihm vor, seine Frau während der Zeit bis zum ersten Kind zu motivieren, etwas mehr als nur für die Selbstversorgung anzupflanzen. Die zusätzlichen Bohnen, Kartoffeln, Erdnüsse, etc. könnten dann auf dem Markt verkauft werden und mit dem Erlös andere Sachen angeschafft werden. Doch er winkte sofort ab. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihn mit meiner provokativen Anregung in seinem Stolz verletzt hatte. Trotzdem hakte ich noch ein bisschen nach und sagte, dass er sich mit dem Erlös auf dem Markt vielleicht ein Metalldach leisten könnte, ein Dach das bei Regen dicht war. Damit beendete ich meine gut gemeinte Ermunterung und liess ihn in Ruhe darüber nachdenken.


(8) Hochzeit von Higiro Philipe in Remera

Hochzeit von Higiro Philipe in Remera


Als ich nach drei Jahren nochmals zu einem Einsatz auf die Baustelle gerufen wurde, traf ich Higiro Philippe wie immer in der Schreinerei. Sofort lud er mich zu sich nach Hause ein. Doch leider konnte ich mir zu dieser Zeit keine Reise nach Remera erlauben und entschuldigte mich für meine Absage. Doch da überraschte er mich erneut, denn er sagte mir, dass er nun ganz in der Nähe des Hügels wohne und dass wir uns doch nach dem Feierabend bei ihm zu Hause treffen könnten! Diesmal konnte ich seine Einladung nicht ausschlagen und liess mir noch am selben Abend den Weg zu Philippe’s neuem Zuhause zeigen. Er wohnte wirklich sehr nahe beim „Maison Suisse“ und hatte nun ein schönes Haus mit Fenstern und Wellblechdach. Das Haus befand sich mitten in einem grossen Bananenhain. In einem Nebengebäude hatte er mit der Herstellung von Bananen- und Hirsebier begonnen. Er gestand, dass er mit der neuen Tätigkeit gutes Geld verdiene. Dabei unterstrich er, dass dieser Fortschritt nur mir alleine zu verdanken sei. Er hätte meinen Rat damals überdacht und ihn mit seiner Frau besprochen. Sie war scheinbar sofort einverstanden und so verkauften sie schon bald einen Teil der Ernte, die nicht für den Eigengebrauch nötig war, auf dem Markt. Mit dem Erlös wurde ein Arbeiter eingestellt, mit dem es möglich wurde noch eine grössere Fläche zu nutzen. Das generierte schliesslich genügend Geld, um sich in Kigali ein Stück Land neben dem Hügel zu erwerben und mit einer zusätzlichen Tätigkeit zu beginnen. In drei Jahren war er zu einem angesehenen Mann geworden. Ohne sich scheinbar bewusst zu sein, hatte er sich aus eigener Kraft von einem Gewerkschafter in einen Kapitalisten verwandelt. Ich wusste erst nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Aber dann erkannte ich in dieser Entwicklung die Bestätigung, dass man mit viel Dialog mehr erreichen kann als mit gutgemeintem Verteilen von Geld. Aber natürlich funktioniert so etwas nur, wenn der Wille auf beiden Seiten dazu vorhanden ist. Noch Jahre danach blieben wir in schriftlichem Kontakt. Danach hörten wir nichts mehr von einander. Im Jahre 1994, als der zweite Völkermord in Rwanda losging, machte ich mir Sorgen um ihn und seine Familie. Gleichzeitig wurde mir bewusst wie solch schreckliche Ereignisse den jahrelangen Einsatz von Entwicklungshelfern von einem Tag auf den anderen wertlos machen können.


(9) Hochzeit von Martin Hinderling und France Vivien

Hochzeit von Martin Hinderling und France Vivien


In der gleichen einfachen Kirche in Remera heirateten am 17. September 1966 auch unser Bauleiter Martin Hinderling und seine Braut France Vivien. Und wieder waren viele einheimische Schaulustige anwesend, die dem Brautpaar Spalier standen. Danach gab es in der Schule von Remera einen Empfang, zu dem auch alle Freiwilligen im Lande eingeladen waren. Nachdem sich zwölf davon und der „Team Götti“, Herr O. Hafner, angemeldet hatten, wurde die Hochzeit gleichzeitig zu einem der ersten Freiwilligentreffen. Die anderen Freiwilligen endlich wieder einmal zu treffen war ein Ereignis und so gab es viel zu erzählen. Ein weiteres Treffen der Freiwilligen wurde später in Kibuye organisiert. Dabei besuchten wir die Landwirtschaftliche Schule der Schweizerischen Entwicklungshilfe und die Familie Speich. Sie hatten das Glück in einem wunderschönen Haus direkt am Kivu-See zu wohnen. Er war Förster und hatte die Aufgabe, die trostlos abgeholzte Gegend wieder aufzuforsten. Sie hatten für uns eine Schifffahrt zur „Ile des frères“ organisiert, eine einsame Insel im Kivu-See wo sich ein paar Mönche von der Welt isoliert aufhielten. Etwas verwundert fragte ich mich, was Rwanda von ihrer Lebensweise wohl von Nutzen sein könnte? An diesem Freiwilligen-Wochenende war auch unser neuer „Team Götti“, Herr Max Joss, dabei. Seit seiner Ankunft in Rwanda hatten wir jemand, bei dem man zu jeder Zeit sein Herz ausschütten konnte. Er lud uns sehr oft zum Nachtessen in seiner Residenz ein. Leider schlief er meistens schon bei der Hauptspeise ein und brachte uns dabei immer in eine peinliche Situation. Aber meistens half ein „Hustenanfall“ und er war wieder mit uns!

Die Entdeckungsreisen
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13.9.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967) – Die Entdeckungsreisen.

 a) Auf Elefantenpfaden zum Nyiragongo

Im Osten der heutigen Demokratischen Republik Kongo und Rwanda gibt es verschiedene Vulkane die noch heute aktiv sind. Die meisten befinden sich in der Nähe vom Kivu-See im damaligen „Parc National Albert“, der heute „Virunga-Nationalpark“ heisst. Um die hier lebenden Berg-Gorillas vor Wilderei zu schützen wurde bereits 1925 ein kleines Gebiet um Karisimbi, Visoke und Mikeno als Nationalpark erklärt und wurde so zum ersten Nationalpark Afrikas. Im Jahre 1929 wurde der Park durch die Kolonialmacht Belgien um weitere Gebiete in der Gegend vom damaligen „Ruanda-Urundi und im Belgisch Kongo erweitert.

Einer der bekanntesten und gefährlichsten Vulkane in dieser Gegend ist der berühmte, 3470 Meter hohe Nyiragongo. In seinem Krater befindet sich der einzige Lavasee der Welt. Im Jahre 1948 gelang es dem berühmten französischen Vulkanologe Haroun Tazieff als Erster bei einer Expedition zweihundert Meter tief in den Krater hinunterzusteigen. Dann wurden aus Sicherheitsgründen während zehn Jahren sämtliche Expeditionen untersagt. Natürlich hatten auch wir in Kigali von dem aussergewöhnlichen Vulkan und dem berühmten Vulkanologen gehört. Eines Tages hatte deshalb jemand in unserem Bauteam die Idee, in diese Gegend zu fahren und wenn möglich den Vulkan zu besteigen. Es brauchte nicht lange um alle dafür zu begeistern und so beschlossen wir, zusammen mit unserem Architekt Urs Hettich, ein paar Tage frei zu nehmen um dieses Abenteuer zu wagen.

Noch bei Dunkelheit verliessen wir am 1. Oktober Kigali. Wir hatten alles sehr gut vorbereitet, hatten die Reiseroute studiert und die entsprechende Bekleidung, Proviant und Apotheke samt Schlangenserum und Injektionsmaterial im Gepäck. Unser Tagesziel war Kakomero im Kongo. Als der Tag mit einem bezaubernden Sonnenaufgang erwachte, hatten wir Kigali und die chinesischen Reisfelder längst hinter uns gelassen. Es war noch ziemlich frisch und über den Sümpfen lag ein leichter Nebel. Fröstelnd in Tücher gehüllt und mit riesigen Lasten auf den Köpfen kamen uns auf der Strasse die ersten Händler entgegen. Aus entlegenen Gegenden brachten sie ihre Güter auf den nächsten Markt oder nach Kigali. Nach fünf Stunden hatten wir bereits drei Pannen gehabt und unzählige Hügel überwunden. Unsere zwei Autos rollten nun auf schwarzem, äusserst hartem Vulkangestein. Die Vulkane konnten also nicht mehr weit entfernt sein. Bevor sich die Strasse nach Kisenyi hinunterschlängelt, hatten wir plötzlich freien Blick hinüber in den Kongo und damit auch den gigantischen Nyiragongo vor uns. Das Wetter war ausgezeichnet und nur über seinem Kraterrand schwebte ein leichter Dunst. Es war ein gewaltiger Anblick.

An der Kongolesischen Grenze hatten wir dank der vorher eingeholten Visa keine Schwierigkeiten und so ging die Reise sofort weiter. Die Felder mit Bananenbäumen wurden immer seltener, und als wir den Nyiragongo auf unserer rechten Seite hatten, tangierten wir bereits den dichten Regenwald des „Parc Albert“, dessen Vegetation sich damals bis fast an den Kraterrand wagte. In Kakomero fanden wir den „poste de garde“ nur durch mühsames Fragen. Hier teilte man uns mit, dass wir zuerst eine offizielle Bewilligung des Parkes in Rumangabo einholen müssten. Rumangabo liegt etwas erhöht von wo man eine traumhafte Aussicht über die Wildnis von Rugeri hat. Dort wurden wir sehr freundlich empfangen und konnten sofort eine riesige Villa mit wunderschönem Garten beziehen. Der erste Eindruck war etwas verwirrend, denn Möbel, Geschirr, Bücher und das ganze Inventar schienen unberührt seitdem der weisse Besitzer einst abgereist oder verjagt worden war. Irgendwie war uns das Haus unheimlich, denn es musste ja einen Grund geben weshalb die schöne Villa nicht schon längst geplündert worden war. Gab es da wohl böse Geister die in der Villa wohnten und vor denen die Einheimischen Angst hatten? Zudem mussten wir bald feststellten, dass im Bad kein Wasser lief und am Abend trotz elektrischer Installation das Haus mit Taschenlampen und Kerzen beleuchtet werden musste. Da wir gar keine andere Wahl hatten, als in diesem Haus zu übernachten, waren unsere Bedenken bald vergessen. Wir zogen es vor draussen im Garten zu sitzen und die Natur zu beobachten. Mit einem goldenen Abendlicht über dem Urwald ging der Tag ganz langsam zu Ende. Während kurzer Zeit spielte noch eine ganze Affenfamilie mit viel Geschrei vor dem Hause. Dann erhellte bald ein wunderbarer Vollmond die Nacht und es wurde still um uns herum. Vögel und Grillen schienen alle bereits zu schlafen. Schwarz und mächtig ragte nun die Silhouette des eigenförmigen Vulkans Mikeno in den klaren Afrikahimmel. Es hätte ein Hochgebirge irgendwo in der Schweiz sein können. In der Tiefe lag friedlich die Ebene von Rugeri wo das klare Mondlicht die Baumkronen der Wildnis erkennen liess. Ohne von elektrischem Licht gestört, betrachteten wir den wunderbaren Sternenhimmel und liessen die Stimmung der geheimnisvollen Nacht im Urwald auf uns einwirken. Es war ein unbeschreibliches und unvergessliches Erlebnis, das unter die Haut ging. Wahrscheinlich waren die Geister von unserem Glück so beeindruckt, dass sie uns die ganze Nacht in Ruhe liessen und uns einen tiefen, gesunden Schlaf gönnten.


(1) Auf dem Weg über das messerscharfe Lavagestein. Im Hintergrund der Vulkan Nyiragongo.

Auf dem Weg über das messerscharfe Lavagestein. Im Hintergrund der Vulkan Nyiragongo.


Um sieben Uhr morgens waren wir bereits wieder in Kakomero, wo Träger und Guide bereits startbereit waren. Die ersten drei Kilometer, das heisst bis zum grossen Lavafeld vom Ausbruch im Jahre 1954, legten wir mit dem Auto zurück. Hier wurden dann die Lasten verteilt und die Rucksäcke bereit gemacht. Der Morgen war frisch, hell und überall lag ein glitzernder Tau. Der Guide, ein kräftiger Kongolese, gab uns das Zeichen zum Abmarsch. Er hatte die Beine mit Wadenbinden eingewickelt so wie wir es vom Militärdienst gewohnt waren. Zudem war er mit einem Speer und einer Machete bewaffnet. Er übernahm die Spitze der Kolonne die aus Urs Hettich, Elisabeth Müller, Maurice Pasquier, André Luc und mir bestand. Dann folgten die Träger, die unseren Proviant und die restliche Ausrüstung schleppten. Schon bald waren wir auf einem riesigen Feld von Lava, wo uns ein Meer von schwarzen Steinen umgab. Sie waren anfangs noch teilweise mit grauem Moos überwachsen, was den Eindruck einer Mondlandschaft erweckte. Zum Glück hatten wir den Guide, der uns den Weg durch das messerscharfe Lavagestein zeigte. Ein falscher Schritt und man hätte sich daran ganz schön verletzen können. Jetzt wurde mir klar wieso er Wadenbinden angezogen hatte. Um halb neun machten wir auf einer grünen Wiese über einem mit Wasser gefüllten Krater den ersten Halt. Der Guide erklärte uns, dass hier früh morgens und abends Elefanten zur Tränke kämen. Auf einem anderen Lavafeld, das an einen Ausbruch im Jahre 1938 erinnerte, ging es dann weiter. Hier hatte sich bereits eine üppige Vegetation über der Lava etabliert. Riesige umgefallene Bäume versperrten den Weg und dichtes Blätterwerk machte den Weg oft unerkenntlich. Oft musste der Guide mit seiner Machete den Weg durch das Gestrüpp frei schlagen. Hier wäre es ohne Guide noch gefährlicher gewesen, denn man sah die darunterliegende harte Lava kaum mehr und hätte stürzen können. Bald folgten wir nur noch den Elefantenpfaden. Ein Wind brachte dauernd ein Rauschen in die Blätter, sodass man glaubte nächstens an einem Bach zu sein. Zwischendurch summten ganze Grillenvölker wie eine Hochspannungsleitung. Auf einer leicht besonnten Grasfläche stand plötzlich eine junge Gazelle. Aber wir konnten sie nur kurz beobachten, denn mit dem Knacken eines Astes verschwand sie mit eleganten Sprüngen im nächsten Dickdicht der Baumzweige. Beim Weitermarsch wurde der Kot von Elefanten auf dem Weg immer häufiger und plötzlich standen wir ungefähr dreissig Meter vor einer Elefantengruppe. Gemütlich und ungestört spazierte eine Elefantenmutter mit ihrem Jungen vor uns vorbei. Der Guide entschied sich umzukehren und einen Umweg zu machen. Aber es hatte überall Elefanten! Schliesslich versuchten wir links durchs Dickicht an ihnen vorbei zu schleichen. Diesmal hatten wir Glück. Gegen 11 Uhr mittags erreichten wir den „Gite de Gitege“ wo wir eine Mittagsrast einschalteten. Wir packten unser Picknick aus und tranken durstig das Wasser das wir mitgenommen hatten. Als ich den Rest einer Mandarine in den Mund stecken wollte, riss mich plötzlich ein Träger auf. Dabei schrie er: „Inzoka!“ was Schlange bedeutet. Tatsächlich hatte sich eine Schlange hinter mir unter die Decke, auf der ich sass geschlichen. Sofort begann ein blutiges Massaker und bald lag das giftige Tier in verschiedenen Stücken am Boden. Wieder einmal hatte mich mein Schutzengel beschützt!

Nach der Mittagspause führte der Weg erneut eine halbe Stunde über ein offenes Lavafeld vom Ausbruch im Jahre 1954. Der schwierige Pfad und das spitze Lavagestein verlangte hier wirklich nur gutes Schuhwerk. Zudem war es sehr heiss und überall lagen Knochen von Büffeln und Gazellen, ein Anblick der nicht trostloser hätte sein können. Doch wenn man den Blick vom Boden in die Ferne schweifen liess, sah man das mächtige Massiv von Nyiragongo und Baruta vor uns. Zum Glück ging der Weg dann bald im Schatten üppiger Vegetation weiter. Aber hier begann erst der eigentliche Aufstieg. Der Pfad windet sich zuerst mit 15° und später mit 32° Steigung auf die Flanke des Baruta, um schliesslich auf 3140 Metern im Sattel zwischen Baruta und Nyiragongo bei den Hütten zu enden.

Aber von hier ging es dann weiter und je höher wir stiegen, desto prächtiger wurde die Aussicht. Nach etwas mehr als einer Stunde erreichten wir den Krater des Baruta, wo man mit viel Glück Elefanten und Büffel sehen kann. Doch für uns gaben sie diesmal kein Stelldichein und so stiegen wir weiter auf der Flanke bis auf die Krete. Immer mehr konnte man nun auch den Kegel des Nyiragongo erkennen und bald stand er in seiner ganzen Pracht vor uns. Wir stiegen in den Sattel hinunter wo wir bei zwei Aluminium-Hütten eine erfrischende Quelle fanden. Die Träger machten sofort ein Feuer und wir begannen eine währschafte Suppe zu kochen. Die Nacht brach wie gewöhnlich sehr früh und schnell ein. Vor uns hatten wir nun die Silhouetten des Mikeno und des Karisimbi. Die Kälte trieb uns aber bald in die von Kerzenlicht erhellte Hütte, wo wir ziemlich erschöpft sofort in unseren warmen Schlafsäcken verschwanden.

Schon um fünf Uhr weckte uns der Guide, und nach einem schnellen Frühstück waren wir schon wieder auf den schmalen Elefantenpfaden unterwegs. Es war noch sehr frisch und die aufgehende Sonne vermochte uns mit ihren schwachen Strahlen nur wenig zu erwärmen. Erst als wir den Sattelboden erreicht hatten und den Kraterhang mit 32° Gefälle in Angriff nahmen, begannen sich unsere Schweissdrüsen wieder zu melden. Nach einer Stunde hatten wir den Kraterrand erreicht, doch auf den letzten fünfhundert Metern war der Aufstieg wegen des losen, leicht rutschenden Lava-Kieses äusserst mühsam. Aber einmal oben auf dem Kraterrand war die Anstrengung sofort vergessen.


(2) Auf dem Kraterrand des Nyiragongo auf 3’470 M.ü.M.

Auf dem Kraterrand des Nyiragongo auf 3'470 M.ü.M.


Man erklimmt einen Vulkan und steht plötzlich total überwältigt vor einem gähnenden und tosenden Abgrund wo man ganz unten den Eingang zur Hölle vermuten könnte. Der Krater hat einen Durchmesser von 1200 Meter und ein Gefälle im Innern von 75°. 170 Meter tiefer befand sich damals ein terrassenförmiges Plateau mit einem zweiten Krater, der einen Durchmesser von 680 Meter hatte. Von hier ging es nochmals 180 Meter in die Tiefe zum Lavasee. Damals war der See mit einer Kruste bedeckt durch dessen Risse man die rote, flüssige Lava sehen konnte. In regelmässigen Abständen zischte und toste es in der Tiefe so laut, dass man glaubte eine Weltraumrakete würde starten. Nachher stiegen jeweils grosse Schwefelschwaden in die Höhe.


(3) Blick in den Krater des Nyiragongo

Blick in den Krater des Nyiragongo


Wir konnten uns an diesem grandiosen Naturspektakel kaum satt sehen. Und wenn man sich umdrehte, dann hatte man die riesige Ebene mit den unzähligen grossen und kleinen Vulkanen vor sich. Die meisten waren schon längst erloschen und man sah nur noch ihre Konturen sich reliefartig aus dem Urwald erheben. Man sah aber auch welche Ausmasse ein Ausbruch haben kann und wo die Lava das letzte Mal hingeflossen war. Trotz dem Drängen des Guides nahmen wir den Abstieg erst nach einer Stunde intensiver Bewunderung unter die Füsse. Es wäre zu schade gewesen einen so imposanten Ort nicht gebührend zu geniessen. Nach einer guten halben Stunde waren wir wieder bei den Aluminium-Hütten und die Träger bereits fertig zum Weitermarsch. Der Abstieg ging natürlich viel leichter, und so waren wir in halber Zeit wieder in der Ebene und auf dem trostlosen Lavafeld. Zum Glück hatte der Guide beim Aufstieg an den Bäumen Kerben geschlagen. Dies erlaubte uns sicher den gleichen Weg zurück durch den Urwald zu nehmen. Noch einmal sahen wir Gazellen, noch einmal hörten wir den ohrenbetäubenden Lärm der Grillen und noch einmal genossen wir die Wildheit dieser Gegend. Als wir dann am späten Nachmittag das letzte Lavafeld überquerten und nochmals einen Blick auf den schon in der Ferne liegenden Nyiragongo warfen, waren wir alle zufrieden. Wir waren beglückt von all den mannigfaltigen Eindrücken und zufrieden mit uns selbst. Schon ein Jahr später wurde die Umgebung vom Nyiragongo unruhig und es gab spektakuläre Ausbrüche. Im Jahre 1977 forderte dann ein grosser Ausbruch des Vulkans vermutlich bis zu 600 Menschenleben. Über eine Million Menschen leben seither in ständiger Gefahr. Der Nyiragongo ist deshalb einer der gefährlichsten Vulkane geblieben.

Nach dieser Expedition gewährten wir uns einen Tag Ruhe am Strand von Gisenyi am Kivusee. Alle Schweizer logierten damals bei Frau Schlosser im Hotel „Edelweiss“. Jedes Mal erzählte uns die Innerschweizerin interessante Geschichten. Da Gisenyi an der Grenze zum Kongo liegt, hatte sie oft illustre Gäste aus beiden Ländern. Manchmal trafen sich bei ihr heimlich auch Politiker und Rebellen aus verschiedenen Lagern. Das war oft sehr heikel für sie, aber irgendwie schaffte es die schlaue Frau, immer die Situation unter Kontrolle zu haben. Sie war eine bodenständige und tapfere Schweizerin die seit Jahren am Kivusee lebte, aber immer davon träumte einmal in Vitznau ihren Lebensabend geniessen zu dürfen.


b) Die Besteigung des Kilimanjaro

Nach der Besteigung des Nyiragongo entstand ein starkes Interesse für Vulkane und so begannen Maurice und ich vom Kilimanjaro zu träumen. Manchmal trafen wir Leute die bereits diesen Vulkan bestiegen hatten und erhielten so wichtige Informationen. Bald wurde unsere Idee zu einem realen Projekt und wir begannen Bekannte zu begeistern. Da wir nicht mobil waren, sollte es womöglich jemand sein, der ein eigenes, fahrtüchtiges Fahrzeug besass. Eric Vogt, der für eine Handelsfirma arbeitete, war schnell begeistert und sagte zu. Durch einen Zufall erfuhren auch Herr und Frau Cianella, ein Ehepaar aus dem Tessin, von unserem Vorhaben. Zuerst zögerten sie bei einem solchen Abenteuer mitzumachen, aber dann sagten auch sie zu. Sie waren auch einverstanden, dass wir alle zusammen in ihrem grossen, neuen Auto die Reise unternahmen.


(4) Die Bahnstation "EQUATOR" auf der Strecke zwischen Eldoret und Nakuru.

Die Bahnstation "EQUATOR" auf der Strecke zwischen Eldoret und Nakuru.


Am 15. Dezember 1966 war es dann soweit und das Abenteuer konnte beginnen. Zuerst fuhren wir bis nach Kampala in Uganda und dann weiter bis nach Tororo, wo wir im Rock Classic Hotel übernachteten. Am zweiten Tag ging es dann rassig weiter nach Nairobi in Kenya und weiter nach Arusha, Moshi und Marangu am Fusse des Kilimanjaro in Tansania, wo wir im berühmten Kibo Hotel übernachteten. Das im Kolonialstil erbaute Hotel stammte aus dem Jahre 1911, also aus der Zeit als Tansania noch Tanganjika hiess und noch eine deutsche Kolonie war. Wir waren überrascht als wir feststellten, dass das Hotel immer noch von einem Deutschen Ehepaar geführt wurde. Das Hotel war seit Jahren der Ausgangspunkt für die Besteigung des Kilimanjaro, und so hatte das Ehepaar längst grosse Erfahrung im Organisieren solcher Expeditionen. Wir waren nicht die einzigen Gäste im Hotel. Einige kamen erst gerade zurück und andere machten sich wie wir bereit für den Aufstieg. Die Besitzerin des Hotels bat noch am selben Abend einen erfahrenen Führer auf, der den Begleittrupp mit Trägern und Koch zusammenstellte. Alles was man zum Aufstieg nicht brauchte blieb im Hotel. Für den Aufstieg trugen wir selbst nur die persönliche Ausrüstung wie Fotoapparat, Regenschutz, Sonnenschutz, etc., alles andere wurde in Säcke gepackt und dann von den Trägern transportiert.


(5) Unsere Träger die uns fünf Tage begleiteten und für Uebernachtung und Verpflegung sorgten.

Unsere Träger die uns fünf Tage begleiteten und für Uebernachtung und Verpflegung sorgten.


Aufstieg Tag 1
Am nächsten Morgen wurden die administrativen Formalitäten erledigt und die Gebühren für die Exkursion beglichen. Als Freiwillige hatten wir Anrecht auf einen kleinen Rabatt auf das Gesamt-Arrangement. Als wir startbereit waren, erschien die Besitzerin des Hotels und gab uns wie eine gute Mutter noch die letzten Ratschläge. Dann überreichte die scheinbar furchtlose Frau jedem einen Stock. Alle lachten und erwiderten ihr, dass wir jungen, kräftige Schweizer seien und ihre Stöcke nicht nötig hätten. Doch sie insistierte und sagte wir sollten uns nicht überschätzen. Beeindruckt von ihrer Überzeugungskraft und Erfahrung beugten wir uns schliesslich ihrem Ratschlag. Sie und ihr Ehemann schüttelten uns dann die Hand und wünschten uns viel Erfolg. Es war eine kurze aber eindrückliche Zeremonie.

Vom Hotel ging es erst durch Bananenhaine und dann durch eine dicht besiedelte Gegend ziemlich rassig aufwärts. Bald hatten wir die Siedlungen hinter uns und marschierten auf einer Strasse durch einen Föhrenwald. Mit dem wunderbaren Duft von Tannen und Föhren hatten wir bald das Gefühl in der Schweiz auf einer Alp zu sein. Der Weg führte immer weiter hinauf bis auf eine Anhöhe von wo man eine wunderbare Aussicht auf die unter uns liegende, grosse Ebene hatte. Hier auf ungefähr 2’727 Meter Höhe befand sich unsere erste Unterkunft: die soliden, aus Stein gebauten Mandara-Hütten. Drinnen hatte es sogar Betten, doch da es keine Bettwäsche gab, schliefen wir in unseren Schlafsäcken. Die Hütten waren mit 38 Berggängern ziemlich stark besetzt. Nach dem Nachtessen, das der Koch zubereitet hatte, zogen wir uns schon um sieben Uhr in unsere Schlafsäcke zurück. Mit der herrlichen Bergluft und der Ruhe genossen wir „ä gsundä tüfä Schlof“.


(6) Mandara Hütte auf 2700 Meter über Meer

Mandara Hütte auf 2700 Meter über Meer

 
Aufstieg Tag 2
Wie im Hotel Kibo brachte uns der „Boy“ nach britischer Teekultur punkt sieben Uhr den „early morning tea“ ans Bett; ein unglaublicher Luxus in dieser Umgebung! Nach einem „währschaften“ Morgenessen machten wir uns gegen neun Uhr wieder auf den Weg. Anfangs ging es durch eine prächtige Landschaft mit faszinierender Pflanzenwelt. Besonders die etwa 80 cm hohen, intensiv roten Raketenblumen und die Riesen-Senezien dominierten das Grasland. Da der Weg nicht sehr anspruchsvoll war, begannen Maurice und Eric etwas schneller zu gehen. Cianella und ich blieben zurück und liessen uns nicht aus der Ruhe bringen. Schliesslich hatte man uns im Hotel gesagt, dass der Körper für die Akklimatisierung Zeit brauche. Dies war ja auch der Grund wieso man den grossen Höhenunterschied langsam und schrittweise während mindestens drei Tagen überwinden sollte. Nach etwa einer Stunde wurde der Weg beschwerlicher und steiler. Während den folgenden zwei Stunden ging es dann stetig bergauf bis wir auf eine Art Heide kamen, von wo man das erste Mal den Kilimanjaro sehen konnte. Früher, von 1902 bis 1964, wurde dieser Vulkan „Kaiser-Wilhelm-Spitze“ oder „Wilhelmskuppe“ genannt.


(7) Das erste Mal den Kilimanjaro vor den Augen.

Das erste Mal den Kilimanjaro vor den Augen.


Jetzt war es nicht mehr weit zu den Horombo-Hütten auf ungefähr 3’780 Meter über Meer. Diese Unterkünfte waren weniger komfortabel und bestanden hauptsächlich aus Wellblech, was aber auf unsere Verpflegung und Betreuung keinen Einfluss hatte. Auch hier waren wir nicht alleine, und so interessierten uns vor allem die Erfahrungen der Rückkehrer. Ganz in der Nähe der Hütten floss ein hübscher Bach vorbei, wo man sich waschen konnte. Allerdings wurde es nach Sonnenuntergang empfindlich kalt, und so waren wir schon um halb sieben Uhr in unseren Schlafsäcken.


(8) Horombo Hütten auf 3800 Meter über Meer

Horombo Hütten auf 3800 Meter über Meer


Aufstieg Tag 3
Um 06.00 Uhr morgens sah ich Licht durch die Dachritzen scheinen. Während alle noch schliefen, stand ich auf und ging ins Freie. Es war immer noch sehr kalt zu dieser Zeit. Bald folgte mir ein Deutscher, der auch als Freiwilliger in Afrika arbeitete. Zusammen ergötzten wir uns am wunderbaren Morgenlicht und dann am spektakulären Sonnenaufgang. Nachdem wir Fotos gemacht hatten, kehrten wir nochmals in unsere warmen Schlafsäcke zurück. Um 07.00 Uhr erwachten wir dann ein zweites Mal, dieses Mal als der traditionelle „early morning tea“ serviert wurde. Nach dem Frühstück gingen einige Bergsteiger abwärts und die anderen nahmen den weiteren Aufstieg unter die Füsse. Unser Viererteam startete um halb neun Uhr. Während der ersten 1½ Stunden ging es ziemlich steil und deshalb langsam aufwärts. Nach diesem Aufstieg hatten wir die eindrückliche Kibo-Wüste vor uns. Es war eine riesige, karge Ebene, die eher einer Mondlandschaft glich und wo sich im Hintergrund der Kilimanjaro majestätisch in den Himmel erhob. Es war kalt und wir waren froh warme Jacken zu haben. Bei der Überquerung dieser enormen Fläche unterschätzten wir den nötigen Zeit- und Kraftaufwand. Immer glaubte man am Ziel zu sein, doch immer ging der Weg noch weiter. Zudem spürte man nun immer mehr die Höhe, und so wurden vor allem die letzten 30 Minuten sehr anstrengend. Nach zwei Stunden hatten wir die Überquerung hinter uns und die Kibo-Hütte auf 4’700 Meter über Meer erreicht. Maurice und Eric waren wieder schneller gelaufen und etwas früher angekommen. Aber da die „Übernächtler“ vom Vortag noch immer da waren, konnten wir das Nachtlager nicht sofort beziehen und mussten draussen in der Kälte warten. Als es dann soweit war, verschwanden wir alle sofort in unseren warmen Schlafsäcken. Gleichzeitig beklagten sich plötzlich alle über Kopfweh. Bei der kleinsten Anstrengung hatten wir einen hohen Puls und einen schmerzhaften Druck im Kopf. Ja die Höhe machte uns zu schaffen. Schon um 17.30 Uhr wurde das Nachtessen aufgetischt, das aber nur aus einer Suppe, einem Stück Brot, einer Birne und Tee bestand. Um 18.00 wünschte uns der Guide „Gute Nacht“ und wir verschwanden erneut in den Schlafsäcken. Vielen Gipfelstürmern war es übel, so auch Maurice. Dann wurde auch mir sterbenselend und ich glaubte, während der ganzen Nacht erbrechen zu müssen. Natürlich war damit ein guter Schlaf ausgeschlossen und so verbrachten wir die Nacht eher mit einem leichten Dösen.


(9) Kibo Hütte 4800 Meter über Meer

Kibo Hütte 4800 Meter über Meer


Aufstieg Tag 4  (20. Dezember)
Um 01.30 Uhr war bereits wieder Tagwache und wir bekamen einen heissen Tee mit sinnigerweise Weihnachts-Gebäck! Ich fühlte mich hundsmiserabel und begann zu zweifeln, ob ich in diesem Zustand für die letzte Etappe überhaupt noch fähig wäre. Aber mein Wille überwog, und so schloss ich mich um 02.00 Uhr trotz allem den anderen an. Unser Guide ging mit einer Laterne voraus und sein Gehilfe folgte am Schluss unserer Gruppe auch mit einer Laterne. Zuerst war der Anstieg eher sanft und wir machten erst nach einer Stunde Marsch einen kurzen Halt. Nachher aber begann der steile Aufstieg und die Pausen wurden immer häufiger. Eine Gruppe war etwas früher losgezogen, und nun sahen wir ihre Laternen hoch über uns. Dieser Anblick machte uns klar, dass wir noch lange nicht am Ziel waren. Nur gut, dass wir in der Nacht aufstiegen und nicht sahen, was uns alles noch bevorstand! Hinter uns kam noch eine weitere Gruppe und so gingen wir einfach weiter. Dabei hatten wir Probleme mit dem Atem, kämpften gegen das Kopfweh und Erbrechen. Auf einmal überkam mich eine heftige Krise. Ich hatte das Gefühl, dass mich neben all den schon bekannten Beschwerden, auch noch meine Gedärme im Stich liessen und ich deshalb aufgeben müsste. Doch irgendwie raffte ich mich wieder zusammen und bald ging es wieder besser. In diesem Moment kam mir die Hotelbesitzerin in den Sinn, denn ohne ihren Stock hätte ich es vielleicht nicht mehr weiter geschafft. Einer Gruppe vor uns ging es nicht besser, sie sassen am Boden und mussten schliesslich aufgeben. Dann kamen wir in eine Geröllhalde, wo man auf dem losen Lava-Schotter mit 2 Schritten vorwärts und einem Schritt rückwärts kaum vorwärtskam. Als es langsam Tag wurde, konnten wir über uns endlich den Gipfel sehen. Das gab uns den nötigen Elan, um nochmals auf die Zähne zu beissen und bis ganz oben durchzuhalten. Erschöpft erreichten wir auf 5’685 Meter Höhe den Gilman’s Point, wo wir mit einem magischen Moment belohnt wurden. Über uns hatten wir einen wunderbaren blauen Himmel, unter uns die Wolken und um uns Eis und Schnee. Nach einer kurzen Rast entschieden wir uns trotz den bisherigen Strapazen auf dem Kraterrand noch bis zum Uhuru Peak auf 5’895 Meter über Meer weiter zu gehen. Obwohl es nun fast ohne Steigung weiterging, war die Wanderung in der dünnen und sehr kalten Luft doch ausserordentlich anstrengend. Darum brauchten wir nochmals 1½ Stunden bis zu diesem zusätzlichen Ziel.


(10) Auf dem Weg zum Uhuru Point auf 6010 Meter über Meer

Auf dem Weg zum Uhuru Point auf 6010 Meter über Meer


Aber wir hatten es geschafft, wir befanden uns auf der Spitze des höchsten Berges in Afrika, der auf Swahili „Kibo“ genannt wird!!! Der zusätzliche Aufstieg, obwohl sehr streng, hatte sich aber nicht nur wegen dem Erreichen des höchsten Punktes des Kilimanjaro und den zusätzlichen 210 Höhenmetern gelohnt, sondern wegen der faszinierenden Umgebung, den Eisgebilden und der unglaublichen Aussicht. Allerdings konnte man auf dieser Höhe leichte Koordinations-Störungen nicht leugnen. So behauptete einer der Bergsteiger sein Photoapparat funktioniere nicht mehr. Mir aber schien er einfach so verwirrt, dass er ihn nicht mehr zu bedienen wusste oder dann war der Apparat eingefroren. 


(11) Auf dem Gilman’s Point auf 5963 Meter über Meer

Auf dem Gilman’s Point auf 5963 Meter über Meer


Während wir beim Aufstieg für den Höhenunterschied von 1200 Meter fast 7½ Stunden gebraucht hatten, benötigten wir für den Abstieg nur etwa zwei Stunden. Bis zum Gilman’s Point war der Weg noch etwas mühsam, aber nachher konnte man weite Strecken hinunterrutschen oder dann schnell gehen. Wir brauchten keine Pausen mehr und waren gegen elf Uhr wieder bei der Kibo-Hütte. Nach diesem doch grossen und schnellen Höhenwechsel war es mir erneut grauenhaft übel und so legte ich mich für eine halbe Stunde in den Schlafsack. Als dann der „Boy“ das Essen brachte und ich die Speisen roch, wurde der Brechreiz so extrem, dass ich gerade noch Zeit hatte um aus der Hütte zu rennen und mich zu übergeben. Aber nachher war ich erlöst und wieder bereit für den Marsch hinunter zu den Horombo-Hütten. Je tiefer wir kamen, desto wohler fühlte ich mich. Am Abend konnte ich wieder normal essen und den herrlichen Abend geniessen. Ich fühlte mich wieder wohl, fror nicht mehr und schlief nachher die ganze Nacht wie ein Murmeltier. Mit den vielen Stunden Marsch war es wohl der härteste und anspruchvollste Tag der ganzen Expedition gewesen.


Abstieg Tag 5
Nach einem guten Frühstück ging es dann erneut bergab zu den Mandara-Hütten. Auf dieser Strecke begegneten wir vielen Berggängern und Trägern, die in Richtung „Kibo“ gingen. Bergab schien der Weg nun sehr einfach und angenehm. Es wurde nicht viel gesprochen, denn die Gedanken weilten noch ganz oben auf dem Kilimanjaro. Nach dem Mittagessen, das vor der Hütte an der frischen Luft serviert wurde, gab es eine kleine Zeremonie. Die ganze Gruppe, inklusive Träger, kam zusammen um sich zu verabschieden. Wir bedankten uns bei ihnen für die einwandfreie Betreuung und dass wir unfallfrei wieder zurückkommen durften. Zur Anerkennung für die gelungene Besteigung wurde am Schluss jedem Teilnehmer ein Kranz aus trockenen Blumen auf den Kopf gesetzt.


(12) Die grosse Ehrung nach der Besteigung mit einem Kranz aus Strohblumen.

Die grosse Ehrung nach der Besteigung mit einem Kranz aus Strohblumen.



(13) Den Blumenkranz habe ich seither mit Respekt und einmaligen Erinnerungen aufbewahrt

Den Blumenkranz habe ich seither mit Respekt und einmaligen Erinnerungen aufbewahrt

 

(14) Nur diejenigen die den „Kibo“ tatsächlich erklommen hatten, wurden mit einem Kranz aus Strohblumen geehrt.

Nur diejenigen die den „Kibo“ tatsächlich erklommen hatten, wurden mit einem Kranz aus Strohblumen geehrt.


Dieser symbolische Akt war für mich überraschend und berührte mich sehr. Dann machten wir das obligate Gruppenfoto und nahmen dann den letzten Teil des Abstieges unter die Füsse. Ganz unerwartet schien uns die Strecke bis zurück zum Hotel sehr anstrengend. Vielleicht hatten nach den fünf Tagen Marsch unsere Kräfte einfach ein bisschen nachgelassen. Aber nun waren wir zurück im Hotel, konnten uns ausruhen und vor allem endlich wieder einmal so richtig duschen. Ich hatte ein ganzes Kilo abgenommen und nun einen Riesendurst. Eigentlich wollte ich mich bei der Rückgabe der Bergstöcke bei der Besitzerin für unsere jugendliche Arroganz entschuldigen. Aber dann sagte man uns sie sei im Krankenhaus. Sie war zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Afrika vor vielen Jahren an Malaria erkrankt! Schade, ich hätte sie gerne nochmals gesehen und mich persönlich auch für die vorbildliche Organisation bedankt.


(15) Im Ngorongoro Krater, dem Afrikanischen „Garten Eden“

Im Ngorongoro Krater, dem Afrikanischen „Garten Eden“


Schon am nächsten Tag machten wir einen Ausflug zum Ngorongoro Krater am Rande der Serengeti in Tansania. Er ist einer der grössten Krater der Welt und hat einen Durchmesser von ungefähr 20 Kilometer. Wir liessen unser Auto am Kraterrand auf etwa 2’300 Meter ü.M. bei der Ngorongoro Crater Lodge stehen und liessen uns von einem Guide in seinem Landrover etwa 600 Meter hinunter auf den Kraterboden bringen. Hier hatte ich das Gefühl im Afrikanischen „Garten Eden“ angekommen zu sein. Je nach den Tierwanderungen vom und in den Serengeti Park, lebten hier zeitweise über 20’000 Tiere in scheinbar wunderbarer Harmonie zusammen. Man sah grosse Herden von Zebras, Büffeln, Gnus, Antilopen und Gazellen. Aber auch Elefanten, Flusspferde, Löwen, Hyänen und Leoparden konnte man beobachten. Es war einfach unglaublich, so viele Tiere an einem einzigen Ort vereint zu sehen. Nachdem wir unsere Eindrücke mit unseren Fotoapparaten festgehalten hatten, fuhren wir wieder zurück auf den Kraterrand. Wir wollten auf der Terrasse der Lodge nochmals die faszinierende Aussicht auf den Krater geniessen und gleichzeitig unseren Hunger stillen. Die Lodge, ein sehr ansprechender Bau aus Steinen und Holz, war der Umgebung perfekt angepasst. In der Mitte des Restaurants befand sich eine riesige, offene Feuerstelle wo für uns dann saftige Zebra-Steaks grilliert wurden. Rund um uns hatte es an den Wänden unzählige Jagdtrophäen, sodass wir uns in einem Jagdhaus fühlten.


(16) Die der Umgebung perfekt angepasste Ngorongoro Crater Lodge“ am Kraterrand des längst erloschenen Vulkans.

Die der Umgebung perfekt angepasste Ngorongoro Crater Lodge“ am Kraterrand des längst erloschenen Vulkans.


Auf der Rückkehr ins Hotel war es bereits dunkel. Plötzlich versperrte uns erst etwas Rätselhaftes den Weg. Erst als wir näher kamen sahen wir, dass sich eine grosse Löwenfamilie auf dem warmen Asphalt niedergelassen hatte. Da sie unser Hupen und die Scheinwerfersignale ignorierten, wollte ich erst gedankenverloren aus dem Auto steigen und sie vertreiben. Zum Glück wurde mir dann bewusst, dass wir keine Katzen vor dem Auto hatten, sondern sieben gefährliche Raubtiere. Wir brauchten schliesslich sehr viel Geduld, bis die Löwen sich langsam erhoben, in der Dunkelheit verschwanden und uns den Weg wieder freigaben.

Am nächsten Tag verliessen wir Marangu und fuhren durch den Amboseli-Nationalpark und Emali zurück nach Nairobi. In Nairobi logierten wir im Y.M.C.A. (The Kenya Young Men’s Christian Association). Hier hatte es ein grosses, gepflegtes Schwimmbad, und so benutzten wir die Zeit über Weihnachten um uns auszuruhen. Am Heiligabend waren wir zum Gottesdienst eingeladen. Meine Kollegen hatten keine Lust hinzugehen, und so ging ich halt alleine. Schon bei der Türe staunte ich, denn über 400 brennende Kerzen erhellten die festlich geschmückte Kirche. Aber erst mit den bekannten Liedern ging ein Hauch von Weihnachtsstimmung durch den Raum, der aber spätestens beim Ausgang und der Rückkehr in den „Sommer“ wieder verschwunden war! Trotzdem war dieser afrikanische Weihnachtsgottesdienst ein ganz spezielles Erlebnis.

Wir verbrachten fünf Tage in der damals fast avantgardistischen Stadt. Ich staunte über die Sauberkeit, die vielen modernen Gebäude, die breiten, grosszügigen Strassen und dann vor allem über die Kreisel. Erst Jahrzehnte später wurde diese Art von Kreuzung ohne Lichtsignale bei uns eingeführt und so getan als ob es eine absolute Neuigkeit war. Damals schienen gewisse Städte in Afrika einen Vorsprung auf uns in Europa zu haben. Ich hatte aber auch den Eindruck, dass das Land sehr gut regiert wurde und es eine grosse, gut ausgebildete Oberschicht gab. Man fühlte sich sicher, die Einwohner waren sehr diszipliniert und so genossen wir das Bummeln in der Stadt. Ganz nahe am Stadtrand und dem Flugplatz befand sich der Nairobi-Nationalpark, den wir während dem Aufenthalt zwei Mal besuchten. Er wurde im Jahre 1946 eröffnet und war der erste Nationalpark Kenias. Die Situation schien mir oft unwirklich, wenn ich die Tiere mit Wolkenkratzern im Hintergrund fotografierte, aber der Park war tatsächlich so nahe bei der Stadt angelegt. Trotzdem war er genau so interessant und die Tiere schienen sich auch vom Flugverkehr nicht gestört zu fühlen.

Am 29. Dezember verliessen wir Nairobi und besuchten auf dem Rückweg den bekannten Nakurusee. Er liegt auf 1’760 Meter Höhe über dem Meeresspiegel im „Lake-Nakuru-Nationalpark“ und gilt wegen den etwa zwei Millionen Flamingos weltweit als einmaliges Naturschauspiel. Dann ging es weiter nach Kampala, wo sich Maurice und ich von unseren Reisekameraden trennten. Während sie noch Termine in Kigali hatten, wollten wir während den Weihnachtsferien noch die bekannten Murchison Falls besuchen. Während den Festtagen war dies nicht einfach gewesen und so brauchten wir einen ganzen Tag, um diesen Ausflug zu organisieren. Erst am 31. Dezember 1966 gelang es uns mit einem der lokalen VW-Minibusen bis nach Masindi zu gelangen und dort zu übernachten. Da es in der Gegend Tsetsefliegen gab, wurden wir gebeten während der ganzen Fahrt die Fenster nicht zu öffnen. Natürlich wurde es schnell heiss im Fahrzeug und so öffneten wir halt trotzdem manchmal kurz die Fenster. Aber da niemand Lust auf die gefürchtete Schlafkrankheit hatte, reagierte man fast hysterisch auf jedes Summen im Bus. Doch es kam keine solche Fliege in den Minibus und so kamen wir ungestochen in Masindi an. Im Hotel waren zum Glück einige Engländer, mit denen wir dann abends unsere Entdeckungsreise und den Silvester gebührend feiern konnten.


(17) Murchison Falls National Park

Murchison Falls National Park


Am nächsten Tag ging die Reise schon sehr früh weiter zum „Murchison Falls National Park“ der sich zwischen Albertsee und Viktoriasee ausdehnt. Nach der Ankunft im Park gab es in der Lodge zuerst einmal ein gutes Frühstück und dann ging es mit einem Schiff etwa drei Stunden den „weissen“ Nil aufwärts bis zu dem bekannten Wasserfall. Die Eindrücke auf dieser Flussfahrt waren überwältigend und ich glaubte mich erneut im „Garten Edens“ zu sein. Das Schiff fuhr langsam dem Ufer entlang wo sich Krokodile, Nilpferde, Elefanten und viele andere Tiere tummelten. Am Wasser sowie in den Bäumen machten sich verschiedene Vögel bemerkbar. Die ganze Tierwelt schien total friedlich und ungestört, sodass man sie fast wie im ZOO von sehr nahe beobachten konnte. Allerdings waren wir oft so nahe, dass ich mich fragte was wohl geschehen würde, wenn uns ein Nilpferd rammen würde? Vor dem imposanten, 42 Meter hohen Wasserfall machte das Schiff kehrt und so erreichten wir dann gegen Mittag wieder das Hotel. Die Rückfahrt war genau so eindrücklich, denn nun kamen von allen Seiten Tiere an den Fluss zur Tränke.


(18) Nilpferde im Murchison Falls National Park

Nilpferde im Murchison Falls National Park


In der Lodge wurden wir mit einem wunderbaren Curry-Reis Gericht überrascht. Dazu gab es nach indischer Art viele leckere Beilagen wie Nüsse, Ananas, Papaya, Tomaten, etc. Eine solche Mahlzeit in der Wildnis weit weg von der Zivilisation geniessen zu dürfen war einfach fabelhaft. Schon damals brachte „Hotelplan“ Touristen aus der Schweiz in diese Gegend, und so mussten wir leider das wunderbare Buffet mit einer abstossenden, ignoranten Touristenmasse teilen. Sie hatten keinen Anstand, waren respektlos und benahmen sich schlimmer als Kolonialisten. Scheinbar beklagte sich damals sogar der schweizerische Botschafter über diese „Safari-Touristen“. So machten wir uns nach dem Mittagessen sofort auf den Rückweg nach Kampala, wo wir auch übernachteten. Am nächsten Tag versuchten wir per „Autostop“ nach Kigali zu kommen, doch dies erwies sich viel schwieriger als wir uns gedacht hatten. Wir standen an der Strasse und niemand nahm uns mit. Mit sehr viel Ausdauer brauchten wir schliesslich ganze drei Tage bis wir wieder zurück in Kigali waren. Mit den Erinnerungen an die vielen grossartigen Erlebnissen brauchte es dann schon eine Weile bis wir mit dem Kopf wieder voll bei der Arbeit auf dem Hügel waren.


(19) Bei Mbarara auf dem Heimweg per Autostop nach Kigali.

Bei Mbarara auf dem Heimweg per Autostop nach Kigali.


c) Die abenteuerliche Reise in den Karamoja

Durch Eric Vogt, der mit mir auf dem Kilimanjaro war, lernte ich Ruedi Scheller kennen. Auch er arbeitete damals bei der Handelsfirma „Diethelm & Co.“ in Kigali. Wir diskutierten oft zusammen und die beiden Händler waren fest überzeugt, dass sich ein Entwicklungsland nur durch Handel nachhaltig entwickeln konnte. Aus diesem Grund beurteilten sie unseren Freiwilligen-Einsatz und unsere fast religiöse Hingabe zum Projekt auf dem Hügel eher skeptisch oder belächelten uns sogar. Trotz diesen Meinungsverschiedenheiten verstanden wir uns immer sehr gut. An einem Ort wie Kigali musste man sich ja sehr verträglich geben, um nicht isoliert zu leben. Eines Tages fragte mich Ruedi, ob ich Lust hätte mit ihm in den Norden von Uganda, in die Region „Karamoja“ an der Grenze von Kenia, zu fahren. Da ich für Reisen immer zu haben war und noch Ferientage einlösen musste, sagte ich sofort zu. Ohne grosse Vorbereitung und ohne viel Information über diese Gegend, begann am 30. April 1967 um 07.00 Uhr morgens das Abenteuer. Da wir unterdessen gehört hatten, dass der Nyiragongo plötzlich ausgebrochen war, entschlossen wir uns auf unserem Weg zuerst dieses Naturspektakel anzusehen. Schon auf der Fahrt nach Gisenyi hatten wir drei Pannen. Natürlich hatte ich mir vor der Reise über den Zustand von Ruedis Opel Kadett keine Gedanken gemacht und erst jetzt gemerkt, dass sein PW wohl auf den Strassen von Rwanda schon viel erlebt hatte. Dessen ungeachtet fuhren wir nachts noch in den Kongo bis nach Rumangabo, um von dieser Seite Nachtaufnahmen vom speienden Vulkan zu machen. Und es hatte sich gelohnt, es war wirklich sehr beeindruckend und gleichzeitig auch beängstigend. Fasziniert kehrten wir auf derselben, äusserst schlechten Strasse auf Vulkangestein wieder zurück ins Hotel. Es war uns bewusst, dass das äusserst harte und glasartige Gestein die Pneus ziemlich beanspruchte, aber wir waren jung und machten uns weiter keine Sorgen.

So machten wir uns um 04.00 Uhr morgens nochmals auf dem gleichen Weg bis hinter den Nyiragongo. Doch der lange Weg hatte sich diesmal nicht gelohnt, wir waren zu weit vom Ausbruch entfernt. Zudem wurden die Pneus auf der schlechten Strasse nochmals „gequält“. Da wir von den nächtlichen Expeditionen müde waren, blieben wir an diesem Tag in Gisenyi und genossen die Gastfreundschaft von Frau Schlosser im Hotel „Edelweiss“. Am 2. Mai ging die Reise aber dann weiter über Goma, Rutshuru und Ishasha River zum Queen-Elizabeth-Nationalpark in Uganda. Auf dieser Strecke begegneten wir vielen Elefanten. Wegen ethnischen Unruhen und Bürgerkrieg wurde diese Gegend später sehr gefährlich und ein grosser Teil der wilden Tiere wurden vom Militär oder Wilderern dezimiert. Von Kabatoro ging es am nächsten Tag weiter über Kasese, Fort Portal, Kyenjojo, Hioma und Butiaba nach Masindi. In Butiaba, einem Fischerdorf am Albertsee, entdeckten wir einen herrlichen Strand wo wir sorglos und ohne Bedenken wegen Bilharziose (Schistosomiasis) im fast lauwarmen Wasser badeten.

Am anderen Tag fuhren wir entlang des „Murchison-Falls-Nationalpark“ bis nach Gulu. Da ich von der Schifffahrt auf dem weissen Nil anfangs Jahr so begeistert war, konnte ich Ruedi überzeugen, diese Fahrt nochmals zu machen. Leider schienen diesmal die Tiere weniger zutraulich und so war ich enttäuscht, ihm nicht dieselben fabelhaften Eindrücke vermitteln zu können. Aber vielleicht waren sie während meines ersten Besuches einfach zu überwältigend gewesen. Nach einer Nacht in Gulu fuhren wir nach Kitgum, Nam Okoro und bis nach Kalongo. Je weiter wir nordwärts fuhren wurden die Naturstrassen schlechter und die Gegend unwegsamer.


(20) Unwegsame und unberechenbare Naturstrassen, besonders bei Regen.

Unwegsame und unberechenbare Naturstrassen, besonders bei Regen.


In Kalongo konnten wir in der Mission der Römisch-Katholischen Kirche übernachten. Es war eine sehr grosse Missionsstation und ich war von der Arbeit der Missionare sehr beeindruckt. Die Gegend schien wild, wenig bewohnt und äusserst einsam. Am nächsten Tag ging die Reise sofort weiter nach Adilang und Kotido, wo wir bei der Polizei die Erlaubnis für die Reise in das Karamoja-Gebiet einholen mussten. Gleichzeitig wurde uns mit Schrecken bewusst, in was für einem schlechten Zustand die Pneus nun tatsächlich waren. Sie hatten auf den oft „bachbett-artigen“ Strassen nochmals sehr gelitten und fast kein Profil mehr. Trotzdem wollten wir weiter in den Norden bis nach Kaabong fahren. Doch auf dieser Strecke platzte dann plötzlich ein Schlauch. Wir montierten das Reserverad und entschieden uns dann widerwillig umzukehren und nach Moroto zu fahren. Es ging nicht lange, dann platzte auch der zweite Pneu und wir fuhren auf den Felgen. Wir hatten die beiden Pneus zu Tode gequält und nun kein Reserverad mehr. Nun versuchten wir wenigstens die Schläuche zu flicken und fuhren wieder los. Doch bald bemerkte ich ein komisches Geräusch. Ich schaute aus dem Fenster und sah wie seitlich aus dem Pneu ein Stück vom Schlauch, aufgeblasen wie ein Ballon, herausragte und sich mit dem Rad drehte. Die Seitenwand eines Pneus war so dünn geworden, dass sie dem Druck des Schlauches nicht widerstand. Es war ein äusserst ungewöhnlicher Anblick! Wir hielten an, reduzierten den Druck im Schlauch und versuchten die „Wunde“ des Pneus mit allem was wir bei uns hatten, mit einem Druckverband, zu verschliessen. Wir hofften so weitere Blasen vermeiden zu können. Verlassen mitten im Nirgendwo pumpten wir das Rad wieder mühsam auf und fuhren dann ganz langsam wieder weiter. Doch mit dem „Verband“ hopste das Auto bei jeder Drehung und es ging nicht lange bis der „Verband“ verrutscht war und sich wieder eine Blase gebildet hatte. Bis wir dann endlich um 23.00 Uhr todmüde in Moroto ankamen, mussten wir diese mühsame Art von „Verarztung“ noch etliche Male wiederholen.


(21) Ohne gründliche Vorbereitung einer Reise, wird man schliesslich erbarmungslos bestraft.

Ohne gründliche Vorbereitung einer Reise, wird man schliesslich erbarmungslos bestraft.


Auf dieser mühsamen Fahrt kamen wir oft in Kontakt mit den Karamojong, dem halbnomadischen Hirtenvolk, das in dieser trockenen Gegend lebt und nicht verstand was wir auf ihrem Gebiet wollten. Da die ehemalige Kolonialmacht ihre Priorität hauptsächlich auf die Entwicklung der Städte gesetzt hatte, blieb die Gegend von Karamoja vom Fortschritt im Süden des Landes fast gänzlich ausgeschlossen. In dieser unwirtlichen Region regnete es seit Jahren nicht genug und die Leute rangen deshalb um ihr Überleben. Vielleicht bekämpften sich die verschiedenen ethnischen Gruppen auch deshalb ständig und versuchten einander die Rinder zu stehlen. Es war auch bekannt, dass die Karamojong an bewaffneten Raubzügen bis ins benachbarte Kenia beteiligt waren und dabei häufig auch Menschen ums Leben kamen. Sie waren auch mit der Regierung verfeindet und dies war auch der Grund, wieso man sich bei der Polizei melden musste, bevor man dieses ganz spezielle Gebiet betrat. Sogar die Missionen schienen mit diesem Volk Mühe zu haben, denn viele Einheimische blieben trotz Missionierung ihrem traditionellen Glauben treu. Jedenfalls sahen wir während unserem Aufenthalt in dieser gefährlichen Gegend ausser den Missionaren keine weiteren Ausländer.

Da wir uns mit den Karamojong nicht verständigen konnten, entstand oft eine etwas unheimliche Situation, denn wir wussten nicht, wie die Leute auf unsere Anwesenheit reagieren würden. Sie schienen sehr stolz zu sein und erlaubten das Fotografieren meistens nicht oder dann rannten sie davon. Sie schienen äusserst arm und waren meist nur sehr notdürftig gekleidet, manchmal nur mit einem Fell. Die Frauen trugen unzählige Eisenringe um den Hals und schienen misstrauischer als die Männer. Die Männer hatten eine ganz spezielle Haartracht. Sie mischten Kuhdung in ihr Haar und formten damit eine Art kunstvoll gestalteten Chignon, meistens noch mit einer schönen Feder geschmückt. Natürlich fragte ich mich, wie man mit so einer aufwendigen Frisur nachts schlafen konnte. Nach einer gewissen Zeit merkte ich, dass fast alle Männer mit einer geschnitzten Holzstütze in der Hand unterwegs waren. Es war die Stütze auf die man nachts den Nacken legen konnte ohne die Haartracht zu beschädigen. In Moroto übernachteten wir in einem kleinen Hotel das von einem Ugander aus Kampala geführt wurde.


(22) Bei den „Karamojong“ tragen die Frauen unzählige Eisenringe um den Hals.....

Bei den „Karamojong“tragen die Frauen unzählige Eisenringe um den Hals.....

 

(23) .... und die Männer eine ganz spezielle Haartracht.

.... und die Männer eine ganz spezielle Haartracht.

Auch das Personal kam aus dem Süden von Uganda. Der Unterschied zwischen diesen Angestellten und den Einheimischen hätte frappanter nicht sein können. Während sich die Angestellten des Hotels sehr zivilisiert benahmen, schien die lokale Bevölkerung ihre Lebensweise seit Jahrtausenden nicht geändert zu haben. Eine Episode ging mir besonders unter die Haut. An einem Morgen schälte ein Küchenbursche hinter dem Hotel Kartoffeln. Um ihn herum lauerten am Boden etwa acht einheimische Frauen, bereit bei der kleinsten Achtlosigkeit des Burschen Kartoffeln zu entwenden. Immer wieder schlug er auf sie ein, wenn sie ihm zu nahekamen. Es war ein seltsames, schockierendes Schauspiel und es kam mir vor, als wolle er aggressive Krähen wegjagen.


(24) Ein Paar im Gebiet der „Karamoja“

Ein Paar im Gebiet der „Karamoja“


Den ganzen Morgen versuchten wir in Moroto Ersatz-Pneus zu finden, doch wir suchten vergebens. Moroto war ja damals auch nicht viel grösser als ein Dorf und so fand man in den paar einfachen Läden nur das Allerwichtigste um überleben zu können. Frustriert entschied sich schliesslich Ruedi per Autostop nach dem 170 km entfernten Soroti zu fahren. Und er hatte nicht nur Glück beim Autostoppen, sondern fand dort auch die passenden Pneus und Schläuche. Leider gestaltete sich die Rückfahrgelegenheit schwieriger als erwartet, und so war er erst nachts um 01.30 Uhr wieder im Hotel. Während er in Soroti Ersatz-Pneus suchte, hütete ich sein Auto und verbrachte den ganzen Tag bei strömendem Regen im Hotel. Nun hatte ich Zeit und Ruhe über unsere Reise nachzudenken. Ich  bedauerte unseren Leichtsinn, denn mit unserer Gleichgültigkeit hatten wir so vie Zeit verloren, dass wir nun unser Ferienziel „Karamoja“ gar nicht mehr so umfassend wie gewünscht kennenlernen konnten. Nachdem die neuen Pneus montiert waren, mussten wir uns deshalb sofort auf den Heimweg machen, diesmal auf guten, asphaltierten Strassen über Mbale, Tororo, Jinja nach Kampala. Hier übernachteten wir, machten am Morgen Einkäufe und waren dann abends wieder zu Hause in Kigali.

Trotz allem Missgeschick, oder gerade deswegen, war es eine äusserst abenteuerliche und lehrreiche Reise, die ich nicht gerne missen würde. Erst nachträglich wurde mir auch bewusst, welchen Gefahren wir uns ausgesetzt hatten. Zum Glück war mein Schutzengel immer mit uns, sodass wir auch wieder heil nach Hause kamen. Allerdings hätte er uns vorher darauf aufmerksam machen können, dass sich ein Geländewagen, zum Beispiel ein Land Rover, für eine über 2’000 Kilometer lange Expedition auf so schlechten Strassen besser geeignet hätte!


 

 

 

Der Abschied und die Heimreise (27.7. – 25.8.1967)
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13.10.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (14. 3. 1966 - 31.7. 1967) – Der Abschied und die Heimreise (27.7. – 25.8.1967).
Am 27. Juli 1967 endeten meine 1½ Jahre Freiwilligenarbeit in Rwanda. Schon Wochen vor der Abreise hatte ich begonnen mein spärliches Umzugsgut und all die Andenken einzupacken. Es waren hauptsächlich sehr fein geflochtene Körbe, Schnitzereien, Speere, usw. All diese Sachen schickte ich per Seefracht nach Hause und behielt nur noch das Nötigste für meine Heimreise. Da meine Stelle nicht weiter besetzt wurde, erklärte ich die Tatsache den Arbeitern und spornte sie an, trotzdem mit gleichem Fleiss und gleicher Hingabe weiterzuarbeiten. Ich machte mir allerdings keine grossen Sorgen, denn sie hatten während den letzten Monaten meines Aufenthaltes gezeigt, dass sie eine grosse Selbständigkeit erreicht hatten. Anstatt mir den letzten Morgen auf dem Hügel noch gemütlich zu machen, wurde ich schon früh morgens noch wegen dringenden Reparaturen gerufen. Nachdem ich mich nachher hastig umgezogen hatte und für die Reise bereit war, bat mich Félicien, unser Vorarbeiter, nochmals zum „maison administrative“ auf dem Hügel zu kommen. Also rannte ich nichts ahnend auf den Hügel und war erstaunt alle Arbeiter vor dem Bürogebäude versammelt zu sehen. Dann entdeckte ich auch Lisbet bei den Leuten stehen. Hatte es einen Aufstand gegeben? Gleichzeitig bemerkte ich zwei grosse Löcher neben dem Gebäude, hatte aber immer noch keine Ahnung was dies zu bedeuten hatte. Dann erklärte Félicien, dass zum Andenken von Lisbet und mir nun je einen Baum gesetzt würde. Die Bäume sollten uns symbolisch ersetzen und immer an uns erinnern. Dann stimmten sie verschiedene Lieder an, die sie mit voller Kehle vortrugen. Ich wurde nervös, denn wir hätten ja schon längst zum Flugplatz fahren müssen. Doch die Arbeiter waren sich dessen nicht bewusst und sangen unbeschwert und inbrünstig weiter. Anschliessend wollte sich jeder Einzelne noch bei uns persönlich mit einem Händedruck verabschieden. Ganz unerwartet wurde das Ritual für mich plötzlich zu einem schmerzhaften, überwältigenden und äusserst emotionellen Moment, bei dem ich die Tränen kaum zurückhalten konnte. Der Abschied wurde so intensiv, dass mir der Abflug plötzlich egal war. Als ich dann dem letzten Arbeiter die Hand gegeben hatte, rannte ich sofort hinauf in mein Büro im ersten Stock und weinte in mein Taschentuch. Während ich meinen Gefühlen freien Lauf liess, hatte ich gar nicht bemerkt, dass Félicien mir gefolgt war, neben mir stand und nun auch noch persönlich Abschied nehmen wollte. Dann gestand er mir, dass mich die Arbeiter immer respektvoll „Amabuye“ genannt hatten und dass dieser Übername „Stein“ bedeute. Ich sei immer hart aber korrekt wie ein Edelstein mit ihnen gewesen und das hätten sie geschätzt. Seine Worte überwältigten mich erneut, ich wischte meine Tränen weg und umarmte ihn. Mit dieser Umarmung fand mein Freiwilligen-Einsatz ein Ende und den Flug hatten wir schliesslich auch nicht verpasst.


(1) Abschied vor dem im Bau befindlichen neuen Flugplatzbebäude
Abschied vor dem im Bau befindlichen neuen Flugplatzbebäude


Da der Vertrag von Lisbet Müller fast gleichzeitig endete, hatten wir entschieden den Heimweg zusammen zu machen und dabei noch möglichst viel von Afrika zu sehen. Nachdem wir den „Check-in“ und die Sicherheitskontrolle in der Abflugshalle hinter uns hatten und bereits beim Flugzeug waren, rannten plötzlich zwei Zollbeamte aufs Flugfeld und durchsuchten meinen Koffer. Ich weiss nicht ob sie wertvolle Kulturgüter bei mir vermuteten, jedenfalls fanden sie in meinem Gepäck, ausser zwei Beutel einheimischen Kaffee, nichts Wertvolles. Vielleicht aber wurden sie einfach stutzig, dass Freiwillige anstatt mit einem Linienflugzeug wie Millionäre mit einer kleinen Cessna abreisten!


(2) Sicherheits- und Zollkontrolle auf dem Flugfeld. Und dabei hatte ich nur Kaffee aus Rwanda bei mir!

Sicherheits- und Zollkontrolle auf dem Flugfeld. Und dabei hatte ich nur Kaffee aus Rwanda bei mir!


Trotz diesem Vorfall verliessen wir Kigali um 13.45 Uhr in Richtung Bujumbura. Von dort hätte uns die „Air Congo“ nach Entebbe bringen sollen. Doch der Flug hatte fast zwei Stunden Verspätung und flog dann erst nach Goma, wo wir nochmals stundenlang warten mussten, sodass wir erst um 22.00 an unserem Ziel in Nairobi ankamen. Am nächsten Morgen gingen wir zuerst zur Schweizer Botschaft um uns offiziell abzumelden. Dann holten wir uns die Visa für den Sudan und erledigten weitere administrative Sachen für unsere Heimreise. Bereits am Nachmittag standen wir an der Strasse nach Mombasa um eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Und wir hatten Glück denn in etwas mehr als 4 Stunden waren in Mombasa und übernachteten im Hotel Splendid.


(3) Elefantenzähne, die Stadt-Symbole von Mombasa.

Elefantenzähne, die Stadt-Symbole von Mombasa.


Am nächsten Tag holte uns Theo Margot beim Hotel ab und brachte uns mit seinem Auto nach Malindi, wo er und seine Frau Alice sowie Kathrin aus Remera in den Ferien waren. Malindi liegt ungefähr hundert Kilometer nördlich von Mombasa an der Küste des Indischen Ozeans. Das Hotel befand sich direkt am wunderbaren weissen Strand. Es war traumhaft schön und so genossen wir ein paar ganz ruhige Tage am Meer. Am 31. Juli besuchten wir in Mombasa das „Fort Jesus“, ein ehemaliger portugiesischer Hauptstützpunkt aus dem Jahre 1593. Dann fuhren wir mit dem Nachtschnellzug nach Nairobi wo wir im YMCA übernachteten. Vorher waren wir allerdings noch zu einem Cocktail beim Schweizer Botschafter eingeladen und anschliessend zum Nachtessen des Schweizer Klubs im Hotel PANAFRIC. Wir fühlten uns mit diesen Einladungen ausserordentlich geehrt und verstanden es auch als eine Anerkennung für unsere geleistete Arbeit in Rwanda.


(4) Der Nachtschnellzug von Mombasa nach Nairobi.

Der Nachtschnellzug von Mombasa nach Nairobi.


Am nächsten Morgen flogen wir mit der „Ethiopian Airlines“ nach Addis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien, wo uns strömender Regen empfing. Lennart Rahm, ein ehemaliger Algerien-Camp-Kollege, und seine Frau arbeiteten schon eine Weile als Freiwillige in Äthiopien. Als er wusste, dass wir das Land besuchen wollten, lud er uns bei sich zu Hause ein. Die Beiden wohnten etwas ausserhalb von Addis in einem äusserst einfachen Haus. Die Mauern waren aus getrocknetem Lehm erstellt und die Wände nur mit Zeitungspapier tapeziert, etwas was ich noch nie gesehen hatte. Wir schliefen in unseren Schlafsäcken am Boden, wo uns bald Flöhe zu schaffen machten. Diese Plage schien damals in Addis aber normal, denn als wir uns auf der Botschaft meldeten und die lästigen Flöhe erwähnten, meinte der Sekretär belustigt, dass man sich mit der Zeit daran gewöhnen würde! Trotz dem miesen Wetter besuchten wir einige Male die Stadt und bestaunten vor allem das African Hall, der Hauptsitz der UNECA (United Nations Economic Commission for Africa). Einmal brachte uns Lennart zu zwei Kraterseen und dann zum grössten Kloster Äthiopiens, dem orthodoxen Kloster „Debre Libanos“, etwa 120 km nordwestlich von Addis. Ein ganz religiöser Priester wollte uns mit seiner heiligen Schrift überzeugen, dass Jesus Äthiopier war und das ganze Volk deshalb direkt von seiner Familie abstammen würde. Es war an einem der wenigen Tage wo sich plötzlich und nur kurz die Sonne zeigte. Das schien uns die Bestätigung aus dem Himmel, um ihm Glauben zu schenken. In den fünf Tagen mit meist grauem und regnerischem Wetter hatten wir keine Lust, die unordentliche und schmutzige Stadt weiter kennen zu lernen. Das miese Wetter schien uns auch müde zu machen, und so verbrachten wir die meiste Zeit zu Hause und ruhten uns aus. Jedenfalls waren wir froh, als wir am 8. August nach Bahir Dar weiterreisen konnten.


(5) Das African Hall, der Hauptsitz der UNECA
Das African Hall, der Hauptsitz der UNECA


Bahir Dar ist die Hauptstadt der äthiopischen Provinz Amhara und liegt auf ungefähr 1’840 Meter Höhe. Nach unserer Ankunft um 08.30 Uhr suchten wir sofort eine Unterkunft und fanden mit viel Glück das gute und günstige Hotel Ras. Da Bahir Dar ein idealer Ausgangspunkt für verschiedene Ausflugsziele ist, hatten wir uns gut vorbereitet. Noch am gleichen Morgen liessen wir uns mit einem Landrover zu den Tisissat-Wasserfällen des Blauen Nils fahren. Hier herrschte wunderbares Wetter und so genossen wir den interessanten und sich lohnenden Ausflug. Nach dem Mittagessen machten wir eine Bootsfahrt auf dem Tanasee. Dieser See liegt im Hochland Abessiniens und ist nicht nur Äthiopiens größter See, sondern auch der Höchstgelegene in Afrika. Zuerst fuhren wir mit einem Boot zu einer Klosterinsel wo fünf Mönche ein ausgesprochen einfaches Leben führten. Während wir Männer die Insel betreten durften, mussten die Damen im Boot bleiben. Der See mit mehr als 30 Zuflüssen ist auch Quelle eines wichtigen Flusses, denn sein natürlicher Abfluss ist der Blaue Nil. Diese Tatsache war ein Grund, um mit dem Boot bis an den Abfluss des Sees und den Anfang des Blauen Nil zu fahren. Dann fuhren wir zu einer zweiten Insel und besuchten auch dort eine orthodoxe Kirche. Nach diesem reichlich ausgefüllten Tag kehrten wir zufrieden und sehr beeindruckt ins Hotel zurück.

Am nächsten Tag lud uns der Hotelmanager zu einer Rundfahrt mit seinem Landrover ein. Dabei besuchten wir einen der Paläste von Haile Selassie, der damals noch Kaiser von Abessinien war. Sein Herrschertitel war Neguse Negest und er selbst nannte sich 225. Nachfolger des Königs Salomon. Es war ein moderner, kreisrunder Bau auf einer Anhöhe. Da der Kaiser nicht anwesend war, durften wir den Palast besuchen und da konnten wir mit eigenen Augen die vergoldeten Sanitär-Armaturen in seinem Badezimmer sehen! Das Ganze war äusserst eindrücklich und wir fühlten uns sehr geehrt, diesen Palast besuchen zu dürfen. Gleichzeitig schien uns der Prunkt im krassen Gegensatz zur grossen Armut im Lande.


(6) Einer der Paläste von Haile Selassie.

Einer der Paläste von Haile Selassie.


Am Nachmittag flogen wir nach Gondar wo wir sofort ein Zimmer im Hotel „Patrice Lumumba“ bezogen. Wir litten immer noch unter den vielen Flöhen und besprühten erst einmal unsere Kleider mit „Fly-Tox“ und dann das ganze Zimmer. In der Stadt lernten wir vier weitere Freiwillige kennen, und so besuchten wir zusammen die Ruinen der „Fasilides’ Festung“ aus dem 16. Jahrhundert, die als UNESCO Weltkulturerbe gilt. Am anderen Tag wollten wir eigentlich nach Axum fliegen, doch wegen schlechten Wetters konnte man dort nicht landen. Damit platzte unser Traum die heilige Stadt und Wallfahrtsort Lalibela oder Neu-Jerusalem zu besuchen. Nur zu gerne hätte ich die elf Monolithkirchen gesehen, die sich meist unter der Erdoberfläche befinden. Enttäuscht entschieden wir uns stattdessen nach Asmara zu fliegen. Dort erfuhren wir, dass unser Flug vom geplanten Samstag 24 Stunden Verspätung haben würde. So gab es wieder eine Änderung und wir reisten sofort nach Khartum weiter. Wir flogen mit der Sudan Airways, die damals ganz fortschrittlich ihre Passagiere mit der vierstrahligen Havilland „Comet“ transportierte. Es war ein Flugzeugtyp der damals das Jet-Zeitalter in der Verkehrsfliegerei einläutete und die vier Triebwerke noch in die Tragflächen integriert hatte. Wir waren stolz mit einem so modernen Flugzeug reisen zu dürfen und genossen die Aussicht auf die Wüste. Dabei staunten wir über die vielen, künstlich angelegten Baumwollplantagen. Sie waren alle kreisrund angelegt und waren mit dem leuchtend, satten Grün ein frappanter Kontrast zur weissen, sandigen Umgebung. Die Beobachtungen aus dem Flugzeug waren ein äusserst eindrückliches Erlebnis und ich fragte mich, wie es wohl möglich war auf so einem riesigen Gebiet der Wüste Baumwolle anzupflanzen?

In Khartum verliessen wir das Flugzeug durch den Ausgang hinten bei den Triebwerken. Deshalb glaubte ich erst, dass die unglaubliche Hitze von den Triebwerken kam. Doch als ich unten auf dem Boden ankam war es genau so heiss oder vielleicht noch heisser, jedenfalls weit über 40° Celsius. Wir fanden bald ein Zimmer im Hotel Acropole, das von einem Ehepaar aus Griechenland geführt wurde. So wie es damals üblich war, meldeten wir uns auch sofort bei der „Swissair“. Man fühlte sich dort gut aufgehoben und schon fast in der Schweiz. Der Stationsleiter Herr Mottier bestätigte nicht nur unseren Flug nach Kairo, sondern organisierte uns auch gleich die Ausflüge im Sudan. Das Hotel Acropole hatte eine wunderbare Dachterrasse, wo abends eine kühle Brise die Hitze erträglicher machte. So beschlossen wir meinen Geburtstag mit einem Nachtessen auf dieser lauschigen Terrasse zu feiern.


(7) Der orientalische Markt vom Omdurman

Der orientalische Markt vom Omdurman


Für den nächsten Tag hatte Herr Mottier einen Besuch nach Omdurman, der Stadt auf der anderen Seite des Nils und dessen Markt organisiert. Bei dieser Stadt kommen der Weisse und Blaue Nil zusammen. Der blaue Nil ist nach dem Regen eher braun, und so konnte man die Vermischung der beiden Gewässer schon beim Anflug der Stadt aus dem Flugzeug beobachten. Für mich war allerdings der orientalische Markt viel interessanter. Auf diesem Markt kam man in direkten Kontakt mit den Einheimischen und den Nomaden. Ich war fasziniert von der riesigen Auswahl von Früchten, Gemüse und den vielen verschiedenen Gewürzen die man überall riechen konnte. Es gab auch viele verschiedene Mischungen mit Gummiharz. Der beim Verbrennen entstehende Rauch wird bei uns Weihrauch genannt, von den Einheimischen aber zur Abwehr von Fliegen und Mücken verwendet. Natürlich erstand ich mir eine der angebotenen Mischungen. Zurück in der Schweiz legte ich sie bei gewissen Anlässen auf heisse Kohle, wobei der Duft dann die ganz Wohnung erfüllte, sodass man sich in einer Kirche glaubte. Ich war begeistert von diesem Markt und wäre es nicht so heiss gewesen, wäre ich gerne noch eine Weile geblieben. Am Nachmittag begann es plötzlich zu regnen, was in Khartum selten vorkommt. So blieben wir im Hotel und ruhten uns von der Hitze aus.

Am nächsten Morgen als es noch nicht so heiss war, besuchten wir den Zoo und das Sudan National Museum. Am Nachmittag ging ich noch in das interessante, ethnographische Museum. Plötzlich begann es wieder zu regnen und zwar so stark, dass in kürzester Zeit die meisten Strassen unter Wasser standen. Wieder blieb uns nichts anderes übrig als abends im Hotel zu bleiben. Am darauffolgenden Tag flogen wir mit einer vierstrahligen Convair CV 990 Coronado der Swissair nach Kairo.


(8) Mit einer vierstrahligen Convair CV 990 Coronado der Swissair nach Kairo.

Mit einer vierstrahligen Convair CV 990 Coronado der Swissair nach Kairo.


Auch für diesen Aufenthalt hatte uns Swissair ein Hotel besorgt (Hotel Lotus). Neben dem Besuch der Stadt hatten wir vor allem im Sinn, bis nach Luxor und Assuan zu fahren. Darum begannen wir sofort diesen Ausflug zu organisieren. Danach führte uns der Hotel Portier zum Nil und begleitete uns auf dem Spaziergang. Dies hatte einen ganz speziellen Grund, denn es waren ja erst zwei Monate nach dem „Sechstagekrieg“, der vom 5. bis zum 10. Juni zwischen Israel und den arabischen Staaten wie Ägypten, Jordanien und Syrien stattfand. Immer wieder sahen wir die Armee mit zertrümmerten Panzern und anderem beschädigten Kriegsmaterial unterwegs. Die Lage war sichtlich immer noch angespannt und so waren wir als Touristen schon nicht restlos sicher. Aber da wir abenteuerlustig waren, war uns die Gefahr kaum bewusst.

Am nächsten Morgen besuchten wir als erstes den architektonisch schönen Fernsehturm. Von da hatte man eine herrliche Aussicht über die ganze Stadt. Dann fuhren wir mit einem Taxi zur „Zitadelle von Saladin“ (Salah ad-Din). Sie befindet sich auf einer Anhöhe, und ist deshalb eine markante Sehenswürdigkeit. Anschliessend gingen wir zum bekannten Chan el-Chalili Markt, ein äusserst belebter, farbenfroher und eindrücklicher Souk. Da es keine anderen Touristen hatte, stürzten sich alle Händler auf uns und wollten ihre Ware los werden. Wie hypnotisiert standen wir da und liessen uns schliesslich zu Käufen verführen, die wir weder brauchten noch wollten. Wir fühlten uns der Masse total ausgeliefert und obwohl ich einheimische Märkte normalerweise sehr geniesse, flüchteten wir uns ins Freie und kehrten ins Hotel zurück.


(9) Die Nekropole von Gizeh mit der Pyramide und der Sphinx.

Die Nekropole von Gizeh mit der Pyramide und der Sphinx.


Am nächsten Morgen schlossen wir uns einer geführten Tour an. Zuerst fuhren wir zur Nekropole von Gizeh, wo wir die Pyramiden und die Sphinx bestaunten. Dann besuchten wir das Grab der ägyptischen Königin Hetepheres I, der Mutter des Cheops und später die Muhammad-Ali-Moschee. Es war ein sehr interessanter und eindrücklicher Morgen, allerdings klebten bei jeder Gelegenheit die Händler wieder wir Blutegel an den wenigen Touristen. Nach dem Mittagessen machten wir uns bereit auf die Bahnfahrt nach Assuan. Der Nachtzug fuhr genau um 18.00 Uhr weg und war um 10.15 am nächsten Morgen am Ziel. Die Fahrt war sehr angenehm und wir genossen den Ausblick auf das fruchtbare Nil-Delta, wo überall Arbeiter auf dem Feld waren oder die Bewässerungskanäle ausbesserten.

In Assuan war es morgens schon sehr heiss. Der Reiseführer meinte, dass 43° Celsius normal sei im August. Zuerst führte er uns zu einem alten Steinbruch, wo früher die Obelisken hergestellt wurden. Dann brachte er uns zum alten Staudamm, der zwischen 1898 und 1902 errichtet wurde und dann zum neuen Damm, der damals noch im Bau war. Er wurde erst im Jahre 1970 fertig gestellt und das Auffüllen mit Wasser erst 1976 beendet. Eigentlich wäre es damals verboten gewesen die Baustelle zu besuchen und zu fotografieren, doch der Reiseführer ignorierte dies. Dann besuchten wir den „Tempel von Philae“. Die Tempelanlagen standen damals noch auf der heute überfluteten Insel Philae und wurden dann zwischen 1977 bis 1980 mit Hilfe der UNESCO etwa 600 Meter nordwestlich auf dem höheren Gelände von Agilkia neu errichtet. Das eindrückliche Hauptgebäude der Tempelanlagen ist der Göttin Isis gewidmet. Nach dem Mittagessen machten wir eine Felukenfahrt und besuchten den „Aswan Botanical Garden“ auf der Kitchener-Insel. Auf der Insel hatte es verschiedene tropische und subtropische Pflanzen Afrikas und Asiens. Leider war es einfach zu heiss um die Pflanzen und die Insel gebührend zu schätzen. Auf der Fahrt mit einer Feluke kamen wir auch am Grabmal von Aga Khan III vorbei. Um 17.00 Uhr ging es dann mit der Bahn weiter nach Luxor. Dort wurden wir wie VIPs abgeholt und per Kutsche zum Hotel gefahren. Wir schätzten diese Aufmerksamkeit sehr, aber auch hier war es sehr heiss. Zum Glück wurde uns ein klimatisiertes Zimmer im Hotel zugewiesen.

Am nächsten Morgen brachte uns der Reiseführer auf die andere Seite des Nils, wo wir erst den imposanten „Totentempel“ der Königin Hatschepsut besuchten. Dann fuhren wir in das Tal der Könige und in das Tal der Königinnen. Dort stiegen wir hinunter in ein paar Gräber und konnten sehen, wie man früher Könige bestattete. Es war sehr heiss und man wurde sehr durstig. Beim Mittagessen wurde ein Krug mit Eiswürfeln gekühltem Wasser auf den Tisch gestellt. Obwohl ich wusste, dass mein Magen kaltes Getränk nicht duldete, trank ich gierig von dem eiskalten Wasser. Die Reaktion sollte nicht lange auf sich warten lassen. Am Nachmittag brachte uns der Reiseführer zu den „Karnak-Tempeln“, die direkt am östlichen Nilufer liegen. Es ist die grösste Tempelanlage in Ägypten, die uns trotz grosser Hitze ausführlich erklärt wurde. Anschliessend besuchten wir den berühmten Tempel von Luxor, ein Tempel der zu Ehren des Gottes Amun errichtet wurde. Bereits gegen Abend bekam ich Bauchschmerzen, was uns aber nicht abhielt mit dem Schlafwagen zurück nach Kairo zu fahren.

Am folgenden Tag kamen wir gegen 10.00 Uhr in Kairo an, wo wir abgeholt und mit einem Taxi ins Hotel gefahren wurden. Dann besuchten wir sofort das berühmte „Ägyptische Museum“. Leider war es nur bis 12.00 Uhr geöffnet und so versuchten wir wenigstens einen allgemeinen Eindruck von den ausgestellten Objekten zu bekommen. Wegen dem kürzlich beendeten „Sechstagekrieg“ hatte es zum Schutz des Museums noch überall Sandsäcke und viele sensible Objekte waren noch mit einer Holzverschalung umgeben. Am Nachmittag wurden meine Magenbeschwerden so stark, dass ich entschied mich im Hotel auszuruhen. Um Abschied von Ägypten zu nehmen gingen wir aber trotzdem gegen Abend noch ein Mal auf den Fernsehturm. Leider verliess mich die Magenverstimmung für den Rest der Reise nicht mehr und es brauchte sehr lange, bis ich keine Beschwerden mehr hatte. Eiskalte Getränke kann ich seither nicht mehr zu mir nehmen ohne nachher Magenschmerzen zu haben.

Am 19. August wurden wir schon um 05.00 Uhr morgens geweckt und gleichzeitig auch das Frühstück serviert. Dann gingen wir zum Swissair Terminus in der Stadt, wo uns ein Bus abholte und zum Flugplatz brachte. Von Kairo nach Athen flogen wir erneut mit einer Coronado der Swissair. Die ersten zwei Tage verbrachten wir etwas ausserhalb von Athen im Hotel Delfin am Meer und ruhten uns von der Hitze in Ägypten aus. Erst als die Neugier sich wieder meldete, machten wir eine Stadtrundfahrt. Zuerst fuhren wir auf den Philopapposhügel, von wo man eine prächtige Aussicht auf die Stadt und die Akropolis hatte. Dann fuhren wir nach Agora, ein Versammlungsplatz der Antike, der damals für die Heeres-, Gerichts- und Volksversammlungen der freien Bürger genutzt wurde. Dann ging die Tour weiter zum Dionysostheater, das wichtigste Theater im antiken Griechenland. Es gilt als Geburtsstätte des Theaters der griechischen Antike und des Dramas überhaupt. Zum Schluss und als Krönung der Stadtrundfahrt brachte man uns auf die Akropolis. Die Reiseführerin war hervorragend und erklärte uns die besuchten Orte auf einfache Weise, sodass man mit neuem Wissen nach Hause ging. Am letzten Tag des Aufenthaltes waren wir morgens noch in der Stadt und bummelten im grossen Park, besuchten das Olympieion, auch Tempel des Olympischen Zeus genannt und fuhren nach Piräus, dem drittgrössten Mittelmeerhafen, der uns allerdings nicht besonders beeindruckte. Am Nachmittag ging die Reise weiter nach Istanbul, wo wir bei der Ankunft auf dem Flughafen unerwartet die Koffer öffnen mussten. Dann meldeten wir uns sofort bei der Swissair, die uns eine Unterkunft bei einer älteren Dame besorgte.

In Istanbul besuchten wir die bekannten und obligaten Sehenswürdigkeiten. Zuerst die Hagia Sophia oder Sophienkirche, die früher eine byzantinische Kirche war und später eine Moschee wurde. Dann die Blaue Moschee oder auch Sultan-Ahmed-Moschee genannt. Sie gilt als die größte und prunkvollste Moschee von Istanbul und stellt ein wahrhaftiges Hauptwerk der osmanischen Architektur dar. Beide beeindruckten mich sehr und ich staunte vor allem über die wunderbare Architektur. Natürlich besuchten wir auch den Topkapi-Palast, wo man einen Einblick in den Lebensstil der Osmanischen Sultane bekam. Mich aber faszinierte vor allem das Porzellan Museum, die schöne Gartenanlage und der herrliche Blick über den Bosporus. Und schliesslich bummelten wir im riesigen „Kapaliçarsi“, dem grossen gedeckten Basar in der Altstadt. Wie immer auf solchen Märkten war ich so betört, dass ich mir eine Lederjacke kaufte.

Wie berauscht lief ich am nächsten Morgen nochmals zu diesem Markt und erstand für meine Mutter eine Handtasche. Ich musste mich beeilen, denn um 10.00 Uhr fuhr der Bus zum Flugplatz. Diesmal flogen wir mit der damals weltbekannten „Pan American Airways“. Leider wurde diese Fluggesellschaft im Jahre 1991 insolvent und wurde durch „Delta Air Lines“ übernommen. Beim Check-in wurden wir unverhofft mit einem Problem konfrontiert. Der Beamte sagte unser Gepäck sei zu schwer und wir müssten CHF 150. — für Übergewicht bezahlen. Das war für uns zu viel Geld und so wollten wir einige Sachen aus den Koffern ins Handgepäck wechseln. Doch der Beamte winkte ab und sagte, es dürften nur kleine Gegenstände ins Flugzeug genommen werden Zum Glück hatten wir in Rwanda Geduld und das Feilschen gelernt. Wahrscheinlich wirkte unsere Beharrlichkeit, denn nach einer Weile war der Beamte doch bereit unsere Koffer ohne Extrakosten zu transportieren. Bereits um 11.00 Uhr waren wir in Wien, wo wir sofort Hilfe bei der Swissair suchten. Und wieder hatten wir Glück, Swissair konnte uns ein günstiges Zimmer im Hotel Adlerhof vermitteln. Da ich wusste, dass Ina und Brigitte, mit denen ich in Algerien gearbeitet hatte, in Wien wohnten, versuchte ich sofort mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Doch leider konnte ich die Beiden nicht ausfindig machen. Dafür fuhren wir am Abend nach Grinzing um den „Heurigen“ zu probieren. Es war ein gemütlicher Abend und der Wein war wirklich sehr gut. Am nächsten Morgen waren wir noch kurz in der Stadt, und dann brachte uns Swissair zurück in die Schweiz. Nach mehr als 1½ Jahren Auslandaufenthalt freute ich mich auf ein Wiedersehen mit meiner Familie und meinen Freunden.

Die Meisterschule in Bern (09.10.1967 – 15.03.1968)
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14.  Die Meisterschule in Bern (09.10.1967 – 15.03.1968)

Schon während dem Aufenthalt in Rwanda hatte ich mich entschlossen, mich nach meiner Rückkehr in die Schweiz auf die Meisterprüfung (heute Höhere Fachprüfung) als Sanitär Installateur vorzubereiten. Obwohl ich eigentlich keine Lust hatte das Geschäft meines Vaters zu übernehmen, fand ich es wichtig wenigstens dieses Diplom zu besitzen. Es erlaubte mir später Geschäftsführer zu sein, Lehrlinge auszubilden und öffnete gleichzeitig die Türe um mich später weiter zu entwickeln. Dazu musste ich aber unbedingt erst meine Fachkenntnisse auf den letzten Stand bringen. Um dies zu erreichen entschied ich mich die Sanitär-Installateur-Meisterschule in der «Lädere» zu absolvieren. Ich hatte ja bereits im Jahre 1961 ein Semester meiner Sanitär-Zusatz-Lehre dort verbracht. Die «Lädere» oder „Lehrwerkstätten Bern“ begann ihren Betrieb im Jahre 1888 einzig mit einer Schreiner- und eine Schuhmacherklasse. aus diesem Grund nennt man die Schule auch heute noch „Lädere“, und dies obwohl man ihr im Jahre 2014 einen neuen Namen gegeben hatte. Sie heisst seither „Technische Fachschule Bern“ und wurde im Jahre 2016, trotz ständigem Ausbau, wegen chronischem Platzmangel nach Burgdorf verlegt. Weil das Wintersemester erst im Oktober begann, arbeitete ich bis zum Beginn der Schule erneut im Betrieb meines Vaters. Während dieser Zeit suchte ich mir in Bern ein Zimmer und hatte erneut grosses Glück. Bei der Familie Gilgen an der Jurastrasse, also ganz nahe bei der Schule, fand ich eine Unterkunft. Das Wochenende verbrachte ich aber dann meistens zu Hause bei meinen Eltern in Lachen.

Der Bildungsgang der Meisterschule in Bern beinhaltete neben den beruflichen Kenntnissen wie Materialkunde, Fachzeichnen, etc. auch die Leitsätze und Normen für die Erstellung für Kalt- und Warmwasserleitungen. Dazu gehörte auch das Wissen über die Vorschriften bezüglich Hygiene und den Inhaltsstoffen des Trinkwassers. Auch mit den Normen und Vorschriften für das Planen und Installieren von Gasleitungen und der Betriebssicherheit von Verbrennungsapparaten machte man uns vertraut. Natürlich gehörte zum erweiterten Fachwissen auch die fachgerechte Abwasserentsorgung aus Gebäudeinstallationen die der Gewässerschutzgesetzgebung unterliegen (inkl. Waschmittel und Waschmethoden). Dazu kam der Umgang mit Druckluftanlagen, die vertiefte Kenntnisse der physikalischen Eigenschaften und Richtlinien zur sicheren Handhabung voraussetzten. Neben der gewerblichen Berufskunde (Hydraulik, Fachrechnen, etc.) standen auf dem Lehrplan auch administrative Fächer wie das Erstellen von Offerten, die Abwicklung von Projekten, die Führung von Mitarbeitern und der Kundenkontakt. Dazu kam die Vertragslehre, das Schuld-, Betreibungs- und Konkursrecht, die berufliche Ausbildung (Lehrvertrag), das Wertpapierrecht, das Versicherungswesen (SUVA), das Pfand- und Gesellschaftsrecht. Zudem erwartete man von uns Kenntnisse in der Buchführung und der Korrespondenz. Ja, es war sehr, sehr viel Theorie zu verarbeiten in den sechs sehr intensiven Monaten. Trotzdem machte ich abends noch einen Abendkurs um meine Kenntnisse in der Anwendung von „ GF und HB Methoden“ zu erweitern. Da ein Teil der Kursteilnehmer schon seit Jahren im väterlichen Betrieb Erfahrung gesammelt hatten, waren die Meisten mit diesen Themen bereits vertraut. Alle waren deshalb immer an Bestleistungen interessiert und so stimulierten wir uns gegenseitig.

Damals brauchte man für die Abwasseranschlüsse von Sanitär Apparaten noch Bleirohre, ein Material das sehr viel handwerkliches Können verlangte. Der folgende Ausschnitt aus meinen damaligen Notizen illustriert wie man früher einen einfachen Bleibogen oder sogar einen Siphon herstellte (die Bleirohre wurden normalerweise aufgerollt geliefert):

„Nachdem die gewünschte Länge abgeschnitten ist, wird es handwarm erwärmt, gerade ausgerichtet und an beiden Enden den Grat weggeschnitten. Um das Rohr gleichförmig zu kalibrieren, wird das entsprechende Durchtreiberholz etwas gefettet und dann durch das erwärmte Rohr getrieben. Ist das Rohr gerade, kann der Bogenradius und die Bogenlänge angezeichnet werden. Der Strich wird leicht angeritzt, damit man die Bogenlänge während der ganzen Arbeit sieht. Das Minimum für die Bogenlänge ist 1½x Bogendurchmesser. Faustregel: 3 x äusserer Bogendurchmesser = Normalbogen. Der Radius ist immer 2/3 der Bogenlänge. Die Bogenlänge wird immer von Bogenmitte angezeichnet und zwar 2/3 gegen das Rohrende und 1/3 auf die andere Seite.

Nun wärmt man das Rohr bei der angezeichneten Bogenlänge und beidseitig etwas darüber. Vorher muss man sich noch vergewissern, ob das Rohr in der ganzen Rundung gleich dick ist. Ist das Rohr auf einer Seite dünner, wird mit Vorteil diese Seite für den inneren Bogenradius bestimmt und auch hauptsächlich dort gewärmt. Das Rohr wird gewärmt bis es violett-blau ist oder bis das Stearin braun wird. Das Rohr wird nun etwas gebogen (Vorbiegen) und auf eine weiche Unterlage gelegt. Nun wird das Blei das ja innen dicker geworden mit einem flachen Klopfholz nach aussen gearbeitet. Von aussen wird dann das Blei in Richtung Mittelpunkt gestaucht. Dann wird das Rohr wieder erwärmt, dann aussen gekühlt und die eingefetteten Holzkugeln ins Rohr getrieben bis das Rohr wieder gleichmässig rund ist. Dann werden die Kugeln wieder aus dem Bogen entfernt. Dieser Vorgang wiederholt sich etwa zwei bis drei Mal. Wenn der Bogen die gewünschte Form hat und seine Masse stimmen, wird er mit dem Klopfholz ausgeschlichtet. Bei der inneren Biegung, wo sich kleine Rillen gebildet haben, wird mit dem Klopfholz das Blei glatt gerieben. Dann soll das Rohr mit Stearin oder Stahlwolle gereinigt werden.“



(1) Notiz für die Herstellung eines Siphons aus einem Bleirohr.

Notiz für die Herstellung eines Siphons aus einem Bleirohr.


Mit diesem aufwendigen Vorgang hatte man erst den nötigen Bogen angefertigt. Nun musste das Rohr noch mit den entsprechenden Verbindungsstücken zusammengeschweisst werden, ein „Raccord“ eingebrannt oder eingeschwemmt werden und dieser mit einer Plombe versehen werden. Genau so schwierig war die Herstellung einer Abzweigung oder sogar von einem Siphon mit zwei Doppelbogen! Es war eine äusserst mühsame und zeitraubende Arbeit. Aber damals war der Faktor Zeit noch nicht so wichtig, die Hauptsache war tadellose, erstklassige Arbeit. Das gleiche galt für das Biegen von Eisenrohren, die damals auch für Abwasserleitungen gebraucht wurden. Damals verwendete man auch ETERNIT Rohre und dies ohne das Wissen der gesundheitlichen Gefahr der darin enthaltenen Asbest Fasern. Heute bestehen solche Leitungen meistens aus Kunststoff, für deren Montage man all die nötigen Teile nur noch zusammenschrauben, kleben oder schweissen muss, was natürlich ein riesiger Fortschritt bedeutet. Leider ging dabei das ursprüngliche Fachwissen verloren. Trotz der damals anspruchsvollen praktischen Arbeiten und der grossen Menge an gefordertem theoretischem Wissen, bestand ich die Abschlussprüfung des Kurses mit Erfolg. Ich war nun bereit für das nächste Ziel: die Meisterprüfung.

Die Meisterprüfung in Obfelden ZH (18. – 23. März 1968)
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14.1.  Die Meisterschule in Bern (09.10.1967 – 15.03.1968) – Die Meisterprüfung in Obfelden ZH (18. – 23. März 1968).

Die Prüfung fand in der Berufs-Fachschule in Obfelden im Kanton Zürich statt und dauerte eine ganze Woche. Die 14 Teilnehmer, wobei ich einer der Jüngsten war, waren in Einzelzimmern im Hauptgebäude untergebracht. Nur Prüflinge die in der Umgebung wohnten durften abends nach Hause. Das Frühstück, Mittag- und Abendessen wurden im hauseigenen Speisesaal eingenommen. Jeder musste sein eigenes Werkzeug und Prüfungsmaterial nach Vorgabe mitbringen. Wer kein Auto hatte, musste das schwere Material in einer Kiste per Bahn transportieren lassen. Die praktischen Arbeiten bestanden aus Apparatemontage, Gussarbeit, Fertigung von Gas- und Wasserleitungen, Fertigung von schmiedeiserner Ablauf- und Entlüftungsleitung und Bleiarbeit. Bei der mündlichen Prüfung ging es vor allem um Lehrlingshaltung und Ausbildung. Während ich mir für die mündliche Prüfung keine Sorgen machte, hatte ich grossen Respekt vor den praktischen Arbeiten. Für diese Arbeiten brauchte es sehr viel Handfertigkeit und vor allem praktische Erfahrung, beides Kriterien für die ich mich während meines Aufenthaltes in Rwanda leider kaum ertüchtigen konnte. Ich führte die sanitären Arbeiten ja selten persönlich aus, sondern leitete und überwachte sie nur. Somit hatte ich bald ein sehr mulmiges Gefühl und fragte mich ob ich mit meiner Anmeldung zur Meisterprüfung nicht doch zu voreilig gewesen war. Doch es ging alles gut und ich bestand die Prüfung, wobei wie erwartet die praktische Arbeit die Gesamtnote leider negativ beeinflusst hatte. Eigentlich war ich nicht stolz auf dieses Resultat, denn bis anhin war ich immer an bessere Noten gewohnt. Was aber schliesslich zählte war das Diplom der Höheren Fachprüfung als Installateur im Gas- und Wasserfach, das mir am 23. März 1968 ausgestellt wurde. Ich war zufrieden mein Ziel erreicht zu haben.


(1) Mein Meisterdiplom

Mein Meisterdiplom

 

Gebr. X. und F. Bregy, Steg im Wallis (15.04.1968 – 30.06. 1969)
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15.  Gebr. X. und F. Bregy, Steg im Wallis (15.04.1968 – 30.06. 1969)

Während des Meisterkurses lernte ich Fritz Bregy kennen. Zusammen mit seinem Bruder führte er in Steg einen Betrieb für Heizungen und sanitären Installationen. Eines Tages fragte er mich, wo ich nach dem Meisterdiplom arbeiten würde. Da ich mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht hatte, sagte ich ihm, dass ich wohl im Betrieb meines Vaters arbeiten werde. Dann fragte er mich etwas scheu ob ich anstatt bei meinem Vater vielleicht im technischen Büro seines Betriebes arbeiten möchte. Dieses Angebot kam natürlich überraschend, war aber äusserst verlockend und genau die Tätigkeit die mich interessierte. Zuerst glaubte ich für diese Entscheidung etwas Zeit zu brauchen, aber dann kam mir die schwierige Zusammenarbeit mit meinem Vater in den Sinn und so sagte ich ihm spontan zu.

In der neuen Umgebung und den für mich neuen Betrieb hatte ich mich schnell eingelebt und verstand mich sofort mit den drei Arbeitskollegen. Die Arbeit war interessant und abwechslungsreich. Ich machte vor allem Installationspläne für Projekte in Leukerbad. Zu dieser Zeit gab es vor allem Investoren aus Deutschland die Mehrfamilienhäuser erstellen liessen. Die Wohnungen wurden dann entweder verkauft oder an Feriengäste vermietet. Ein Leckerbissen war für mich aber die Planung einer grossen Familienküche mit Vorrats- und Arbeitsraum in einer Attikawohnung in Gampel. Schon früher hatte ich in der Freizeit Küchen geplant und wusste deshalb, dass ein Projekt nur dann gelingt, wenn es in enger Zusammenarbeit mit dem zukünftigen Benutzer geschieht. Es war ein anspruchsvolles Projekt, aber ich durfte am Schluss stolz darauf sein.

Von meinem Arbeitsplatz hatte ich einen freien Blick auf ein grosses Feld das von unzähligen Besitzern bepflanzt wurde. Eines Tages erschien einer dieser Eigentümer um zusammen mit seiner Frau seine Parzelle zu pflügen. Die Frau zog den Pflug und er führte ihn um den Ackerboden zu wenden. Es war ein archaischer Anblick und ich glaubte mich nach Rwanda zurückversetzt. Nur schade, dass ich in diesem Moment keinen Photoapparat bei mir hatte um diese Szene festzuhalten. Ich fragte meine Arbeitskollegen wieso denn jeder sein eigenes, kleines Stück Land selbst bestellt und wieso es nicht möglich sei die Feldarbeit gemeinsam mit einem modernen Pflug schnell und effizient zu erledigen. Sie hoben nur ihre Schultern und meinten, alte Traditionen könne man nicht so schnell ändern. Mit einem Augenzwicker meinten sie dann, die Schweiz mit ihrem föderalen System sei ja auch nicht besser. Jeder Kanton, ja jede Gemeinde, sei genau so souverän wie diese Landbesitzer und das sei halt so in unserem Land! Man müsse ja nicht immer effizient sein um autonom zu bleiben! Neben unserem Büro hatte ein Deutscher auf dem gleichen Stockwerk angefangen künstliche Nieren zu produzieren. Einmal zeigte er uns seinen Prototyp. Er schien mir sehr rudimentär und bestand nur aus einem Plastikrohr mit feinen Röhrchen im Innern. Da in diesem Produktionsraum aber immer Totenstill herrschte und wir keine Arbeiter sahen, schien mir dieses Unternehmen etwas dubios. Zudem fragte ich mich ob ein solches Gerät in der Medizin je Anwendung finden wird.

Meine Vorgesetzten hatten für mich ein kleines Zimmer bei einer Witwe mit zwei Kindern gemietet. Für die Mahlzeiten musste ich mich selbst bemühen. Die Auswahl an Verpflegungsmöglichkeiten war nicht riesig in Steg und so entschied ich mich mittags im Restaurant vom Hotel Du Pont zu essen. Das Morgen- und Nachtessen bestand jeweils aus einem einfachen Picknick im Zimmer. Ich hatte ja einen Tauchsieder mit dem ich Wasser für einen Tee oder eine Fertigsuppe kochen konnte. Übers Wochenende fuhr ich meistens nach Hause und kehrte dann mit frischer Wäsche und Proviant zurück. Unter der Woche war es abends im Dorf sehr ruhig. Ich hatte wohl ein Fahrrad, aber ich fühlte mich trotzdem räumlich eingeschränkt. Es ging nicht lange bis ich mich entschied mein erstes Auto zu kaufen, und zwar einen feuerroten FIAT 500 Coupé. Nun war ich endlich mobil und konnte abends zu einem Bier nach Siders oder Visp fahren. Ich war riesig stolz auf mein Auto und war nun am Wochenende auch viel schneller bei meinen Eltern zu Hause. Im Winter wählte ich die Route durch den Lötschberg-Tunnel und im Sommer über den Grimselpass nach Meiringen, dann über den Brünig nach Luzern und von dort über den Hirzel nach Lachen. Meistens fuhr ich unvernünftig schnell, besonders über die Pässe. Ausser einer Busse für die Missachtung einer durchgezogenen, weissen Bodenmarkierung hatte ich dank meines Schutzengels immer Glück und wurde vor Schlimmerem verschont. Allerdings waren die Strassen damals noch nicht so stark befahren und nachts viel weniger gefährlich, weil man die Scheinwerfer des entgegenkommenden Fahrzeuges schon von weitem sah.

Manchmal blieb ich übers Wochenende in Steg und fuhr mit der Seilbahn nach Jeizinen um dem blauen Chemie-Dunst im Tal zu entfliehen. Am Schlimmsten war es oft am morgen früh, wenn dieser träge im windstillen Tal verharrte. Aber damals wehrte sich niemand gegen diese Luftverschmutzung oder man duldete sie einfach, weil man bei den verantwortlichen Betrieben wie ALUSUISSE, LONZA, etc. arbeitete und die Stelle wegen Beschwerden nicht verlieren wollte. An einem herrlichen Sonntagmorgen entschied ich mich spontan eine grössere Wanderung über dem Dunst zu machen und die „Lötschberg-Südrampe“ zu begehen. Auf der Sonnenseite des Rhonetals führt der Weg entlang der Lötschberg-Bergstrecke der BLS vom kleinen Bahnhof Hohtenn über Ausserberg, Eggerberg, Lalden, Naters nach Brig. Der Weg mit seiner alpinen und südlichen Vegetation, Wasser führenden Suonen, spektakulären Eisenbahnbauten und tollen Aussichten war äusserst eindrücklich. Allerdings hatte ich nicht daran gedacht, dass man auf den ungefähr 26 Kilometern, oder etwa während 8 Stunden immer voll der Sonne ausgesetzt ist. Somit kam ich nicht nur todmüde, sondern auch trotz Sonnenschutz mit einem Sonnenbrand nach Steg zurück. Dennoch war es eine grossartige Wanderung gewesen.

Einer der Bürokollegen war begeisterter Bergsteiger und deshalb an schönen Wochenenden meistens mit Freunden irgendwo im Gebirge unterwegs. Manchmal trafen sie sich auf der Riederalp wo ein Wanderkollege ein Ferienhaus hatte. Da in der Küche des Chalets eine sanitäre Arbeit überfällig war, bat mich mein Kollege um professionelle Hilfe. Natürlich sagte ich gerne zu und verbrachte so ein Arbeits-Wochenende auf der Riederalp. Da der Besitzer Bergführer war, hatte er mir versprochen mich als Entgelt einmal aufs Matterhorn mitzunehmen, was er dann aber durch meine berufliche Veränderung leider nie einlösen konnte. Dafür genoss ich nach getaner Arbeit ein herrliches Fondue und das fröhliche Zusammensein mit seinen Kameraden. Nach ein paar Gläsern „Kaffee-Fertig“ wurde die Stimmung ausgelassen und das Walliser Roggenbrot begann zu wirken; alle begannen würzige Gase zu entwickeln! Plötzlich fragte einer ob wir uns bewusst seien, dass ein Furz nichts anders als Methan Gas sei und wir deshalb mit der Ansammlung dieses Gases im Raum einer Explosionsgefahr ausgesetzt seien. Alle lachten sich halb tot und verlangten Beweise. Etwas angeheitert stieg deshalb einer auf den Tisch, zog die Hosen runter, ging in Kauerstellung und sagte, dass wenn ein Furz Gas sei, man ihn sicher abflammen konnte. Unter Riesengelächter stellte einer der Kollegen eine kleine, brennende Kerze unter seinen Hintern und so warteten alle mit Spannung auf die Gaslieferung. Und tatsächlich gab es plötzlich eine blaue Stichflamme, gefolgt von einem qualvollen Schrei. Der Proband hatte sich seinen Hintern verbrannt! Aber der Beweis für die Behauptung war für alle äusserst überzeugend geliefert worden.

Einem Bürokollegen aus Varen half ich einmal übers Wochenende bei der Arbeit in seinem Rebberg und erfuhr so beim Austragen von Dünger mehr über die Gewohnheiten der Einheimischen. Er sagte mir, dass fast alle neben einer festen, beruflichen Anstellung noch ein eigenes Stück Land bewirtschafteten um sich mit eigenem Gemüse und Getreide zu versorgen. So besass auch die Familie meines Arbeitskollegen ein Stück Boden, auf dem er aber anstatt Gemüse einen Rebberg pflegte. Im Gespräch erwähnte er zufällig Freiwillige aus dem Ausland, die hoch über dem Dorf eine Strasse bauten; ein Projekt das von der Gemeinde nicht finanziert werden konnte. Das machte mich hellhörig und so wollte ich mehr über diese Freiwilligen wissen und wieso deren selbstloser Einsatz im Dorf scheinbar eher belächelt wurde. Bald stellte es sich heraus, dass es sich um ein Projekt des Service Civil International (SCI) handelte, also die gleiche Organisation für die ich selbst als Freiwilliger in Algerien im Einsatz war. Die Tatsache, dass eine internationale Hilfsorganisation im Wallis tätig war machte mich stutzig. Natürlich wusste ich, dass SCI weltweit auch in Berggebieten Projekte unterstützte, aber seit wann war die Schweiz ein Entwicklungsland geworden? Und wenn tatsächlich der SCI eine arme Gegend in der Schweiz unterstützt, warum wurde dann die Arbeit der Freiwilligen im Dorf weder verstanden noch geschätzt? Dann aber erinnerte ich mich an meine eigenen Einsätze in Algerien und Rwanda. Auch da waren wir, so wie diese Freiwilligen, nur die Ausführenden eines Projektes und hatten keine Ahnung was mit den Behörden ursprünglich abgemacht wurde und ob es bei der Planung des Vorhabens eine Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung gegeben hatte. So beschränkte sich damals auch unser Kontakt mit Einheimischen fast ausschliesslich auf die Arbeiter unserer Baustelle. Nach getaner Arbeit und an Wochenenden blieben auch wir lieber unter uns. Genau so schien mir die Situation auch in Varen zu sein. Obwohl die Freiwilligen manchmal abends ins Dorf hinunter kamen um dort ein Bier zu trinken, war die Verständigung mit diesen Jungen wegen den sprachlichen Hindernissen leider sehr beschränkt. Dabei wäre gerade dies für ein gegenseitiges Kennenlernen und Verständnis von grossem Wert gewesen. Die Situation in Varen machte mich traurig, denn ich bedauerte den Mangel an Kommunikation zwischen den beteiligten Parteien und dass dies beim SCI sichtlich auch in der Schweiz vorkam.

Im Winter fuhr ich oft nach Zermatt um Ski zu fahren. Mein Lieblingsgebiet war die Gegend vom Trockenen Steg bis zum Theodulpass auf 3295 m.ü.M. Das Bergrestaurant wurde von Luisa, einer rassigen Italienerin geführt. Ich war betört von ihrer Ausstrahlung und besuchte sie oft, einmal sogar bei einem Schneesturm. Der Skiliftbetrieb zum Theodulpass war deshalb eingestellt, aber dies hielt mich nicht ab sie trotzdem zu besuchen. Ich wollte sie mit etwas Schweizer Schokolade überraschen, die ich vorsichtig und geschützt auf meiner Brust unter der Skijacke hinauftrug. Normalerweise war im Restaurant immer Vollbetrieb, aber bei diesen schlechten Wetter wagten sich nur wenig Gäste auf die Piste und so hatte sie Zeit mit mir zu plaudern und einen Caffè alla Valdostanazu trinken. Dieser Kaffee, der mit Grappa und Orangen- sowie Zitronenschalen zubereitet wird, trinkt man aus einer „Grolla“, einem hölzernen Gefäss mit Deckel, das typisch für das Aostatal ist. Es hat zwei bis zehn Tüllen (Ausgüsse) und wird nach jedem Schluck dem Nachbar in der Runde weitergegeben. Aus diesem Grund wird die „Grolla“ auch Freundschaftsbecher genannt. Bei einem solchen Freundschaftsritual wird der Rand des Bechers mit Zucker bestreut, mit Grappa begossen und dann angezündet. Das dadurch entstehende Karamell tropft in die „Grolla“ und löst sich im Getränk auf. Danach wird der Deckel aufgesetzt und das Feuer erlischt. Es ist ein herrliches Getränk, das nachher eine rassige Abfahrt ins Tal garantiert!


(1) Meine „Grolla“, ein hölzerner Weinkelch mit Deckel, aus dem Aostatal in Italien.

Meine „Grolla“, ein hölzerner Weinkelch mit Deckel, aus dem Aostatal in Italien.


Die Zeit in Steg war sehr bereichernd und die Arbeit mehr als befriedigend gewesen. Immer wieder versuchte ich Neues zu entdecken und so war es mir nie langweilig. Während dieser Zeit absolvierte ich auch zwei obligatorische Wiederholungskurse (WK) mit der Funker Abteilung 46, den ersten im Jahre 1968 auf dem Jaunpass und den zweiten dann im Jahre 1969 bei Steffisburg. Die drei Wochen waren jeweils sehr angenehm und stimulierend gewesen. Die Vorgesetzten gaben sehr viel Wert auf Selbstverantwortung und stimulierten dies ganz bewusst. So empfand ich die Wiederholungskurse nie als verlorene Zeit. Trotz dieser Abwechslung entwickelte sich in mir ganz langsam wieder ein Fernweh. Vielleicht war es das enge Tal, das mich zu einer Veränderung drängte. Die steilen Abhänge auf beiden Seiten von Steg erinnerten mich zunehmend an Scheuklappen und ich begann mir zu überlegen ob dies schliesslich einen Einfluss auf die Denkart der betroffenen Einwohner haben könnte. So entschloss ich eines Tages mich einer solchen Gefahr zu entziehen und mich bei drei Schweizer Unternehmen (Sulzer, Eternit und Ciba) für eine Anstellung im Ausland zu bewerben. Zu meiner grossen Überraschung erhielt ich von allen drei Firmen eine positive Antwort. Bei SULZER AG wäre eine Stelle im Pumpenbau in Argentinien offen gewesen, bei der ETERNIT AG eine Aktivität in einer Asbestmine in Südafrika und bei der damaligen CIBA AG schien es sich um einen Posten in Tunesien zu handeln, jedenfalls hatte ich dies am Telefon so verstanden. Meinen beiden Chefs in Steg hatte ich bis anhin nichts von meinen Plänen verraten, denn ich wollte mir zuerst sorgfältig überlegen welche der drei Offerten für mich wohl die Beste sei. Doch bevor ich mich entschieden konnte, kam plötzlich ein Anruf vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Bern. Man teilte mir mit, dass der Bauführer des „Collège Officiel de Kigali“ unverhofft in die Schweiz zurückkehrt sei und daher dringend ein temporärer Ersatz gesucht wird. Da ich ja bereits 1 ½Jahre auf dieser Baustelle tätig war, fragte man mich ob ich wohl diesen Posten bis zur Ankunft eines neuen Bauführers übernehmen könnte. Das brachte meine ganzen Zukunftspläne durcheinander und ich brauchte einige Tage um Ordnung und Ruhe in meinen Kopf zu bringen. Ich war mir bewusst, dass ich die Wahl zwischen drei gut bezahlten Anstellungen und einer Anstellung als Freiwilliger von lediglich sechs Monaten hatte. Schliesslich aber folgte ich meiner inneren Stimme und sagte dem EDA in Bern zu. Diese neue Situation musste ich nun aber mit meinen zwei Vorgesetzten besprechen. Natürlich waren sie alles andere als begeistert von meinem abrupten Verlassen des Betriebes, verstanden aber meine Entscheidung und erlaubten mir sogar ohne obligate Kündigungsfrist und in freundschaftlichem Übereinkommen die Firma zu verlassen.

Die Sache kam so plötzlich, dass ich gar keine Zeit gehabt hatte um die drei Firmen von meiner neuen Situation auf dem Laufenden zu halten und das Bewerbungsgespräch bei Ciba zu annullieren. Zudem sollte ich mich vor der Abreise noch im Tropeninstitut Basel auf Tropentauglichkeit untersuchen lassen. Dies brachte mich auf den Gedanken die beiden Termine am gleichen Tag zu erledigen und somit das Bewerbungsgespräch zu bestätigen. Einer der Gründe für diesen Entschluss war die Vergütung der Reisespesen nach Basel durch Ciba, denn bei meiner damaligen finanziellen Situation musste ich einfach sparen wo ich konnte. Der Morgen war für den Untersuch im Tropeninstitut reserviert und der Nachmittag für das Gespräch bei der Ciba. Ich war mir bewusst, dass ich mit der neuen Situation gar keinen Grund mehr hatte mich für einen Posten bei Ciba zu bewerben und mich dies in eine peinliche Lage bringen könnte. Doch ich sorgte mich vergebens, denn es kam schliesslich ganz anders. Nachdem mich ein Verantwortlicher der Ingenieurabteilung über meine beruflichen Referenzen und Erfahrungen ausgefragt hatte, informierte er mich über die Stelle für die ein Mitarbeiter gesucht war: ein Projekt- und Betriebstechniker für einen Betrieb in Jakarta! Erst jetzt wurde mir klar, dass es sich nicht um ein Projekt in Tunesien, sondern in Indonesien handelte. Die Ciba plante dort eine neue Pharma-Produktionsanlage und ich sollte die Überwachung der Baustelle übernehmen. Das waren zwei happige Neuigkeiten. Erstens hatte ich keine Ahnung wo sich Indonesien befand und zweitens schien mir die Bauüberwachung eines solch grossen Projektes doch eine Nummer zu gross. Nun kam der Moment wo ich mit dem Herrn aufrichtig sein musste und so erklärte ich ihm ganz ehrlich meine Lage. Doch dies schien ihn nicht aus der Ruhe zu bringen, denn er meinte, dass der Eintritt in die Firma ohne weiteres auch erst in sechs Monate geschehen konnte. Worauf ich ihm demütig fragte ob er nicht bemerkt hätte, dass in meinem CV weder eine Universität noch eine Technische Hochschule erwähnt sei und ich somit seinen Anforderungen wohl nicht gewachsen sei. Doch auch diesen Einwand liess er nicht gelten und sagte, dass er in der Firma eine riesige Auswahl von Ingenieuren zur Verfügung hätte, aber keinen mit Erfahrung in einem Entwicklungsland oder wenigstens gewohnt sei zu improvisieren. Zudem sei vor dem Einsatz in Indonesien eine gründliche Ausbildung am Hauptsitz in Basel vorgesehen. Das gab mir schliesslich den Mut für eine Zusage und so hatte ich bereits eine sichere Anstellung nach meinem kommenden Einsatz in Rwanda in der Tasche!

Collège officiel de Kigali, Rwanda (zweiter Aufenthalt) (01.07. – 31.12.1969)
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16.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (zweiter Aufenthalt) (01.07. – 31.12.1969)

Die Zeit bis zu meiner Abreise war sehr kurz und äusserst hektisch. Gleichzeitig freute ich mich aber riesig nach Kigali zurückzukehren und als das Flugzeug vor der Landung über die Stadt flog, wurde es mir wirklich warm ums Herz. Ich hatte das Gefühl „nach Hause“ zu kommen. Obwohl ich am Flughafen vom neuen Bauteam freundlich empfangen wurde, merkte ich aber sofort, dass sich irgendetwas verändert hatte. Die Stimmung war gedrückt und mir gegenüber eher misstrauisch. Dafür war das Wiedersehen mit den Bauarbeitern sehr rührend und herzlich. Die Belegschaft hatte sich nur gering verändert und so hatte ich diesbezüglich keine Probleme mich wieder einzuleben. Auf der Baustelle hatte sich in den zwei Jahren Abwesenheit sehr viel verändert, neue Häuser waren entstanden und alles was ich damals gepflanzt hatte war unwahrscheinlich gewachsen.


(1) Der Bau der Schule hat riesige Fortschritte gemacht.

Der Bau der Schule hat riesige Fortschritte gemacht.


Inzwischen waren zusätzlich über tausend kleine Bäume gepflanzt worden und das Grundstück nun mit Stacheldraht eingezäunt. Trotz diesen Anstrengungen schien mir das ganze Projekt ungepflegt und die Umgebung vernachlässigt. Bald erfuhr ich, dass man seit einiger Zeit regelmässig unter Diebstählen und Einbrüchen litt. Zugleich waren die Ansprüche der jetzigen Hügelbewohner enorm gewachsen und niemand schien mehr bereit zu sein einfach zu leben. Die ursprüngliche, kameradschaftliche Harmonie im Bauteam war verschwunden und ich spürte Spannungen und Eifersüchte. Zudem schien es mir, dass sich die Freiwilligen nicht mehr mit dem Projekt identifizierten und dass die ursprüngliche Begeisterung für die Arbeit abhandengekommen war. Bei jedem Versuch etwas zu ändern oder zu verbessern spürte ich sofort Widerstand oder sogar Aggressivität. An diesen Herausforderungen schien der unerwartet in die Schweiz zurückgekehrte Bauführer gescheitert zu sein. Diese neue Situation bereitete mir Sorgen und ich konnte nur hoffen, dass ich es schaffe würde wieder Ordnung und Ruhe auf den Hügel zu bringen. Nur mit viel Geduld und Verständnis gelang es langsam wieder alle an den gleichen Tisch zu bringen und einen erträglichen Teamgeist aufzubauen. Eigentlich wäre an meiner Stelle ein Psychologe hilfreicher gewesen, denn ich brauchte zu viel Zeit um mich mit zwischenmenschlichen Problemen abzugeben. Zum Glück gingen wenigsten die Bauarbeiten sehr gut voran und so brauchte ich mir wenigstens deswegen keine zu grossen Sorgen zu machen.

Eigentlich erwartete ich wieder im „Maison Suisse“ zu wohnen, doch die Direktion hatte anders entschieden. Ich wurde in einem der Häuser, die bereits von Lehrern bewohnt waren, untergebracht. Der Grund war mir klar, die Lehrer waren in den Ferien und so musste jemand in ihrer Abwesenheit die Häuser „hüten“. Den Komfort in diesen Häusern konnte man kaum mit dem im „Maison Suisse“ vergleichen und nachts brauchte ich keine Petrollampe mehr. Alle Häuser waren inzwischen mit elektrischem Strom ausgerüstet. Während ich diesen Komfort sehr schätzte, ja sogar genoss, hatte ich gegenüber meinen Kollegen im „Maison Suisse“ bald ein schlechtes Gewissen. Doch auch der Komfort hatte eine negative Seite. Meine Kollegen wohnten ja mit den einheimischen Angestellten im gleichen Gebäude und Einbrüche deshalb unwahrscheinlich. Ich aber wohnte ganz alleine und musste ständig mit Einbrüchen rechnen. Ein guter, tiefer Schlaf war unmöglich geworden und so hatte ich neben meinem Bett Pfeil und Bogen bereit um mich bei einem Einbruch zu wehren. Ausserdem hatte ich einen hölzernen Knüppel neben mir, so wie ihn die Einwohner auch zur Verteidigung brauchen. Auf dem Bau wurde vor allem Zement gestohlen. Die Ware wurde nachts auf einem Schleichweg vom Lager durch den Wald direkt hinunter auf die Hauptstrasse transportiert. Also versuchte ich erst diesen Weg zu blockieren und dann unsere eigenen Nachtwächter besser zu überwachen. Ich konnte mir vorstellen, dass sie gegen Entgelt die Diebe einfach ignorierten oder von ihnen sogar dazu gezwungen wurden.

Zusammen mit den alltäglichen Problemen auf dem Bau wurde die nervliche Belastung schliesslich so gross, dass ich bereit gewesen wäre einen Einbrecher bei Gegenwehr umzubringen. Um dies zu vermeiden kam ich auf die Idee alle Türfallen unter Strom zu setzen. Dann rief ich alle Arbeiter zusammen und erklärte ihnen die drastische Massnahme. Dies sollte nicht nur Einbrüche, sondern auch unnütze Schäden an Gebäuden vermeiden; Fensterscheiben wurden ja zum Beispiel für teures Geld aus Uganda importiert. Zudem bat ich sie diese Nachricht in der ganzen Umgebung zu verbreiten und die Bevölkerung vor Stromschlägen zu warnen. Erst als nach einer gewissen Zeit das Übel etwas nachgelassen hatte erfuhr ich von den Arbeitern, dass das Baumaterial meist auf Anordnung hoher Beamter der Regierung entwendet wurde, also von professionellen, bezahlten Dieben. Die Beamten liessen sich damit ihre eigenen Häuser bauen und vermieteten sie nachher gegen horrende Mieten an Diplomaten oder vermögende Ausländer. Mit der gleichen Plage war ein Kollege aus der Schweiz auf einer anderen Baustelle konfrontiert. Da verschwanden sogar ganze sanitäre Einrichtungen aus dem Warenlager. Als er dem Problem auf den Grund ging und Klage einreichen wollte, wurde ihm mit einem sofortigen Landesverweis gedroht! So blieb auch ihm nur die Wahl zu schweigen oder das Land zu verlassen.

Kaum hatte sich die Lage ein bisschen beruhigt, da kam schon grosser Besuch auf den Hügel. Herr Bundesrat Willy Spühler war zu einem offiziellen Staatsbesuch in Rwanda und da wollte er natürlich auch unser Projekt sehen. Ich glaube er war nicht nur beeindruckt, sondern auch überzeugt, dass die finanzielle Beteiligung der Schweiz am Projekt keine Verschwendung war. Und da er am 1. August noch in Rwanda weilte, durften wir den Ehrengast ein zweites Mal empfangen, nämlich zur 1. Augustfeier der Schweizer Kolonie, die dieses Jahr auf dem Hügel stattfand. Zu dieser Feier erwarteten wir über hundert Gäste und hatten zu diesem Anlass den grossen Speisesaal der Studenten wunderbar dekoriert. Meine Aufgabe war der kulinarische Teil des Abends; das hiess das Menu zu erstellen und dann auch zubereiten. Es war das erste Mal, dass ich für so viele Leute kochte und so war für mich die Arbeit in der grossen Küche mit den riesigen Kochkesseln ein gewagtes Abenteuer. Für dieses Bankett liess ich drei Schafe schlachten, denn das Menu bestand aus Schafsragout, Reis aus Pakistan, „Chabissalat“ und zum Dessert einem feinen Fruchtsalat.


(2) Zubereitung des Festessens in der Küche der Schule.

Zubereitung des Festessens in der Küche der Schule.


Der Aperitif fand auf dem Vorplatz statt, da wo dann auch die Festreden gehalten wurden. Auf diesem Platz hatten wir am Vortag Holz für das obligate 1. August-Feuer zusammengetragen. Die Stimmung war von Anfang an gemütlich und sehr gelöst. Dazu hatte vor allem die unkomplizierte Frau Spühler beigetragen, mit der wir uns alle super verstanden. Wir mussten nachher noch lange über ihre lustigen Sprüche lachen. Nach dem offiziellen Teil und dem Augustfeuer wurde das Abendessen im Speisesaal serviert, animiert durch verschiedene Darbietungen. Bei Kaffee und Kuchen wurde schliesslich fröhlich gesungen und getanzt. Es war ein sehr gelungener Abend gewesen und wir wurden für unsere Mühe von den Gästen sehr gelobt. Während die ältere Generation den Hügel um Mitternacht verliess, tanzten wir Jüngeren noch bis vier Uhr morgens weiter.


(3) Hoher Gast aus der Schweiz (Bundesrat Willy Spühler rechts) mit unserem Volontär-Götti Herr Max Joss, links.

Hoher Gast aus der Schweiz (Bundesrat Willy Spühler rechts) mit unserem Volontär-Götti Herr Max Joss, links.


An diesem Abend gab es einen Zwischenfall, den ich mit der fröhlichen Gesellschaft nicht teilen wollte. Ich war in der Küche als mich jemand dringend bat auf den Parkplatz zu kommen. Dort erfuhr ich, dass aus einem Auto eine Handtasche gestohlen wurde. Der Täter war einer unserer Nachtwächter. Er konnte sofort gefasst werden und die Handtasche wieder der Besitzerin übergeben. Da ich keine Zeit hatte um mich um die Details zu kümmern, sperrte ich den Nachtwächter vorerst in unsere Vorratskammer. Diese hatte als Einzige im ganzen Projekt eine Metalltüre und so bestand für den Täter nur eine geringe Möglichkeit zu entfliehen oder dass ihn jemand aus dem Raum befreite. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Dieb in die Stadt zur Polizei und machte offiziell Anzeige gegen ihn. Der Polizist befragte mich über den Vorfall und wollte schliesslich wissen wo die Handtasche nun sei? Als er erfuhr, dass sie der Besitzerin zurückgegeben wurde meinte er forsch, dass die Sache damit ja erledigt sei! Das wollte ich natürlich nicht akzeptieren und verlangte, dass der Dieb für seine Tat bestraft, ja sogar inhaftiert werde. Da lachte der Polizist und meinte, dass wenn man in Rwanda jeden Diebstahl mit Gefängnis bestrafen würde, man die ganze Bevölkerung einsperren müsste und dies sei eben nicht möglich. Damit war die Unterredung beendet.

Zurück auf der Baustelle musste ich feststellen, dass der Nachtwächter bereits wieder auf dem Bau war. Da ich ihn fristlos entlassen hatte, forderte er seinen Lohn und hetzte die anderen Arbeiter gegen mich auf. Ich besprach die brenzlige Angelegenheit mit Félicien, dem Vorarbeiter. Traumatisch belastet durch die vielen Diebstähle und Einbrüche schlug ich ihm vor, den Dieb an einen Pfosten zu binden. Oben am Pfosten wollte ich ein Brett mit der Aufschrift „Dies ist ein Dieb“ montieren. Doch in Afrika erinnert das Fesseln an die Kolonialzeit und dies schien Félicien äusserst unratsam. Nach langer Diskussion war er schliesslich einverstanden in der Mitte des Bauplatzes einen Käfig zu bauen und ihn darin zur Schau zu stellen, natürlich mit der Aufschrift „Dies ist ein Dieb“! Logischerweise wehrte sich der Dieb gegen das Einsperren, aber schliesslich war er hinter Gitter. Kurz danach war er bereits aus dem Käfig ausgebrochen und kam zu mir um neue Forderungen zu stellen. Ich ging nicht auf die Forderungen ein und liess über dem Käfig eine Betonplatte installieren, die ein Ausreissen unmöglich machen sollte. Aber wieder hatte ich mich geirrt, Komplizen hatten mit einer Eisenschere das Gitter durchschnitten und ihn wieder rausgelassen. Diesmal verliess er aber den Hügel.

Kurze Zeit danach wurde ich gebeten mich bei Justizministerium zu melden. Ich wusste, dass ich mit meinem riskanten Vorgehen die Grenzen überschritten hatte und mit einem sofortigen Landesverweis rechnen musste. So sass ich dem hohen Beamten gegenüber und hörte mir erst einmal die Anklage an. Neben der unangemessenen Behandlung des Diebes, erwähnte er auch die Türfallen die an das Stromnetz angeschlossen waren. Ich wusste, dass ich mich nun äusserst überzeugend verteidigen musste um nicht nach Hause geschickt zu werden. Noch immer traumatisiert erzählte ich ihm von den vielen Diebstählen und dass wir auf dem Hügel dieser Plage hilflos ausgeliefert seien. Ich erwähnte, dass unser Projekt auch vom Staat getragen werde, wir aber punkto Sicherheit von der Polizei wie auch vom Militär total ignoriert würden. Zudem erklärte ich ihm, dass wir als Freiwillige für sein Land arbeiteten und der Staat daher eigentlich verpflichtet sei nicht nur der Bevölkerung, sondern auch uns wenigstens einen minimalen Schutz zu garantieren. So könnten auch wir wieder ruhig schlafen und den Bau ohne Zwischenfälle fertig stellen. Irgendwie schien mir der Beamte überrascht von der Situation auf dem Hügel zu hören und entschuldigte sich schliesslich für die Unannehmlichkeiten. Den Dieb, der hinter ihm auf einer Bank sass und sich ständig in unser Gespräch mischte, schrie er plötzlich an und jagte ihn weg. Damit wusste nicht nur dieser Nachwächter, sondern nachher auch alle Bauarbeiter und Nachbarn, dass die Regierung hinter mir stand. Es gab nachher tatsächlich keine Einbrüche mehr und ich konnte wieder ruhig schlafen. Zudem hatte ich Glück gehabt wegen diesem Vorfall nicht fristlos das Land verlassen zu müssen, so wie es einem Belgier ergangen war. Er besass damals das beste Restaurant in Kigali und war deshalb vor allem unter Diplomaten und Ausländern beliebt. Als aber Gäste auftauchten die glaubten sich wie in einer normalen Beiz aufzuführen, entschied er eine Krawattenpflicht einzuführen. Diese Bedingung war für uns Freiwilligen auch nicht die beste Neuigkeit, doch wir fügten uns um des guten Essens willen. Als dann aber an einem Abend hohe Funktionäre des Staates ohne Krawatte erschienen und nicht eingelassen wurden, bezeichnete man den Besitzer des Restaurants als Rassist und gab ihm vierundzwanzig Stunden Zeit um das Land zu verlassen und dies ohne Gerichtsverfahren. Wir Freiwilligen waren schockiert und gleichzeitig gewarnt, denn ein falsches Wort oder eine unabsichtliche Reaktion hätte für uns dasselbe bedeutet und wir wären als Rassisten ausgewiesen worden. Aber da Rassismus in Rwanda und Burundi zur Tagesordnung gehörte und weiterhin gehört, wäre dies für uns schliesslich keine Schande gewesen.

Im Oktober war Schulanfang und die Lehrer kamen aus den Ferien zurück. Mit etwas Wehmut musste ich deshalb das Professorenhaus, das ich nun zwei Monate „gehütet“ hatte, wieder verlassen. Da zur gleichen Zeit einige Volontäre das Projekt verlassen hatten, gab es freie Zimmer im „Maison Suisse“ und so zügelte ich mit meinen wenigen Habseligkeiten in das altbekannte Haus. Nach dem Einsiedlerleben in dem komfortablen Haus war es schon sehr gewöhnungsbedürftig nicht nur die Unterkunft, sondern auch die Toilette und die Dusche wieder mit den anderen Volontären und einheimischen Angestellten teilen zu müssen. Das Bauteam war zu dieser Zeit auf drei Personen geschrumpft. Die Belastung der Übriggebliebenen wurde daher extrem gross und alle schienen müde und ausgebrannt. Ich hatte alle Hände voll zu tun auf der Baustelle und kam besonders mit den Büroarbeiten in grossen Verzug. Zudem war der Posten eines Elektrikers immer noch unbesetzt. Um den Bezug wichtiger Gebäude nicht weiter zu verzögern, bat ich bei den Verantwortlichen in Bern dringend um einen Ersatz.

Und tatsächlich war unter den neuen Fachkräften, die ich einige Wochen später begrüssen durfte, auch ein Elektriker. Mit acht Freiwilligen war das Team nun endlich wieder komplett, voll Energie und sogar harmonisch. Nun konnte ich endlich meine Arbeiten delegieren und hatte wieder Zeit für meine eigentliche Aufgabe, die Bauführung. Auf dem Hügel hatten wir nämlich unverhofft Probleme mit dem Abwassersystem. Bei allen Gebäuden gelangt das Abwasser zuerst in eine Klärgrube und von dort in eine Sickergrube. Doch da der Untergrund ein fast undurchlässiges Gestein ist, versickerte das Wasser nur sehr langsam. Bei den Privathäusern funktionierte dieses System problemlos, aber bei den „Dortoirs“ wo viele Studenten untergebracht waren und viel geduscht wurde, wurde sie Situation kritisch. Dank technischen und gesetzlichen Unterlagen über den Gewässerschutz in der Schweiz fanden wir eine Lösung. Wir leiteten das geklärte Abwasser vom Überlauf der Sickergruben in Sickerrohre, die in 50 cm tiefe Gräben verlegt wurden. In dieser Tiefe versickerte das Wasser viel schneller und bewässerte gleichzeitig einen Teil der über tausend Jungbäume.

Eine zusätzliche Aufgabe des Bauteams war neuerdings auch die Beschaffung des Mobiliars der Schule. So fuhr ich zum Beispiel nach Bujumbura um Geschirr einzukaufen. Leider musste ich feststellen, dass die Stadt ihren ehemaligen Glanz verloren hatte. Viele Betriebe waren geschlossen und die Auswahl in den übriggebliebenen Geschäften nun sehr einschränkt. Ich musste feststellen, dass es sich nicht mehr lohnte nach Burundi zu fahren um Einkäufe zu machen. Gleichzeitig bemerkte ich, dass im schnell wachsenden Kigali immer mehr neue Geschäfte eröffnet wurden und so Einkaufsreisen nicht nur nach Bujumbura, sondern auch nach Kampala überflüssig wurden.

Schon anfangs November konnte ich fast das ganze Projekt meinem Nachfolger übergeben. Wahrscheinlich hätte ich die alleinige Last nicht mehr lange ausgehalten. An Wochenenden war ich meist so müde, dass ich nur noch das Bedürfnis hatte mich hinzulegen und auszuruhen. Die grosse Ausnahme war manchmal eine Fahrt zur „Deutschen Welle“. Die Sendeanlage befand sich auf einem Hügel wo auch die Angestellten wohnten. Da sie ein privates Schwimmbad hatten, durften wir manchmal dort einen Sonntagnachmittag verbringen. Nachdem nun die riesige Belastung auf dem Bau verschwunden war, hatte ich auch endlich Zeit für Details die ich etwas vernachlässigt hatte, zum Beispiel die Umgebungsarbeiten. Mit der Vision eines begrünten Hügels wo die Schüler im Schatten von Bäumen studieren können, liess ich nun jede freie Fläche bepflanzen. Und um die Erosion einzudämmen wurden unzählige Mauren erstellt, sodass Terrassen entstanden die das Regenwasser zurückhielten. Die Arbeit mit der Natur tat mir gut und gab mir Befriedigung. Dabei erwachte auch mein Entdeckungsdrang wieder und so fuhr ich mit dem Bau Team während eines Wochenendes nach Ruhengeri um den 3’645 Meter hohen Vulkan „Sabinyo“ zu besteigen. Der erloschene Vulkan liegt im Dreiländereck zwischen Rwanda, Uganda und der Demokratischen Republik Kongo. In dieser Gegend lebten Berggorillas, doch wir begegneten ihnen auf unserer Besteigung leider nicht. Aber die Erfahrung einer Expedition durch den Urwald und die Besteigung eines Vulkans waren erneut faszinierend und hatten sicher auch meine neuen Team-Kollegen beeindruckt.

Eines Tages bekam ich Post von Rolf Lutter, der mit mir in Algerien für den SCI gearbeitet hatte. Er schrieb mir, dass er nun in Nairobi für eine Hilfsorganisation arbeite und für den Bau einer Schule verantwortlich sei. Er hätte sehr gerne unser Projekt gesehen und von meinen Erkenntnissen etwas erfahren. Natürlich sagte ich ihm zu und kurz danach erschien er bereits auf dem Hügel. Er war beeindruckt von unserm Projekt und musste gestehen, dass sein Projekt kaum mit unserer Überbauung des Hügels vergleichbar war. Vor seiner Rückreise schlug er mir vor auf meiner Heimreise in Nairobi einen Stop zu einzuplanen um dann gleichzeitig auch sein Projekt kennen zu lernen. Zudem erwähnte er eine Expedition die er mit Arbeitskollegen in den Norden von Kenia machen wollte. Da sie über Weihnachten und Neujahr geplant war, fragte er mich ob ich Lust hätte mitzufahren. Natürlich hatte ich Lust, war mir aber nicht sicher ob ich nach all dem Stress noch fit genug dazu war.

Gegen Ende meines Vertrags konnte ich mit Befriedigung feststellten, dass sich mein Nachfolger und das neue Bauteam überraschend schnell eingelebt hatten und auch professionell sehr kompetent waren. Das erlaubte mir das Projekt am 23. Dezember ohne grosse Bedenken zu verlassen. Allerdings war der Abschied diesmal nicht so emotional wie nach meinem ersten Einsatz im Jahre 1967. Ich war von den vergangenen sechs anstrengenden Monaten zu geprägt um in fröhlicher Abschiedstimmung zu sein. Müde und erschöpft fiel es mir deshalb nicht schwer den Hügel zu verlassen. Mit Genugtuung durfte ich aber Jahre später feststellen, dass im Gegensatz zu anderen Entwicklungsprojekten, das «Collège officiel de Kigali« ein nachhaltiges Projekt war. Die Schule hatte all die schwierigen Jahre danach überstanden, sich weiterentwickelt und ist heute Teil der „University of Rwanda College of Business and Economics“.


(4) Das «Collège officiel de Kigali«, das später Teil der „University of Rwanda College of Business and Economics“ wurde.
Das «Collège officiel de Kigali«, das später Teil der „University of Rwanda College of Business and Economics“ wurde.

 

 

Expedition in den Samburu (23.12.1969 -01.01.1970)
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16.1.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (zweiter Aufenthalt) (01.07. – 31.12.1969) – Expedition in den Samburu (23.12.1969 -01.01.1970) .

In Nairobi hatte mich Rolf bei Freunden untergebracht die in einem fabelhaften Haus wohnten. Ich fühlte mich da so wohl, dass ich am liebsten einige Tage dortgeblieben wäre. Aber ich hatte mich ja entschieden an der Expedition in den Norden von Kenia teilzunehmen und so blieb mir keine Zeit das Haus in Ruhe zu geniessen. Zuerst machte mich Rolf mit den fünf Reisegefährten bekannt. Alle arbeiteten in Kenia für Hilfsorganisationen hatten daher die nötige Erfahrung mit Reisen im Innern des Landes. Im Vergleich zu meiner Reise mit Ruedi in den Karamoja im Jahre 1967, wo wir Hals über Kopf einfach in den Norden von Uganda aufbrachen, wurde diese „Expedition“ sehr sorgfältig vorbereitet. Man war sich bewusst, dass nicht nur die Strassenverhältnisse unberechenbar waren, sondern es damals auch kaum Unterkünfte oder Missionsstationen gab wo man übernachten konnte. Aus diesem Grund und um bei einer Panne nicht verloren zu sein, wurde deshalb entschieden mit zwei Fahrzeugen zu reisen. So konnten wir auch genug Wasser, Benzin, Nahrungsmittel und anderes Material mitnehmen. Wir reisten auch nicht mit einem Opel Kadett wie damals im Karamoja, sondern mit zwei Land Rover die Pneus in tadellosem Zustand hatte

Von Nairobi auf 1'795 Meter ü.M. fuhren wir zuerst in Richtung Uganda nach Nakuru. Obwohl es schon damals eine moderne Stadt war, sah man in den Strassen immer noch Angehörige des Volkes der Kikuyu in ihrer traditionellen Kleidung und mit ihren Speeren unterwegs. In der Kolonialzeit war Nakuru der Hauptort der sogenannten „White Highlands“, also dort wo weisse Siedler auf dem fruchtbaren Land Ackerbau betrieben. Das klimatisch günstige, fruchtbare und ertragreiche Hochland ist auch das Gebiet wo sich in den 1950er Jahren die antikoloniale Unabhängigkeitsbewegung entwickelte, die dann schliesslich zum „Mau-Mau-Krieg führte. Es war schon ein unheimliches Gefühl zu wissen, dass hier vor gar nicht zu langer Zeit ein scheussliches Gemetzel stattgefunden hatte. Unser Ziel war aber nicht die Stadt, sondern der nahegelegene Lake-Nakuro-Nationalpark mit den rosa Flamingos. In dem bis zu vier Meter tiefen, abflusslosen See tummeln sich bis zu zwei Millionen Flamingos. Die Vögel ernähren sich hauptsächlich von blaugrünen Algen oder von Kleinkrebsen, wodurch sie auch ihre rosa Farbe haben. Schon von weitem konnte man ein rosa Band erkennen, das sich sehr langsam am Seeufer entlang um den ganzen See bewegte. Wenn man sich ihnen näherte, konnte man unter den Flamingos auch Pelikane, Reiher und Kormorane entdecken. Es war ein unglaubliches Erlebnis so viele Vögel an einem einzigen Ort zu sehen.

Beeindruckt von dem einmaligen und unvergesslichen Naturschauspiel verliessen wir dann Nakuru und fuhren auf der A104 Richtung Norden. Das Tagesziel war mindestens Maralal im heutigen Samburu County zu erreichen. Unterwegs machten wir einen kurzen Halt bei den 74 Meter hohen Thomson Falls, die sich in einer üppigen Vegetation befanden. Etwas später hielten wir am Rand des „Great African Rift Valley“, ein zwischen 30 und 100 Kilometer breiter Grabenbruch, der an seinen Rändern oft bis zu 1000 Metern steil abfällt. Während dem überwältigenden Ausblick auf den riesigen Bruch mit all den vielen kleinen, längst erloschenen Vulkanen und dem Bewusstsein, dass sich hier der Kontinent einmal aufgerissen hatte, fühlte man sich als Mensch plötzlich klein und unbedeutend. Nach der Weiterfahrt in Richtung Norden wurde die Landschaft immer karger. Unterbrochen von felsigen Hügeln war sie vor allem geprägt von einer offenen Gras- und Dornbuschsavanne. Bald war die Strasse nicht mehr asphaltiert und wir fuhren auf einer Naturstrasse die immer schlechter wurde. Schon bald hatten wir die erste Reifenpanne und wir mussten ein Reserverad montieren. Damit hatten wir nur noch ein einziges Reserverad für beide Fahrzeuge. Gottlob waren wir mit zwei Landrover unterwegs, denn ein Privatwagen hätte schon die Strecke hinter uns kaum ohne grösseren Schaden überstanden.



(1) Der prächtige Perlenschmuck ist Inbegriff der Samburu-Kultur.

Der prächtige Perlenschmuck ist Inbegriff der Samburu-Kultur.


In Maralal kamen wir zu ersten Mal in Kontakt mit den Samburu, dem nilotischen Nomadenvolk das im Norden Kenias lebt. Damals war hier die Gegenwart eines „Weissen“ noch eine Sensation und so kam die ganze Bevölkerung herbei gerannt. Neugierig musterten sie uns, blieben aber immer auf Distanz. Besonders die Frauen waren scheu und rannten weg sobald man sie fotografieren wollte. Zum Glück gab es später einige Ausnahmen, sodass wir ihre natürliche Schönheit mit unseren Kameras festhalten konnten. Wie die Maasai leben auch die Samburu hauptsächlich von ihren Rinderherden in ihrem Stammesgebiet. Es sind stolze Leute, die stark an ihren Traditionen sowie Gebräuchen festhalten. Sie wohnten in niedrigen Hütten, die sie mit Geäst und Lehm errichteten und dann mit Grasbüscheln oder Häuten überdeckten. Die traditionelle Bekleidung schien für Frau und Mann einzig ein rost-roter Umhang, während der Oberkörper nackt blieb. Während man die Frauen meist mit rasiertem Kopf sah, bemerkte man junge Männer und Krieger mit einer kunstvoll geflochten Haartracht, die manchmal sogar mit Perlen dekoriert war. Oft war nicht nur ihr Gesicht sondern auch der Oberkörper kriegerisch bemalt war. Die Frauen hingegen trugen ohne Ausnahme kreisrunde, farbige Perlenketten um den Hals und zusätzlich manchmal auch grosse Perlenohrringe. Dieser bunte und prächtige Perlenschmuck ist Inbegriff der Samburu-Kultur. Man sagte uns, dass die Frauen die Perlenketten von Männern geschenkt bekommen und die Ringe bis zum Kinn reichen müssen um heiraten zu können. Somit kann der Schmuck einer Frau bis zu zehn Kilogramm schwer werden! Obwohl Maralal schon damals als Hauptort des damaligen Samburu-District galt, hatte man eher das Gefühl in einem kleinen, verlassenen Dorf zu sein. In den wenigen Buden aus Brettern und Wellblech wurden existentielle Waren wie Petrol, Salz, Zucker, etc. feil geboten. Alles sah sehr ärmlich und schmutzig aus. Zum Glück hatten wir uns mit genügend Proviant eingedeckt, denn hier gab es kaum etwas Essbares zu kaufen. Dafür konnten wir den platten Reifen flicken lassen um dann wieder mit 2 Reserveräder unterwegs zu sein. Da es weder Herberge noch eine Missionsstation gab, entschlossen wir uns weiter zu fahren und an dann einem idealen Ort in den mitgebrachten Zelten zu übernachten.


(2) Der extrem mühsame Weg auf äusserst schlechter Strasse

Der extrem mühsame Weg auf äusserst schlechter Strasse


Die nachfolgende Strecke wurde immer unwegsamer und sogar mit einem Landrover äusserst halsbrecherisch. Wir kamen nur sehr langsam vorwärts und gegen Abend endete die Strasse plötzlich in einem ausgetrockneten Bachbett. Da wie keine Ahnung hatten wo der Weg weiterführte, entschlossen wir uns im Bachbett in Richtung Osten weiter zu fahren und gleichzeitig einen Ort zu suchen wo wir unsere Zelte aufstellen konnten. Da die beiden Ufer ausnahmsweise mit Büschen bewachsen waren, fanden wir bald einen geeigneten Platz wo wir uns niederliessen. Sofort machten wir ein Feuer, denn man hatte uns gesagt, dass wilde Tiere Feuer scheuen würden. Und tatsächlich schien nachts irgendeine Wildkatze in der Nähe zu sein, denn man hörte das Knurren man roch seine Anwesenheit. Obwohl das Tier sich nicht zeigte, erstellten wir unsere Zelte deshalb so nah als möglich beim Feuer. Wir wussten, dass wir eine mondlose Nacht vor uns hatten und das Licht des Feuers deshalb wichtig war. Doch schliesslich brauchten wir uns keine Sorgen wegen der Dunkelheit zu machen, denn bald erhellten an seiner Stelle unermesslich viele Sterne den Himmel. In der reinen, unverschmutzten Luft erschienen sie uns noch viel zahlreicher, schöner und viel heller als sonst. Nach dem Essen am Feuer legten wir uns dann auf die Liegestühle und staunten weiter über die unbeschreibliche Pracht am Himmel. Gleichzeitig liessen wir die mysteriöse Stimmung der afrikanischen Nacht sowie die absolute Stille auf uns einwirken. Bezaubert von der nächtlichen Schönheit zog sich dann einer nach dem anderen in sein Zelt zurück, wo alle sorglos schliefen bis die Sonne uns wieder weckte. Später las ich eine Aussage die genau meinem persönlichen Erlebnis jener Nacht entsprach: „Das Stammesgebiet der Samburu befindet sich in einer Landschaft so karg, so herausfordernd, so hochmütig und gleichzeitig so unglaublich leer, dass an manchen Orten die Stille ein Geräusch ist“. Es war eine ganz besondere Nacht gewesen in dieser wilden und kargen Gegend.



(3) Unser Nachtlager mitten in einem Bachbett

Unser Nachtlager mitten in einem Bachbett


Nach dem Frühstück ging es am nächsten Morgen im Bachbett weiter in Richtung Osten. Da die Oberfläche des Bachbettes absolut flach war, wurden die beiden Fahrer übermütig und leisteten sich eine rasante Fahrt. Dabei schreckten sie regelmässig Rebhühner auf, die dann aber sofort wieder im Gebüsch verschwanden. Plötzlich stand mitten im Bach ein Mann der uns ein Zeichen zum anzuhalten gab. Er war barfuss, hatte ein rotbraunes Tuch um sich gewickelt und hielt einen Speer in der Hand. Seine Haartracht war sehr gepflegt und das Gesicht farbig bemahlt so wie es bei Kriegern üblich ist. Es war ein unbeschreiblicher Moment und erst glaubte ich zu träumen. Aber es war kein Traum, da stand wirklich ein Samburu in Kriegsbemalung vor uns, stolz und würdevoll. Natürlich verstand ich kein Wort von dem was er sagte und was er eigentlich wollte. Zum Glück hatten wir eine Frau mit uns, die als Krankenschwester in Kenya arbeitete und deshalb Kisuaheli sprach. Sie sagte der Mann wolle uns mit seinem Speer nicht bedrohen und eigentlich nur fragen ob wir ihn bis zur Krankenstation in Baragoi mitnehmen würden. Natürlich waren wir einverstanden den „Autostopper“ mitzunehmen. Während dieser Konversation bewunderte ich den wunderbaren Speer den er bei sich hatte. Er war ausserordentlich schön gefertigt und die Spitze sogar mit einer Lederhülle geschützt. Auf der Fahrt zum Dorf liess ich ihn fragen, ob er mir vielleicht seinen Speer verkaufen würde, doch er winkte ab. Er sagte der Speer sei für ihn sehr wichtig um sich bei Angriffen von wilden Tieren verteidigen zu können. Doch mein Wunsch den Speer zu besitzen liess mich nicht los und so argumentierte ich, dass er sich ja im Dorf einen neuen Speer kaufen könne oder ihm das Geld im Krankenhaus vielleicht nützlich sein könnte. Und tatsächlich ging er schliesslich auf meinen Handel ein und übergab mir bei der Ankunft im Dorf die ganz spezielle Waffe. Allerdings schämte ich mich nachträglich über mein hartnäckiges Feilschen und konnte nur hoffen, dass er im Dorf auch wirklich einen Ersatz finden konnte und auch wieder sicher nach Hause kam.


(4) Ein Samburu in Kriegsaufmachung (oder zur Verteidigung bei möglichem Angriff von wilden Tieren?)

Ein Samburu in Kriegsaufmachung (oder zur Verteidigung bei möglichem Angriff von wilden Tieren?)


Nachdem wir uns von dem „Autostopper“ verabschiedet hatten, ging die Reise weiter nach South Horr und an den Lake Rudolf, der heute Turkanasee genannt wird. Die Strecke führte durch eine Landschaft die von Gras und Dornbüschen bewachsenen Bergen geprägt war. Obwohl wir manchmal eine Kuh im Schatten eines Baumes sahen, begegneten wir auf dieser Strecke kaum Leute oder Siedlungen. Es war wirklich eine sehr einsame Gegend. Dafür konnten wir nun wilde Tiere wie Impalas, Grevyzebras, Oryxantilopen, Giraffengazellen und sogar die sehr scheuen, seltenen Netzgiraffen beobachten. Die Strasse wurde immer mehr zu einem ausgewaschenen Bachbett und oft wusste man gar nicht wo sie sich eigentlich befand. Sie hatte nicht nur beide Autos stark gefordert, sondern auch die Fahrer, die alle Mühe hatten eine gefahrlose Linie zu fahren. Doch plötzlich sah man in der Ferne den «Lake Rudolf» glitzern, ein See der sich bis an die Grenze von Äthiopien ausdehnt. Der Anblick war so mitreissend, dass wir uns entschlossen einen Halt einzuschalten und uns gleichzeitig einen Moment von der Tortur im Auto etwas zu erholen. Die Weiterfahrt wurde punkto Strassenzustands nicht besser, aber mit dem «Lake Rudolf» vor uns, wussten wir nun wenigstens in welche Richtung es weiterging. Am Ufer des Sees entdeckten wir unverhofft das Longliani Oasis Camp, eine Unterkunft die eigentlich nur aus ein paar Strohhütten bestand. Erst konnten wir gar nicht glauben in dieser einsamen Gegend eine Absteige gefunden zu haben. Aber dann kam gleich die zweite Überraschung: im dazugehörigen Garten hatte es ein Schwimmbad! Nach den Strapazen in den vergangenen Tagen konnte man uns nicht zurückhalten gleich ins erfrischende Wasser zu springen. Obwohl sich dann herausstellte, dass das lauwarme Wasser keine Erfrischung bot, genossen wir das Bad trotzdem. Wir hätten ja auch so wie die Einheimischen im kühleren Lake Rudolf baden können. Doch wir wussten, dass es im See „Egelschnecken“ hatte, deren Larven Bilharziose oder Schistosomiasis verursachen konnten und zogen deshalb das warme Wasser im Schwimmbad vor. Diese Vorsorge stellte sich aber bald als nutzlos heraus, denn auch im Schwimmbad des Oasis Camp waren wir vor Krankheiten nicht sicher. Schon zwei Tage später hatten alle Ohrenschmerzen und mussten sich nach der Rückkehr in Nairobi wegen einer Infektion im Ohr behandeln lassen.

Unbewusst dieser Gefahr erholten wir uns in diesem Camp während zwei Tagen von den Strapazen der Reise. Gleichzeitig liess uns aber der Drang nicht los wenigstens die nahe Umgebung zu erforschen, was wir auch taten. Doch auch hier war weder ein Dorf noch eine Ansammlung von Hütten auszumachen. Trotzdem trafen wir immer wieder Leute die auf schmalen Fusspfaden unterwegs waren. Wie schon in Maralal waren auch sie scheu und liessen sich nicht fotografieren. Einmal beobachteten wir ein junges Mädchen das eine alte, erblindete Frau mit viel Geduld begleitete. Es war ein berührender Augenblick. Gleichzeitig fielen uns ihr perfekt geformten Körper und ihre zwei äusserst anmutigen Brüste auf die genau so aussahen wie die von Schaufensterpuppen. Für alle Frauen im Samburu war ein nackter Oberkörper seit Urzeiten ganz normal und so hatte auch das Mädchen keinen Grund ihre prallen Brüste zu verstecken. Zudem hatte es bereits eine grosse Menge Perlenketten auf seinen Schultern und Messingringe am Oberarm sowie an den Handgelenken. Leider verstanden wir nicht was das Mädchen sagte und unsere Dolmetscherin war leider auch nicht zur Stelle. Damit blieb uns eine Verständigung mit ihm versagt. Damit blieb es auch ein Rätsel wieso es nicht so wie seine Stammesleute, schreiend vor uns und meinem Fotoapparat wegrannte und sich problemlos ablichten liess. War es Arglosigkeit und hatte das Mädchen tatsächlich noch nie einen weissen Menschen und einen Fotoapparat gesehen? Durch unsere Foto-Aktion hatte sich bald eine ganze Horde von Jungendlichen aus dem Nirgendwo um uns versammelt. Sie lachten und vergnügten sich am Strand bis die Nacht eingebrochen war. Alles schien hier so schön, romantisch und friedlich sodass man total vergass, dass es in dieser Gegend immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Samburo und Turkana Stämmen kommt.


(5) Die unglaubliche Begegnung mit diesem Mädchen in der Wüste.

Die unglaubliche Begegnung mit diesem Mädchen in der Wüste.


Am nächsten Tag ging die Fahrt weiter in Richtung North Horr. Nachdem wir das Stammesgebiet der Samburu verlassen hatten, waren wir bald in der Chalibi Wüste. Die Strecke führte durch eine ganz flache, riesige Ebene die während der Regenzeit überflutet ist. Natürlich hatte es auch hier weder einen erkennbaren Fahrweg noch Wegweiser. Man folgte einfach den Spuren die anderen Autos auf dem trockenen Boden hinterlassen hatten. Es war sehr heiss und bald sahen wir vor uns eine Fata Morgana. Als wir näher kamen stellten wir fest, dass es sich um einen ausgetrockneten Salzsee handelte. Hier wurde nicht mehr in bestehenden Furchen gefahren, sondern jeder fuhr wild und schnell irgendwie durch die Gegend. So entstanden viele individuelle Spuren nebeneinander, sodass man nicht mehr wusste welcher man nun folgen sollte. Nach dem Salzsee kamen wir in eine Sand-Wüste wo man in verschiedenen Abständen an kleinen Oasen vorbeikam. Meistens hielten sich dort Dromedare zur Tränke auf. In North Horr, einem äusserst einsamen Ort, übernachteten wir in der katholischen Mission. Ursprünglich wollten wir bis zur Grenze von Äthiopien weiterfahren, doch irgendwie waren wir der strapaziösen Reise müde und entschlossen uns am folgenden Tag die Rückreise nach Nairobi anzutreten.


(6) Ein ausgetrockneter See in der Chalibi Wüste.

Ein ausgetrockneter See in der Chalibi Wüste.


Zu unserer Überraschung war die Strasse durch die Ebene bis zum Mount Marsabit in sehr gutem Zustand und so kamen wir zügig vorwärts. Der Mount Marsabit hat vulkanischen Ursprung und ragt bis auf eine Höhe von 1700 Metern aus der Halbwüste. Im Kontrast zu der steppenartigen Gegend in der er sich befand, war die ganze Erhebung bewaldet. Und genau dieser Wald wurde uns zum Verhängnis. Ohne Wegweiser war es in diesem Wald schwierig auf dem richtigen Weg zu bleiben und so befanden wir uns allmählich auf einem Weg, der immer stärker mit hohem Gras überwachsen war. Während es uns klar wurde, dass wir uns verfahren hatten, versuchten wir trotzdem im Schritttempo weiter zu kommen. Doch plötzlich tauchte vor uns eine Gruppe Einheimischer in Kriegsbemalung auf. Sie waren nackt und hielten ihre Speere gestikulierend auf uns gerichtet. Wir waren von dieser Situation völlig überrascht und wussten erst gar nicht wie reagieren. Der Anblick der Männer war irreal und man glaubte sich weit in die Vergangenheit zurückversetzt. Dabei war die kriegerische Bemalung so farbenfroh und faszinierend, dass man erst spontan eine Aufnahme der Gruppe fürs Album zu Hause gemacht hätte. Aber die Lage war zu ernst. Und wieder musste unsere Krankenschwester Dolmetscherin spielen, sie war ja die Einzige die «Kisuaheli» sprach. Es gab ein langes Palaver und schliesslich wurde klar, dass die Krieger als Lösegeld die blonde Krankenschwester verlangten. In den Autos herrschte während der ganzen Zeit Totenstille und keiner getraute seine Fotokamera auszupacken. Langsam entspannte sich dann aber die Lage und die Männer waren schliesslich bereit uns für eine Gegenleistung von einigen Zigaretten wieder auf den richtigen Weg zu führen. Mit ihren Macheten und Speeren schritten sie uns voran bis wir wieder auf der normalen Strasse waren. Nach der Verabschiedung mit den Kriegern brauchten wir noch eine Weile bis wir uns von diesem Schock erholt hatten und Normalität in die beiden Autos zurückgekehrt war. Da wir nun wieder auf dem richtigen Weg waren, wurden wir auch wieder fähig die wunderbare Umgebung und die unberührte Natur zu bewundern, zum Beispiel den Paradiessee, ein wassergefüllter Krater vulkanischer Entstehung.Nachdem wir das Gebiet von Marsabit verlassen hatten, ging es auf der Hochebene weiter nach Isiolo und links am Mount Kenya vorbei nach Nyeri. Auf dieser Strecke sahen wir noch einmal die seltenen Netzgiraffen und Grevyzebras. Leider waren sie aber immer zu weit von der Strasse entfernt um sie zu fotografieren. Je südlicher wir fuhren wuchsen auf beiden Seiten der Strasse die imposanten Baobabs, oder afrikanische Affenbrotbäume. Als wir uns Nyeri näherten fühlten wir uns erstmals wieder zurück in der Zivilisation, denn nun sah man wieder solide Häuser. Bei einer romantischen Lodge machten wir einen Halt und gönnten uns zum Abschluss unserer Expedition ein feines Mittagessen. Nachher fuhren wir auf sehr guten Strassen über Naivasha zurück nach Nairobi wo wir uns voneinander verabschiedeten. Eine anspruchsvolle, aber sehr interessante und unvergessliche Expedition war nun zu Ende.

Erholung in Mombasa
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16.2.  Collège officiel de Kigali, Rwanda (zweiter Aufenthalt) (01.07. – 31.12.1969) – Erholung in Mombasa.

Zurück in Nairobi schien Rolf über meinen physischen und psychischen Zustand ziemlich besorgt zu sein, denn er riet mir vor der Rückkehr in die Schweiz zuerst ein paar ruhige Tage am Meer zu verbringen. Die sechs strengen Monate in Kigali hatten mir scheinbar mehr zugesetzt als ich zugab und so willigte ich ein. Er überliess mir seinen Citroën 2 CV und so machte ich mich sofort auf den Weg nach Mombasa. Die Strasse führte durch den Tsavo Nationalpark und da ich schon auf halber Strecke Anfälle von Sekundenschlaf hatte, entschied ich mich in der Kilaguni Serena Safari Lodge zu übernachten. Da das Hotel ausgebucht war, entschied ich mich dort wenigstes ein bisschen auszuruhen und auf der wunderbaren Terrasse in Gesellschaft von Elefanten ein Bier zu trinken. Im Geheimen hoffte ich, dass in der Zwischenzeit vielleicht ein Zimmer frei würde. Doch ich hatte vergebens gehofft und der englische Desk Manager wollte mich nicht einmal in einem Abstellraum übernachten lassen. Gehässig forderte er mich auf die Lodge nun endlich zu verlassen und zur Mombasa Road zurückzukehren. Dann erwähnte er noch, dass es nach Dunkelheit verboten sei sich im Park aufzuhalten. Ich war von seiner Art wie er zu mir sprach sehr befremdet, fuhr dann aber schliesslich los.


(1) Bei einem Bier auf der Terrasse des Tsavo Nationalparks

Bei einem Bier auf der Terrasse des Tsavo Nationalparks


Es ist ja schon so, dass es in Afrika sehr schnell Nacht wird und so fuhr ich ziemlich „sportlich“ im wunderbaren Abendrot auf der roten Naturstrasse durch die Savanne. Halb abwesend sah ich mich plötzlich vor einer Linkskurve und so trat ich wie wild auf die Bremse. Doch es war zu spät, das Auto glitt über die Kurve hinaus und nach ein paar Metern direkt in einen riesigen Termitenhügel. Nach dem heftigen Aufprall sah ich im Scheinwerferlicht nur Staub und merkte, dass ich das Steuerrad lose in meinen Händen hielt. Es war abgebrochen und so wurde mir bewusst, dass das Auto nicht mehr fahrtüchtig war. In Gedanken übernachtete ich bereits ohne Nahrung und Wasser in der Gesellschaft von wilden Tieren im Auto. Doch bald sah ich in der Ferne die Scheinwerfer eines Autos näherkommen. Es waren die Sicherheitsleute des Parks die auf einer letzten Kontrollfahrt unterwegs waren. Sie befreiten mich aus der misslichen Lage und brachten mich wieder in die Lodge zurück, wo der süffisante Herr immer noch am Empfang war. Als er mich sah fragte er äusserst gereizt ob ich immer noch nicht kapiert hätte, dass das Hotel ausgebucht sei und keine Zimmer frei seien; auch für mich nicht! Da nützten nicht einmal meine Erklärung des Unfalls und mein staubiger Anblick sowie meine blutverschmierten Arme. Er zwang mich in ein Auto und ein Fahrer brachte mich zurück an meinem Auto vorbei an die Abzweigung an der Mombasa Road. Es befand sich dort ein kleines Hotel, aber auch da war alles ausgebucht und mein Missgeschick schien erneut niemanden zu erschüttern. Frustriert und todmüde installierte ich mich dann ohne Erlaubnis in der offenen Bar, wo sich Engländer bis in den frühen Morgenstunden monoton unterhielten. Während dieser Zeit besuchten mich ständig Mücken, sodass mir „ä tüüfä gsundä Schlaaf“ leider vergönnt blieb!

Früh am Morgen schlich ich mich zum Schwimmbad um mich wenigstens zu waschen und so für meine Suche nach Hilfe wieder sauber auszusehen. Zum Glück befand sich neben dem Hotel eine Agentur des „Touring Club of Kenya“, der aber nur Mitgliedern Hilfe anbot. Also wurde ich Mitglied des Kenianischen Touring Clubs. Ein Mitarbeiter brachte mich dann zurück in den National Park zu meinem Auto, das er nachher bis nach Nairobi zur Citroën Garage abschleppte. Mit einem äusserst schlechten Gewissen und entmutigt erzählte ich Rolf nach meiner frühzeitigen Rückkehr mein Missgeschick. Nachdem ich mich tausend Mal entschuldigt hatte, ermutigte mich Rolf, entgegen meinen Erwartungen, trotzdem nach Mombasa ans Meer zu fahren. Also machte ich mir Mut und entschied mich per Autostop nach Malindi und ans Meer zu fahren. Ich stand nur kurze Zeit an der Hauptstrasse und schon hielt vor mir ein rassiger Sportwagen in dem ein Sikh mit einem wunderbaren Turban am Steuer sass. Er wollte auch nach Mombasa und war froh über Gesellschaft auf der schnurgeraden, langen und monotonen Strecke. Er fuhr barfuss und unwahrscheinlich schnell für afrikanische Strassenverhältnisse. Plötzlich trat er auf die Bremse und der Wagen rutschte auf der roten Erdpiste wie mein Citroën 2 CV noch viele Meter geradeaus weiter. Verängstigt suchte ich nach dem Anlass des plötzlichen Bremsens, doch ich konnte weit und breit keine Gefahr sehen. Erst als sich der Brems-Staub verzogen hatte entdeckte ich rechts in der Savanne eine ganze Elefantenherde die sich langsam der Strasse näherte. Wahrscheinlich hatten Sie vorher ein Staubbad genommen, denn sie waren alle rot und deshalb auf grosse Distanz nur schwierig zu erkennen. Beeindruckt gratulierte ich dem Inder für seine bemerkenswerte Wachsamkeit. Bescheiden wies er auf seine langjährige Erfahrung auf den Strassen Afrikas hin und dass man Fährten von Elefanten unbedingt respektieren müsse. Gemütlich überquerte dann die ganze Elefanten Familie problemlos diese viel befahrene Hauptader Kenias. Der Rest der Fahrt verlief ohne weitere Zwischenfälle und so kamen wir gegen Abend sicher am Ziel an.

Es war ja schön am Meer, aber irgendwie hatte ich keine Lust am Strand zu liegen. Von Unruhe geplagt kehrte ich schon nach wenigen Tagen per Autostop wieder nach Nairobi zurück. Bevor ich zu Rolf fuhr, wollte ich aber zuerst wissen ob man das Fahrzeug überhaupt noch Instand setzen konnte und fuhr zur Garage. Und tatsächlich war das Auto bereits repariert und nichts deutete mehr auf einen Unfall hin. Auch der Preis für die Reparatur überraschte mich, denn ich hatte mich schon auf ein grosses Loch in meinem schwachen Geldbeutel vorbereitet. Ja, ich war überglücklich, denn nun konnte ich Rolf das Fahrzeug ohne Schuldgefühl „fast“ so zurückgeben wie ich es erhalten hatte. Damit war mein zweiter Aufenthalt im Herzen Afrikas beendet und ich konnte entspannt in die Schweiz zurückfliegen.

Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977)
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17.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977)

Die sechs Jahre im geheimnisvollen Indonesien in Südostasien waren oft eine grosse Herausforderung, aber auch immer verbunden mit vielen schönen und unvergesslichen Erlebnissen.


(1) Eine Reise in ein unbekanntes Land im Fernen Ost

Eine Reise in ein unbekanntes Land im Fernen Ost

 

Vorbereitung für Einsatz in Indonesien
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17.1.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Vorbereitung für Einsatz in Indonesien.

a) CIBA AG, Basel (15.01.1970 – 31.01.1971)
Nach den sechs Monaten im angenehmen Klima von Rwanda war das kalte Winterwetter in Basel wohl sehr erfrischend, aber nicht unbedingt ermutigend für meine berufliche Veränderung. Zudem wusste ich eigentlich gar nicht so genau was mich bei der CIBA AG erwartete. Ich war mir nur bewusst, dass ich zur Ausbildung in Basel war und dann anschliessend als Works Engineer nach Jakarta reisen würde. Am Morgen des 15. Januar meldete ich mich deshalb gespannt beim Verantwortlichen der Ingenieurabteilung, Herrn B. Häfliger, den ich ja bereits beim Anstellungsgespräch getroffen hatte. Nach einer kurzen Begrüssung machte er mich sofort mit allen Arbeitskollegen, sowie dem Projekt-Ingenieur, Erich Weiss, bekannt. Dieser hatte die vorbereitende Projekt-Planung bereits beendet und arbeitete nun an den Spezifikationen für die Beschaffung der Produktions-Maschinen. Um das Projekt näher kennen zu lernen, übergab er mir sofort einen riesigen Stoss von Dokumenten. Da ich mit der Produktion von Pharmazeutika bis anhin nichts zu tun hatte, waren diese Unterlagen, ausser den Bau-Plänen, eine riesige Herausforderung. Obwohl ich immer wieder versuchte die Inhalte zu verstehen, konnte ich damit kaum etwas anfangen und begann mich schliesslich zu langweilen. Das schien Herr Häfliger bemerkt zu haben, denn eines Tages bat er mich ein reduziertes Modell der Fabrik anzufertigen. Natürlich hatte ich auch von Modellbau keine Ahnung und gestand dies ganz scheu meinem Vorgesetzten. Dieser meinte gelassen, dass es in der Firma eine Architekturabteilung gebe, bei der ich ganz sicher mit der nötigen Hilfe rechnen könne. Mit der erhaltenen fachlichen Anleitung gelang es mir dann in kurzer Zeit ein ansprechendes Modell der ganzen Anlage zu erstellen. Mein Chef war zufrieden mit dem Resultat, bat mich aber zusätzlich noch um Vorschläge für die Art der Bedachung. Da ich wusste, dass es in Indonesien viel regnet schien es mir zwingend das Dachwasser ausserhalb der Gebäude abzuleiten. Als Bauspengler hatte ich ja diesbezüglich bereits die nötige Erfahrung gesammelt. Dabei stellte ich mir grosse halbrunde Kanäle vor, die man entweder in U-Form oder dann wie in einem arabischen Bazar umgekehrt, so wie freihängende Baldachine montieren konnte. Auch mit diesen zwei Varianten schien ich auf gutem Weg zu sein, doch nun forderte mein Chef noch Fotos vom Model und den zwei wirkungsvollen Vorschlägen für die Bedachung. Wieder sagte man mir es hätte professionelle Fotographen im Haus. Eigentlich wollte ich diese Aufnahmen mit meinem eigenen Fotoapparat machen, holte aber dann doch professionelle Hilfe. So konnte ich meinem Chef schliesslich ausgezeichnete Aufnahmen vom Projekt präsentieren, Fotos die später eine wichtige Basis für die ausführenden Architekten in Jakarta waren. Ich habe nie herausgefunden ob diese bewussten Herausforderungen meines Vorgesetzten eine Art Test vor meinen Einsatz in Indonesien gewesen waren. Jedenfalls stimulierten seine selbstverständlichen Forderungen meine Selbstsicherheit und gaben mir später auch den Mut Probleme und Herausforderungen ohne spezielle Anweisungen von Chefs selbständig anzugehen.

Nachdem ich mich eingehend mit dem Projekt befasst hatte, kam die Zeit für die praktische Ausbildung im Betrieb wo man hauptsächlich Themen wie Werkstattorganisation, den Unterhalt und Einsatz von Apparaten und Maschinen, etc. besprach. Dann verbrachte ich je eine Woche in den verschiedenen Abteilungen wie Schweisserei, Rohrmontage, Unterhalt von Kühlgeräten, etc. Nach dem Ende der praktischen Ausbildung erwartete ich die Ausreise nach Jakarta. Doch das Projekt hatte sich verzögert und so befasste ich mich erneut mit den Projektunterlagen. Allmählich wurde es mir aber erneut langweilig und so drängte ich auf einen Besuch im Werk Stein, dort wo pharmazeutische Produkte konfektioniert wurden. Obwohl ich diesen Betrieb dann besuchen durfte, meinte mein Chef, dass dieser Betrieb für mich irrelevant sei, denn die äusserst modernen Produktionsmethoden in der Schweiz könne man in einem Entwicklungsland kaum anwenden.

In der Ingenieurabteilung fühlte ich mich vom Anfang an sehr wohl. Meine Bürokollegen hatten mich trotz meinem, für sie „Zürcher-Dialekt“, voll akzeptiert. Jeden Tag gingen wir zusammen in die Kantine zum Mittagessen und trafen uns auch in der Freizeit gerne zu einem Bier. Abends, besonders während der kalten Jahreszeit, fühlte ich mich aber oft sehr einsam. Die Firma hatte für mich bei einer älteren Dame ein Zimmer gemietet. Es war kein schönes Zimmer und ich fühlte mich darin nie wohl. Aber da ich glaubte nur für kurze Zeit in Basel zu weilen, fand ich mich damit ab. Die Feierabende schienen mir jeweils sehr lang und da ich kein Fernsehgerät hatte, beschäftigte ich mich vor allem mit dem Sortieren von Fotos und Filmmaterial. Dabei entstanden verschiedene Filme über Rwanda und Reisen in Ostafrika. Einen Film, der mir besonders viel bedeutete, vertonte ich sogar. Nachdem ich erfuhr, dass es einen Ciba-Foto-Club gab, schrieb ich mich sofort als Mitglied ein. So konnte ich meine schwarz-weissen Aufnahmen im clubeigenen Labor selbst entwickeln und vergrössern. Trotz diesem Hobby entfloh ich an jedem Wochenende dem trübseligen Zimmer und fuhr mit meinem rassigen Fiat 500 zu meinen Eltern, wo ich mich auch mit meinen Freunden und Bekannten traf.

Erst als die Tage länger wurden und ich nun wusste, dass sich mein Aufenthalt in Basel weiter verlängern könnte, entschloss ich mich ein angenehmeres Zimmer zu suchen. Und wieder hatte ich grosses Glück, denn ich fand sehr rasch ein nettes, helles Zimmer in Binningen. Es befand sich im Erdgeschoss eines Reihenhauses, gehörte zu der Wohnung im ersten Stock und hatte einen separaten Eingang, also genau das was ich mir vorgestellt hatte. Zudem befand sich das Haus in einer sehr ruhigen Gegend direkt neben einem Bächlein und hatte einen Abstellplatz für mein Auto. Endlich fühlte ich mich wohl, zufrieden und frei. Gleichzeitig kehrte auch meine Lebenslust zurück. Ich begann mich für Judo zu interessieren, absolvierte einen Anfänger-Kurs und blieb dann bis zu meinem Umzug nach Jakarta im Club. Auch meldete ich mich bei einem Bekannten in Pratteln, der damals mit mir die „Lädere“ in Bern besucht hatte. Zusammen mit ihm und seinen Freunden erlebte ich viele frohe Stunden. Ganz speziell war es natürlich während der Fasnacht, die ich nun wieder einmal mit Einheimischen, also ganz authentisch erleben durfte. Umgeben mit Freunden und Bekannten hatte ich mich schliesslich sehr gut eingelebt und verbrachte mit ihnen unbeschwerte und fröhliche Stunden.

Damals hatte man mit seinem Privatfahrzeug noch Zugang zum Werkareal Klybeck und so parkierte ich mein Auto jeden Tag in unmittelbarer in der Nähe unseres Büros. Das war sehr praktisch, besonders bei Regen und im Winter. Nach einer gewissen Zeit entdeckte ich auf dem Dach des Autos und auf der Kühlerhaube weisse Flecken. Ich nahm an, dass irgendwelche chemische Dämpfe aus Produktionsräumen entwichen waren und sich auf meinem roten Auto niedergelassen hatten. So meldete ich den Schaden bei der verantwortlichen Stelle, doch man wies alle Schuld ab und verlangte Beweise. Da ich nur Vermutungen hatte, blieb mir nichts anders übrig als mich damit abzufinden und nun mit einem „Marienkäfer“ durch Basel zu fahren. Heute wäre so ein Auto sicher ein gesuchtes Kunstobjekt.

Aber die Zeit verging und das Projekt in Jakarta war immer noch im Verzug. Da ich ruhelos wurde und sogar im Sinn hatte die Firma zu verlassen, fand mein Chef plötzlich eine Zwischenlösung. Er schlug mir vor, ein dreimonatiges Praktikum im Betrieb der SWISSPHARMA in Kairo zu absolvieren. Während dieser Zeit sollte ich auch den Werksingenieur während seinen Ferien vertreten. Er fand, dass dieser Betrieb eher mit der geplanten Anlage in Jakarta vergleichbar sei als das Werk in Stein und somit instruktiver für meine zukünftige Arbeit. Während ich mich riesig freute, schienen meine Bekannten weniger begeistert. Sie fragten mich ob ich denn nicht wisse, dass diese Gegend sehr unsicher sei? Da ich mich nie eingehend mit Politik befasste, hatte ich tatsächlich kaum eine Ahnung was in dieser Region seit dem Sechstagekrieg im Jahre 1967 zwischen Israel, den arabischen Staaten, Ägypten, Jordanien und Syrien tatsächlich vorging. Ich wusste nur, dass ich bereits zwei Monate nach dem Ende des Sechstagekrieges (auf meiner Heimreise von Rwanda) das Land problemlos bereist hatte. Also konnte ich ihre Bedenken nicht verstehen. Zudem wusste ich, dass ich nicht der einzige Schweizer in diesem Betrieb sein würde und mir keine Sorgen machen musste. Natürlich war allgemein bekannt, dass sich seit dem Sechstagekrieg kleine Gruppen gebildet hatten, die sich für die Befreiung Palästinas stark machten. Man hörte auch von der bekanntesten dieser Gruppen, der Volksfront zur Befreiung Palästinas(PFLP), weil deren Aktivisten, Fedajin genannt, begannen Israel auch ausserhalb des Nahen Ostens zu bekämpfen. Es war ja damals zu verschiedenen Attentaten gekommen, auch in Europa. Aber dies schien für meine Entscheidung nach Kairo zu reisen irrelevant. Ich war überzeugt, dass all dies gar nichts mit Ägypten zu tun habe und damit auch kein Grund nicht nach Kairo zu reisen.


b) SWISSPHARMA S.A.A. CAIRO (August/September/Oktober 1970)
Mit viel Neugier begann ich am 2. August mein Praktikum bei der SWISSPHARMA. Die Firma befand sich in Heliopolis, etwas ausserhalb vom Stadtzentrum, und stellte pharmazeutische Produkte für CIBA, Sandoz und Wander her. Die Fabrik produzierte bei meiner Ankunft auf Hochtouren und war sehr gut geführt. Die Angestellten und Arbeiter empfingen mich freundlich und ich fühlte mich sofort gut aufgehoben. Es war mir aber bald klar, dass ich hier sehr viel zu lernen hatte und die drei Monate aufs Beste nützen musste. Der Werksingenieur und Leiter der Ingenieurabteilung, Herr Gygax, war mir dabei eine grosse Stütze. Er fand, dass ich zuerst einmal den ganzen Ablauf der Produktion verstehen müsse, um in einem solchen Betrieb später erfolgreich arbeiten zu können. So entschied ich mich beim ganzen Arbeits-Prozess, also vom Empfang der Rohmaterialen bis zum Versand der Fertigprodukte, persönlich dabei zu sein. Ich begann im Lager, das in drei Sektoren aufgeteilt war: a) Rohmaterial, b) Packmaterial und c) Fertigprodukte. Bevor das Rohmaterial eingelagert wurde blieb es in einer separaten Zone, der Quarantäne. Ich fühlte mich erstaunlich frei, durfte mich überall umsehen, konnte die nötigen Notizen machen und die Arbeiter um Details fragen. Erst jetzt begann ich die Projektunterlagen in Basel langsam zu verstehen.


(1) SWISSPHARAM S.A.A. Cairo

SWISSPHARAM S.A.A. Cairo


Die Firma hatte mich in Heliopolis bei einer libanesischen Familie in der Nähe der Fabrik untergebracht. Sie sprachen französisch, waren Angehörige der koptischen Kirche, benahmen sich äusserst diskret und lebten sehr zurückgezogen. Der Grund war die zunehmende religiöse Diskriminierung und Verfolgung durch das islamische Regime. Es wurde aber nur wenig darüber gesprochen und so blieb es bei belanglosen Plaudereien. Die Wohnung war immer peinlich sauber und die Hausherrin wusch meine verschwitze Wäsche jeden Tag. Während ich das Mittagessen zusammen mit der Belegschaft in der Kantine einnahm, war es abends viel zu heiss für ein weiteres Mahl. So bestand mein Nachtessen meist nur aus Milch, Fladenbrot und Datteln. Diese holte ich jeweils in einem kleinen Geschäft in der Nachbarschaft und verzehrte sie dann in meinem Zimmer. Eigentlich hatte ich gehofft mit meinem, in Algerien erworbenen arabischen Wortschatz, keine Kommunikationsprobleme zu haben. Doch ich hatte mich geirrt, denn hier brauchte man andere Wörter und so musste ich öfters hören, dass in Ägypten eben ein viel Schöneres, ja das beste Arabisch der Welt gesprochen wurde. Obwohl man sich immer irgendwie verstand, empfand ich die sprachliche Barriere trotzdem mühsam. Ich konnte ja auch die arabische Schrift nicht lesen, was mich besonders auf der Strasse verunsicherte. Als Tourist war mir dies damals nicht besonders aufgefallen, denn es fand sich ja immer jemand mit dem sich man auf englisch oder in einer anderen Sprache verständigen konnte. Diese Situation trug natürlich zu einer gewissen Isolation bei.

In den ersten Tagen holte mich Herr Gygax morgens mit seinem Auto ab und brachte mich abends wieder nach Hause. Obwohl mir ein Geschäftsauto zur Verfügung stand, getraute ich mich anfangs nicht damit auf die Strasse. Erstens hätte ich die Fabrik nicht mehr gefunden, denn alle Häuser schienen sich ähnlich und so konnte man sich an nichts Auffallendem orientieren, und zweitens war mir der Verkehr zu undiszipliniert und chaotisch. Herr Gygax hatte auch dafür gesorgt, dass ich nach der Arbeit Zugang zum privaten „Sportclub of Heliopolis“ mit einem riesigen Schwimmbad hatte. Es war ja Hochsommer und so schätzte ich jeden Abend eine Abkühlung ausserordentlich. Da der Club von meiner Unterkunft zu weit entfernt war, wollte ich Herr Gygax aber nicht ständig um einen Fahrdienst bitten und so wagte ich mich allmählich doch mit „meinem VW“ auf die Strasse. Zuerst aber versuchte ich es zu Fuss und machte abends Erkundungs-Spaziergänge um mich wenigsten im Quartier zurechtzufinden. Aber da fiel man als Ausländer, genau so wie im Sportclub, sofort auf und ich fühlte mich ständig beobachtet. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht wieso mich die Leute so misstrauisch musterten. Also schien mir das Auto doch besser, denn in dieser Metallhülle war ich doch einigermassen anonym auf der Strasse. Der Anfang auf Ägyptens Strassen war äusserst abenteuerlich und ich konnte erst nicht verstehen, dass Anstand und Vortritt hier überhaupt nicht galten. Aber bald merkte ich, dass man frech sein musste um vorwärts zu kommen, was aber gleichzeitig äusserste Aufmerksamkeit verlangte. Und sobald man sich mit dem Auto dem Stadtzentrum näherte wurde der Eindruck in einem Ameisenhaufen zu sein umso stärker. Aber irgendwie kamen alle immer aneinander vorbei. Natürlich hatte ich gesehen, dass fast alle Autos Kratzer hatten oder verbeult waren, aber auch das hatte ich bald akzeptiert. Ich konnte nur hofften, dass ich unfallfrei blieb und ich „mein Auto“ nach meinem Praktikum wieder einwandfrei an die Firma zurückgeben konnte; was mir dann auch gelang.

Kurz nach meiner Ankunft in Kairo begannen für die Belegschaft der SWISSPHARMA die Betriebsferien. Für die Ingenieurabteilung galt dies allerdings nicht, denn die drei Wochen wurden dringend gebraucht um an den Produktionsmaschinen und der Infrastruktur den jährlichen Unterhalt auszuführen. Es gab so viel Arbeit, dass wir während drei Wochen voll durcharbeiteten mussten. Für mich war es eine strenge, aber äusserst interessante Zeit. Es zeigte mir, wie der periodische Unterhalt geplant und dann ausgeführt wurde. Gleichzeitig wurden alle Produktionsmaschinen überholt und so konnte ich bei dieser Arbeit dabei sein und selber Hand anlegen. Nach den drei strapazierenden Wochen nahm mich Herr Gygax für ein paar Tage mit ans Meer. Zuerst fuhren wir an den Strand von Alexandria. Doch beim Anblick der riesigen Masse von Leuten am Meer, entschieden wir uns zur etwa 100 Kilometer westlich von Alexandria entfernten Kriegsgedenkstätte in El Alamein zu fahren. In dieser Gegend fanden im Zweiten Weltkrieg zwei entscheidende Schlachten statt. Während hier im Juli 1942 der Vormarsch der deutsch-italienischen Truppen von den Alliierten gestoppt werden konnte, errangen die Alliierten in einer zweiten Schlacht im Oktober des gleichen Jahres den Sieg. Im Jahre 1959 entstand eine Gedenkstätte für die 4213 Toten aus Deutschland, einen Commonwealth-Kriegsfriedhof, auf dem 7500 Soldaten der Alliierten begraben liegen, sowie einen italienischen Soldatenfriedhof mit 5200 Gefallenen. Der Anblick der vielen Gräber war erdrückend und ich war froh nach einem kurzen Rundgang endlich ans Meer zu fahren. Herr Gygax kannte ganz in der Nähe einen ruhigen, wunderbaren Strand, wo wir nach der Ankunft sofort das Zelt aufstellten. Während den folgenden Tagen genossen wir vor allem die Ruhe und das blaue, glasklare Meer.


(2) Der weisse Strand von Sidi Abdel Rahman, 132 Kilometer westlich von Alexandria.

Der weisse Strand von Sidi Abdel Rahman, 132 Kilometer westlich von Alexandria.


Kurz nach den Betriebsferien begann Herrn Gygax seinen Heimaturlaub und so war ich plötzlich sein Stellvertreter. Gleichzeitig hatte ich nun endlich Zeit in der Fabrik jeder einzelne Arbeitsgang zu dokumentieren und die Einrichtungen zu vermessen; sogar die Gestelle. Ich machte Zeichnungen von den installierten Produktionsmaschinen und beschrieb deren Funktion und Handhabung. Ich beobachtete die Arbeiter bei ihrem Tagesablauf und war gleichzeitig neugierig von ihren negativen oder positiven Erfahrungen zu erfahren. Dabei war ich erstaunt wie offen die Leute mit mir diskutierten und sich nicht scheuten Verbesserungen vorzuschlagen. Oft blieb ich mehre Tage in einem Arbeitsbereich um alles richtig zu verstehen. Abends in meinem Zimmer notierte ich dann alles säuberlich in meinem Notizblock und illustrierte den Text mit Skizzen. Nach drei Monaten war es fast ein Buch geworden. Später in Jakarta leistete mir das selbst erstellte Nachschlagswerk dann unschätzbare Hilfe. Mit dem gleichen Interesse verbrachte ich auch die nötige Zeit in der fabrikeigenen Küche und natürlich in der Werkstatt. Da erstellte ich sogar ein detailliertes Inventar von allen vorhandenen Werkzeugen und Maschinen. Zudem war es für mich äusserst wichtig zu erfahren wie man eine solche Abteilung, inklusive Ersatzteillager, effizient leitet und verwaltet. Ich war mir bewusst, dass in Jakarta all dies erst entwickelt und erstellt werden musste und ich dabei sicher gefordert sein würde. Aber zum Glück bot man mir hier unlimitierte Zeit um mich bestens und ohne Stress dafür vorzubereiten.


(3) Das Team für den Unterhalt des Betriebes, das mir immer sehr behilflich war.

Das Team für den Unterhalt des Betriebes, das mir immer sehr behilflich war.


Eines Abends, als ich mit meinen Notizen beschäftigt war, hörte ich Lärm unten im Hof und so ging ich ans Fenster. Zuerst sah ich nur viele Leute im Garten. Aber dann entdeckte ich eine eingeschüchterte Ziege, die sichtlich für das Nachtessen bestimmt war. Nach viel Geschwafel wurde die sich wehrende Ziege dann kopfüber aufgehängt. Dann erschien ein Mann mit einem speziellen Messer und schnitt dem lebenden Tier quer durch die Halsunterseite. Nachdem die Blutgefässe, sowie Luft- und Speiseröhre durchtrennt waren, liess man das zuckende Tier „kaltblütig“ ausbluten. Es war das erste Mal, dass ich ein Schächten so direkt und diskret beobachten konnte. Als alles Blut ausgelaufen war, kam jemand mit einer Velopumpe und verwandelte die arme Ziege in einen Ballon. Die aufgepumpte Ziege wurde dann mit Holzbrettern verdroschen. Es war kein erbauendes Ritual und das arme Tier tat mir leid. Zum Glück hatte mich niemand am Fenster gesehen, sonst wäre ich bestimmt zu dieser Mahlzeit eingeladen worden. Die ägyptische Gastfreundschaft verlangt dies, auch wenn es oft nur ein Anstands-Gerede ist.

Da Herr Gygax nun in der Schweiz weilte, fühlte ich mich etwas verloren. Ich kannte ja ausser ihm niemand und Heliopolis war damals eine „cité dortoire“, wo absolut nicht los war. Da ich festgestellt hatte, dass nach Sonnenuntergang das Leben auf der Strasse erst so richtig erwachte, fragte ich mich wo denn all die Leute hingingen. Ich hätte auch gerne einmal eine Abwechslung gehabt. Aber es war ja, ausser in den billigen Nightclubs mit Bauchtänzerinnen, nirgends etwas los. So begann ich mit viel Mut an Wochenenden Ausflüge zu machen und abends manchmal noch ins Stadtzentrum zu fahren. Am Liebsten tummelte ich mich in der Altstadt und besuchte den „Chan el-Chalili“, den grössten Markt (Basar) Afrikas. Einmal fuhr ich frühmorgens zu den Pyramiden bei Gizeh. Da seit dem Sechstagekrieg fast keine Touristen mehr das Land besuchten, standen viele Guides arbeitslos herum. Natürlich boten mir alle eine Führung an, doch nur einer schlug mir vor die grösste der drei Pyramiden, die 138.75 Meter hohe Cheops-Pyramide zu besteigen. Eigentlich war dies schon damals aus Sicherheitsgründen verboten und das Gelände deshalb abgesperrt. Doch so früh am Morgen sah man weder Polizei noch Militär auf dem Gelände. Wenn ich geglaubt hatte schnell noch einen „Steinhaufen“ zu besteigen, hatte ich mich riesig geirrt. Bald wurde mir klar, dass es sich hier nicht um einen Spaziergang handelte und der Aufstieg auch gar nichts mit Morgengymnastik zu tun hatte. Als wir nämlich am Fusse der Pyramide standen stellte ich fest, dass die rund drei Millionen Kalksteinblöcke ja ein bis eineinhalb Meter hoch waren. Zudem wurde mir auch plötzlich bewusst, dass die Seitenflächen einen Neigungswinkel von ungefähr 51° hatten und ein Aufstieg ohne Kletterausrüstung wohl zu gefährlich war. Wir hatten deshalb keine andere Wahl als über einen Grat aufzusteigen. Aber auch da hätte ein Schwindelanfall fatal sein können, denn es hatte nirgends ein Geländer oder ein Drahtseil an welchem man sich festhalten konnte. Mit viel Anstrengung kletterten wir also langsam von einem Block zum anderen. Manchmal fehlte ein Stück eines Blockes, was aber die Kletterei nicht einfacher machte. Doch wir schafften es und erreichten trotz schwierigen Stellen die Spitze der Pyramide. Hier erklärte der Guide, dass diese Grabstätte vor 2620 bis 2500 Jahren gebaut worden war und genau nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet sei. Es war ein unglaubliches Gefühl auf der Spitze dieses Grabmahls zu stehen und die wunderbare Aussicht geniessen zu dürfen. Während einigen Minuten war ich von diesem Ort total überwältigt. Doch der Guide meinte man könnte uns da oben sehen und wir sollten daher so schnell als möglich wieder hinuntersteigen. Entgegnen meiner Annahme war dies dann aber nicht viel einfacher, denn wir mussten erneut die sehr hohen „Stufen“ überwinden, was trotz Profilen an meinen Turnschuhen nicht ungefährlich war.


(4) Vor der 138.75 Meter hohen Cheops-Pyramide.

Vor der 138.75 Meter hohen Cheops-Pyramide.


In Kairo sah man oft Transporte von zerstörten Militärfahrzeugen und sogar Panzer. Da ich annahm, dass sie Überreste des Sechstagekrieges waren, machte ich mir darüber aber keine weiteren Gedanken. Für mich unerklärlich aber war die Tatsache, dass diese Transporte und der Sechstagekrieg für die Bevölkerung ein Tabu schienen. Auch über den Aufstand der Palästinenser, der sich nun scheinbar auch international ausgebreitet hatte, wurde geschwiegen. Am Sonntag, 6. September 1970, holten dann Kämpfer der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) unverhofft zum damals grössten Schlag gegen die internationale Zivilluftfahrt aus. In einer koordinierten Aktion zwangen sie je ein Flugzeug der damaligen Swissair und der TWA in der jordanischen Wüste auf dem „Dawson’s Field“ bei Zarka zu landen. Gleichzeitig wurde eine Boing 747 der weltbekannten PANAM gezwungen in Kairo zu landen, wo der riesige Vogel sofort in die Luft gesprengt wurde. Da ich nahe beim Flugplatz wohnte, schreckte mich diese heftige Explosion nachts aus dem Schlaf. Am nächsten Morgen fuhr ich zum Flugplatz um zu sehen was passiert war. Neben den vielen Trümmern sah man vor allem Polizei und Militär die Umgebung absichern. Am 9. September wurde dann noch ein viertes Flugzeug entführt, diesmal von der British Overseas Airways Corporation (BOAC). Nach der Landung in der jordanischen Wüste wurde es gezwungen sich neben die Flugzeuge der Swissair und der TWA zu stellen. Am 12. September wurden die drei Flugzeuge dann vor grosser Medienpräsenz in die Luft gesprengt. Opfer gab es damals keine, denn alle Passagiere konnten die Flugzeuge immer sicher verlassen. Diese Aktion der PFLP schürte in der ägyptischen Bevölkerung grosses Missfallen und Unsicherheit und ich begann mich zu fragen, mit welcher Fluggesellschaft ich nach meinem Aufenthalt wohl am Sichersten wieder in die Schweiz komme.

Die Stimmung in der Bevölkerung war nun noch mehr bedrückt, doch auch über diesen Zwischenfall wollte sich erneut niemand äussern. Dann starb am 28. September 1970 noch ganz unverhofft der Staatspräsident Gamal Abdel Nasser an einem Herzinfarkt. Er hatte kurz vorher noch einen Waffenstillstand zwischen Jordanien und den Palästinensern vermittelt. Sofort wurde eine 40-tägige Trauer ausgerufen. Während dieser Zeit waren Kinos, Nachtclubs und Sportclubs geschlossen. Den Fernseh- und Radiostationen war nur die Ausstrahlung von wichtigen Nachrichten und Trauermusik erlaubt. Die Leute reagierten nach dem Tod ihres Präsidenten äusserst emotional und so wurde der Aufenthalt in Heliopolis für mich unberechenbar. Aus diesem Grund entschied der Geschäftsführer der SWISSPAHRMA, Rolf Widmer, mich im Hotel Omar Khayyam im Zentrum der Stadt unterzubringen. Da befand ich mich eher in Sicherheit. Am 1. Oktober wurde der Staatspräsident in der Abdel-Nasser-Moschee mit riesiger Anteilnahme der Bevölkerung bestattet. Am Trauerzug des Verstorbenen nahmen etwa fünf Millionen Menschen teil. Ich konnte die riesige Menschenmenge vom Hotel aus beobachten. Die Leute schrien hysterisch und schwenkten weiss-schwarze Transparente. Manchmal befand sich im Trauerzug auch ein Militärlastwagen. Doch eigentlich konnte man das Fahrzeug gar nicht erkennen, denn es war wie von einem Bienenschwarm mit schreienden Leuten in weissen Djellabas bedeckt.

Bis sich die Lage nach ein paar Tagen beruhigt hatte, genoss ich das Schwimmbad und die Ruhe des Hotels, das sich direkt am Nil befand. Als man wieder normal arbeiten konnte, schlug mir Herr Widmer vor im Gezira Sporting Club, so wie vorher in Basel, weiter Judo zu betreiben. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Mitglieder des Clubs Diplomaten oder aus der ägyptischen Oberschicht. Der Club hatte deshalb einen sehr exklusiven Charakter. Das erste Mal begleitete mich Herr Widmer zum Club und stellte mich dem Judo-Trainer vor. Es war ein kräftiger Mann welcher immer wieder erwähnte, dass er im Jahr zuvor mit dem norwegischen Forschungsreisenden Thor Heyerdahl versucht hatte in einem Papyrusboot den Atlantik in Ost-West-Richtung zu überqueren. Thor Heyerdahl war damals bekannt durch die Kon-Tiki, dem Floss aus Balsaholz, mit dem er im Jahre 1947 von Lima über den Pazifik gesegelt war. Im Jahre 1969 versuchte er es dann mit einem Papyrusboot welches nach dem ägyptischen Sonnengott „Ra“ benannte wurde und das am Fusse der Pyramiden mit Papyrus nach ägyptisch/phönizischen Vorbild angefertigt wurde. Diesmal hatte Thor Heyerdahl aus experimentellen Gründen eine siebenköpfige, internationale Besatzung zusammengestellt. Mit dabei war neben Thor Heyerdahl ein Amerikaner, ein Italiener, ein Russe, ein Mexikaner, ein Chader und ein Ägypter, eben mein Judolehrer, Georges Sourial. Ich hatte wohl Kenntnis von der Kon-Tiki und hatte sogar ein Buch davon zu Hause, aber von einem Papyrusboot des Namens „Ra“ hatte ich tatsächlich vorher noch nie gehört. Das konnte dieser Mann scheinbar nicht ertragen und so musste ich meine Unwissenheit halt im Judo-Training büssen. Er war grob und schmiss mich oft absichtlich mit Wucht auf den Boden, sodass ich danach mit Schmerzen in allen Gliedern ins Hotel zurückkehrte. Nachdem dies immer wieder vorkam, verging mir die Freude am Judo-Sport und hatte schliesslich keine Lust mehr auf weitere Lektionen vom geschichtsträchtigen Abenteurer.

Da ich nun in Kairo untergebracht war, verbrachte ich viel mehr Zeit im Zentrum der Stadt und entdeckte dabei das legendäre „Café Groppi“ am Talaat Harb Square. Hier verkehrten vor allem Ausländer, aber auch ägyptische sowie ausländische Studenten. Da ich mich nach Dialogen sehnte, kam ich bald mit Gästen ins Gespräch. Leider schenkte ich mit meiner damaligen Naivität diesen Leuten zu viel Vertrauen, was ich nachträglich bereuen musste. Aus unerklärlichen Gründen wurde auch der Buchhalter bei der SWISSPHARMA auf mein isoliertes Dasein aufmerksam und machte mich bald mit einer äusserst modernen und attraktiven Ägypterin, Samira, bekannt. Sie arbeitete scheinbar bei der Middle East Airways (MEA) und gab vor bei ihren Eltern in den Ferien zu sein. Schon bald trafen wir uns in der Stadt und fuhren zusammen zu den Pyramiden. Wir hatten es lustig, ritten auf Kamelen und hatten interessante Gespräche. Bald zirkulierten komische Gerüchte. Es hiess, dass sie eigentlich die Frau des Buchhalters war und sie zusammen mit ihrem Mann in dubiose Geschäfte verwickelt sei. Sie schien auch sonst wichtige Personen gut zu kennen, so zum Beispiel auch den CEO der SWISSPHARMA. Als sie nach Beirut zurückflog wollte sie unbedingt, dass ich sie mit meinem Auto zum Flugplatz brachte. Als ich Samira abholte, stand sie neben etwa zehn Koffern und vielen Leuten vor der Haustüre. Als ich sie total verwirrt anschaute, beschwichtigte sie mich sofort und meinte ich solle mich um nichts anderes kümmern als sie sicher auf den Flugplatz zu fahren. Doch kaum waren wir abgefahren änderte sie die Meinung und bat mich um einen Umweg durch die Altstadt. Im „Chan el-Chalili“ kaufte sie dann unzählige Touristen Souvenirs, mit denen sie mein ganzes Auto füllte. Als wir am Flugplatz ankamen waren ihre Familie und die vielen Koffer bereits schon da. Auf meine Fragen „wer, was und wieso“ erhielt ich, wie für vieles in diesem Land, weder Erklärung noch eine Antwort. Nachdem sich die mysteriöse Samira von mir verabschiedet hatte, verschwand sie wie ein Spuk im Gedränge der Abfertigungshalle.

Auf der Fahrt mit Herrn Gygax nach El Alamein ans Meer, war ich fasziniert von der idyllischen Landschaft. Ich glaubte mich zurückversetzt in die Zeit der Pharaonen, denn die Bauern, die „Fellachen“ bebauten ihre Felder noch wie vor 2000 Jahren vor Christus. Einmal hatte ich mitten zwischen grünen Reisfeldern und Palmen einen Burschen gesehen, der mit einer Schneckenpumpe Wasser auf die höher gelegenen Felder förderte. Die Schneckenpumpe, oder Archimedische Schraube, bestand aus einem Rohr in welchem eine Spirale aus Stahl befestigt war. Eigentlich hätte ich gerne noch eine „Sakia“ oder „Noria“, ein von Zugtieren angetriebenes Schöpfwerk gesehen, doch ich konnte auf der Fahrt weder eine entdecken noch fotografieren. Diesen Wunsch teilte ich eines Tages mit dem Leiter der Druckerei. Sofort war er bereit mit mir an einem freien Tag ausserhalb von Kairo zu fahren und auf dem Lande eine solche Anlage zu suchen. Und wir hatten Glück, denn schon nach kurzer Zeit entdeckten wir im Dunst des Morgens ein Kamel, welches mit verbundenen Augen im Kreise herumlief und dabei Wasser in die Bewässerungskanäle schöpfte. Neben dem Kamel stand ein Mann in einer weissen, bodenlangen Djellaba und weissem, wunderbar geformten Turban. Umgeben von Palmen und grünen, im Morgenlicht schimmernden Feldern, war ich wie verzaubert und versuchte diese wunderbare Stimmung in meinen Kameras festzuhalten. Gleichzeitig fühlte ich mich Tausende von Jahre zurückversetzt und von der Schönheit des Momentes so entzückt, dass ich alles um mich herum vergass. So hatte ich auch die Rufe meines Begleiters ignoriert. Er hatte mich aufgefordert sofort zum Auto zurückzukehren und wegzufahren. Doch ich war wie in Trance und filmte unbeirrt weiter. Plötzlich aber sah ich Leute näherkommen. Sie schrien laut und gestikulierten mit den Händen. Als ich dann endlich meinen Begleiter kreideweiss und zitternd vor mir wahrnahm, kam ich langsam wieder in der Realität zurück. Er schien riesige Angst vor diesen Leuten zu haben und flehte mich an sofort wegzufahren. Dabei wurde mir nicht bewusst, dass er sich eigentlich mehr Sorge um mich als um sich selbst machte. So rannten wir zum Auto und wollten davonfahren. Doch die Leute rannten uns nach, stellten sich vor unser Auto und warfen Steine oder was ihnen in die Hände kam. Der Tumult war erschreckend, doch plötzlich war die Polizei da und gewährte uns Schutz um unversehrt bis zum Gemeindehaus zu fahren. Dort wurden wir vom Gemeindepräsident empfangen und befragt.

Draussen tobte das Volk und forderte scheinbar meinen Tod. Da ich kein Arabisch verstand wusste ich allerdings nicht was vorging, doch dann erklärte mir mein Begleiter den Grund des Aufruhrs. Im Frühling hatte die israelische Luftwaffe das Dorf Bahr el-Baqar, ein kleines ägyptisches Dorf nahe dem Suez-Kanal, grundlos angegriffen. Dabei wurde die Grundschule total zerstört. Von den 130 Schülern wurden 46 getötet und über 50 teilweise schwer verwundet. Dieser sinnlose Angriff belastete die Beziehungen mit Israel seither sehr und schürte grosse Angst unter der Bevölkerung. Bei jedem Ausländer, der auf dem Lande erschien, wurde ein israelischer Spion vermutet und so war es auch hier gewesen. Scheinbar hatte mich jemand beim fotografieren und filmen beobachtet und dann „Ein Israeli will unsere Kinder töten!“ geschrien. Das schreckte die Bevölkerung auf und sofort war die ganze Gegend bereit die getöteten Kinder zu rächen. Jetzt war mir klar warum mein Begleiter zitterte, denn im Gegensatz zu mir hatte er ja alles verstanden was die aufgebrachten Leute schrien. Nun aber waren wir in Gewahr der Polizei und warteten ängstlich auf das was noch kommen sollte. Draussen schrien die Leute weiter und verlangten Eintritt. Dann liess man einen nach dem anderen ins Haus. Um sie zu vergewissern, dass ich Schweizer und nicht Israeli war, zeigte man ihnen meine Identitätskarte. Da sie ja nur die arabische Schrift kannten und zudem vielleicht Analphabeten waren, war dies natürlich eine Alibiübung. Alle wollten sich einfach versichern, dass ich ihren Kindern nichts antun konnte. Als mich alle persönlich gesehen hatten, durften wir zurück ins Auto, wurden aber dann in Begleitung der Polizei zu einem Polizeiposten in der Nähe geführt. Bei der Wegfahrt waren die Leute immer noch stocksauer und schlugen auf das Auto ein. Obwohl ich mir der Gefährlichkeit der Situation nun bewusst war, hatte ich manchmal das Gefühl ich sei eher in einem Theater in welchem eine Oper wie Nabucco oder Aida hautnah aufgeführt wurde. Mit der ländlichen Umgebung und den vielen Leuten in ihren traditionellen Kleidern, schien alles wie eine fantastische Bühnen-Inszenierung. Dann stellte ich mir vor wie es wäre, wenn all die Leute anstatt zu schreien, so wie der Gefangenchor in Nabucco „Va, pensiero“ singen würden. Dann wäre es eine wunderbare und eindrückliche Vorstellung gewesen, die Realität war aber leider ganz anders!

Im offiziellen Polizeibüro begannen die Befragungen von neuem. Dann konfiszierten sie meinen Fotoapparat sowie die Super-8- Filmkamera und entfernten die Filme Damit hatte mein Foto-Ausflug seinen Sinn verloren, denn nun waren die traumhaften Aufnahmen weg. Dann wollten die Beamten meinen Passport sehen, den ich aber aus Sicherheitsgründen im Hotel abgegeben hatte. Sie wollten unbedingt sehen ob ich das nötige Visum für Ägypten hatte. So hatte ich keine andere Wahl als die fast 60 km nach Kairo zu fahren um ihn zu holen. Eigentlich fühlte ich mich nach dieser Erfahrung ohne Begleiter nicht mehr wohl unterwegs zur Stadt, aber ich hatte ihn gebeten auf dem Polizeiposten auf mich zu warten. Die Polizei hatte ja meine Foto/Filmausrüstung und so hoffte ich, dass sie in seiner Gegenwart nicht „verloren“ gehen würde. Und meine Vermutung schien sich zu bestätigen, denn nach meiner Rückkehr aus Kairo waren andere Polizisten da, die keine Ahnung von meiner Foto-Ausrüstung haben wollten. Doch ich beharrte auf die Rückgabe und so fand man sie dann nach langem Palaver plötzlich irgendwo in einem Nebenraum! Aber jetzt begann das Verhör wieder von neuem. Nach einer gewissen Zeit schienen die Beamten plötzlich auch müde zu sein und entliessen uns samt Kameras, allerdings ohne Filme. Unterdessen war es aber schon längst Nacht geworden und wir hatten Hunger und Durst. Im Gegensatz zu der traditionellen Gastfreundschaft auf dem Lande wurde uns von der Polizei während der ganzen Zeit nicht einmal ein Glas Wasser angeboten. So fuhren wir nach dem abenteuerlichen, ja gefährlichen Tag, todmüde und mit Hunger und Durst, aber erlöst wieder nach Hause.

Eigentlich hätte mich dieser Vorfall traumatisieren müssen, doch schon bald war ich an einem Wochenende wieder auf der Pirsch nach schönen Objekten die eine Aufnahme wert waren. Es gab ja in der Stadt so viele alte, wunderbare Häuser aus der Kolonialzeit, die man einfach fotografieren musste. Und so landete ich bald wieder auf einem Polizeiposten. Diesmal hatte ich Glück und die Beamten liessen mich mit einer dringenden Warnung wieder gehen. Erst jetzt sah ich endlich ein, dass sich das Land in einer politisch sehr unstabilen Zeit befand und die Leute deshalb sehr misstrauisch waren. Natürlich konnte ich das Fotografieren nicht lassen, aber ich machte dies anschliessend viel diskreter.

Da es in der Nähe des Hotel Omar Khayyam keine Geschäfte gab, musste ich nun auf mein Nachtessen, bestehend aus Milch, Brot und Datteln, verzichten. So beschloss ich abends zum nahe gelegenen Hotel Sheraton zu fahren und dort an der Ess-Bar etwas zu bestellen. Da gab es immer eine grosse Auswahl kleiner Gerichte. An einem Abend sass ein junger Herr neben mir und bald kamen wir ins Gespräch. Als wir mit dem Essen fertig waren, lud er mich zu einem Tee nach Hause ein. Nach all meinen bizarren Erfahrungen zögerte ich zuerst und fragte mich ob ich mit dem gut gekleideten Mann wohl in Sicherheit sein würde. Da wir uns aber in einer noblen Gegend mit privaten Villen befanden, bestand kein Grund für Misstrauen und so nahm ich die Einladung schliesslich an. Wir überquerten die ruhige Strasse und betraten ein grosses Anwesen in der sich eine imposante Villa befand. Drinnen wurden wir von einer Gruppe junger Leute gleichen Alters empfangen. Es schienen alles Intellektuelle und Studenten zu sein. Aber bald musste ich mit Schrecken feststellen, dass ich mich mitten unter Kämpfern, den Fedajin der Volksfront zur Befreiung Palästinas befand. Allerdings war ich nicht sicher, denn die Medien hatten sie ja immer als böse, bärtige Schurken dargestellt. Das war aber hier überhaupt nicht der Fall und ich befand mich unter ganz normalen, sehr kultivierten Menschen. Es hatte unter ihnen Ärzte, Rechtsanwälte, Historiker, etc. Sie erzählten mir unverhohlen, dass sie am 12. September bei der Sprengung der drei Flugzeuge in der jordanischen Wüste mit dabei waren. Erst jetzt bekam ich Angst, es lief mir kalt den Rücken hinunter und ich glaubte ich würde erstarren. Ganz zivilisiert bat man mich um meine Meinung über ihre Aktionen. „Jetzt ein falsches Wort und ich bin das nächste Opfer oder eine willkommene Geisel“, stiess mir durch den Kopf! Nach einem tiefen Seufzer und einem kurzen Stossgebet zum Himmel sagte ich ihnen ganz ehrlich, dass ich mich bis anhin weder für Politik noch mit dem Weltgeschehen auseinandergesetzt hatte. Dann fuhr ich aber mutig weiter und sagte: „Da ich nun die Gelegenheit habe mit ihnen Tee zu trinken, möchte ich ihre Gegenwart nicht missen um die Gründe ihres Kampfes gegen Israel von ihnen persönlich zu erfahren, also ohne Manipulation der Presse“. Das kam gut an und so begann ein äusserst interessantes Gespräch.

Sie erklärten mir, dass der Ursprung des Konfliktes die Identität der Palästinenser war. Wenn ein Palästinenser in Israel lebt, hat er Anrecht auf eine Identitätskarte oder einen Passport. Wenn er aber im von Israel besetzten Gebiet lebt, war er damals staatenlos und deshalb auf dem eigenen Land eingesperrt. Die Jungen aus diesen Gebieten durften in Israel nicht studieren und nur Ägypten öffnete diesen staatenlosen Studenten damals seine Universitäten. Wie andere Studenten hätten sie sich nach absolviertem Studium gerne noch in anderen Ländern weiterentwickelt, was aber ohne Identität unmöglich war. Um eine anerkannte Staatsangehörigkeit zu bekommen, schien ihnen die Schaffung eines Staates Palästina die einzige Lösung. Dies war für Israel undenkbar und so ist es seither geblieben. Diese Darstellung war für mich total neu und ihre Forderung nach meinem Verständnis mehr als angezeigt. Nun fasste ich Mut und fragte wieso denn all die Gewalt? Warum ging man das Problem nicht auf diplomatischem Weg mit der UNO und anderen internationalen Organisationen an? Dazu erwiderten sie mir ganz ruhig und gefasst, dass dies bereits schon lange geschehe, aber bis anhin nichts gebracht habe. Um die ganze Welt auf ihre Situation aufmerksam zu machen und die Politik aufzurütteln, hatten sie keine andere Wahl mehr als ein spektakuläres Zeichen zu setzen. Dabei unterstrichen sie, dass die Passagiere die Flugzeuge ja sicher verlassen konnten und dass es bei der Aktion keine Toten gab. Also kein Attentat, sondern ein politischer Akt? Die Weltpresse verstand dies leider nicht so und interpretierte ihr Anliegen anders. So wurden aus Idealisten, die für eine Unabhängigkeit Palästinas kämpften, jetzt geächtete Terroristen. Ich war perplex! An diesem Abend erwartete man auch Leila Chaled, ein führendes Mitglied der PFLP und erste weibliche Flugzeugentführerin der Geschichte. Da ich diese mutige Frau gerne persönlich getroffen hätte, entschied ich noch eine Weile bei den Freiheitskämpfern zu bleiben und mit ihnen weiter zu diskutieren. Doch Leila Chaled erschien nicht, was die Gruppe dann sehr beunruhigte. Trotz ihren schockierenden Aktionen berührte mich die Art und Weise wie sich diese jungen Leute für ein eigenes Land einsetzten und mir ihre Sorgen und Probleme so offen darlegten. Hätte man damals diese Leute ernst genommen, würde heute die Lage im Mittleren Osten wohl vielleicht anders aussehen. Da seither immer nur Krieg herrschte und bereits Generationen damit aufgewachsen sind, wurde die Situation inzwischen um ein Vielfaches komplizierter. So blieben ein eigener Staat und ein dauerhafter Frieden bis anhin leider nur ein Wunschtraum.

Das Praktikum in der Fabrik ging flott voran und ich hatte meine Notizen über die Abläufe in der Produktion bereits beendet. Nun blieben mir noch das Qualitätskontrolllabor, die Abteilung für Entwicklung von Packmaterial und die Erweiterung der Produktion. Im Labor war ich erstaunt zu erfahren, dass von jeder einzelnen Charge Muster genommen und analysiert wurden und vom Fertigprodukt nachher noch „Referenz-Muster“ zurückbehielt, was ja auch Lagerfläche brauchte. Mit der unsicheren Lage im Lande versuchte man möglichst unabhängig vom Import von Materialien aus dem Ausland zu bleiben. So versuchte man es zum Beispiel mit lokal hergestellten Glasflaschen, Kunststoffschraubdeckeln, Faltschachteln, etc. Doch die Qualität entsprach oft nicht den Kriterien und der vorgeschriebenen Sicherheit des Betriebes. Da dies Probleme und Reklamationen verursachten, versuchte das Entwicklungslabor der SWISSPAHRA die Hersteller zu überzeugen die Qualität ihrer Produkte auf ein akzeptables Niveau zu bringen. Der Einblick in dieses Arbeitsgebiet war sehr spannend und zeigte mir wie vielfältig ein Pharmabetrieb tatsächlich ist.

Schon vor meiner Ankunft war am Fabrikgebäude ein neuer Trakt für die Produktion von injizierbaren Präparaten angebaut worden. Der Rohbau war bereit und die Glas-Ampullen schon längst geliefert, doch auf die nötigen Maschinen wartete man immer noch. Mit der Vergrösserung der Fabrik wurde auch ein breiterer Zugang zur Fabrik nötig. Um den schweren Lastwagen stand zu halten, wurde diese neue Zufahrt betoniert. Die Arbeitsmethoden dieses Strassenbaus überraschten mich allerdings sehr, denn wie bei den „Fellachen“ auf dem Lande wurde alles von Hand gemacht. Da kein Betonmischer zur Stelle war, wurde das Kies und der Zement von Hand vermischt. Dieser Vorgang verlangte zwei Arbeiter. Während der Erste eine Schaufel in die Mischung stiess, zog der andere an einem Strick, der an dieser Schaufel befestigt war und mischte so den Kies mit dem Zement. Dieser „halbautomatische“ Vorgang wiederholte sich bis die Mischung als perfekt beurteilt wurde. Kies, Zement und nachher auch der fertig gemischte Beton wurden von jungen Frauen auf den Köpfen zum Einsatzort transportiert. Ich war ausserordentlich erstaunt, dass so etwas in einer modernen Stadt wie Kairo noch existierte, denn selbst im rückständigen Rwanda hatten wir einen mechanischen Betonmischer und Schubkarren zur Verfügung. Auf der Baustelle wimmelte es deshalb von Arbeitern und erstaunlicherweise schienen alle frohen Mutes. Überraschenderweise hatten sie auch nichts dagegen als ich begann diese archaische Bau-Methode zu filmen. Im Gegenteil, die Beteiligten kamen sich wie Filmstare vor und offerierten der Kamera gerne ihr fröhliches Lachen! Kaum waren die Oberflächen der gegossenen Betonplatten trocken, sodass man sicher darüberfahren konnte, kamen endlich die längst erwarteten Produktionsmaschinen an. Sie kamen verpackt in Kisten so gross wie Übersee-Container und die ihrerseits sehr viel Geschick verlangten um sie sicher und unfallfrei von den Lastwagen auf den Boden zu befördern. Und mit dieser Arbeit endete mein abwechslungsreiches Praktikum, durch das ich enorm viel Neues gesehen und gelernt hatte. Obwohl ich mich anfangs nach der Arbeit langweilte, konnte ich mich nach den drei Monaten kaum über Monotonie beklagen, denn sie waren ja schlussendlich gespickt mit geschichtsträchtigen Erlebnissen. Am 29. Oktober flog ich dann schliesslich mit der syrisch-ägyptischen United Arab Airlines (UAA) erst nach Beirut, wo ich einen Zwischenhalt einschaltete um die Stadt zu besuchen. Nachher flog ich mit der Middle East Airlines (MEA) nach Zürich. Die Reise verlief problemlos und sicher, doch fühlte ich mich im Flugzeug von Kairo nach Beirut eher wie in einem überfüllten Überland-Bus. Es schien mir, dass alle Passagiere ihren gesamten Hausrat mit in die Kabine mitgenommen hatten, Ziegen und Hühner inbegriffen!

Vor meiner Abreise bat mich der Buchhalter seine Frau Samira in Beirut anzurufen und sie um 5 Hemden zu bitten. Als ich wissen wollte um was für Hemden es sich handelte, meinte er nur, Samira würde schon wissen was er damit meine. Das machte mich neugierig und so nahm ich mir vor sie in Beirut nicht nur anzurufen, sondern auch zu treffen. Also kontaktierte ich nach meiner Ankunft im Hotel erst den Burschen, der mich zu den Fedajin gebracht hatte und nun in Beirut weilte. Nachdem er bereit war mich zu sehen und auch der Treffpunkt bestimmt war, rief ich Samira an und verabredete mich mit ihr am selben Ort. Und tatsächlich erschien sie zur abgemachten Zeit, doch nun trug sie eine Perücke und war so kaum wieder erkennbar. Als sie mich in Begleitung sah verschwand sie sofort wieder. Das machte mich perplex und neugierig. Nach einer Weile rief ich sie nochmals an und fragte ganz arglos wo sie denn bleibe? Sie schien beschäftigt zu sein und gab mir eine Adresse an, wo ich sie treffen später konnte. Die Situation wurde also immer spannender und so bat ich meinen Begleiter mit mir zum angegebenen Ort zu fahren. Es war ein neues Quartier mit vielen Neubauten. Problemlos fanden wir die Wohnung und klopften etwas aufgeregt an die Türe. Nach einer kurzen Weile öffnete eine Frau die Türe und führte uns in einen grossen Wohnraum, der mit Geschenken überfüllt war. Am Boden sassen weitere Frauen in schwarzen Djellabas, die aber nur arabisch sprachen. Mein Begleiter übersetzte und sagte mir wir müssten hier warten bis Samira aus der Stadt zurück sei. Also warteten wir gespannt und staunten unterdessen über all die vielen farbigen Pakete. Plötzlich war sie da und umarmte mich überschwänglich. Jetzt trug sie keine Perücke mehr, dafür hatte sie am Arm einen Mann, einen Amerikaner, den sie uns als ihren Gatten vorstellte. Sie erklärte, dass sie eben geheiratet hätten und es deshalb so viele Geschenke in der Wohnung habe. Dann teilte sie uns mit, dass sie Libanon bald verlassen werde um sich mit ihrem Mann in den USA niederzulassen. Nun musste ich ihr mitteilen, dass ihr Mann in Kairo 5 Hemden brauche, worauf sie nur nickte. Nachdem sie uns beide noch mit Geschenken verwöhnte, verliessen wir diese seltsame Gesellschaft und ich kehrte verwirrt ins Hotel zurück. Nach diesem Besuch sah ich sie nie mehr und hörte auch nichts mehr von ihr. Was sie mit ihren theatralischen Auftritten bewirken wollte, was das alles zu bedeuten hatte und warum man mich überhaupt mit ihr bekannt gemacht hatte, habe ich nie erfahren. Wollte man mich aus irgendeinem Grund in ihre dubiosen Geschäfte verwickeln? Jedenfalls wurde mir nach diesen Erfahrungen bewusst wie mysteriös, undurchsichtig, ja sogar gefährlich die tägliche Umgebung in einem arabischen Land für treuherzige und naive Leute sein kann. Zum Glück war mein Schutzengel auch während den drei Monaten in Ägypten immer bei mir und hatte mich nie nur einen Moment im Stich gelassen.


c) CIBA-Geigy AG,
Basel 11. 1970 – 31.01.1970
Nach der Rückkehr nach Basel machte mir die Arbeit mit all dem erworbenen Wissen nun viel mehr Spass, denn jetzt machten all die Dokumente für das Projekt in Jakarta plötzlich Sinn. Zudem hatte sich während meines Aufenthaltes in Kairo auch in der Firma einiges geändert, denn unterdessen hatten CIBA und GEIGY fusioniert. Die Stimmung unter meinen Bürokollegen war geteilt, denn die Betriebsphilosophie der beiden Firmen war ja ziemlich gegensätzlich. Während CIBA für sehr konservativ galt, empfand man GEIGY als modern und dynamisch. Für mich hatte sich nichts geändert, ausser dass ich jetzt für CIBA-Geigy AG arbeitete.

Zurück in Basel erhielt ich nun auch endlich die lang ersehnte Nachricht: mein Arbeitsbeginn in Indonesien war für anfangs 1971 festgelegt worden. Das bedeutete, dass ich nun plötzlich eine gedrängte Zeit vor mir hatte. Vorher (vom 05.11. -26.11.1970) musste ich ja noch meinen obligatorischen Wiederholungskurs (WK/EK) mit der Funkerabteilung 46 in Steffisburg absolvieren. Nach den spannenden drei Monaten in Kairo boten mir die drei Wochen aber einen ausgezeichneten Ausgleich. Nach der verpesteten Luft in Kairo schätzte ich vor allem die herrliche Bergluft und die wunderbare Aussicht. Wie jedes Jahr erlaubte uns die Einheit einen Militärdienst, der vor allem auf Selbständigkeit basiert war. Natürlich standen wir auch diesmal 24 Stunden auf Abruf bereit, doch in der Freizeit langweilten wir uns. Da die Zufahrtstrasse voll Löcher war und dies uns jedes Mal im Fahrzeug durchschüttelte, fragten wir den Hauptmann ob wir diese Löcher mit Schotter zufüllen dürften. Er war von der Idee sofort begeistert und bestellte das nötige Material. Damit fand ich auch diesen Wiederholungskurs keine Zeitverschwendung.

Inzwischen war in Basel mein Firmenauto, ein VOLVO, angekommen. Ich wurde gebeten ihn sofort zu übernehmen und ihn bis zur Verschiffung einzufahren. Das hiess, dass ich mich von meinem roten Fiat 500 trennen musste und mich an einen schwedischen Koloss gewöhnen musste. Paradoxerweise sagte man mir aber ich dürfe den Wagen in Jakarta nicht selber fahren, denn dafür würde mir ein Fahrer zur Verfügung gestellt. Erst konnte ich die Idee herumchauffiert zu werden gar nicht ertragen und wollte diese Auflage nicht akzeptieren. Doch dann erkläre man den Grund: Im Falle ich in Jakarta in einen Unfall verwickelt würde, könnte ich nach lokalem Gesetz für lange Zeit eingesperrt werden. Dies hätte Folgen für das Projekt, denn die Firma müsste sofort einen Ersatz für mich finden. Dies wäre natürlich sehr schwierig und ausserdem bedauerlich nach all den Vorbereitungen für das Projekt. Also akzeptierte ich diese Anordnung. Doch diese strikte Anordnung war vor Ort nicht einfach einzuhalten, denn ich wollte den Fahrer, nicht so wie im Militär, rund um die Uhr auf Abruf wissen. Und so erlaubte ich mir während seiner Freizeit auch einmal ohne „Leibwächter“ in den Ausgang zu gehen.

In den kommenden Wochen war ich hauptsächlich mit Formalitäten und dem Umzug beschäftigt. Schliesslich handelte es sich ja um einen längeren Aufenthalt und so musste ich gut überlegen was ich in Jakarta sofort brauchte und was per Schiff spediert werden konnte. Das war neu für mich, denn bis anhin reiste ich immer nur mit minimalem Gepäcke. Aber schliesslich schaffte ich auch dies, hatte mein Auto verkauft und war bereit für ein neues Abenteuer.

Am 29. Januar rief mich der Abteilungsleiter in sein Büro und bat mich den Vertrag für die vier Jahre in Indonesien zu unterschreiben. Tatsächlich hatte ich mich bis anhin kaum Gedanken über die Anstellungsbedingungen, den Lohn, die Unterkunft in Jakarta und vieles mehr gemacht. Für mich war es einfach spannend in einem grossen Betrieb im Fernen Osten arbeiten zu dürfen. Der Chef unterstrich auch immer wieder, dass ich mich als sehr privilegiert schätzen müsse, denn nicht jeder im Betrieb in Basel hätte dieses Glück. Der Vorgesetzte drängte mich also zur Unterschrift, doch diesmal gab ich mir Mühe das ganze Dokument und die Stellenbeschreibung genau durchzulesen. Meine Stelle wurde als „Projekt- und Betriebstechniker“ beschrieben. Als Technischer Sachbearbeiter war ich nicht nur für die Projektierungsprobleme verantwortlich, sondern auch Verbindungsinstanz für alle technischen Fragen zwischen dem Projektbearbeiter (IDC) und den Unternehmern. Gleichzeitig war ich das Überwachungsorgan über die Bau-, Einrichtungs- und Installationsarbeiten als Vertrauensmann des Stammhauses. Weiter war ich für die technische Inbetriebsetzung des Werks verantwortlich und anschliessend als Chef der technischen Dienste eingesetzt. Interessanterweise machten mir all diese zukünftigen Aufgaben und die grosse Verantwortung keinen speziellen Eindruck, dafür fand ich aber eine Zeile wo stand, dass verheiratete Angestellte Anrecht auf ein Haus hätten, dies aber für Junggesellen nicht gelte und diese zusammen eine Unterkunft teilen müssten. Da protestierte ich sofort und verweigerte eine Unterschrift. Etwas erstaunt und irritiert über meine Reaktion, versuchte der Vorgesetzte mir klar zu machen, dass sich die Firma sich dies nicht leisten könnte. Aber da war ich anderer Meinung und hatte auch meine Argumente. Ich fragte ihn wieso man genau bei den Junggesellen sparen müsste? Schliesslich machte ich ja genau wie die Verheirateten meine Arbeit und war zudem für die Firma viel billiger. So genügte für den Heimaturlaub ein Flugticket und die Firma hätte auch keine Ausgaben für die Schulbildung der Kinder. Zudem sagte ich ihm, dass ich kein Pfadfinder mehr sei und das Zusammenleben mit Arbeitskollegen in Rwanda bereits erlebt hätte und es nicht wiederholen möchte. Das schien zu wirken und so verschwand er eine Weile und kam mit einem abgeänderten Vertrag zurück. Nun hiess er nur noch: “freie Wohnung, nach Möglichkeit alleinstehend“. Das konnte ich akzeptieren und so unterschrieb ich den Vertrag. Das monatliche Salär, ausbezahlt in Jakarta, war CHF 1437.50, was damals USD 334.30 war. In der Schweiz wurde mir monatlich noch eine Vergütung von CHF 1'500.00 überwiesen. Das war natürlich auch für einen Junggesellen, kein atemberaubender Betrag um zu Hause ein nachhaltiges Ersparnis zu schaffen. Aber im Bewusstsein nur ein einfacher Spengler-Installateur zu sein, durfte ich wohl nicht mehr erwarten und so war ich schliesslich überglücklich überhaupt eine solche Stellen antreten zu können.

 

Die Ankunft
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17.2.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Die Ankunft.

Nach einer sehr langen Flugreise mit Zwischenhalten in Beirut, Bombay, Bangkok und Singapur kam ich ziemlich erschöpft in Jakarta an. Ich wollte halt auf dem Weg in den Fernen Osten möglichst viel sehen und so besuchte ich im Libanon die Hafenstadt Byblos mit den römischen Kolonnaden, die Kreuzfahrerburg, etc. Anschliessend fuhr ich noch ins Tal des Nahr al-Kalb um die Jeita-Grotte mit ihrer spektakulären Tropfsteinhöhle zu bestaunen. In Bangkok war ich erst total überwältigt vom pulsierenden Leben und dann vor allem fasziniert von all den vielen Tempeln. In Singapur war es dann die peinliche Sauberkeit sowie der Fortschritt was mich beeindruckte. In Jakarta empfing mich mein zukünftiger Vorgesetzter, Dominique Rohner, der mich sofort ins Hotel Prapancha brachte. Der erste Eindruck des Hotels war alles Andere als berauschend. Überall hatte es Neonröhren an den Decken, die mit ihrem kalten, lieblosen Licht die kahlen, hellgrün gestrichenen Wände nur noch hässlicher machten. Ich konnte mir noch so einreden, dass ich zu müde sei um zu urteilen und dass am nächsten Morgen alles besser aussehen würde, ich fühlte mich in diesem Hotel einfach weder willkommen noch wohl. Im Zimmer ratterte im Festerrahmen ein altes Klimagerät welches die Scheiben klirren liess und trotzdem den Raum kaum kühlte. Im Restaurant hatte ich Probleme um mich mit den Angestellten zu verständigen und mit der Menükarte wusste ich überhaupt nichts anzufangen. Ich war enttäuscht, fühlte mich alleine gelassen und in einer billigen Absteige deponiert. Ausserdem war es heiss, regnete und war so feucht, dass meine Schweissdrüsen kaum mithalten konnten. Nach zwei Schritten ausser Haus stellte ich zudem fest, dass sich das Hotel an einer Strasse befand, wo sich abends unzählige Prostituierte und Transvestiten aufhielten. Erst später sagte man mir, dass die kärglich beleuchtete Strasse Jalan Prapancha Raya hiess und sehr bekannt für diese Szene war. Das spürte man natürlich auch im Hotel und dies machte meinen ersten Eindruck von Jakarta nur noch kläglicher.

Schon bei der Ankunft auf dem Flugplatz bemerkte ich überall ein würzig-süsslicher Duft und dieser stieg mir nun auch vor und im Hotel in die Nase. Man sagte mir, dass er von Zigaretten stamme, die neben Tabak auch gemahlene Gewürznelken enthalten. Man nennt diese Zigaretten „Kretek“, was auf Indonesisch so viel wie «knistern» bedeutet. „Gudang Garam“, „Djarum“ und „Bentol“ waren die führenden Marken, anfangs ausschliesslich ohne Filter, später aber sogar in Luxusausführung in Schachteln und natürlich mit Filter. Es ist das leise Geräusch, das beim Rauchen der Nelkenzigaretten entsteht. Diese sind neben der Betelnuss so etwas wie das «Opium des Volkes». Sie bestehen aus etwa 40 Prozent zerstossenen Gewürznelken und 60 Prozent Tabak, können aber zusätzlich auch Kräuter- und Fruchtextrakte enthalten. Weil mehr als die Hälfte der indonesischen Männer „Kretek“ rauchen ist der durchdringende Duft überall in Indonesien allgegenwärtig; ein Aroma an das man sich anfangs erst gewöhnen muss. Ist dies geschehen, kann man Indonesier auch im Ausland und selbst in grosser Menschenmenge sofort ausmachen.


(1) Die für Indonesien typischen Nelkenzigaretten "Kretek"

Die für Indonesien typischen Nelkenzigaretten "Kretek"

 


 

 

 

Die Unterkunft
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17.3.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Die Unterkunft.

Damals gab es noch keine Mehrfamilienhäuser und alle Ausländer wohnten in gemieteten Häusern. Die ledigen Mitarbeiter des BIMAS-CIBA Reisprojektes mussten aber ein Haus miteinander teilen, so wie es mein Chef in Basel auch für mich vorgesehen hatte. Allerdings waren deren Einsätze zum Teil nur temporär und konnte deshalb nicht mit meinem 4-Jahresvertrag verglichen werden. Mit dem Ende des Agrar-Projektes wurden Unterkünfte frei und so auch das Haus welches bis anhin von zwei Junggesellen bewohnt war. Da mein Wunsch das widerliche Hotel Prapancha zu verlassen grösser war als die Absicht alleine in einem Haus zu wohnen, war ich sofort bereit umzuziehen. In diesem Haus an der Jalan Suren 1/17 wohnte allerdings noch Fernand Bolay, dessen Vertrag mit dem BIMAS-CIBA Reisprojekt aber bald auslief. Erst jetzt merkte ich wie vorteilhaft das gemeinsame Wohnen mit einem Mitbewohner eigentlich sein konnte, denn ich befand mich in einem Land wo ich kein Wort verstand und das mir äusserst fremd war. Mit der Erfahrung von Fernand wurde alles viel einfacher und erleichterte auch den Umgang und Kontakt mit der lokalen Bevölkerung. Leider musste er dann anfangs März unverhofft mit Malaria und Verdacht auf Gelbsucht nach Singapur evakuiert werden, von wo er dann schliesslich vorzeitig und definitiv in die Schweiz zurückkehrte. Das machte mich sehr betroffen, bewies mir aber gleichzeitig, dass man während einem Aufenthalt in einem tropischen Land immer der Gefahr solcher Krankheiten ausgesetzt ist. Und nun war ich plötzlich und ganz unverhofft alleine in diesem Haus und mein Wunsch eine Unterkunft nicht teilen zu müssen war auf eine etwas bedrückende Art erfüllt worden.

Das Haus war einfach aber komfortabel möbliert. Die vier Hausangestellten, eine Köchin, eine Küchenhilfe, eine Wäscherin und ein Nachtwächter, konnte ich von Fernand übernehmen. Mit so einer Belegschaft für mich alleine war der Anfang im neuen Zuhause, ausser der Sprache, deshalb problemlos. Da die Köchin nebst „Good morning“ nur „Steak und Pommes Frites“ verstand, wurde mir halt anfangs immer dieselbe Mahlzeit vorgesetzt. Scheinbar hatten ihre Dienstherren bis anhin keine Lust auf Abwechslung gehabt. Zum Glück sprach mein Fahrer ein bisschen englisch und so bat ich ihn der Köchin zu erklären, dass ich lieber Indonesisch essen würde. Von nun an gab es immer ein abwechslungsreiches und leckeres Essen, denn meine „Ibu“ (was so viel wie Mutter heisst) war eine ausgezeichnete Köchin. Sie war eine der wenigen einheimischen Köchinnen die ausgezeichnet indonesisch kochten und so bat man sie manchmal an Partys bei Bekannten auszuhelfen. Leider hatte sie die üble Gewohnheit jeweils am Sonntagmorgen Trasi, eine Garnelenpaste, herzustellen. Der äusserst penetrante, für mich unausstehliche Geruch kam durch das Klimagerät in mein Schlafzimmer und weckte mich erbarmungslos aus dem wohlverdienten Schlaf. Dafür konnte meine Köchin den Geruch von Käse nicht ausstehen. Sie brachte ihn jeweils mit gerümpfter Nase und mit abgewendetem Gesicht auf den Tisch. Erst jetzt wurde mir bewusst wie wenig ich eigentlich von Land und Leuten wusste. Im Gegensatz zu den Vorbereitungen für den Einsatz in Rwanda, wo genau dieses Wissen einen grossen Stellenwert hatte, wurde ich für den Einsatz in Jakarta während einem ganzen Jahr ausschliesslich auf das Projekt vorbereitet. Und nun machte ich mir Vorwürfe, dass ich diese Zeit nicht selbst genutzt hatte um mich über Indonesien zu informieren. Aber das sollte sich nun ändern und da ich die einheimische Sprache nicht verstand, sollte diese meine erste Priorität haben.

Eigentlich hätte ich mich auch ohne Hausangestellte und lokale Sprachkenntnisse vor dem Haus auf der Strasse verpflegen können, denn hier zogen ständig „Warungs“ vorbei. Ein „Warung“ ist ein kleiner Strassen-Verkaufsstand auf Rädern der neben der Verkaufstheke oft eine Kochstelle hat. Verkauft werden gebratener Reis (Nasi Goreng), gebratene Nudeln (Bami Goreng), gebratenes Hähnchen (Ayam goreng) und Fleischspieße (Satay), aber auch Nudelsuppe, Frühlingsrollen (Lumpa) und natürlich „Martabak“, eine Art Sandwich, das mit Schaffleisch, Knoblauch, Ei oder Zwiebeln belegt ist. Aber auch Süssigkeiten und sogar Speiseeis in allen Farben werden angeboten. Manchmal scheint der „Warung“ mehr ein Kiosk zu sein, wo allerlei verpackte Süssigkeiten, Nüsse und Kaugummi zu haben sind. Nachts wird der „Warung“ mit einer äusserst hellen Petrollampe ausgeleuchtet. Da jedes Haus mit einem hohen Bambushag umgeben war, konnte man die „Warungs“ auf der Strasse nicht sehen. Also machten sich die Verkäufer mit Rufen und speziellen Geräuschen bemerkbar. Schläge auf eine Metallplatte war zum Beispiel das Zeichen für gebratene Speisen wie „Martabak“ und auf Porzellanschüsseln für Suppen und Nudeln. Natürlich hatte jeder „Warung“ im unteren Teil des Standes ein Becken mit dem nötigen Wasser für die Reinigung des Geschirrs dabei. Aber leider hatte ich nie das nötige Vertrauen in die Qualität des Abwaschens und so habe ich die ambulante Verpflegung halt nur geruchsweise genossen.


(1) Ein ambulanter Strassenverkäufer (Batik von Benny Setiawan)

Ein ambulanter Strassenverkäufer (Batik von Benny Setiawan)


Schon bald nachdem ich ins Haus eingezogen war, musste ich feststellen, dass die Stromversorgung sehr unregelmässig war. Es gab oft „brown-out’s“, so wie man dies hier nannte. Eine Petrollampe, eine Taschenlampe oder Kerzen mussten daher immer in Reichweite sein. Einmal hatten wir sogar während ein paar Tagen keinen Strom und so musste all das tief gefrorene Fleisch schnellstens verzehrt werden. Es hiess der Energiezentrale fehle Geld für den Unterhalt, aber die Gründe waren bestimmt ganz anderer Art. Nach ein paar Monaten, als ich von einer kurzen Reise in die Schweiz zurückkam, gab es kein Wasser im Haus. Meine Hausangestellten sagten mir, dass seit ein paar Tagen die Wasserpumpe defekt sei und bis anhin nicht repariert wurde. Da die Pumpe nach ein paar Tagen immer noch nicht funktionierte und ich immer noch kein Wasser für die täglich verdiente Dusche hatte, entlud ich meinen Frust beim Eigentümer des Hauses. Als dann die Pumpe endlich wieder Wasser förderte musste man feststellen, dass dies nur sehr unregelmässig geschah. Sofort entstand die Annahme, dass der Grundwasserspiegel während der Trockenzeit sehr stark gesunken sei und deshalb das Bohrloch tiefer gebohrt werden müsse. Doch genau während dieser Diskussion bemerkte ich, dass die Pumpe immer dann ansprang nachdem im Haus jemand die Toilette benutzt hatte. Damit wurde klar: Es gab eine Verbindung zwischen dem Bohrloch und der Sickergrube; mein eigenes Abwasser wurde zu Trinkwasser! Nun war auch klar warum ich oft kränklich war, sporadisch Durchfall hatte und sogar an einer bösen Augeninfektion in beiden Augen erkrankt war. Sofort wurde nun ein neues Bohrloch auf der anderen Seite des Gartens erstellt, sodass eine Verbindung zum Sickerloch unmöglich sein sollte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass die wenigsten Häuser in Jakarta an einer funktionierenden Trinkwasserversorgung angeschlossen waren und dass es kein Abwasser-Kanalisationsnetz gab. Jedes Grundstück hatte seine eigene Bohrlochpumpe und liess das schmutzige Wasser dann über eine Klärgrube auf dem eigenen Boden versickern. Aus diesem Grund befriedigte mich die vorgeschlagene Instandsetzung der Anlage überhaupt nicht, denn ich wusste ja nicht wie weit das neue Bohrloch von der Sickergrube des Nachbars entfernt war. Sofort bestellte ich in der Schweiz einen „Katadyn-Drip“, ein Tisch-Model welches wir auch in Rwanda hatten, ausgestattet mit drei silberimprägnierten Keramikelementen die Bakterien und Protozoen herausfiltern. Damit stellte ich sicher, dass man wenigstens im Hause einwandfreies Trinkwasser zur Verfügung hatte. Aber dann fragte ich mich wie es mit dem Rest der Bevölkerung stand? Ausser einigen Privilegierten pumpten alle Einwohner der Stadt das Wasser aus dem eigenen Boden. Sogar Hochhäuser und Hotels hatten später keine andere Wahl. Und das Abwasser das nicht auf dem eigenen Grund versickerte floss dann in offenen, stinkenden Kanälen direkt ins Meer, ein Zustand an dem sich auch in den folgenden 30 Jahren nichts ändern sollte! Da in unmittelbarer Nähe der Stadt und des Hafens im Meer Garnelen gezüchtet und gefangen werden, entferne ich seither prinzipiell bei allen Crevetten den Darm! Man weiss ja nie was die „Meeresfrüchte“ gefressen hatten…..!

In die Kanäle oder indonesisch „Kali“ genannt, wurde auch sämtlicher Abfall geworfen. Nach sehr starkem Regen waren deshalb oft Teile der Stadt überschwemmt. Einmal stand sogar die Schweizer Botschaft im Wasser. Der damalige Gouverneur Ali Sadikin hatte zu meinem Erstaunen kein Gehör für das Gejammer aus der Bevölkerung, sondern machte sie persönlich verantwortlich für die Unmengen von Abfall welche die Kanäle verstopften und das Wasser nicht mehr abfliessen liessen. Er war auch nicht zimperlich mit Bewohner die ihre Häuser für die Verbreiterung wichtiger Durchgangsstrassen nicht verkaufen wollten. Im Glodok, einem alten Quartier aus der Holländischen Kolonialzeit, wurde einfach der benötigte Teil eines Hauses abgerissen, welcher man für die breitere Strasse brauchte. So sahen einige Häuser nachher aus wie Puppenhäuser, bei welchen man die Fassade abgerissen hatte und man nun in die verschiedenen Zimmer samt Inventar sehen konnte. Natürlich machte er sich mit seinem forschen Vorgehen nicht nur Freunde, aber er scheute sich nicht die eigenen Missstände aufzuzeigen, was für indonesische Verhältnisse nicht selbstverständlich war.

Nach 1 ½ Jahren bekamen wir einen neuen CEO (Chief Executive Officer) für alle Bereiche der CIBA-GEIGY in Indonesien. Er übernahm die Stelle von Dr. Hermann Preisig und hiess Jean Eggmann. Bald fand er, dass es für das Projekt und für mich vorteilhafter sei, wenn ich näher bei der Baustelle wohnen würde. Dieser Vorschlag entfachte bei mir erst keine Begeisterung, denn als einziger Ausländer so weit entfernt von der Stadt und abgeschieden von meinen Bekannten zu wohnen, schien mir doch etwas abenteuerlich. Aber über einen beauftragen Makler hatte er bereits ein Haus gefunden und bat mich dieses anzusehen. Es befand sich auf einem weitläufigen Grundstück direkt an der schon damals stark befahrenen Jalan Raya Bogor. Über dem Eingangstor stand „Wisma Irawati“, was Gästehaus bedeutete. Von diesem Tor führte ein Weg über ein Bächlein durch den grossen Garten mit vielen Bäumen (Jackfrucht, Durian, Salak, Rambutan, Mangostan, Longan, Jambu, Karambole, Sirsak, Guave, Sapo oder Kaugummibaum und natürlich Kokosnusspalmen). Am Ende des Weges war ein kleines Haus. Es war ein Haus in welchem früher Soekarno (oder Bung Karno), der erste Präsident der Republik Indonesien (von 1945 bis 1967), oft seine freie Zeit verbracht hatte. Die Tatsache, dass ich in einem Haus wohnen sollte, das noch vor ein paar Jahren vom Staatspräsidenten bewohnt war, beeindruckte mich natürlich ausserordentlich, machte mich aber auch skeptisch. Ich sah, dass das Grundstück durch einen Hag in zwei Teile getrennt war. Etwas versteckt auf der anderen Seite stand noch ein zweites Haus, in dem Frau Hariyatie, die sechste Ehefrau von Sukarno (Soekarno) residierte und die Vermietung des Hauses erst möglich machte. Diese Tatsache gefiel mich nicht besonders. Hatte ich eine Vorahnung von dem, was ich hier schliesslich erleben durfte?


(2) Mein zweites Zuhause mitten in einem grossen Garten und weit weg von der Stadt.

Mein zweites Zuhause mitten in einem grossen Garten und weit weg von der Stadt.


Doch erst wollte ich mir das Haus ansehen. Zu meiner Enttäuschung war es kein Palast so wie ich es mir vorgestellt hatte, sondern nur eine bescheidene, sehr notdürftig eingerichtete Absteige. Es hatte nur ein Zimmer und daneben eine kleine „Kamar Mandi“. Zudem hatte das Haus keinen Stromanschluss. Da ich mir bewusst war, vielleicht nie mehr in meinem Leben auf einem solch grossen Anwesen leben zu dürfen, war die Versuchung trotzdem gross den Vorschlag des CEO anzunehmen. Bevor ich aber einwilligte, stellte ich eine Bedingung: das Haus musste nach meinen Ansprüchen umgebaut und erweitert werden. Erstens verlangte ich, dass für meine Hausangestellten eine entsprechende Unterkunft (drei Zimmer, Dusche und WC) zusammen mit einer Garage und einer Waschküche angebaut wird. Dann brauchte das Haus eine zweckmässige Küche, einen Wohnraum und zwei Schlafzimmer mit separaten, westlich eingerichteten Bädern, wobei eines als Gastzimmer diente. Zudem benötigte das Haus eine Stromversorgung und die entsprechende Hausinstallation. Da Jean Eggmann den Ruf hatte ziemlich knauserig zu sein, hatte ich kaum Hoffnung, dass er all diese Wünsche erfüllen würde. Doch ich hatte mich getäuscht, denn zu meiner grossen Überraschung war er mit allen Forderungen sofort einverstanden. Allerdings verlangte er, dass ich diese Arbeiten persönlich überwachen müsse, etwas das ich ja aus eigenem Interesse sowieso gemacht hätte. Nachdem die Besitzerin mit dem Umbau ebenfalls einverstanden war, machte ich sofort die nötigen Baupläne und begann mit den Arbeiten. Da einige Materialien auf unserer Baustelle bereits vorhanden waren, konnte ich das Haus genau nach meinem Vorstellungen gestalten. In meinem Kreationsfieber liess ich sogar eine offene Feuerstelle im Wohnraum einbauen. Ein Cheminée in einem tropischen Klima schien natürlich vielen Bekannten ziemlich grotesk. Aber das Resultat war verblüffend und äusserst ansprechend. Die Kombination einer Bruchsteinmauer, Holzdecken, weissen Wänden und einer grossen Fensterfront war für mich perfekt. Bevor ich das renovierte Haus beziehen durfte, musste aber erst ein „Slametan“ arrangiert werden. Zu diesem Ritual sind normalerweise nur Männer eingeladen. In diesem Fall waren es vor allem die Handwerker, die Nachbarn und ein paar spirituelle Leute. Im absolut leeren Wohnraum legte man Strohmatten auf den Boden, auf denen sich alle Gäste im Kreise hinsetzten. Einer der spirituellen Männer begann das Ritual mit der Bitte um Nachsicht für allfällig begangene Fehler während des Baus. Dann sprach er Gebete und segnete schliesslich das Haus. Anschliessend brachte meine Köchin, die Ibu, ihre zubreiteten Speisen in den Raum und stellte sie in die Mitte der Gruppe. Dieses gemeinsame Mahl ist jeweils ein wichtiger Teil des Rituals um die Einigkeit zu bestätigen. Damit war das Haus gesegnet und ich konnte am 26. Januar 1973 in mein neues Heim, dem „Wisma Irawati“, einziehen.


(3) „Slametan“ das obligate Ritual vor dem Bezug eines Hauses.

„Slametan“ das obligate Ritual vor dem Bezug eines Hauses.


Etwas, mit dem über kurz oder lang jeder Ausländer in Indonesien Bekanntschaft macht, ist die „Kamar Mandi“, das indonesische Badezimmer, das für viele anfangs sicher eine gewisse Herausforderung sein kann. Das typisch indonesische „Mandi“ besteht immer aus einem gemauerten, ungefähr einem Meter hohem, offenen Wasserbecken und einer Hocktoilette. Um sich zu waschen braucht man einen Eimer oder Schöpfkelle, welche meistens auf dem Rand des „Mandi“ bereit liegen. Damit schöpft man Wasser aus dem Becken und übergiesst sich damit. Dann seift man sich ein und übergiesst sich danach erneut. Dies kann man je nach Wunsch wiederholen bis man sich sauber fühlt. Allerdings darf das Wasserbecken aus hygienischen Gründen nie als Badewanne benutzt werden. Das Wasser wird ja immer nur nachgefüllt und das Becken deshalb nur selten völlig entleert und gereinigt. Ausserdem waren die relativ hohen Mauern eines solchen Wasserbeckens normalerweise für das Ein- und Aussteigen sowieso ungeeignet. Trotzdem kam es vor, dass man uneingeweihten Besuchern aus Europa plötzlich aus der Falle helfen musste. Auch die Hocktoilette ist für viele eine Herausforderung. Um sich richtig zu positionieren (man will ja genau treffen) braucht es Beweglichkeit und ein sicheres Gleichgewicht. Aus der gleichen Stellung schöpft man nachher, an Stelle von Toilettenpapier, erneut Wasser aus dem Becken. Dann hält man den Eimer oder die Schöpfkelle mit der rechten Hand unter seinen Hintern und spritz sich mit der linken Hand Wasser an die zu reinigende Stelle. Aus religiösen Gründen und weil man die rechte Hand zum Essen benützt, brauchen die Indonesier für die Reinigung ausschliesslich nur die linke Hand. Aber auch mit dieser Hand ist es äusserst schwierig die Hosen bei der Wasserreinigung trocken zu halten und so zog ich sie meistens vorher aus. Damit konnte ich Unannehmlichkeiten vermeiden. Das Wasser aus den Wasserbecken wird auch zum Spülen der Hocktoilette gebraucht. Beim Umbau des gemieteten Hauses wurde ein „Kamar Mandi“ nur für die Hausangestellten eingerichtet. Die beiden anderen Badezimmer wurden mit einem normalen WC, Bad oder Dusche ausgestattet.


(4) Kamar Mandi

Kamar Mandi


Der Umzug in mein definitives Zuhause, dem „Wisma Irawati“, bedeutete auch mehr Angestellte: zwei Gärtner für den Unterhalt des riesigen Gartens, einen Nachtwächter und jemand der den Stromgenerator bediente. Mit dem Fahrer waren es nun 7 Personen geworden. In Indonesien herrschte halt immer noch die traditionelle Hierarchie. So war eine Köchin nur für das Kochen verantwortlich, die Küchenhilfe für den Service und um das Geschirr zu waschen, die Putzfrau nur für den Haushalt, die aber in meinem Fall ausnahmsweise auch die Wäsche besorgte. Die Köchin, die Ibu, amtierte wie eine Gouvernante und hatte alle anderen Angestellten immer unter Kontrolle. Sie war eine äusserst gute und verlässliche Person. Eigentlich empfand ich sie wie eine Mutter. Wahrscheinlich hatte sie für mich die gleichen Empfindungen, denn sie behandelte mich oft wie ihren Sohn und zeigte sie sich nie unterwürfig wie dies sonst bei Indonesierinnen üblich ist. Im Gegenteil, wenn ich einen Unsinn machte erhielt ich eine Schelte und an Anweisungen fehlte es auch nie. So ermahnte sie mich oft meine Kleider zu wechseln, wenn ich mit den Hunden im Garten unterwegs war. Dies tat sie aber immer auf so eine subtile Art, sodass ich ihre Befehle gar nicht wahrnahm. Ich merkte dies jeweils erst im Nachhinein.


(5) Ibu, Mimi ihre Tochter und meine drei Hunde Lola, Bobbie und Buddie

Ibu, Mimi ihre Tochter und meine drei Hunde Lola, Bobbie und Buddie


Schon bald nach der Ankunft im „Wisma Irawati“ wurde mir ein „Deutscher Schäferhund“ angeboten. Mit diesem grossen Anwesen konnte ein Wachhund nur nützlich sein und so kaufte ich ihn. Ich nannte ihn Buddie und verbrachte, wenn möglich, immer den Feierabend mit ihm. Wir rannten miteinander im Garten herum und spielten zusammen. Dann bekam ich eine kleine weisse Hündin geschenkt, die Lola. Nun hatte Buddie während meiner Abwesenheit jemand mit dem er sich im Garten tummeln konnte. Eines Tages war plötzlich ein dritter Hund da. Wahrscheinlich hatte ihn jemand auf dem Weg nach Bogor ausgesetzt. Wir nannten ihn Bobbie und da er oft auf den Hinterbeinen herum lief vermuteten wir, dass er einem Zirkus davongelaufen war. Und dann erschien eines Tages ein vierter Hund, ein schönes braunes Tier. Meine Ibu nannte ihn Sakri, weil sie meinte er sähe meinem Nachbar ähnlich. Nun tummelten sich vier Hunde im Garten und boten mir bei der Rückkehr von der Arbeit jedes Mal eine lautstarke Begrüssung. Besonders Buddie freute sich jeden Abend, konnte es aber nicht ausstehen, wenn ich morgens zur Arbeit fuhr. Er bellte wie wild und biss andauernd in die Pneus. Während einem Aufenthalt in der Schweiz hütete mein Assistent, Karmadi, das Haus. Nach meiner Rückkehr überbrachte er mir eine sehr traurige Nachricht. Er erzählte, dass mich Buddie sofort nach meiner Abreise überall zu suchen begann. Nachdem er mich nirgends finden konnte, wollte er nicht mehr fressen und wurde in der Folge immer schwächer. Eines Tages zog er sich nicht mehr in sein Gehege zurück, sondern legte sich auf die Schwelle meiner Schlafzimmertüre wo er bis zu seinem Ableben verharrte. Die Treue dieses Tieres bewegte mich ausserordentlich und es tat mir leid, dass ich ihn so lange alleine lassen musste.

Als Präsident hatte General Sukarno damals das Privileg auf seiner Liegenschaft einen eigenen Trinkwasseranschluss zu haben. Die Leitung führte von der Hauptleitung an der Jalan Bogor zu seinen zwei Häusern und zusätzlich zu einem Wasserhahn im Dorf nebenan. Dies machte er natürlich nur um sich gegenüber den Nachbarn grosszügig zu zeigen, machte diese aber gleichzeitig von seinem Wohlwollen abhängig. All dies wusste ich beim Bezug des Hauses aber noch nicht und scheinbar war auch im Vertrag nichts davon erwähnt. Es war meine Köchin Ibu die mich über diese Vorgeschichte aufklärte. Unser Buchalter beschwerte sich nämlich regelmässig über die hohe Wasserrechnung. Da ich diese Information nicht hatte, war es für mich auch unerklärlich wieso ich so viel Wasser brauchte und dies umso mehr da mein Schwimmbad gar nie gefüllt und gebraucht wurde. Natürlich wusste ich, dass die Leute im Dorf sehr grosszügig mit meinem teuren Wasser umgingen und der Wasserhahn meinst gar nicht zugedreht wurde. Nun aber entdeckte Ibu auch noch, dass meine Nachbarin, Frau Hariyatie, die Zuleitung zu meinem Haus aufsägen liess und ein Teil des Gartens überflutet wurde. Natürlich wies meine Nachbarin die Anschuldigung zurück und die Reparatur blieb mein Problem. Aber nun wurde endlich auch unserem Buchhalter klar wieso die Wasserrechung immer so horrend teuer war.

Auch die Telefonleitung musste ich mit meiner Nachbarin teilen. Da auch dieses Detail im Voraus nicht geklärt war, beglich auch diese Rechnung immer meine Firma. Einmal wurde nachts entlang der Jalan Raya Bogor die Telefonleitung auf einer Länge von einigen hundert Meter demontiert und das Kupferkabel gestohlen. Natürlich brauchte es sehr viel Geduld bis das Telefonamt die Leitung ersetzt hatte und ich wieder telefonieren konnte. Aber nun erfand meine Nachbarin etwas Neues um mich zu ärgern: nach einem Gespräch legte sie den Hörer nicht zurück auf den Apparat und so konnte ich nicht telefonieren. Damit entschied sie wann ich telefonieren durfte! Eines Tages liess sie den bestehenden Hag aus Drahtgeflecht zusätzlich mit einem Bambushag verkleiden. Wahrscheinlich hatte sie Bedenken, dass ich sie beobachten könnte. Aber scheinbar war das Gegenteil der Fall, jedenfalls behauptete dies meine Ibu. Am nächsten Morgen hatte sie die ganze Fensterfront des Wohnraumes mit Tüchern abgedeckt. Als ich fragte was dies bedeute sagte sie mir, dass sie nicht dulde, dass mich die Nachbarin ständig durch die Bambusstäbe beobachte. Da sie nie bereit war mich zu treffen und die Probleme zu besprechen, wendete ich an ihren zweiten Mann, Sakri. Er war ein sehr netter und vernünftiger Mann. Er war sofort bereit mit mir die Angelegenheit zu diskutieren und versuchte mich zu beruhigen. Verschmitzt meinte er am Schluss des Gespräches, dass das was ich mit seiner Frau erlebe nichts sei im Vergleich mit dem was er jeden Tag selbst einstecken müsse! Vielleicht war die Frau aber einfach neidisch auf mein schön renoviertes Haus oder die lauten Partys mit den vielen geladenen Gästen bei denen sie vielleicht gerne dabei gewesen wäre. Doch ihr bizarres Benehmen mir gegenüber hielt mich von einer solchen Möglichkeit ab.

In meinem neuen Daheim wäre ich ohne Ibu wahrscheinlich öfters verloren gewesen. Sie war ja den ganzen Tag zu Hause und hatte Zeit um die Liegenschaft immer im Auge zu behalten. Sie war auch äusserst erfinderisch. An einem Abend war der Nachtwächter nicht zur Arbeit erschienen und ich war bei Freunden zum Nachtessen. Als ich nach Hause kam öffnete zu meiner Überraschung die Ibu die Gartentüre. In der Garage entdeckte ich dann den Nachtwächter gemütlich auf einem Stuhl sitzend, jedenfalls war dies meine erste Wahrnehmung. Bei näherem Hinschauen sah ich aber, dass es eine Puppe war. Da Ibu Angst vor Dieben hatte, bastelte sie eine Attrappe des Nachtwächters um etwelche Einbrecher damit abzuschrecken. Natürlich hörte ich sie schimpfen, dass sie wegen meiner späten Heimkehr nicht ins Bett gehen konnte und zudem den Nachtwächter ersetzen musste. Für mich war dies aber ein achtbarer Beweis, dass sie eine verantwortungsvolle Frau war. Natürlich hatte auch sie eine Schwäche, denn sie konnte mit dem Geld nicht umgehen. Wenn ich sie für Einkäufe auf den Markt schickte durfte ich ihr jedes Mal nur so viel Geld mitgeben wie sie auch tatsächlich brauchte. Konnte ich ihr einmal den genauen Betrag nicht mitgeben, dann kam sie trotzdem ohne Rückgeld zurück. Sie hatte alles Geld ausgegeben und Sachen gekauft die ich weder bestellt hatte noch brauchte, die ihr aber gefielen, zum Beispiel glänzende Aschenbecher aus Aluminium! Da sie auch nach jedem Zahltag sofort wieder einen Vorschuss verlangte, wollte ich wissen was sie mit dem Geld so schnell gemacht hatte. Nach einer Weile fiel mir auf, dass sie immer am Zahltag Besuch von ihrer Familie hatte. Jetzt war mir klar, dass ihre Kinder ihr regelmässig das ganze Geld abnahmen. Dabei betonte sie mir immer wieder, dass viele Kinder Reichtum bedeuteten und ich viele Kinder haben sollte. Da dieser Reichtum bei ihr sichtlich nicht zutraf, bezahlte ich sie danach alle 14 Tage und vermied damit teilweise die brutale Ausbeutung. Ibu war aber auch of zerstreut, so zum Beispiel beim Frühstück. Jeden Morgen fehlte irgendetwas auf dem Tisch. Einmal das Brot, dann die Butter oder der Tee, etc. Einmal war sie zu dieser Zeit überhaupt nicht im Hause. Als ich im Garten nach ihr schaute, sass sie seelenruhig und fröhlich auf einem Baum! Was sie dort schon früh morgens machte konnte ich nicht erfahren, aber so war sie halt einfach, die Ibu.


(6) Meine Köchin, die Ibu in ihrem Dorf

Meine Köchin, die Ibu in ihrem Dorf


Wie die meisten Indonesier war sie Muslimin, genauer gesagt „Sunnitin“. Doch scheinbar lebte der Einfluss des Buddhismus und des Hinduismus aus dem ersten Jahrtausend nach Christus in ihrer Denkweise weiter, denn sie glaubte fest an die Inkarnation. Sie war überzeugt, dass man bei der Geburt eine Rolle bekommt, die man akzeptieren und während des ganzen Lebens gewissenhaft meistern muss. Da sie diesmal arm und „nur“ als Köchin auf diese Welt gekommen war, hoffte sie dank gutem Verhalten dafür im nächsten Leben auf einer höheren Stufe und ohne finanzielles Sorgen geboren zu werden. Die Bedingung ist allerdings, dass man sich mit seiner Rolle in diesem Leben abfindet und auf sein Gewissen horcht. Wenn jemand ein schlechtes Leben führt, könnte jemand bei der Inkarnation nämlich ein Tier, zum Beispiel eine Kröte werden, also viele Stufen tiefer als ein Mensch. In diesem Bewusstsein leben viele Indonesier und akzeptieren ihr Leben so wie es sich eben ergibt. Da diese Situation durchgestanden werden muss, besteht auch meistens kein Grund etwas zu ändern oder zu verbessern. Etwas das ich auch bei meinen Angestellten oft bemerkt hatte. Aus diesem Grund scheint es in Indonesien auch selten Volksaufstände zu geben; man fügt sich den Bestimmungen der Regierung. Natürlich hat dabei auch das Patriarchat eine gewisse Bedeutung, man respektiert ältere Leute und die Obrigkeiten viel mehr als bei uns in Europa. Ob dies in der Zukunft und mit dem Einfluss der digitalen Welt weiterhin so bleibt wird sich zeigen.

Das Alter von Ibu habe ich nie erfahren und ich glaube, dass sie es selbst nicht so genau wusste. Aber da sie etliche Kinder hatte, musste ich annehmen, dass sie nicht mehr die Jüngste war. Eines Tages war plötzlich ein ungefähr 9-jähriges Kind bei ihr. Sie sagte es sei ihr jüngstes Mädchen, heisse Mimi und fragte gleichzeitig ob das Kind mit ihr in meinem Hause wohnen dürfe. Natürlich sagte ich ja, musste aber bald feststellen, dass die Kleine bald zu ihrer Küchenhilfe herangezogen wurde. Dies wollte ich auf alle Fälle vermeiden und fragte wieso Mimi nicht in die Schule gehe. Doch Ibu lachte und meinte, dass Mädchen doch keine Schulbildung brauchten und dass sie das Nötige für das Leben auch zu Hause lernen könnte. Das gefiel mir gar nicht und so suchte ich ein Argument das auch Ibu einleuchten würde. Nach einigen Tagen hatte ich die Idee. Ich sagte Ibu, dass Mimi ohne lesen und schreiben zu können, wohl später niemand oder höchstens einen Becak-Fahrer als Gatte finden würde, denn ein wohlhabender Mann würde sich wohl kaum für eine ungeschulte Frau interessieren. Und dies hätte zur Folge, dass sie im Alter womöglich kaum auf die Unterstützung von Mimi rechnen könne. Damit hatte ich Ibu überlistet und schon am nächsten Tag musste Mimi zur Schule gehen. Mit meinem Fahrer informierten wir uns im Dorf und schon bald konnte Mimi wie andere Kinder zur Schule gehen. Doch für Ibu war Mimi’s Fortschritt langsamer als erwartet denn sie meinte, dass das Mädchen schon nach ein paar Tagen lesen und schreiben könne. Ich hörte wie sie Mimi bei zu wenig Fleiss mit reduziertem Essen drohte; nur Reis und Wasser wie im Gefängnis. Ich versuchte Ibu zu erklären, dass Mimi Zeit brauche und dass ich auch nicht schon nach einem Tag schreiben konnte, doch sie hörte nicht und blieb stur. Sie quälte das Kind so stark bis es eines Tages verschwand. Wahrscheinlich war es in sein Dorf zurückgekehrt wo es erneut der Schule fern blieb.

Dafür fühlte sich ihr Sohn wohl bei mir. Er hatte die Stelle des verschwundenen Gärtners übernommen und sich anschliessend in Ane, die Küchenhilfe verliebt. Da die Verliebten kein Geld für eine Hochzeitsfeier hatten, baten sie mich die Hochzeit in meinem Haus zu zelebrieren, was ich ihnen erlaubte. Um die schöne, bis ins Detail herausgeputzte Braut zu bewundern, erschienen Leute die ich vorher noch nie gesehen hatte. Scheinbar genossen alle diesen speziellen Tag und Ibu war zufrieden. Nachdem Ane das erste Kind geboren hatte, fragte ich die beiden Eltern wie viele Kinder sie denn haben möchten. Dabei erwähnte ich die Familienplanung (Keluarga renjana), die von der damaligen Regierung sehr gefördert wurde. Doch sie hatten noch nie davon gehört und so schickte ich sie in die nächste Klinik um mehr über dieses Thema zu erfahren. Nach meiner Rückkehr am Abend wollte ich wissen was der Arzt ihnen gesagt hatte. Beide kicherten, schämten sich offensichtlich und zeigten mir schliesslich zwei Kondome. Ob der Arzt mit ihnen überhaupt über Familienplanung gesprochen hatte und wenn ja, ob sie es verstanden hatten blieb fraglich denn bald darauf war ein zweites Kind unterwegs.


(7) Die beiden Mütter und das Hochzeitspaar Ane und Ulung.

Die beiden Mütter und das Hochzeitspaar Ane und Ulung.


Mein drittes Zuhause. Bereits nach nur 1 ½ Jahren wurde der Vertrag mit meiner Nachbarin aufgelöst und ich musste erneut umziehen. In Kebayoran Baru, an der Jalan Brawijaya Raya, hatte die Firma ein Haus, das damals von der CIBA für Angestellte des Bimas Projektes gemietet worden war. Da das Haus nun frei wurde, sollte ich darin wohnen. Doch das Haus war in einem miserablen Zustand. Die vorhergehenden Bewohner hatten nicht nur die Wohnung, sondern auch den Garten total verlottern lassen. Zudem wimmelte es überall von Kakerlaken. Bevor ich einziehen konnte, musste ich deshalb ein zweites Mal die Renovation eines Hauses übernehmen. Der Zustand war so schlimm, dass man die ganze Küche und das Bad erneuern musste. Im Schlafzimmer bemerkte ich eine grosse, weisse Schiebetüre. Ich witterte unter der weissen Farbe wunderbares Teakholz. Ich kratzte ein wenig Farbe weg und schon hatte ich die Bestätigung. Also liess ich die Farbe auf beiden Seiten der Türe entfernen und das schöne Holz dann einölen. Diese Türe aus dunklem Teakholz veränderte das Zimmer sofort und machte es heimelig, ja sogar elegant. Schon im Wisma Irawati hatte ich eine Vorliebe für Teakholz und liess damals die Decke des Schlafzimmers mit diesem Material anfertigen. Diese wunderschöne Decke wollte ich meiner Nachbarin aber nicht überlassen und so liess ich sie demontieren und im neuen Haus einbauen. Nach Fertigstellung der Arbeiten hatte sich das Haus in ein äusserst gemütliches, ja sogar schmuckes Heim verwandelt, ein Ort wo ich mich sofort wohl fühlte. Aber ich fühlte mich auch wohl, weil ich nun fast gegenüber von Marianne und Max Schweizer wohnte. Wir hatten schon vorher viele schöne Stunde miteinander verbracht, besonders jeweils an Weihnachten zusammen mit seinen beiden Mädchen. Kaum war ich im Haus eingezogen da wurde ich an einem Sonntagmorgen von sehr lauter Militärmusik aufgeschreckt. Nachdem ich erfolglos aus dem Fenster schaute und die Militärparade sehen wollte bekam ich einen Anruf von Max. Er hatte seine beiden, riesigen Lautsprecher auf dem Balkon aufgestellt und wollte mich mit voller Lautstärke militärisch wecken. Seine Scherze sind unvergesslich geblieben, leider habe ich nie erfahren ob die sicher auch erschreckten Nachbarn ebenfalls amüsiert waren. Jedenfalls waren sie nachher nicht bei Schweizer’s am Frühstückstisch. Etwas unangenehmer waren die vielen käuflichen Mädchen im Quartier. Einmal als ich nachts nach Hause kam hatte sich eine ganze Gruppe vor meinem Gartentor aufgestellt, so als ob man sie bei mir abholen konnte. Zwei davon hatten sich wie balinesische Torwächter auf den kleinen Absätzen beidseitig des Tores niedergelassen, aber nicht aufrechtstehend und Angst einflössend, sondern auf dem Rücken liegend und mit den Beinen obszön in V-Stellung himmelwärts. Ich hatte alle Mühe sie weg zu jagen und die unsittliche Wahrnehmung meiner „Residenz“ wieder los zu werden.

Aber auch in diesem Haus sollte ich nicht lange bleiben, denn das Haus war nach Ende meines Vertrages für den Medical Adviser, Frans Tshai, vorgesehen. Als Chinese schien dieser verpflichtet nach den traditionellen Vorgaben zu heiraten und um Unglück zu vermeiden bei einer gewissen Mond/Sterne Konstellation bereits im neuen Hause zu wohnen. Da diese spezielle Planetenstellung noch vor meiner Abreise erwartet wurde, bat er mich das Haus früher als vorgesehen zu verlassen. Also musste ich für die letzten paar Wochen in Jakarta erneut umziehen, diesmal allerdings ins Hotel Hilton. Leider schienen ihm all die Vorkehrungen für eine glückliche Ehe nichts genützt zu haben, denn das Paar war in der Folge nicht lange zusammen.

Die ersten Monate in Jakarta
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17.4.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Die ersten Monate in Jakarta.

Damals war das Leben in Jakarta für Ausländer nicht unbedingt einfach, aber das grösste Problem war die Sprache. Damals sprachen nur sehr wenige Indonesier Englisch und meine diesbezüglichen Sprachkenntnisse gerade gut genug für eine einfache Konversation. Ohne Ratschläge und Hilfe von Leuten die schon längere Zeit im Land waren, konnte es deshalb sehr mühsam sein. So entstand zwangsläufig eine Abhängigkeit unter Ausländern, besonders aber unter Schweizern und Deutschen. Damit entstand unter uns eine Verbundenheit die wohl als einmalig bezeichnet werden kann und die weit über den Aufenthalt in Indonesien fortbestand. Man half sich gegenseitig in jeder Beziehung, so auch beim Einkauf von Lebensmitteln, zum Beispiel Brot. Auf dem Markt gab es ja nur viereckiges Toastbrot, das ohne zu toasten wie Schaumgummi schmeckte. Als jemand erfuhr, dass man bei Horst Müller aus dem Schwarzwald und Koch im Hotel Indonesia, herrliches Bauernbrot kaufen konnte, verbreitete sich diese Nachricht wie ein Lauffeuer und jeder suchte die richtige Hintertüre beim „HJ“ wo man Zugang zur Horsts Büro hatte. Seine Frau kam aus Berlin und erheiterte uns immer wieder mit ihrem charmanten und typischen Dialekt. Bald wurde bekannt, dass Horst eine riesige Sammlung von Kassetten mit rassiger Tanz-Musik aus Europa auf Kassetten hatte. Mit diesen feuerte er manchmal als DJ (Disc Jockey) das Publikum im hoteleigenen Nachtclub an. An einem Sonntagmorgen lud er alle Schweizer zu einem Frühschoppen in „seine Disco“ ein, was nicht nur die Erwachsenen zu einem Tanz animierte, sondern auch bereits die Nachkommen.


(1) Der ambulante Hühnerverkäufer von Benny Setiawan

Der ambulante Hühnerverkäufer von Benny Setiawan


Im Blok-M, einem kleinen Einkaufszentrum, gab es wohl eine grosse Auswahl an Lebensmitteln, aber Trockenfleisch, einen trocknen Weisswein, Kirsch und den richtigen Käse für ein Fondue suchte man vergebens. Wenn eines dieser Produkte einmal auftauchte, rief man sofort alle Freunde an und ein paar Tage später war die Lieferung bereits ausverkauft. Es war ja nicht so, dass man ohne Schweizer Kost nicht hätte leben können, aber als gelegentliche Abwechslung war sie sehr geschätzt und machte auch Freude. All die Zutaten für ein Fondue, Kalbsbratwürste, Bündnerfleisch, gute Schokolade und vieles Andere, das halt einfach zur Schweizer Kost gehörte, bekam man aber ohne Einschränkung in Singapur. So benutzte man jede Möglichkeit um von dort die nötigen Spezialitäten zu ergattern.

Auch gutes, hygienisch feilgehaltenes Fleisch war anfangs kaum zu finden. Ganz per Zufall entdeckte ich in der Stadt einmal eine kleine Metzgerei wo man korrekt geschnittenes Fleisch und vor allem perfekte Rindsfilets kaufen konnte. Um zu diesem Geschäft zu gelangen musste man allerdings zuerst eine Autogarage durchqueren und dabei über Motoren und Autoteile steigen. Ausser T-Shirts gab es kaum Kleider die ein Europäer tragen wollte. Die meisten Textilien waren aus Nylon oder ähnlichem Kunststoff, also Gewebe die für ein tropisches Klima überhaupt nicht geeignet waren. Aus diesem Grund suchten wir auf dem Markt Baumwollstoffe und liessen uns Hemden sowie Hosen beim Schneider auf Mass machen. Mit diesen oft mühsamen Gegebenheiten zwang es uns immer geeignete Lösungen zu finden und sich mit den lokalen Verhältnissen auseinanderzusetzen.

Durch diese Solidarität war es, im Gegensatz zu Kairo, auch viel einfacher am sozialen Leben teilzunehmen. Schon in den ersten Wochen wurde ich zu Partys eingeladen, so zum Beispiel auch auf der Schweizer Botschaft, wo man viele Leute traf und kennenlernte. Und damit ergab sich bald eine Kettenreaktion von Einladungen die ich anfangs sehr schätzte. Damals gab es ja ausser den Hotels Indonesia, Ashoka, und Kartika Plaza kaum ein Ort wo sich Ausländer trafen. Und so spielte sich das soziale Leben hauptsächlich in den privaten Kreisen ab. Man traf sich zum Kartenspiel, zum Frühschoppen, zu einem Mittagessen oder einfach zum plaudern. Auf diese Weise fühlte ich mich sehr rasch integriert und geborgen, sodass die anfangs deprimierende Zeit im Hotel Prapancha bald vergessen war. Da ich aber aus Erfahrung wusste, dass in solch geschlossenen Kreisen Klatsch und Intrigen üblich sind, hielt ich mich anfangs sehr zurück. Es wurde mir auch bald bewusst, dass immer jeder von jedem alles wusste. Mein Fahrer lieferte mir einen bedenklichen Beweis als er mich eines Tages von einer Arztvisite nach Hause fuhr. Ganz beiläufig sagte er, dass einer meiner Arbeitskollegen sich auch von diesem Arzt behandeln lasse. Ich kannte die verschlüsselte, indonesische Art der Kommunikation und wusste sofort, dass er mir eigentlich etwas ganz anderes mitteilen wollte. Und so fragte ich ihn an was mein Kollege denn erkrankt sei? Spontan und ohne Hemmung sagte er: Syphilis! Verwundert schaute ich ihn an und frage woher er dies wisse? Ganz ruhig klärte er das Geheimnis. Während er vor dem Haus auf mich warten musste besuchte er einen Bekannten der beim Arzt im Labor arbeitete. Dieser hatte keinen Skrupel das Arztgeheimnis zu brechen und teilte die Diagnose meines Kollegen mit meinem Fahrer. Durch ihn machte diese Nachricht natürlich bald die Runde unter den hauseigenen Fahrern auf dem Parkplatz der Ciba und diese brachten die Neuigkeit am Abend zu den Hausangestellten des jeweiligen Arbeitgebers. Unweigerlich zirkulierte die Kunde dann bald auch unter den Schweizern. Ich war nicht an Syphilis erkrankt, erschrak aber über die Tatsache, dass man in Indonesien völlig der Geheimniskrämerei der Einheimischen ausgesetzt ist. Damit wurde mir bewusst, dass man in diesem Land nichts verheimlichen konnte. Aber auch an diese Besonderheit gewöhnte man sich mit der Zeit.

Irgendjemand erwähnte einmal, dass sich im Hotel Indonesia jeden Freitag Junggesellen (innen) zum „TGIF” (Thank God it’s Friday) trafen. Um nicht nur immer von Schweizern abhängig zu sein, gesellte ich mich an einem Freitag unter diese illustre Gesellschaft. Es waren hauptsächlich Angestellte von diplomatischen Vertretungen die sich hier trafen. Alle schienen sich bereits schon lange zu kennen und so war ich total verloren. Doch dann nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte eine Dame: „Are you English?“ Sie schaute mich herablassend an und sagte: „No, I am from the UK”. Da ich sie wahrscheinlich total verwirrt und fragend anschaute, ergänzte sie sichtlich frustriert: „The United Kingdom!“. Ich stand da wie ein Esel und wusste nicht mehr weiter. In diesem Moment erinnerte ich mich an die Engländer auf dem Fort in Algerien und es wurde mir bewusst, dass ich als Neuling für Briten ja nur ein „green horn“ war, der sich erst beweisen musste. Zum Glück stand ein Sekretär der Mexikanischen Botschaft neben uns und hatte meine Abfuhr beobachtet. Er sprach mich an, brachte mich zu redseligeren Leuten und befreite mich aus der peinlichen Situation. Schon nach ein paar Sätzen hatte ich gemerkt, dass er mir punkto Umgangsformen in diesen Kreisen, sowie Kultur und Allgemeinbildung haushoch überlegen war. Er selbst hatte dies wohl auch gemerkt, doch er liess sich nichts anmerken und versuchte einfach dem “Spengler aus der Schweiz“ seinen ersten Abend beim „TGIF” zu retten. Ich aber fühlte mich unter diesen Menschen nicht wohl, wurde rot im Gesicht und musste erst einmal mit einem aufkommenden Minderwertigkeitskomplex kämpfen. Während er sich Mühe gab, mich mit dieser abgehobenen, westlichen Elite bekannt zu machen, war ich berührt, dass dies durch jemand aus einem „Drittweltland“ geschah. Er verriet mir nicht, ob er früher vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht hatte und deshalb wusste mit solchen Leuten umzugehen. Beim Abschied stellte er sich als Jorge vor und so trafen wir uns ein paar Tage später zu einem Bier. Damit hatte ich einen Kumpel gefunden mit dem ich Jakarta und die Umgebung entdecken konnte. Schon bald fuhr ich einmal mit ihm, meiner Köchin und dem Fahrer um fünf Uhr morgens zum Fischmarkt „Sunda Kelapa“ beim emsigen Hafen „Tanjung Priok“. Die Ankunft der vielen Fischerboote, das emsige Treiben im Hafen und das mystische, pastellfarbige Morgenlicht waren äusserst eindrücklich und faszinierend.

Da Jorge durch die Botschaft immer Einladungen zu kulturellen Anlässen bekam, bat er mich oft ihn an Konzerte, Film-Festivals, etc. zu begleiten. Manchmal unternahmen wir etwas am Wochenende oder an freien Tagen. Einmal meldete sich eine steinreiche und scheinbar einflussreiche Mexikanerin mit ihrer Tochter auf der Botschaft. Er schlug mir vor zusammen mit den zwei Damen ein Wochenende in Yogyakarta zu verbringen. Dort besuchten wir Borobudur, eine der grössten buddhistischen Tempelanlagen der Welt und den hinduistischen Tempel Prambanan. Natürlich fanden alle den Ausflug interessant. Doch bald fiel mir auf, dass die Augen dieser reichen Frau mehr auf mich als auf die Tempel gerichtet waren. Dann erst erfuhr ich, dass sie auf Brautschau für ihre Tochter war und eigentlich den jungen Diplomaten Jorge im Visier gehabt hatte. Aber dann kam ich dazwischen und sie änderte ihre Meinung. Doch der Funken wollte nicht springen, denn ich fand das Mädchen viel zu verwöhnt und eingebildet. So entschied ihre Mutter die Weltreise fortzusetzen und ihr Glück in Indien zu suchen. Ich aber war meinem Schutzengel dankbar, dass er den einfachen Handwerker mit leerem Geldbeutel vor Enttäuschung und Unglück in den Kreisen von reichen, blasierten und überheblichen Menschen verschont hatte.


(2) Die Tempelanlage "Borobudur" in Jogjakarta

Die Tempelanlage "Borobudur" in Jogjakarta


Über die Ostertage 1971 verbrachten wir zusammen mit zwei Deutschen ein Wochenende in Pangandaran, ein Bade- und Fischerort an der Südküste Javas. Damals war es ein Ausflugsort welcher fast ausschliesslich von Javanern und einigen wenigen, internationalen Rucksacktouristen besucht wurde. Pangandaran war eigentlich nur ein kleines, armseliges Fischerdorf und die Unterkunft mit seinen fensterlosen Bambuswänden kam mir eher wie ein Ziegenstall vor. Doch die wilde, urtümliche Landschaft und der wunderbare Strand machte all dies aber bei weitem wieder wett. Kurz vor der Ankunft im Dorf hörten wir hinter uns plötzlich eine Sirene und bald überholte uns auf der holperigen, engen Strasse eine Ambulanz. Zu unserer Überraschung wurde aber kein Notfall transportiert, sondern eine grosse Schar von ausgelassenen Krankenschwestern und Krankenpflegern. Sie winkten uns fröhlich zu und schienen sich genau so wie wir auf ein Wochenende am Strand zu freuen! Zuerst waren wir schockiert über den Missbrauch der Ambulanz, doch als wir die glücklichen Gesichter der Ausflügler sahen und das erfrischende Lachen hörten, konnten wir nicht anders als auch zu lachen. Auf dem Heimweg über Tasikmalaja-Garut-Nagrek machten wir einen Halt im zivilisierten Bandung und übernachteten in einem gepflegten Hotel, also mit richtigen Betten und appetitlichem Frühstück!

Ende November flogen wir nach Sumatra. In Palembang unternahmen wir eine Bootsfahrt auf dem River Musi um die für die Region so typischen, schwimmenden Wohnhäuser zu sehen. Bei einem kurzen Aufenthalt in einem Dorf stiessen wir unverhofft auf ein eindrückliches Chinesisches Tempelfest. So viel geopferte Esswaren, vor allem Schweineköpfe, hatte ich vorher noch nie dargeboten gesehen. Dann ging die Reise weiter nach Medan und an den Toba See (Danau Toba), also das Gebiet des indigenen Volkes „Batak“. Rund um den See und auf der Insel Samosir bestaunten wir ihre wunderbaren, traditionellen Häuser. Am meisten gefiel uns aber Berastagi, ein unscheinbares Dorf am Rande des Toba-Hochlandes auf 1330 Meter Höhe, wo überwiegend Karo-Batak wohnten. Zwei Vulkane, der Gunung Sibayak und der Gunung Sinabung, beide über 2000 Meter hoch, machten die äusserst fruchtbare Gegend noch eindrücklicher. Bemerkenswert waren aber auch die unzähligen Kirchen verschiedener, christlicher Richtungen, wobei die katholische Kirche in der Vergangenheit wohl am stärksten missioniert hatte. Dann ging es wieder zurück in die emsige Stadt Medan und von dort nach Singapur. Am 27.11.1971 verliess Jorge Asien und kehrte nach Mexico zurück, wo er für eine andere diplomatische Tätigkeit eingesetzt wurde. Wir hatten in der kurzen Zeit so viel Interessantes zusammen unternommen und erlebt, dass mir nun ein Kumpel fehlte. Aber befristete Einsätze sind halt eben befristet und damit auch Freundschaften. Eine Kurzlebigkeit mit der sich jeder im Ausland erst abfinden muss.

Dem „TGIF” blieb ich nachher fern und zog es vor unter Schweizern zu bleiben. Gleichzeitig wollte ich mich aber von der lokalen Bevölkerung nicht ausgrenzen, was aber nicht so einfach war. Obwohl die Indonesier sehr offen, spontan und herzlich sind, bleibt es dann meistens bei dieser Freundlichkeit. Es braucht sehr lange bis das nötige Vertrauen hergestellt ist um in ihrem Kreis aufgenommen zu werden; eigentlich genau so wie bei uns Schweizern. Nachdem ich mich anfangs oft kränklich fühlte, hatte mich Jorge zum Hausarzt der Mexikanischen Botschaft gebracht. Der stellte Probleme mit der Milz fest. Scheinbar hatte mein Körper Schwierigkeiten mit dem Klima. So empfahl mir der Arzt jeweils das Wochenende an der frischen Luft auf dem 1.500 Meter hohen Puncak Pass zu verbringen. Nachdem diese Therapie keine Besserung brachte, überraschte er mich mit einer ziemlich unzimperlichen Aussage. Er meinte, dass ich trotz meinen sichtlichen Anstrengungen die indonesische Realität zu akzeptieren (Indonesien war damals das korrupteste Land der Welt), im Unterbewusstsein damit aber nicht zu recht komme. Aus diesem Grund müsste er mir wohl ein lebenslanges Rezept für Medikamente gegen meine daraus entstehenden, negativen, körperlichen Nebenwirkungen ausstellen. Wenn ich dies nicht wünsche, wäre wohl eine Rückkehr in die Schweiz angezeigt. Das war eine happige Diagnose. Aber er hatte Recht und ich war schliesslich froh über seine ehrliche Beurteilung. Da ich unbedingt in Indonesien bleiben wollte, versuchte ich meine Sturheit in Bezug auf Recht und Gerechtigkeit langsam abzubauen und mich der lokalen Denkweise anzupassen. Auf diesem verfänglichen Weg stand mir der Arzt so gut er konnte bei. Dabei entwickelte sich langsam auch mit seiner Familie ein freundschaftliches Verhältnis. Dies war aussergewöhnlich, denn diese gehörte zur Dynastie des Sultans von Yogyakarta, bei der Kontakte ausserhalb ihres aristokratischen Kreises normalerweise nicht üblich sind. Vielleicht wurde dies möglich, weil er an der französischen Universität „Sorbonne“ Medizin studiert hatte und die Gelegenheit benutzte um mit mir französisch sprechen zu können. Da er die ganze Woche arbeitete, besuchte ich ihn und seine Familie oft an Sonntagabenden. Ich fühlte mich bei ihnen wohl und frei über meine täglichen Sorgen auf dem Bau und den Hausangestellten zu sprechen. Ihre teilweise verblüffenden, gegensätzlichen Reaktionen und Meinungen erlaubten mir dabei ihre Ansichten, Gefühle und Gewohnheiten besser zu verstehen. Auf diese Weise brachten mich diese Abende auch näher zur indonesischen Kultur, eine Erfahrung die mir das Leben in Indonesien und später auf der Baustelle beachtlich erleichterten.

Übrigens hatte Jorge später ebenfalls ein prägendes Erlebnis. Der neue Botschafter hatte für seine Akkreditierung in Indonesien ein silberner Tee-Service aus Mexico kommen lassen. Jorge wollte dieses Präsent etliche Male beim Zoll abholen, doch es schien nie angekommen zu sein. Da ich wusste, dass es in Jakarta einen Schmuggel-Markt gab, sandte ich ihn dorthin. Und tatsächlich fand er dort „seinen“ mexikanischen Silber-Service, musste ihn aber erneut kaufen. Er versuchte die Polizei einzuschalten und über diplomatische Wege den Diebstahl zu ahnden, doch leider erfolglos. Diese frustrierende Erfahrung entmutigte ihn so sehr, dass er im Gegensatz zu mir, sich bald danach entschloss Indonesien den Rücken zu kehren und nach Mexico zurückzukehren.

P.T. Ciba-Geigy Pharma Indonesia (1.2.1971 –31.07.1976)
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17.5.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – P.T. Ciba-Geigy Pharma Indonesia (1.2.1971 –31.07.1976).

Mein erster Arbeitstag als Projekt- und Betriebstechniker bei der P.T. Ciba-Geigy Pharma Indonesia begann bereits am nächsten Morgen nach der Ankunft. Ein Fahrer, der sich Harun nannte, holte mich mit einem gelben Landrover im Hotel ab. Er und sein Landrover aus dem BIMAS-CIBA Reisprojekt waren mir zu meiner persönlichen Mobilität zugeteilt worden. Die Büros befanden sich in einem Wohnhaus aus der Holländischen Kolonialzeit an der Jalan Aditiawarman 43, in Kebayoran Baru (Süd-Jakarta). Erst jetzt erfuhr ich, dass die ehemalige CIBA AG schon seit Jahren Pharmazeutika, sowie Chemikalien für die Produktion von Textilien und den Einsatz in der Landwirtschaft durch Agenten in Indonesien verkauften. Aus diesem Grund hatte die Firma vom Indonesischen Staat im Jahre 1968 einen Grossauftrag für die Behandlung von Reisfeldern erhalten. Obwohl sich der damalige Präsident Soeharto schon vorher bewusst für die Modernisierung der Landwirtschaft eingesetzt hatte, machte ihm vor allem der Anbau von Reis Sorgen, denn die Ernteverluste durch Schädlinge, vor allem durch die „rice stem borer“, waren gravierend. Dabei entstand das BIMAS-CIBA Reisprojekt, wobei CIBA nicht nur die nötigen Chemikalien lieferte, sondern sich auch bei der Entwicklung eines umfassenden Pflanzenschutzsystems und der Ertragssteigerung in Java beteiligte. Die wichtigste Aufgabe aber war das Projekt logistisch zu begleiten und das etablierte das Insektizid „Dimecron 100“ überall und zeitgerecht bereitzustellen. Dies erfolgte in enger Zusammenarbeit und Koordination mit der CIBA-Pilatus, der Decca Navigator Company, den Micron Sprayers und der A.D.S. Aerial der Regierung. Der Fahrzeugpark bestand aus rund 100 Fahrzeugen wie Toyotas, Landrover, mehreren Lastwagen sowie Tankwagen für den Transport von Treibstoff. Vier Flugplätze mussten dafür gebaut werden, sodass die 13 Pilatus Porter an den strategischen Punkten auch tatsächlich landen konnten. Als später das Projekt mit der CIBA AG nicht mehr weitergeführt wurde, übernahm die P.T. Ciba-Geigy Pharma Indonesia einen Teil der Belegschaft die im BIMAS-CIBA Reisprojekt in der Administration und Logistik tätig waren. Somit wurde ich einem Team beigefügt, das sich nicht nur schon länger kannte, sondern auch mit den lokalen Verhältnissen bestens vertraut war. Das schätzte ich sehr und dies war für mich schliesslich von grossem Vorteil.

Eigentlich hatte die damalige CIBA AG beabsichtigt den Bedarf von Pharmazeutischen Präparaten im südostasiatischen Raum regional in Singapur herzustellen. Doch dieser Plan musste bald aufgegeben werden. Einige Länder der Region wollten nicht mehr vom Import von Medikamenten abhängig sein und entschieden sich die lokale Produktion zu fördern. So entstand auch in Indonesien ein Gesetz das keine pharmazeutischen Präparate mehr ins Land liess die im Land bereits hergestellt wurden. Zu dieser Zeit fusionierte die Ciba AG mit Geigy AG und das neue Unternehmen hiess jetzt CIBA-GEIGY. Da lokale Firmen schon lange Präparate von diesen ehemaligen Pharmabetrieben kopierten, wäre es für die neue CIBA-GEIGY unmöglich geworden ihre Original-Präparate zu importieren und zu verkaufen. So wie 37 andere internationale Pharmabetriebe war deshalb auch die CIBA-GEIGY plötzlich gezwungen, ihre Präparate im Land selbst herzustellen. So entstand die P.T. Ciba-Geigy Pharma Indonesia, die aber gesetzlich mit 30% von lokalen Investoren finanziert werden musste. Da es sich beim lokalen Investor um die seit Jahren von Chinesen geführte Firmenvertretung der Ciba handelte, gab es keine Interessenkonflikte. Daher hatte die Ingenieurabteilung der damaligen Ciba AG in Basel schon seit einiger Zeit mit der Planung eines lokalen Pharma Betriebes für Präparate in fester und flüssiger Darreichungsform in Basel begonnen.

Die Ausführung des Projektes
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17.6.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Die Ausführung des Projektes.

Eigentlich man hatte mich schon seit mehr als einem Monat in Jakarta erwartet und so hatte sich allerhand Arbeit für mich angehäuft. Obwohl ich ein eigenes Büro hatte und mir mein Assistent, Maruli Sihombing, bei all den neuen Aufgaben beistand, verbrachte ich anfangs sehr viel Zeit in den Arbeitsräumen der IDC (International Design Consultants). Diese Firma hatte von der P.T. Ciba-Geigy Pharma Indonesia den Zuschlag für die Ausführung des in Basel ausgearbeiteten Projektes für den Bau eines Pharmabetriebes erhalten. Der Auftrag war nicht einfach, denn zusätzlich zum Pharmabetrieb mussten auch die nötigen Bauten für die Infrastruktur wie Energiezentrale, Wasserreservoir für Trinkwasser, Trinkwasseraufbereitung, Abwasser-Kläranlage, Abfallverbrennungsofen, Wasserreservoir für Feuerwehrzwecke, etc. geplant und erstellt werden.

Das verantwortliche Team bestand aus Architekten, Ingenieuren und Administratoren, die alle entweder aus England, Australien oder Neuseeland stammten. Also war die Umgangssprache Englisch, was mich anfangs besonders bei technischen Ausdrücken schon sehr forderte. IDC war Teil der Subud-Bruderschaft, die vom Javaner Muhammad Subuh Sumohadiwidjojo in den 1920/30er Jahren gegründet worden war. Subud ist keine Religion, sondern eine weltweite Vereinigung von Frauen und Männern verschiedener Völker, Kulturen, Religionen und Weltanschauungen, die sich Gott hingeben und mit Hilfe der göttlichen Kraft seinen Willen in und um sich herum erfüllen. Die Tatsache mit einer Bruderschaft zu arbeiten machte mich anfangs schon etwas skeptisch, doch schliesslich spürte ich von ihrem spirituellen Leben überhaupt nichts und ich wurde auch nie darauf angesprochen. Die Zusammenarbeit war harmonisch und ich war überrascht all die Vorschläge und technischen Anweisungen des Stammhauses widerstandslos bei ihnen einbringen zu können. Das Team von IDC nannte mich deshalb „Ambassador from Basle“, was meinen Vorgesetzten Dominique Rohner offensichtlich irritierte.

Neben der technischen Vorbereitung hatte ich mich in Basel auch mit der Ästhetik der zukünftigen Gebäude befasst und Vorschläge für die Gestaltung des Daches mitgebracht. Aber um das Team von IDC damit zu überzeugen, hatte ich allerdings Mühe. Man bewertete sie als architektonisch zu anspruchsvoll und äusserst schwierig ausführbar. IDC unterbreitete deshalb einen eigenen Vorschlag der aber nicht so elegant war. Da er jedoch dem Prinzip unserer Auflage entsprach und kein Dachwasser durchs Gebäude geleitet wurde, einigten wir uns auf ihren Vorschlag, alles Regenwasser wurde damit in grosse Trichter ausserhalb des Gebäudes geleitet. Dies musste natürlich sofort in den Plänen der Grundstückentwässerung berücksichtig werden. Gleichzeitig arbeitete der Architekt, Herr Gibson, an der Fassadengestaltung. Da ich wusste, dass in tropischen Ländern die Häuser alle Jahre gereinigt und meistens neu gestrichen werden mussten, schlug ich drei natürliche Elemente vor die keine jährlichen Unterhaltskosten verursachten: Bruchsteinmauern, Glas und Aluminium. Da es in der Regenzeit jeden Tag mindestens eine Stunde regnete, meistens um die Mittagszeit, mussten die Fassaden vor dem Regen geschützt sein. Dabei kamen mir die traditionellen Bauernhäuser mit den riesigen Vordächern in der Schweiz in den Sinn und empfahl bei den drei Gebäuden dasselbe Prinzip anzuwenden, was dann auch geschah. Diese kreative Arbeit zusammen mit dem Team machte mir riesigen Spass und gab mir grosse Befriedigung.

Nach den vielen Stunden mit Besprechungen wollte ich endlich die Baustelle sehen, aber immer sagte man mir es wäre noch zu früh. Nach langem Drängen brachte mich aber mein Vorgesetzter Dominique Rohner doch eines Tages nach Gandaria, wo tatsächlich ausser einer im Bau befindlichen Brücke und drei Bulldozern nichts zu sehen war. Ciba hatte erst kürzlich noch ein kleines Stück Land erworben, das für eine rechteckige Form der Parzelle gefehlt hatte. Damit war eine optimale Ausnützung des Grundstücks natürlich viel besser geworden. Mit dem zusätzlichen Stück Land konnten endlich auch die definitiven Baupläne erstellt und mit den Aushubarbeiten für die Fundamente begonnen werden. Nachdem nun der Landerwerb beendet war, wollten wir sofort mit der Umzäunung des Geländes beginnen, doch plötzlich wurden wir daran gehindert. Obwohl alle Grenzsteine vom Katasteramt selbst gesetzt worden waren, behaupteten plötzlich einige Nachbarn ihr Land sei von CIBA gar nie gekauft worden. Da seit dem ersten Landerwerb schon sehr viel Zeit vergangen war, hatten gewisse Bauern ihre Reisfelder wahrscheinlich inzwischen etwas erweitert, doch Beweise konnten wir nicht liefern. So verhandelte ich mit den Nachbarn stundenlang, oft im Licht einer Petrollampe, bis um 22h00. Bald musste ich aber einsehen, dass es einzig nur um Geld ging und so bezahlte CIBA halt äusserst widerwillig was sie zusätzlich verlangten. Auf richterlichem Weg wäre dies nicht nur teurer geworden, sondern äusserst langwierig, was den Baubeginn verzögert hätte. Zudem hätte die juristische Lösung mit Sicherheit unsere nachbarschaftliche Beziehung getrübt. Um weitere Unannehmlichkeiten zu vermeiden, musste nun aber sofort die Umzäunung mit Drahtgeflecht erstellt werden.

Im Moment waren aber nur die drei uralten Bulldozer auf dem Gelände das sie nivellierten und damit viel rote Erde herum schoben, vor allem auf das ziemlich steil abfallende, zusätzlich erworbene Stück Land. Ausser einem kleinen Wohnhaus, umgeben von ein paar Kokospalmen, war von der damals üppigen Vegetation und den ursprünglichen Wohnhäusern nichts mehr übriggeblieben. Dieses kleine Haus, das nun wie eine Insel in einem Meer von roter Erde stand, sollte aber nicht das gleiche Schicksal erfahren und mir bald als Baubüro dienen. Bis dahin war es aber dringend nötig erst einen fahrbaren Zugang zum Gelände zu erstellen und möglichst bald mit dem Bau der internen Strasse zu beginnen. Nach den täglichen Regenschauern war es nämlich ohne Stiefel oder gutem Schuhwerk äusserst mühsam sich auf der Baustelle zu bewegen. Auf dem Gelände hatte es weder einen Strom-, Wasser- noch Abwasseranschluss und dies sollte auch in den kommenden Jahren so bleiben. Da die Fabrik auch in Zukunft keine öffentlichen Anschlüsse erwarten konnte, musste eine autonome Energie und Wasserversorgung erstellt werden. Um die Bauarbeiten inzwischen mit Wasser zu versogen, entschloss man sich schon zu diesem Zeitpunkt einen Tiefbrunnen zu bohren und die nötige Tauchpumpe sofort zu installieren.


(1) Die Latrine der Nachbarn

Die Latrine der Nachbarn


Das Grundstück des Projektes befand sich an der Jalan Raya Bogor beim Dorf Gandaria, 27,3 Kilometer von der Stadtmitte Jakartas entfernt. Je nach Verkehr brauchte man mit dem Auto zwischen dreiviertel bis zu einer Stunde Fahrzeit von Zuhause bis zur Baustelle. Parallel zur Jalan Raya Bogor floss ein Bach welcher immer braunes Wasser führte. An seinem Ufer konnte man die unglaublichsten Beobachtungen machen. Da waren Frauen die ihre Wäsche in diesem schmutzigen Wasser wuschen, daneben ein Bursche der seine Morgentoilette machte, dann jemand der den Bach (oder besser Abwasserkanal) als Latrine benützte und etwas weiter Bach abwärts jemand der mit dem gleichen Wasser seine Zähne putzte. Dies jeden Tag zu sehen war anfangs schon sehr gewöhnungsbedürftig und ich wunderte mich immer wieder, dass das Gesundheitsministerium gegen diese uralten Gewohnheiten nicht mehr unternahm. Um den Zugang zum Baugelände überhaupt erst zu ermöglichen, wurde bereits schon vor meiner Ankunft der Bau einer grosszügig konzipierten Brücke in Angriff genommen.


(2) Die im Bau befindliche Brücke und der Zugang zum Baugelände.

Die im Bau befindliche Brücke und der Zugang zum Baugelände.


Mit dieser Brücke ist eine Anekdote verbunden, die mich noch lange perplex liess. Schon wenige Wochen nach meiner Ankunft war Besuch aus Basel angesagt. Es war der Abteilungsleiter der technischen Dienste und Verantwortliche des Projektes, also mein Chef aus Basel, Ing. B. Häfliger. Er kam mit einer äusserst abstrusen Behauptung nach Jakarta und beschuldigte unser Team nicht zu wissen was auf der Baustelle vorging. Er hatte in Basel gehört, dass uns die Baufirma hintergangen hätte und anstatt einer Betonbrücke nur eine aus Brettern erstellt habe, also eine Attrappe! Zuerst glaubte ich an einen Spass, doch es war sein wahrhafter Ernst und er wollte uns an Ort und Stelle vom Betrug überzeugen. So fuhren wir nach Gandaria, wo er dann aber sofort feststellen musste, dass es sich bei den erwähnten Brettern um Schalungsbretter handelte, welche überall für den Betonbau verwendet werden. Natürlich konnte er nicht eingestehen, dass er in Basel übertölpelt worden war und so überspielte er die peinliche Situation mit einer angriffigen Frage. Er wollte von mir wissen, ob ich die Aufstützflächen der Brücke regelmässig kontrolliere und ob diese auch wirklich eingefettet seien, sodass sich die Brücke auf den Stützpfeilern dynamisch bewegen konnte. Da die Brücke schon vor meiner Ankunft fertig gestellt war, hatte ich natürliche keine Ahnung. Sichtlich irritiert über meine Nachlässigkeit forderte er mich auf mit ihm unter die Brücke zu kriechen und zu prüfen ob alles fachgerecht ausgeführt worden war. Es war ein regnerischer Tag und der Abhang zum Bach deshalb sehr rutschig. Es bestand deshalb die Gefahr in die braune Brühe zu gleiten. Doch der militärische Befehl war gegeben und die Kontrolle im Morast unter der Brücke musste durchgeführt werden. Zum grossen Glück waren die von ihm erwähnten Eisenteile eingefettet und so erhielt ich anstatt einer Rüge nur den Auftrag diese in Zukunft regelmässig zu fetten und zu kontrollieren. Das Heraufkraxeln zurück auf die Brücke war nicht weniger riskant. Aber wir schafften es ohne viel Erdflecken an den Kleidern und ohne in den Bach zu fallen wieder hochzukommen. Damit war die Sache für meinen Basler-Chef abgehakt und wir sprachen nie mehr über diese Brücke. Für mich war der Fall aber nicht so einfach zu vergessen, denn nach diesem lächerlichen Vorfall fühlte ich mich irgendwie gedemütigt und diskreditiert. Ich wusste, dass Ingenieur Häfliger kleinlich und pedantisch sein konnte, aber so extrem lächerlich hatte ich ihn noch nie erlebt.

(3) Das Gelände ist bereit für den Bau.

Das Gelände ist bereit für den Bau.


Im September 1971 ging es auf dem Bau endlich vorwärts und die betriebseigene Strasse nahm Gestalt an. Überall wurden nun die Gräben für Fundamente ausgehoben und bald wimmelte es von Bauarbeitern. Gleichzeitig wurden die riesigen Zement-Rohre für die Grundstück-Entwässerung bis zum Bach verlegt. Dabei wurde das beidseitige Bachufer korrigiert und der Abhang neugestaltet, also alles Arbeiten welche man ohne Baubewilligung ausführen konnte. Bevor man aber mit dem eigentlichen Rohbau beginnen konnte, musste das Gelände erst mit einem religiösen Ritual von bösen Geistern befreit und anschliessend das ganze Projekt gegen übernatürliche Kräfte geschützt werden. Das für Java typische Ritual heisst „Slametan“ und wird überall dort angewendet wo um Schutz gegen böse Mächte und Gleichmut unter den Beteiligten gebeten wird. In den meisten Fällen muss dabei in irgendeiner Form ein Opfer gebracht werden. In unserem Fall wurde während dem Ritual der Kopf eines Wasserbüffels in ein weisses Tuch gewickelt und zwischen die Armierungseisen eines Fundamentes gelegt. Ohne den „Slametan“ hätten sich viele Arbeiter später wohl nicht auf die Baustelle gewagt. Gleichzeitig erinnerte mich das Ritual an die Schweiz wo vor dem eigentlichen Baubeginn oft eine Grundsteinlegung stattfindet. So entschloss ich mich das Ritual mit einem „Schweizerischen Slametan“ zu ergänzen und eine hermetisch versiegelte Aluminiumdose (eine Läckerlidose) mit Bauplänen, Fotos und weiteren Informationen des Projektes neben die Opfergabe im Fundament zu legen. Dann wurde flüssige Betonmasse in die Schalung des Fundamentes gegossen und unsere „Gaben“ verschwanden darin. Im Geheimen fragte ich mich ob in vielen Tausend Jahren unsere Dokumente tatsächlich einmal gefunden werden und dann einen historischen Wert haben würden?


(4) Der Kopf eines Wasserbüffels als Opfergabe für das Ritual des "Slametan"

Der Kopf eines Wasserbüffels als Opfergabe für das Ritual des "Slametan"


Obwohl auf der Baustelle eifriges Treiben herrschte, hatten wir noch immer keine Baubewilligung. Wir waren uns bewusst, dass wegen staatlichen Importrestriktionen 37 Pharmabetriebe gleichzeitig ein Baugesuch für den Bau einer eigenen Fabrik eingereicht hatten und dass wir uns deshalb gedulden mussten. Natürlich hatten wir mit der lokalen Beteiligung am Projekt einen General auf unserer Seite, doch wir waren uns bewusst, dass wir uns nicht zu stark auf ihn verlassen konnten, denn dieser „Strohmann“ hatte ja noch andere Mandate. Da zudem noch weitere diesbezügliche Bewilligungen hängig waren, war ich oft um Nachfrage in den verschiedenen Büros unterwegs. Aber eben, einmal war der Chef nicht da, dann die Schreibmaschine defekt, am nächsten Tag fehlte Schreibpapier oder dann war einfach niemand da, welcher von unserem Projekt etwas wissen wollte. Das waren natürlich alles nur Ausreden, denn im korrupten Indonesien war Bestechung normal. Ich war mir bewusst, dass wir mit einem korrekten Vorgehen sehr viel Geduld und Zeit brauchten. Um mit dem Bau aber tatsächlich beginnen zu können, benötigten wir dringend die nötigen Dokumente und mussten uns deshalb bei den Verantwortlichen wohl oder übel mit einer „Aufmerksamkeit“ bemerkbar machen. Während eines kurzen Besuches in der Schweiz bat ich meinen Chef um Unterstützung. Doch als er von meinem Vorschlag hörte, war er entsetzt und meinte die Firma würde niemals Bestechungen dulden. Schliesslich gab er mir einige Kugelschreiber mit dem Aufdruck CIBA-GEIGY und glaubte damit sei der Fall wohl erledigt. Enttäuscht über sein Unverständnis musste ich ihm klar machen, dass sich 37 Firmen um ihre Baubewilligung rauften und der Verantwortliche in der Regierung bereits schon einen Kugelschreiber besitze. Als ich mit meinen Argumenten am Ende war, tauchte plötzlich wie ein Wunder ein interner Geschenk-Katalog der Verkaufsabteilung auf und mein Chef erlaubte mir für die verschiedenen involvierten Funktionäre etwas Passendes auszulesen. Für die Baubewilligung musste es etwas Aussergewöhnliches und typisch Schweizerisches sein. Eine goldene Tischuhr „ATMOS“, die nie aufgezogen werden musste und weder Strom noch Batterien brauchte, schien mir zweckmäßig und ideal in einem Land in welchem es immer wieder Stromausfälle gab. Zu meiner grossen Überraschung willigte mein Chef für das „fast“ Perpetuum-Mobile ohne Kommentar ein. Für die weiteren Funktionäre wählte ich Schweizer Militärmesser und Kosmetikprodukte der damals hauseigenen Marke Binella und Hâttric. Bei der Ankunft am Flugplatz in Jakarta fragte ich mich, wie die Zollbeamten wohl auf meine vielen „Geschenke“ reagieren würden. Zu meinem Gepäck gehörten auffällig grosse, runde Schachteln, in denen schön angeordnet je ein Sortiment Kosmetik Produkte war. Sofort öffnete ein Zöllner eine der Schachteln und griff nach einer Tube mit Gesichtscreme. Wahrscheinlich hatte er bis anhin noch nie Plastiktuben gesehen, denn mit seinem harten Händedruck spritzte der Inhalt nach dem Entfernen des Schraubdeckels ihm direkt ins Gesicht und floss dann dekorativ über seine Uniform. Das war für ihn natürlich äusserst peinlich und so entliess er mich ohne weitere Gepäckstücke zu kontrollieren. Ich liess mich nicht aus der Ruhe bringen, entschuldigte mich höflich und steckte ihm nachsichtig ein Militärmesser zu. Er verdiente das Messer, denn er bewahrte mich vor langem Palaver und möglicherweise hohen Einfuhrzöllen oder der Forderung nach einem noch wertvollerem „Geschenk“.

Die goldene Tischuhr „ATMOS“ erfüllte ihren Zweck erfolgreich und schon bald erhielten wir die langersehnte Baubewilligung. Auch mit den anderen Geschenken ging dann meistens alles viel schneller, die Schreibmaschinen funktionierten wieder und es gab keine Ausreden mehr. Obwohl ich verstand, dass es für einen effizienten Projektverlauf keinen anderen Ausweg gab, fühlte ich mich bei diesem Vorgehen aber alles andere als wohl. Das Ganze ging vollkommen gegen meine ethische sowie moralische Gesinnung und im Grunde hatte ich damit grosse Mühe. Aber die Korruption fand ja nicht nur auf der Regierungsebene statt, sondern gehörte einfach zur indonesischen Lebensweise welche schon bei meinen Hausangestellten begann. Einmal meldete meine Köchin einen Strassenverkäufer der Blumen feil hielt. Ich ging hinaus und kaufte einige Orchideen. Kaum war ich im Haus, kam mir in den Sinn, dass ich am Abend eingeladen war und deshalb noch weitere Blumen brauchte. Als ich aus dem Haus rannte, sah ich meine Köchin strahlend mit Blumen ins Haus zurückkommen. Sie hatte ihre „Kommission“ für ihre Kaufvermittlung in Form von Blumen beim Verkäufer abgeholt! Damit wusste ich, dass ich ständig der Bestechlichkeit ausgeliefert war.

Ausser einigen Vorarbeitern sprachen auf der Baustelle alle ausschliesslich „Bahasa Indonesia“, die offizielle Amtssprache Indonesiens. Damit wurde es unausweichlich, ich musste mich mit der Sprache befassen. Da es sich um eine relativ einfache Sprache handelt, konnte ich mich mit den Arbeitern aber schon bald einigermassen verständigen. Im Plural sagt man einfach das Wort zwei Mal, also zum Beispiel „buah-buah“, was „Früchte“ bedeutet. Will man dies schreiben, dann fügt man einfach über dem Wort eine Zwei an und dies sieht dann so aus: „buah²“. Es gibt keine Zukunft oder Vergangenheit, aber man wählt Wörter um dies zu definieren. Die Sprache ist sehr bildlich und so gibt es zum Beispiel kein Wort welches „Sonne“ so übersetzt wie man es gewohnt ist. Man sagt „matahari“, was eigentlich genau übersetzt und sehr poetisch das „Auge des Tages“ bedeutet. Natürlich kaufte ich mir ein Wörterbuch, ein „Kamus Remadja, Inggeris-Indonesia“, doch dann wurde mir bald bewusst, dass eben doch nicht alle Arbeiter „Bahasa Indonesia“ sprachen. Schon einige Kilometer von der Baustelle entfernt in Bogor, im westlichen Teil der Insel Java, spricht man Sundanesisch (Bahasa Sunda), eine Sprache welche aus dem damaligen hinduistischen Reich stammt. So gibt es in den verschiedenen Teilen der Republik viele weitere Sprachen und Dialekte. Man sagt, dass es etwa 250 verschiedene Sprachen sind. Den Beweis lieferte mir ein Arbeiter, der in einem engen Betonrohr von nur 60 cm Durchmesser arbeitete. Aus einem bestimmten Grund bat ich den Vorarbeiter den Mann aus dem Rohr zu rufen. Doch dieser sagte dies sei unmöglich, denn er kenne die Sprache des Mannes im Rohr nicht und könne ihm deshalb keine Anordnungen geben. Man musste warten bis er von selbst wieder aus dem Rohr kroch und jemand fand der mit ihm reden konnte. Wie bei uns in der Schweiz kamen die billigen Arbeitskräfte eben auch aus weit entfernten Gebieten.

Im „Bahasa Indonesia“ gibt es wohl das Wort „Nein“, aber es wird aus Respekt und Anstand besonders gegenüber dem Ausländer äusserst selten ausgesprochen. Die Antwort ist deshalb immer „Ja“. Allerdings kommt es auf dessen Betonung an, denn es kann auch ein „Nein“ bedeuten. Es brauchte deshalb ein feinfühliges Ohr und Erfahrung um die Antwort „Ja“ richtig zu interpretieren. Der Gesichtsausdruck der Person kann unter Umständen dabei behilflich sein. Da ich keine Zeit für einen Sprachunterricht hatte, erwarb ich meine Sprachkenntnisse fast ausschliesslich auf dem Bau. Aus diesem Grund sprach ich scheinbar äusserst ungehobelt und brauchte Wörter die einmal an einer Party gewisse „gebildete“ Indonesier befremdete. Ich versuchte dann das akademische Indonesisch zu lernen, aber das war mir eindeutig zu beschwerlich und so zog ich es vor weiter so wie die Arbeiter, die Leute auf dem Markt und meine Angestellten zu sprechen.

Nach dem Erhalt der Baubewilligung wurde das Baugelände plötzlich zu einem wahrhaften Ameisenhaufen. Es entstand sofort ein Riesenwald von Bambusgerüsten, auf denen sich überall Arbeiter mit unwahrscheinlicher Leichtigkeit bewegten. Ich musste immer wieder staunen wie stabil das Bambusgerüst war und auch jedem Sturm problemlos standhielt. Sogar die Leitern waren aus Bambus. Während die Seitenteile aus Bambusrohren bestanden, wurden die Sprossen manchmal aus Holzlatten angefertigt und dann an die Seitenrohre genagelt. Es war mir klar, dass ein Nagel in einem Rohr keine Festigkeit garantieren konnte und so war ich immer sehr vorsichtig beim Besteigen einer solchen Leiter. Trotzdem trat ich eines Tages auf eine Sprosse welche sich plötzlich vom Bambusrohr löste. Ich fiel auf die Sprosse darunter, die dem Schlag und meinem Gewicht natürlich nicht Stand hielt und so wiederholte sich der Vorgang in immer rascheren Rhythmus bis ich ganz unten am Boden aufschlug. Zum Glück gaben mir die beiden Seitenrohre einen gewissen Halt, sodass es zu keinem Unfall kam. Dieser Vorfall genügte aber um mir endlich bewusst zu werden, dass mein Gewicht nicht das eines Indonesiers war und ich mich von nun an vorsichtiger auf der Baustelle bewegen musste.


(5) Ein riesiges Gewirr von Bambus und Holz versperrt die Sicht auf den Bau.

Ein riesiges Gewirr von Bambus und Holz versperrt die Sicht auf den Bau.


Für die Bauarbeiten hatte CIBA die Firma P.T. Pembangunan Jaya beauftragt. Im Gegensatz zur Schweiz gab es in Indonesien damals noch keine Konventionen mit Gewerkschaften oder Vorschriften punkto Arbeitszeit. Die Unternehmer waren deshalb frei und versuchten auf ihre eigene Weise die Arbeiten so schnell wie möglich zu erledigen. Dadurch gab es auf der Baustelle nie einen Ruhetag und oft wurde auch nachts gearbeitet. Ich wusste, dass dies meinen Chef in Basel nicht störte, aber punkto Qualität und Ausführung keinen Unterschied zwischen der Schweiz und Indonesien duldete. Für mich bedeutete dies alltägliche Präsenz an Ort und Stelle und bei anspruchsvollen Arbeiten vielfach auch an Wochenenden. Zwischen den hohen Ansprüchen aus Basel und den oft dürftigen, lokalen Gegebenheiten fühlte ich mich oft sehr gefordert und beidseitig unverstanden. Irgendwie musste ich die lokalen Verantwortlichen immer wieder anspornen um nur das Beste zu liefern, was natürlich nicht immer gelang. Einmal wurden im ersten Stock des Bürogebäudes die Holzverschalungen für das Betonieren der Fensterpfosten errichtet. Ich erkannte sofort, dass viele dieser Schalungen nicht genau senkrecht waren. Etliche Male meldete ich diesen Mangel dem Vorarbeiter, doch er hörte nicht hin und der Beton wurde trotzdem gegossen. Nach dem Entfernen der Holzschalung wurde der Pfusch sichtbar. Da man die Standard-Aluminium Fenster so nicht hätte montieren können, befahl ich den sofortigen Abbruch. Jetzt, als der Beton noch frisch war, wäre es eine Leichtigkeit gewesen, doch es geschah nichts. Man wollte meinen Qualitätsanspruch einfach nicht verstehen und ernst nehmen. Doch ich liess nicht locker und so mussten die unzähligen Betonpfosten später schliesslich von Hand mühsam abgespitzt und erneut gegossen werden.

Ein anderes Mal wurde im Erdgeschoss des Produktionsgebäudes Wandfliesen (Plättli“) verlegt. Um in dem langen Korridor möglichst geradlinige Fugen zu garantieren, empfahl ich dem Vorarbeiter mit einer Wasserwaage und einer Schnur diese auf der ganzen Länge zu markieren. Leider konnte ich diese Arbeit nicht den ganzen Tag verfolgen und so empfing mich abends eine Wand mit Fliesen welche zu tanzen schienen. Die verschiedenen, beteiligten Arbeiter hatten an dieser Wand absolut unkoordiniert gearbeitet, jeder nach seinem Gutdünken und Rhythmus die Platten verlegt. Ich hörte schon die Vorwürfe meines Chefes in Basel und die Frage, wo ich an diesem Tag wohl gewesen sei. Zum Glück waren an diesem Abend noch alle beteiligten Arbeiter an Ort und Stelle, sodass ich die sofortige Entfernung aller Fliesen anordnete. Diese mussten bis am nächsten Morgen in Wasser aufbewahrt werden. Natürlich verbreitete ich mit meinem Befehl weder bei den Arbeitern noch bei mir selbst grosse Freude, doch diese Zickzack-Wand hätte sogar ein Laie bemerkt und wäre für Besucher aus Basel schwer verständlich gewesen.

Ja, es waren für mich oft äusserst harte Entscheidungen gewesen, aber die Wirkung war bemerkenswert. Es führte dazu, dass nun genauer und pflichtbewusster gearbeitet wurde. Leider wurde meine tägliche Präsenz damit nicht kürzer, denn der Bau machte schnell Fortschritte und fast jeder Tag brachte neue Aufgaben. Aus diesem Grund entschloss ich mich mein Büro in dem einzigen, übriggebliebenen Haus auf dem Gelände einzurichten. So konnte ich den Baufortschritt viel besser überwachen und bei Unklarheiten sofort einschreiten. Da ich mich mittags nicht nur immer mit kalten Snacks verpflegen wollte, nahm ich meine Ibu jeden Morgen mit nach Gandaria, wo sie mir dann immer ein warmes Mittagessen zubereitete. Doch mit den vielen Stunden auf dem Bau verbrachte ich ja zusätzlich immer noch zu viel Zeit auf dem Weg zur Baustelle und zurück.


(6) Montieren von Dach- und Aluminimum-Fassaden

Montieren von Dach- und Aluminimum-Fassaden


Die Fabrik nahm bald Gestalt an. Nachdem die Dachkonstruktion mit den vielen Stahlträgern erstellt war, nahm sich eine Australische Firma dem Abdecken des Daches mit Profilblechen aus Aluminium an. Gleichzeitig konnte man bereits mit dem Verlegen der Kanalisation beginnen. Da ich mir bewusst war, dass die lokalen Abwasserleitungen oft undicht waren und deshalb Kakerlaken sowie anderes Ungeziefer Zugang in die Produktionsräume hätten, entschied ich mich das gesamte Kanalisationssystem aus Polyethylen (PE) bei der ehemaligen Firma AKATHERM in der Schweiz zu bestellen. Die vorfabrizierten Rohre waren an Ort sehr schnell und leicht zu verlegen. Rohre aus Polyethylen waren damals in Indonesien noch nicht bekannt und so musste auch das nötige Werkzeug, Schweissmaschinen, etc. dazu importiert werden. Natürlich war es nun auch meine Aufgabe die Arbeiter mit dem neuen Material bekannt zu machen und ihnen die nötigen Anleitungen zu geben. Dieses System erlaubte eine absolut dichte Verbindung von den Produktionsräumen bis zur Kläranlage.

Aber auch die Leitungen für Kaltwasser, Warmwasser, demineralisiertes Wasser (Leitungen aus rostfreiem Stahl), Luft, Dampf, etc. wurden verlegt. Für diese ganz speziellen Schweissarbeiten kam mir Herr Rauber aus den Werkstätten in Basel während einigen Wochen zu Hilfe. Genau während dieser Zeit machte auch mein Chef aus Basel einen Kontrollbesuch. Natürlich fand er immer Sachen die ihm nicht passten, aber am schlimmsten war diesmal für ihn die Tatsache, dass ein Arbeiter auf der Werkbank kauerte und mit seinen Füssen ein Rohr drehte an dem er einen Bogen anschweisste. „Wieso kann der Kerl nicht wie normale Leute auf dem Boden stehen und den Schraubstock am Werkbank benutzen? Und wieso braucht er die Füsse dazu?“ Ich versuchte ihn zu beruhigen und stellte das Resultat seiner Arbeit in den Vordergrund. Doch er konnte die indonesische Arbeitsweise nicht akzeptieren. Er verlangte den Verantwortlichen zu sprechen. Ich ahnte Schlimmes, denn in Indonesien macht man Vorwürfe nur ganz diskret und vor allem niemals vor den Untergebenen. Aber genau dies passierte. Er schrie auf den Vorarbeiter ein und meine Versuche ihn zu stoppen halfen nichts. Währendessen verstand der Schweisser kein Wort und arbeitete genau so weiter wie er sich gewohnt war. Und dann kam es auch so wie es kommen musste: Mit der Schelte eines „Orang Asing“ (einem Fremden) hatte der Vorarbeiter sein Gesicht vor allen Arbeitern auf dem Bau verloren und so erschien er am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Zum Glück kannte ich den Mann sehr gut und konnte ihn nach ein paar Tagen überzeugen die Arbeit wieder aufzunehmen. Ich versuchte meinem Chef zu erklären in was für eine Situation er mich gebracht hatte, doch er beharrte auf seinem Standpunkt. Zum Glück wiederholte er solch absurde Szenen auf dem weiteren Rundgang der Baustelle nicht mehr!

Früher war das ganze Gelände in verschiedene Reisfelder aufgeteilt. Die meisten mussten den Bauten weichen, doch hinter der Energiezentrale, wo das Gelände steil abfiel, hatte man die Felder so belassen wie sie waren. Leider wurde während dem Bau dieses Gelände zu einer Art Abfallhalde. Besonders bei der Montage des Aluminiumdaches fielen viele kleine Aluminium-Schnitzel auf diesen fruchtbaren Boden. Nachdem das Dach fertig gestellt war, verlangte ich rigorose Reinigung des Geländes. Leider waren meine strengen Ansprüche für die Arbeiter unverständlich und so musste ich nach einer List suchen um sie vom Sinn der peinlichen Sauberkeit zu überzeugen. Schliesslich kam ich auf die Idee auf den ehemaligen Reisfeldern wieder Reis anzupflanzen. Um die Felder zu pflügen brauchte man Wasserbüffel und diese hätten sich mit den aktuell herumliegenden Aluminiumabfällen die Hufe verletzt. Dies war ein Argument das jedem Indonesier einleuchten musste und so wurde das ganze Gelände doch noch fein säuberlich gereinigt. Natürlich fragte ich danach den CEO ob ich auf diesem Gelände überhaupt wieder Reis anpflanzen dürfe, was er ohne weitere Fragen bewilligte. Bald stellte sich aber heraus, dass die Wasserzufuhr für das höchst gelegene Feld wegen den Neubauten nicht mehr möglich war. Der Bauer, den ich für diese Arbeit angestellt hatte, schlug mir deshalb vor an Stelle von Reis Erdnüsse anzupflanzen. Die Idee schien mir ausgezeichnet und so sagte ich ihm spontan zu. Der Reis und die Erdnüsse sprossen bald wunderbar. Eines Tages kam der CEO äusserst gereizt zu mir und fragte mich mit forschem Ton was ich auf dem obersten Feld gepflanzt hätte. Da ich auf dem Fabrik-Gelände so viel Verschiedenes angepflanzt hatte, bat ich ihn mir die unerlaubte Bepflanzung zu zeigen. Als ich sah, dass es sich um Erdnüsse handelte, lachte ich und erklärte ihm die Situation. Aber er beruhigte sich nicht und fragte mich sehr aggressiv wieso ich keine Bewilligung für die Bepflanzung mit Erdnüssen bei ihm eingeholt habe. Diese Frage war für mich so absurd, dass ich ihm lachend sagte: Seit wann kümmern sie sich als CEO um Peanuts…? Damit war er Schachmatt und die Partie beendet. Kleinlaut rechtfertigte er seine Frage dann aber noch mit der Ausrede, dass er eben kürzlich hohen Besuch aus Basel gehabt habe und genau auf diese Frage nicht antworten konnte. Ich schätzte seine Ehrlichkeit und so verstanden wir uns weiterhin bestens.


(7) Ankunft von Seefracht mit Produktions-Maschinen und Infrastruktureinrichtungen.

Ankunft von Seefracht mit Produktions-Maschinen und Infrastruktureinrichtungen.


Bald erreichten auch schon die ersten Lieferungen mit Maschinen die Baustelle. Zuerst kamen die drei Generatoren, der Dampfkessel und die Kompressoren sowie die Kühltürme für die Klimaanlage. Dann folgten die ersten Produktionsmaschinen, was mich natürlich voll auf Trab hielt. Auch die Küchen- und Waschküchen-Einrichtungen wurden aus der Schweiz importiert. Mit vielen Maschinen hatten die verantwortlichen Installationsfirmen keine Erfahrung und so war Rat immer an der Tagesordnung. Für diese Bauphase hatte ich Unterstützung der Herren Büchi und Basignana, beide aus dem Werk in Basel. Die meisten Geräte kamen solide verpackt in Holzkisten nach Indonesien. Nach dem Auspacken stapelten sich bald Berge von Brettern aus Tannenholz. Nachdem ich einen Arbeiter abends auf dem Heimweg mit solchen Brettern erwischte, fragte ich mich wie man dies vermeiden konnte. Da kam mir die Idee das viele Holz für die Herstellung von Paletten zu verwenden. Da ich die Zeichnung der SBB-Standardpalette 120x80 cm aus Basel mitgenommen hatte, liess ich erst einmal einen Prototyp von unserem Schreiner herstellen. Nachdem der Preis für die Anfertigung dieses Modell ausgehandelt war, wurden alle Schreiner in der Gegend eingeladen mit dem vorhandenen Holz solche Paletten herzustellen. Sofort erschien ein halbes Dutzend Schreiner die sich gegenseitig mit dem Anfertigen von Paletten konkurrenzierten. Auf diese Weise wurde kein Holz mehr gestohlen und die Bretter effizient rezykliert. Beim Abliefern der Paletten musste jede Einzelne den vorgegebenen Massen entsprechen und mit dem Modell einwandfrei übereinstimmen. Um Betrügereien zu vermeiden liess ich ein Brenneisen mit dem Logo der CIBA-GEIGY herstellen und markierte dann jeweils die vergüteten Paletten damit. Auf diese Art konnte der gesamte Bedarf an Paletten des Betriebes durch Eigenproduktion gedeckt werden. Obwohl mein Einsatz und meine Bemühungen in erster Linie der Firma zu Gute kamen, wurde dies von meinen Vorgesetzten aber schlussendlich kaum gewürdigt.

Nachdem die drei Gebäude ihre Dächer hatten, wurde sofort mit der Installation der Infrastruktur begonnen. Es mussten ja unzählige Leitungen verlegt und montiert werden. Auch im „Powerhouse“, der Energiezentrale, wurde fleissig gearbeitet. Im gleichen Gebäude befand sich auch die Werkstatt mit dem Ersatzteillager für sämtliche Maschinen. Über dem Lager waren mein definitives Büro und das des Assistenten vorgesehen. Nun war es Zeit um die nötigen Fachkräfte zu rekrutieren. Obwohl wir immer äusserst viele Bewerber hatten, war es äusserst schwierig fachlich gut ausgebildete Leute zu finden. Doch wir hatten grosses Glück, denn wir konnten drei Mechaniker (Gusti Karmadi, Herry Hernadi und Hartono) nach ihrem Schulabschluss direkt von der Akademi Teknik Mesin Industri“ (ATMI) in Surakarta/Solo übernehmen. Es war eine der Schulen der Katholischen Mission, die damals von der Schweizer Entwicklungshilfe unterstützt wurde.

Bei der Rekrutierung von Arbeitskräften gab es oft schwierige Situationen. Da präsentierten sich zum Beispiel Söhne von Persönlichkeiten der Regierung oder des Militärs welche überzeugt waren, dass man sie diskussionslos anstellen würde. Da ich solche Versuche nicht ausstehen konnte, fand ich jedoch immer einen Weg um sie abzuwimmeln. Aber auch der „Lurah“, der Dorfvorsteher, mischte sich in diesen Prozess ein. Schon am Anfang, als noch Gräben für die Fundamente gegraben wurden, beobachtete ich einen Mann der auffallend fleissig war. Genau diesen und zwei weitere Männer schlug ich für die Arbeiten in der grossen Lagerhalle vor. Doch der Gemeindepräsident protestierte mit dem Argument, dass diese drei Männer Analphabeten seien und wir junge Leute mit Schulabschluss aus dem Dorf ignorierten. Ich erwiderte ihm, dass Leute mit einer guten Schulbildung die strenge und monotone Arbeit in einem Lager wohl kaum lange aushalten würden, wir aber verlässliche Kräfte suchten. Mein Standpunkt erwies sich als richtig, denn die drei „ungebildeten“ Arbeiter leisteten immer gute Arbeit und blieben der Firma bis zur Pensionierung treu.

Einer dieser Männer war Ndori, ein Handlanger der mir schon seit meiner Ankunft aufgefallen war. Er hatte ein sehr markantes Gesicht und war alles andere als ein Adonis, aber er war immer ausserordentlich fleissig und scheute keine Arbeit. Anfangs schaufelte er vor allem Gräben für die Fundamente. Eines Tages kam er zu mir und sagte, dass die Kokospalmen nahe bei meinem Büro kränklich seien und dringend Pflege brauchten. Zu meiner Überraschung schlug er mir vor normales Salz zu kaufen und dies rund um die Bäume zu verteilen. Und tatsächlich erholten sich die Bäume schon nach kurzer Zeit und entwickelten sich wunderbar. Da ich wusste, dass Salz den Pflanzen normalerweise schaden konnte, musste ich annehmen, dass bei den Kokospalmen diese Regel nicht stimmt. Der Beweis scheint die Tatsache, dass Kokospalmen ja auch direkt am Meer gedeihen können. Ndori hat mich mit seinem Wissen der Natur später immer wieder überrascht und erinnerte mich an einen Schamanen. Einmal, als er bereits für uns im Lager arbeitete, hatte sich eine Schlange bis in den Eingag des Produktionsgebäudes gewagt. Da ich die Arbeiterinnen hysterisch schreien hörte rief ich Ndori. Total entspannt kam er daher, lachte und fragte was den los sei. Als er die Schlange sah, schaute er sie wie hypnotisierend einen Moment an, fasste sie dann ruhig am Hals, trug sie weg und entliess sie in die Freiheit der Natur. Obwohl er Analphabet war, wurde er wegen seinem Urwissen sehr geschätzt und respektiert. Und genau aus diesem Grund hatte ich ihn ja für die Arbeiten im Lager einem Hochschulabsolventen vorgezogen.

Bei jedem Interview wollte ich vom Kandidaten immer wissen was er gerne arbeiten möchte. Meistens wurde mir geantwortet: „Es ist egal, ich nehme jede Arbeit“! Also erwiderte ich den Kandidaten, dass wir dringend jemanden bräuchten um die Toiletten zu reinigen. Da machten die Meisten grosse Augen und verschwanden. Für mich kamen nur Leute in Frage, die genau wussten, was sie wollten. Mit dieser Methode gelang es mir die technische Abteilung mit ausgezeichnetem und verantwortungsbewusstem Personal zu besetzen. Zum Beispiel in der Energiezentrale in welcher die Stromversorgung im 24-Stunden-Betrieb und in 3 Schichten überwacht werden musste. Während nach indonesischer Tradition ein Arbeiter immer noch eine Hilfskraft bei sich hat, der die schmutzige Arbeit sowie die Reinigung der Maschine übernahm, gab es dies bei uns nicht. Damit hatten die Mechaniker aus Solo anfangs Mühe. Es brauchte eine gewisse Zeit bis ich sie überzeugen konnte, dass nur sie qualifiziert waren um das anvertraute Werkzeug, zum Beispiel die Drehbank, fachgerecht zu unterhalten. Auch an die Selbständigkeit waren sich die Arbeiter nicht gewohnt und führten Arbeiten nur aus, wenn ein Auftrag erteilt wurde. Um sie zu mehr Selbstständigkeit zu motivieren versuchte ich es auf indonesische Art. Ein Beispiel war Mulyadi, unser Mann der für die ganze Wasserversorgung, inklusive Wasseraufbereitung und Kläranlage verantwortlich war. Eines Tages sah ich im Raum der Wasseraufbereitung einen Wasserhahn tropfen. Also fragte ich ihn wieso das Ventil nicht repariert sei. Scheu erwiderte er mir, dass ich ihm dazu keinen Auftrag erteilt hätte. Natürlich hatte er Recht, aber ich erwartete von ihm mehr Initiative und Selbständigkeit. Aber wie konnte ich einem scheuen, unterwürfigen Indonesier seine Lebensweise ändern? Nach einer kurzen Weile kam mir die Idee: Da in der Indonesischen Sprache vieles bildlich erklärt wird, sagte ich ihm, dass meine Arbeit vielseitig sei und meine Augen nicht immer mit ihm und bei seiner Arbeit sein könnten. Seine Augen hätten daher die Rolle meiner Augen übernommen und er müsste daher, so wie ich, dringende Reparaturen ohne Rückfrage selbstständig erledigen. Bei grösseren Problemen und Pannen solle er mich aber unbedingt rufen um dann zusammen eine Lösung zu finden. Ab diesem Tag wurde er ein ganz anderer Mensch. Er nahm seine Arbeit nicht nur sehr ernst, sondern umsorgte „seine Anlagen“ nun wie sein Eigentum. Damit hatte ich einen verlässlichen Mitarbeiter gewonnen, der auch längst nach meiner Rückkehr in die Schweiz seine Arbeit gewissenhaft und selbständig verrichtete.

Unterdessen erweiterte sich das Projekt-Team. Während Martin Poschung die Stelle als Leiter der Fabrik antrat, übernahm Dr. Willem Wanandi die Verantwortung für die eigentliche Produktion. Wir waren ein gutes Team und ergänzten uns auf ideale Weise. Nun fühlte ich mich nicht mehr alleine auf dem Bau und konnte auf Hilfe von den Beiden zählen. Während sie sich anfangs vor allem um die interne Organisation des Betriebes kümmerten, mit der Verkaufsabteilung die Produktion planten und die nötigen Materialien bestellten, nahm ich mich nun hauptsächlich dem Innenausbau an. Da kam mir vor allem die Erfahrung in Kairo zu Gute. Es gab unendlich viele Details mit meinen Kollegen zu klären und Lösungen zu eben so vielen Problemen zu finden. Gleichzeitig verliess ich mein lieb bekommenes, temporäres Büro im kleinen, weissen Haus und installierte mich mit meinem Assistenten im Powerhouse. Die drei Räume befanden sich nicht nur über dem Ersatzteillager, sondern auch dem Raum mit den drei Dieselgeneratoren. Obwohl man alles unternommen hatte um Vibrationen und Schallemissionen zu vermeiden, konnte man in meinem Büro das Dröhnen der Motoren nicht überhören und die Scheiben klirrten ununterbrochen. Oft konnte man das eigene Wort nicht verstehen, aber ich hatte keine andere Wahl als mich, so wie meine Arbeiter, damit abzufinden. Im Generatorenraum trugen die Verantwortlichen für den Unterhalt der Generatoren allerdings immer einen Gehörschutz.

Auch das Ersatzteillager neben der Werkstatt musste nun geplant und eingerichtet werden. Jede Maschine hatte ja ihre eigenen, speziellen Ersatzteile, die übersichtlich und einfach zugänglich gelagert sein wollten. Dazu mussten zuerst die entsprechenden Lagergestelle hergestellt werden. Anstatt diese zu importieren zog ich eine hauseigene Konstruktion vor, die ausschliesslich mit eigenen Leuten und vorhandenem Material angefertigt wurde. Gleichzeitig musste ein Inventar- sowie Kontrollsystem für all diese Teile entwickelt und die nötigen Formulare entworfen werden, eine Arbeit die mir viel Spass machte. Schon vorher hatte ich einen geeigneten Storekeeper, einen Verantwortlichen für das ganze Lager gesucht. Da es ein zuverlässiger Mann sein musste und dies auf meinen Fahrer Saleh zutraf, fragte ich ihn ob ihn diese Arbeit interessieren würde. Er war sofort begeistert und schien seine „Beförderung“ sehr zu schätzen. Aber nun musste ich einen neuen Fahrer suchen und fand dabei Rojali, ein Mann der aber nicht mehr so selbständig wie Saleh war. Ganz ungewohnt kam Saleh eines Tages viel zu spät und irgendwie verstört zur Arbeit. Als ich nach dem Grund der Verspätung fragte sagte er mir freimütig, dass sein Vater in der vergangenen Nacht einen Nachbar umgebracht habe und er deshalb aus Angst vor Vergeltung einen grossen Umweg zur Arbeit machen musste. Seine Antwort bestürzt mich ausserordentlich, doch leider wusste ich nicht wie ich reagieren sollte. Ich war mir ja nicht sicher, ob er mir die Wahrheit sagte. Ab diesem Ereignis schien er verstört und bald verliess er uns mit dem Vorwand lieber als Taxi Fahrer zu arbeiten. Ich hatte das Gefühl, dass seine Entscheidung eher mit der Angelegenheit seines Vaters zu tun hatte, aber wie oft in Indonesien blieb meine Vermutung unbestätigt. Ich bedauerte seinen Entscheid sehr und musste nun einen neuen Storekeeper suchen. Saleh habe ich später einmal in der Stadt getroffen, nachher aber nie mehr gesehen.

Wir hatten wohl unterirdische Reservoire für die Wasserversorgung der Fabrik, doch das vorhandene Volumen hätte beim Ausbruch eines grossen Feuers wohl kaum gereicht. Es wurde daher entschieden eine separate, unabhängige Löschwasseranlage zu erstellen, an der sämtliche Hydranten angeschlossen waren. Zuerst wollte man das Reservoir auch unterirdisch bauen, doch dann entschied man sich für ein offenes Becken. Wir waren uns bewusst, dass sich mit dem tropischen Klima darin schnell Algen bilden werden und damit eine Wasseraufbereitung unumgänglich war. Um das Unerlässliche mit dem Angenehmen zu verbinden, schlug ich vor diesen „Firepool“ gleichzeitig als Schwimmbad zu gestalten. Erstaunlicherweise wurde mein Vorschlag von allen Seiten akzeptiert. Es wurde kein Luxusbad, aber das mit himmelblauem SARNAFIL ausgekleidete Becken genügte am Feierabend oft die Lust zu wecken ins wunderbar saubere Wasser zu springen. Natürlich stand das Becken nach der Aufnahme der Produktion auch den Arbeitern zur Verfügung. Dies war noch vor der Islamischen Revolution in Iran, in einer Zeit wo Bier in Jakarta noch kein Alkohol war und Spielsalons sowie „Massage-Parlors“ noch zum normalen Alltag gehörte. So war es auch absolut kein Problem Burschen und Mädchen in Badekleidern zu sehen (und ohne Kopftuch!) und dass beide Geschlechter zusammen baden durften. Sie amüsierten sich wie Kinder und es war eine Freude ihre Unbeschwertheit zu beobachten. Leider breiteten sich die strengen Lehren von Ruhollah Chomeini nachher bald bis nach Indonesien aus und solch erfrischende gemeinsame Bäder sind nun wohl kaum mehr denkbar. Wie schnell sich die Weltanschauung ändern kann!

Übrigens: viel später, am 28.10.1974 brannte plötzlich die Schuhfabrik nebenan. Dank dem sofortigen Einsatz unserer Leute und dem grossen Wasservorrat, konnte das Feuer relativ rasch gelöscht werden. Der äusserst dürftige Fabrikbau war so nahe an unser Gelände gebaut, dass unser Löschsystem problemlos bis zu den Wänden der Fabrik reichte. Gleichzeitig konnten wir aber auch unsere eigenen Gebäude vor dem Übergreifen von Flammen schützen.

Bald begannen die Umgebungsarbeiten, eine kreative Aktivität die mir besonders Freude machte. Ich liess unzählige Kokospalmen, Bananen, Papayas, Mangos und verschiedene andere Bäume sowie Sträucher setzen. Zu dieser Zeit war mir noch nicht bekannt, dass die Regierung strenge Richtlinien für die Bepflanzung von Industriegeländen ausgearbeitet hatte. Es durfte nämlich nur ein gewisser Prozentsatz des Geländes überbaut werden und für den Rest gab es genaue Angaben wie viele Bäume und Sträucher gesetzt werden mussten. Als unsere Arbeiten beendet waren erschienen plötzlich Funktionäre des Ministeriums für Umwelt und kontrollierten das ganz Gelände. Sie waren überrascht über die grosse Anzahl der gepflanzten Bäume und Sträucher und bestätigten uns, dass unsere Bepflanzung die lokalen Vorschriften weit überträfe. Sie nahmen auch Proben des Abwassers das nach der Kläranlage in den Bach geleitet wurde. Auch diese Proben entsprachen den lokalen Vorschriften. Was mich an dieser Kontrolle positiv überraschte war die Tatsache, dass es damals in Indonesien schon ein Gesetz zum Schutze der Umwelt gab und damit der Schweiz diesbezüglich weit voraus war.

Etwa zur gleichen Zeit überraschte mich und alle Schweizer der P.T. Ciba-Geigy Pharma Indonesia eine sonderbare Nachricht aus Basel. Es wurde uns mitgeteilt, dass die während den letzten 2 ½ Jahre einbezahlten AHV Beiträge an den Hauptsitz in Basel zurückbezahlt würden. Der Grund war die Tatsache, dass obwohl wir einen Vertrag mit Ciba-Geigy AG Basel hatten, wir nun faktisch Angestellte der indonesischen Tochterfirma waren. Da zwischen Indonesien und der Schweiz diesbezüglich keine Vereinbarungen bestanden, hatte die Firma kein Recht für uns die AHV Beiträge einzuzahlen. Wieso man sich dieser Situation erst nach so langer Zeit bewusst wurde, blieb unbeantwortet. Da ein Antrag für individuelle AHV Beiträge nur während den ersten zwei Jahren im Ausland möglich war, hätte dies für uns einen Verlust von Beitragsjahren bedeutet. Aber die Firma beschwichtigte uns mit dem Versprechen den allfälligen Ausfall der Altersrente auszugleichen, was später auch tatsächlich geschah. Mit diesem Umstand wurde mir aber klar, dass ich für meine Altersvorsorge nicht ausschliesslich vom Staat abhängig sein sollte und für ein gesichertes Einkommen im Alter auch selbst verantwortlich sein musste.


(8) Luftaufnahme der gesamten Produktionsanlage.

Luftaufnahme der gesamten Produktionsanlage.


Nach 2 ½ Jahren Bauzeit, wurde am 11. Juli 1973 die Fabrik im Beisein von Mohamed Suharto, dem zweiten indonesischen Staatspräsidenten, feierlich eingeweiht. Der Aufwand für diese Feier war eindrucksvoll, schliesslich wollte man dem Präsidenten und der anwesenden Presse den Betrieb nur in bestem Lichte präsentieren. Es wurde sogar eine Tribüne vor dem Haupteingang aufgebaut. Für das „Engineering Department“ bedeutete dies viel zusätzliche Arbeit und ich hatte alle Hände voll zu tun. Kurz vor der Feier kam mir per Zufall ein Sitzplan der geladenen Gäste in die Hände. Da ich meinen Namen nirgends darauf fand, fragte ich meinen Vorgesetzen wo ich wohl platziert sei. Etwas schnippisch meinte er: „In ihrem Büro im Powerhouse“! Zuerst glaubte ich er mache ein Spässchen, doch es war sein Ernst. Äusserst entrüstet wollte ich wissen wieso alle Verantwortlichen des Projektes, inklusive die Angestellten, der Feier beiwohnen dürfen, während meine Leute und ich im Hintergrund bleiben müssten. Dazu meinte er nur, dass der Rundgang mit dem Präsidenten ja auch durchs „Powerhouse“ führe und wir die Ansprache ja über die Lautsprecher hören könnten. Bei dem Lärm der Generatoren war dies natürlich unmöglich und zur grossen Enttäuschung meiner Leute (und mir) wurde der Präsident dann schliesslich doch nicht zum „Powerhouse“ geführt. Die Einweihung fand deshalb ohne uns statt! Das war wohl eine der grössten Enttäuschungen meines ganzen Lebens. Meine ganze Hingabe, Mühe und Aufopferung für das Projekt wurden auf groteske Weise ignoriert. Es wurde mir übel und so ging es wohl auch einigen von meinen Leuten. Jedenfalls brach diese Riesenenttäuschung nach mehr als 40 Jahren bei einer Zusammenkunft mit meinen Leuten in Jakarta überraschenderweise nochmals lautstark aus ihren Herzen. Erst jetzt konnte ich ihnen erklären, dass ich damals genau so enttäuscht und entrüstet war wie sie. Um meine Frustration zu bändigen, rief ich damals nach der Einweihung alle meine Leute zusammen und organisierte spontan eine Feuerwehrübung. Alle vorhandenen Schläuche wurden ausgerollt und die Wendrohre pro forma auf ihre Tüchtigkeit geprüft. Jeder konnte nach seinem Gutdünken irgendwohin spritzen und so weit er wollte. Sie bespritzten sich gegenseitig und amüsierten sich dabei köstlich. Dies erlaubte die enorme Enttäuschung momentan zu vergessen, aber die bittere Erinnerung blieb für immer.

Ein paar Monate später verliess Jean Eggmann Indonesien und wir bekamen im April 1974 einen neuen CEO, Rolf Widmer. Er war vorher CEO in Ägypten und so kannten wir uns bereits. Er brachte einen erfischend neuen Geist in die Firma. Schon in den ersten Tagen versammelte er sämtliche Mitarbeiter der Ciba-Geigy in Indonesien. Er teilte uns mit, dass er „nur“ CEO sei und das Fachwissen der verschiedenen Divisionen nicht habe und auch gar nicht haben könnte. Für seine Arbeit und ein gutes Management sei er deshalb von unserer engen und ehrlichen Zusammenarbeit abhängig. Er interessierte sich auch für meine Arbeit und wusste sie immer zu schätzen, was für mich sehr motivierend war.

Nach der offiziellen Einweihung begann für mich die Zeit der Organisation und Ausbildung der Arbeiter für den periodischen Unterhalt sämtlicher Maschinen. In meiner Stellenbeschreibung war erwähnt, dass es auch meine Aufgabe sei eine selbständige „Werkstattequipe“ für den Unterhaltsdienst aufzubauen, sodass meine Stelle letzten Endes überflüssig würde. Dabei ging es ja nicht nur um den Unterhalt von Produktionsmaschinen während den jährlichen Betriebsferien, sondern auch um die ganze Infrastruktur welche man unabhängig davon immer funktionstüchtig halten musste. Diese Arbeit entpuppte sich für mich äusserst interessant, denn ich verfügte dazu überhaupt keine Erfahrung. Alles war Neuland für mich, zum Beispiel das Demontieren und Reinigen eines Kühlturmes der Klima-Anlage. Aber Dank gut ausgebildeten und motivierten Leuten entstand schliesslich ein Konzept das sich sehen liess und immer eine störungsfreie Produktion garantierte, etwas das schliesslich erste Priorität hatte.

Die Ingenieurabteilung war auch verantwortlich für die Entsorgung von Abfällen. Dazu wurde neben dem „Powerhouse“ ein Verbrennungsofen erstellt, wo vor allem Packmaterial aus der Produktion verbrannt wurde. Aber auch beim Unterhalt der Maschinen entstand Abfall, vor allem beim Ölwechsel der Generatoren. Da auf dem Gelände nichts deponiert werden durfte, wurden Boxen für Papier, Metall, Glas, etc. zur Verfügung gestellt. Um meinen Mitarbeitern das Rezyklieren attraktiv und lohnend zu machen, ging der Erlös von Altöl, Alteisen, etc. in eine Reisekasse. Zusammen wurde dann einmal im Jahr ein Ausflug gemacht. Es waren meist bekannte Destinationen oder solche, welche sich die Mitarbeiter normalerweise nicht leisten konnten (Indonesia Miniatur, das „National Monument“ oder „Monas“, etc). Die Exkursion war jedes Jahr ein grosser Erfolg und brachte die Belegschaft sichtlich enger zusammen. Doch bald meldeten sich Arbeiter aus der Produktion die am Erlös von Abfall ebenfalls beteiligt sein wollten. Doch sie fanden kein Gehör und das Privileg blieb beim Engineering Department.

Obwohl wir schon während der Bauzeit einen Telefonanschluss hatten, konnten wir uns nicht nur auf diese Art von Kommunikation verlassen. Oft war die Leitung grundlos unterbrochen oder dann hörte man nur lautes Knacken. Die Drähte hingen lose an Masten entlang der Jalan Raya Bogor und so war es zudem bei Regen meist unmöglich zu telefonieren. Deshalb wurde zwischen dem Büro in Kebayoran und der Fabrik ein Kurierdienst eingeführt. Später als die Fabrik den Betrieb bereits aufgenommen hatte, wurden entlang der Strasse neue Kabel montiert. Eigentlich hätte dies die Qualität der Anschlüsse verbessern müssen, doch es zeichnete sich keine bedeutende Verbesserung ab. Einmal, nachdem wir während einigen Tagen nicht telefonieren konnten, schlug mir ein Arbeiter vor der neu erstellten Telefonzentrale einen Besuch abzustatten. Bei einer solch unkompromittierten Aussage musste man in Indonesien immer zuhören, denn da versteckte sich immer eine Nachricht. Da sich die neue Telefonzentrale fast gegenüber unserer Fabrik befand, ging ich gleich hin. Schon beim Betreten des Raumes sah ich am Schaltkreis ein kleines Stück Papier zwischen einem Kontakt. Mit unschuldiger Mine fragte ich den Verantwortlichen ob er unsere Leitung blockiere. Lachend nickte er und erwiderte, dass sein Sohn krank sei und er dringend Medikamente brauche. Sofort sagte ich ihm, dass ich weder Korruption noch Erpressung dulde und ich ihn beim Telefonamt anzeigen werde. Doch diese Drohung machte ihm absolut keinen Eindruck. Er klagte weiter, erwähnte seinen mageren Lohn und dass er keine andere Wahl habe als auf diese Weise an Medikamente zu kommen. Zudem meinte er, dass wir ja tonnenweise Medikamente in der Fabrik hätten und deshalb sicher einige Pillen für sein krankes Kind übrighätten. Ich war mir bewusst, dass seine befremdende Forderung vom Funktionieren unserer Telefonleitung abhing und besorgte ihm widerwillig das nötige Präparat. Ein kleiner Beamter konnte also tatsächlich, ohne Konsequenzen zu fürchten, die Kommunikation eines internationalen Pharmabetriebes lahmlegen! Und es blieb nicht bei diesem Einzelfall, immer wenn das Telefon nicht funktionierte fuhr ich zu ihm und fragte ihn was er diesmal brauche. Nach Erhalt der Medikamente entfernte er jeweils das kleine Stück Papier zwischen den Kontakten und ich fühlte mich ein weiteres Mal als Komplize der Korruption im Lande.

Immer wieder baten mich Arbeiter um einen Vorschuss. Da es sich meistens um sehr kleine Beträge handelte und diese auch immer prompt zurückbezahlt wurden, war ich bereit auch ein privates Leihbüro zu sein. Eines Tages kam Ahmad, unser Sanitär Installateur, nach dem Feierabend zu mir ins Büro. Er erzählte mir, dass er eine einmalige Möglichkeit hätte sehr günstig sechs Metallstühle zu erwerben, ihm dafür aber das Geld fehle. Eher etwas teilnahmslos fragte ich ihn ob er denn keine Stühle zu Hause hätte. Er verneinte die Frage! Dies schockierte mich so sehr, dass ich es nicht glauben konnte. Wie konnte es sein, dass einer meiner Arbeiter zu Hause nicht einmal einen Stuhl hatte. Um sicher zu sein, dass er mir keinen Schwindel erzählte, wollte ich dies sofort mit meinen eigenen Augen sehen. Ich bat ihn in mein Auto zu steigen und mir den Weg zu seinem Haus zu zeigen. Nach wenigen Minuten waren wir bereits da. Ganz nahe am Bach war eine Ansammlung von viereckigen Bambushütten, wovon eine von ihm und seiner Familie bewohnt war. Sein „Haus“ bestand eigentlich nur aus einem einzigen Raum. Auf dem Lehmboden stand das einzige Möbel, ein zweistöckiges Metallbett, das der ganzen Familie zum sitzen und schlafen diente. Und ich sah tatsächlich ausser zwei kleinen Schemeln weder Stühle noch Tisch am Boden. Gekocht wurde draussen unter freiem Himmel. Der Anblick dieser äusserst dürftigen Unterkunft machte mich sehr betroffen. Ich hätte mir nie gedacht, dass Ahmad, der für uns sanitäre Arbeiten nach Schweizer Anforderungen ausführte, zu Hause mit seiner Familie so armselig wohnte und zudem als sanitär Installateur mit einer öffentlichen Latrine vorliebnehmen musste. Ausserdem war es mir unerklärlich wie er und all die Leute in diesem Dorf es jeden Tag schafften immer fein sauber gekleidet zur Arbeit zu erscheinen.

Ich war mir bewusst, dass meine Wahrnehmungen dem westlichen Standard entsprachen und sein Heim für indonesische Verhältnisse vielleicht gar nicht so miserabel war. Trotz diesen Überlegungen gewährte ich ihm den Kredit, fragte mich aber während Wochen was ich tun könnte um die Wohnverhältnisse auch meiner anderen Arbeiter zu verbessern und hygienischer zu machen. Ich musste ja annehmen, dass er nicht er Einzige war, der so extrem einfach lebte. Nach einer Weile entschloss ich mich mein Anliegen zusammen mit meinen Arbeitern zu diskutieren. Meine Idee war ein Stück Land in der Nähe der Fabrik zu erwerben und um darauf ein einfaches Reihenhaus mit gemeinsamer Waschküche zu erstellen. Es sollte ein sehr einfaches, unverputztes Gebäude aus Zementsteinen sein, das dann von jedem Besitzer individuell selbst ausgebaut und gestaltet werden konnte. Jedes Haus sollte aber wenigstens eine einfache Küche, ein „Mandi“ und eine unabhängige Wasser- und Stromversorgung (Sonnenkollektoren auf dem Dach) haben.

Alle waren begeistert von meiner Idee und auch bereit mitzumachen. Das Projekt sollte im Geiste von „Gotong Royong“, einer typisch indonesischen Nachbarshilfe wo jeder jedem hilft, verwirklicht werden. Allerdings wollte ich dabei keine führende Rolle einnehmen, sondern nur beratend beistehen. Da wir in unserer Abteilung Alimudin, einen Zeichner hatten, war ich aber bereit die ersten Pläne durch ihn bereitzustellen. Dies ging sehr schnell, doch dann hörte ich lange nichts mehr. Als ich einmal fragte wie weit die Suche nach einem Grundstück fortgeschritten sei sagte mir ein Arbeiter, dass der Boden in der Umgebung sehr teuer geworden sei. Während meine Leute nach Land Ausschau hielten, erwähnten sie dummerweise immer meinen Namen. Damit stieg der Preis für ein Grundstück natürlich immer um das Zehnfache. Nach ein paar Monaten kam Ahmad in mein Büro. Er schien beschämt und sehr bedrückt, sodass ich annehmen musste, dass er mir etwas Unangenehmes mitteilen wollte. Nach ein paar belanglosen Worten drehte er sich scheu auf alle Seiten und begann vom „Personalhaus“ zu reden. Dann war das Eis plötzlich gebrochen und mit grosser Entrüstung über seine Arbeitskollegen teilte er mir mit, dass alle ein Reihenhaus möchten, es dann aber vermieten wollten. Mit den Mietzinsen könnten sie sich dann ein Motorrad, ein Fernsehgerät, einen Kühlschrank, etc. leisten! Mit meinem christlichen Helferwille, meiner Naivität und der Unwissenheit ihrer Prioritäten hatte ich mich wieder einmal ins Nichts manövriert. Einmal mehr hatte ich vergessen, dass man niemandem Hilfe aufdrängen soll und seine Energie eher für Leute bereit halten soll die Hilfe auch tatsächlich wollen und schätzen. Meine Erfahrungen in Afrika hatten mich einmal mehr vor Enttäuschung nicht schützen können. Von meinem gutgemeinten Projekt einer „Personalunterkunft“ sprach später niemand mehr. Aber Ahmad wollte unbedingt sein eigenes Haus haben und bat mich deshalb um einen Kredit, den er während 12 Monaten zinsfrei zurückzahlen konnte. Da ich wusste, dass ich ihm trauen konnte, besprach ich den Fall mit unserem Buchhalter und bat ihn eine Ausnahme zu machen. Während drei Jahren wurde der Kredit jeweils anfangs Jahr erneuert und so baute sich Ahmad mit viel Ausdauer ein solides, zweistöckiges Haus und lebte darin bis zu seinem Tode im Jahre 2017. Alimudin heiratete und taufte seine Tochter auf den Namen „Faustina“. Wenig später fand er eine Stelle bei P T Pertamina, der staatlichen Erdölgesellschaft und verliess uns.

Wie in Tunesien und in Libanon besteht das Wochenende in Indonesien seit jeher aus Samstag und Sonntag. Es scheint daher überraschend, dass die islamische Arbeitswoche trotz starker Islamisierung seit der Zeit von Ruhollah Chomeini nie eingeführt wurde. In den meisten arabischen Ländern fällt das Wochenende nämlich auf Freitag und Samstag, also eine Arbeitswoche von Sonntag bis einschliesslich Donnerstag. In einigen arabischen Ländern gelten auch Donnerstag und Freitag als Wochenende. Während ein Gläubiger sein rituelles Gebet fünf Mal am Tag verrichten soll, also vor dem Sonnenaufgang, mittags, nachmittags, bei Sonnenuntergang und bei Einbruch der Nacht, wird am Freitag das Gebet am Mittag durch ein für Männer verpflichtendes und für Frauen empfohlenes Gemeinschaftsgebet, das Freitagsgebet, in der Moschee ersetzt. Das Gebet am Freitag ist das Wichtigste der gesamten Woche. Dem Gebet folgt meistens eine Predigt wo die Gläubigen an ihre Pflichten erinnert werden. Der Freitag ist deshalb so etwas wie der Sonntag für die Christen, wobei aber die Geschäfte meist wie gewöhnlich geöffnet sind.

Gläubige Arbeiter und Arbeiterinnen die am Freitag das Mittagsgebet in Gandaria verrichten wollten, durften jeweils schon um 11.00 Uhr in die Mittagspause, denn die Moschee in Gandaria befand sich nur ein paar Minuten von der Fabrik entfernt. Anfangs war es nur eine Handvoll die ihre Arbeitskleider auszogen um zum Mittagsgebet zu gehen. Doch mit dem Einfuss von Ruhollah Chomeini’s wurden es immer mehr. Zudem wurde die Forderung für einen Gebetsraum in der Fabrik immer lauter. Es wurde gesagt, dass ein guter Muslim auch ausser den vorgegebenen Zeiten die Gelegenheit haben muss um zu beten, also immer, wenn er das Bedürfnis dazu hat. Folglich wurde ein kleiner Raum in der Produktionszone dafür bereitgestellt. Aber nun wollten auch die Mädchen einen Gebetsraum haben und so musste zusätzlich noch ein separater Raum für Frauen eingerichtet werden. Leider kam es dann vor, dass einige beim Beten einschliefen und die Anderen ihre Arbeit voll übernehmen mussten. Da die Betroffenen meistens Christen (Chinesen) waren, schürte dies leider nicht nur zu Spannungen unter den Beteiligten, sondern sogar in der ganzen Belegschaft.


Bald verstärkte der Indonesische Staat die Import-Restriktionen weiter und zwang lokale Firmen Pharmazeutika nicht nur im Lande selbst zu konfektionieren, sondern auch mindestens eine Aktivsubstanz lokal zu produzieren. P.T. Ciba-Geigy Pharma Indonesia entschied sich für die Herstellung von „Rimactan“. Dieses Präparat war ein wichtiges Mittel für die Behandlung von Tuberkulose sowie der Lepra und fand hauptsächlich beim Militär Absatz. Die Forderung, wenigstens eine Aktivsubstanz lokal zu produzieren, wurde für „Kopierer“ von Medikamenten nun unverhofft zur grossen Herausforderung, denn sie hatten nie ein eigenes Präparat entwickelt. Eine dieser dubiosen Firmen bekam aber von der Regierung die unverständliche Erlaubnis die Aktivsubstanz des von ROCHE entwickelten Medikamentes „Valium“ herzustellen. ROCHE hätte damit die für die eigene, lokale Produktion benötigte Aktivsubstanz nicht mehr importieren dürfen und wäre gezwungen gewesen, diese bei einer lokalen Firma zu kaufen. Äusserst empört über den absurden Entscheid des Staates, entschloss sich ROCHE in Windeseile die nötige technische Einrichtung zu erstellen um die Produktion von „Valium“ mit eigenem Rohstoff zu sichern.


(9) Chemieproduktion RIMACTAN

Chemieproduktion RIMACTAN


P.T. Ciba-Geigy Pharma Indonesia entschied sich für einen kleinen Produktionsbetrieb für die Herstellung der Aktivsubstanz für „Rimactan“ neben dem „Powerhouse“. Aus diesem Grund wurde mein 4-Jahres Vertrag um zwei Jahre verlängert. Das Projekt war für mich erneut eine Herausforderung, denn ich hatte mit einer solchen Installation keine Erfahrung. Aber das Projekt motivierte mir schliesslich so sehr, dass ich mich entschloss die gesamte Installation des zusätzlichen Betriebes in eigener Regie und mit meinen eigenen Leuten selbst auszuführen. Ich fand, dass sie damit eine persönliche Beziehung zur Installation bekommen und der Unterhalt für sie nachher einfacher würde. Da es sich um eine chemische Produktion handelte mussten vor allem die Reaktionskessel mit vielen verschiedenen Leitungen verbunden werden. Scheinbar stimulierte dieses neue Projekt auch meine Leute, denn es war eine Freude sie bei der Arbeit zu beobachten. Als die Installation beendet war, sah man den ehrlichen Stolz in ihren Augen. Der Betrieb wurde am 5. April 1976 im Beisein des Gesundheitsministers, Prof. Dr. G.A. Siwabessy, offiziell eingeweiht und anschliessend in Betrieb genommen.

P.T. Chandra Sari (1.8.1976 – 15.3.1977)
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17.7.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – P.T. Chandra Sari (1.8.1976 – 15.3.1977).



(1) TC Project P.T. Candra Sari

TC Project P.T. Candra Sari


Nach einer Äderung des nationalen Investitions-Gesetzes durfte ein ausländischer Investor nur noch mit 49% an einem lokalen Betrieb beteiligt sein. Aus diesem Grund entschied die Farbstoff-Division der damaligen Ciba-Geigy mit ihrem lokalen Agenten die P.T. Chandra Sari zu gründen und gleichzeitig eine lokale Produktionsstätte zu errichten. Da die Landreserven auf dem Grundstück in Gandaria dies erlaubten, wurde diese neben der Produktionsanlage für „Rimactan“ erstellt. Im Gegensatz zu Pharmabetrieb mischte sich nun in vielen Bereichen der lokale Investor in das Projekt, ein Umstand welcher die Arbeit für mich oft sehr schwierig machte. Am 16.11.1975 wurde im Beisein von vielen Gästen die Grundsteinlegung und gleichzeitig der „Slametan“ für die neue Anlage mit viel Aufwand zelebriert und dann sofort mit dem Bau begonnen. Dazu mussten zuerst die interne Strasse verlängert und neue, riesige Entwässerungsrohre entlang des Grundstückes verlegt werden. Das Gebäude war von sehr einfacher Bauart, denn schliesslich handelte es sich um einen Chemiebetrieb mit anderen baulichen Voraussetzungen und Ansprüchen. Für die Produktion mussten drei riesige Reaktions-Kessel installiert werden, zwei mit einer Kapazität von 2’500 Liter und einer sogar für 4’000 Liter. Diese sehr spezielle Installation wurde nicht an eine lokale Firma vergeben, sondern von zwei Spezialisten vom Hauptsitz in Basel ausgeführt. Die Kessel wurden auf ungefähr 1.50 Meter hohen Betonsockeln gesetzt. Bei dieser Arbeit stellte man kleine Unebenheiten an der Oberfläche der Sockel fest und diese mussten ausgeglichen werden. Da ich diese Arbeit persönlich ausführte merkte ich sofort, dass der Beton so weich wie Butter war. Unverzüglich stoppte ich die Installation, liess die Kessel mit dem Kran wieder auf den Boden stellen und die Sockel bis auf den Boden abspitzen. Das ging so schnell, dass alle Beteiligten über die schlechte Qualität des Betons bestürzt waren. So weicher Beton hätte die schweren, vollen Behälter wohl nicht ausgehalten und es wäre unvermeidlich zu einem dramatischen Unfall gekommen. Nach diesem Vorfall inspizierte ich auch die Mauern und musste feststellen, dass man den Mörtel zwischen den Bausteinen mit einem Kugelschreiben herauskratzen konnte. Sofort meldete ich den Missstand dem lokalen Investor, der ja die Baufirma ausgewählt hatte, und ersuchte ihn den Direktor der Baufirma zu informieren. Seine Antwort hätte nicht grotesker sein können. Ohne nach Details zu fragen oder den Umfang der schlechten Arbeit sehen zu wollen, fragte er mich ob ich den Schaden und den daraus entstandenen Verzug der Arbeiten beziffern könne? Der Betrag sei wichtig um zu wissen was er vom ursprünglichen Vertrag abziehen könne. Er ignorierte dabei total, dass wir mit dem Abbruch der schlechten Stützen wohl einen Chemie-Unfall vermieden hatten, einen der sicher auch Menschenopfer gefordert hätte. Eine so materialistische Reaktion schockierte mich ausserordentlich und so gab ich ihm keine Antwort. Alle Stützen wurden erneut betoniert und die riesigen Gefässe konnten sicher installiert werden.


(2) Die drei riesigen Reaktions-Kessel (nun auf soliden Sockeln)

Die drei riesigen Reaktions-Kessel (nun auf soliden Sockeln)


Während ich das Projekt weiter überwachte, begann ich gleichzeitig die Verantwortung der Ingenieurabteilung etappenweise meinem Assistenten zu übergeben. Die Firma hatte mich nämlich für einen Posten in einem Projekt in Brasilien vorgesehen. Aus diesem Grund wurde mein Vertrag in Jakarta nicht weiter verlängert. Also musste ich sicherstellen, dass ich auch wirklich eine perfekt funktionierende Abteilung hinterliess. Eigentlich hatte ich keinen Grund zur Sorge, denn ich hatte ja genug Zeit gehabt um qualifizierte Leute zu fördern und mein Wissen weiterzugeben. Zudem hatte ich mit den Arbeitern ausserordentliches Glück. Sie waren nicht nur pflichtbewusst, sondern blieben dem Betrieb auch treu. Die Meisten arbeiteten auch später bis zu ihrer Pensionierung im Betrieb. Allerdings hatte mein Assistent, Karmadi, anfangs etwas Schwierigkeiten um bei seinen Kollegen nun plötzlich als Vorgesetzter akzeptiert zu werden. Die Arbeiter waren sich halt bis anhin gewohnt alle Anweisungen von einem Ausländer zu erhalten. Aber nun war es plötzlich ein Einheimischer welcher Entscheidungen traf und die Abteilung leitete. Ich war mir bewusst, dass er eine gewisse Zeit brauchte um voll respektiert zu werden, aber ich verliess ja den Betrieb nicht sofort und hatte somit Zeit auch dies noch mit ihm auszustehen. Immer wieder wurde er ignoriert und die Arbeiter kamen mit allen Fragen weiterhin zu mir. Und immer wieder musste ich die Arbeiter daran erinnern, dass sie sich nun an meinen Nachfolger zu wenden hätten. Es brauchte eine gewisse Zeit bis dies alle verstanden hatten und Karmadi, meinem Nachfolger, volles Vertrauen schenkten. 

Bei meiner Ankunft im Februar 1971 war die damals üppige Vegetation auf dem zukünftigen Gelände der Fabrik, ausser ein paar Kokospalmen, bereits verschwunden und ausser roter Erde was da nichts zu sehen. In den folgenden sechs Jahren hatte sich aber wieder üppige Vegetation ausgebreitet, sodass man schon bei der Einfahrt aufs Gelände von einem sehr gepflegten, farbenfrohen und ansprechenden Garten empfangen wurde. Schon während der Bauzeit hatte ich nämlich angefangen weitere Kokospalmen und Fruchtbäume zu setzten. Ich suchte einen Gärtner, der Stecklinge von farbigen Büschen heranzog und dann überall anpflanzte. Hinter dem Powerhouse liess ich viereckige Löcher von 1 x 1 x 1 Meter graben. Darin wurden die Küchenabfälle der Kantine deponiert. Sobald die Löcher voll waren, wurden sie mit Erde zugedeckt und darauf Bananen, später sogar Durian, gepflanzt. Die reifen Bananen wurden als Nachspeise von den Arbeitern in der Kantine geschätzt und die eigenen Kokosnüsse fanden in der Küche immer Absatz. Ebenfalls in der Küche geschätzt war der geerntete Reis von den eigenen Feldern hinter dem Powerhouse. Da die Felder teilweise auch mit Wasser aus der Kläranlage bewässert wurden, wurden Muster der ersten Ernte nach Basel ins analytische Labor geschickt. Wir wollten sicher sein, dass der Reis auch tatsächlich geniessbar war. Besonders stolz war ich als die ersten Mangos reif wurden, doch bevor ich sie pflücken konnte, waren sie bereist verschwunden. Sofort ging ich in den Verpackungsraum und fragte wer von all den Arbeiterinnen im Raum schwanger sei. Scheu meldete sich ein Mädchen und gestand mit ihrem Kichern den Diebstahl. Auch ihre Arbeitskolleginnen lachten und wunderten sich, dass ich über ihre Gewohnheiten Bescheid wusste. In Indonesien besteht nämlich die Überzeugung, dass schwangere Frauen unreife Mangos essen sollten. Ich gab ihr keine Schelte, denn sie hatte ja ihr Gesicht vor ihren Kolleginnen bereits verloren. Es gab ja im nächsten Jahr wieder neue Mangos, auf die ich dann aber besser aufpassen musste.

Nach einer gewissen Zeit entstand unter den Arbeitern das Verlangen nach einem geeigneten Platz wo man in der Freizeit Sport treiben konnte. Spontan dachte ich an das unverbaute Gelände gegenüber dem Haupteingang. Da für ein solches Projekt kein Budget vorhanden war, so schlug ich ihnen vor selbst Hand anzulegen und in Fronarbeit die angebotene Fläche so zu gestalten wie sie sich es vorstellten. Also wurde jeweils abends und am Wochenende gepickelt und geschaufelt, denn das Gelände hatte eine leichte Neigung und so musste man auf der einen Seite Erde abtragen und die andere Seite damit auffüllen. Als dann das Gelände perfekt flach war, wurde darauf Badminton und Handball gespielt.

Die Freizeit und Ferien
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17.8.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Die Freizeit und Ferien.

Die langen Abende verbrachte ich anfangs hauptsächlich mit dem Schreiben von Briefen. So blieben meine Eltern und Freunde immer über das Neueste von mir und Indonesien informiert. Telefonieren war wohl möglich, die Verbindung aber meistens miserabel und zudem äusserst teuer. So blieb das Telefonieren nur für Notfälle eine Option. Um über das Geschehen in der Schweiz auf dem Laufenden zu bleiben, hörte ich Radio „Beromünster“ oder erfuhr es aus der Wochenausgabe des „Tages Anzeiger“. Wenn ich nicht zu müde war, genoss ich gerne leichte Literatur, etwas das auch die Meisten meiner Freunde taten. Die Bücher kaufte man in der Schweiz und wurden dann gegenseitig herumgereicht. Man las Romane von Johannes Mario Simmel, Heinz G. Konsalik, Alice Ekert-Rotholz und Pearl. S Buck. Die beiden Letzteren faszinierten mich besonders ihre Geschichten die sich im Fernen Osten abspielten, zum Beispiel im Buch „Die gute Erde“.

Nach der Abreise von Jorge wurde es mir besonders an Wochenenden langweilig. Da ich weder die Englische noch die Indonesische Sprache genügend beherrschte, hatte ich kein Interesse an lokalen Veranstaltungen teilzunehmen oder sogar Clubs beizutreten. Doch Bekannte, die schon länger in Jakarta lebten, motivierten mich wenigstens Tennis zu spielen. Da ich keine Ahnung von diesem Sport hatte, wurde für mich sogar ein Lehrer organisiert. Meistens spielte ich sehr früh morgens, sodass ich mich als Anfänger nicht vor Zuschauern blamieren musste. Zudem war es früh morgens noch einigermassen kühl. Doch ich wurde nie fanatischer Tennisspieler und hatte nach dem Baubeginn der Fabrik schliesslich keine Zeit mehr für Sport übrig. Mein Arbeitskollege Martin spielte ebenfalls Tennis, schloss sich dann aber immer mehr einer Gruppe von „Hash House Harriers“ (H3) an, die hauptsächlich aus Australiern bestand. Die „H3“ ist eine internationale Vereinigung von Lauf-, Sozial- und Trink-Clubs, bei denen es aber nie um einen Wettkampf geht. Der Club führte jede Woche einen Anlass durch, bei dem Läufe oder „Hash Runs“ dazugehörten. Für mich schienen diese Läufe nichts Weiteres als eine „Schnitzeljagd“, wobei die „Hasher“ meistens total respektlos durch die Grundstücke von Einheimischen und Reisfelder jagten. Die körperliche Ertüchtigung wurde dann anschliessend bis tief in die Nacht grosszügig mit Bier gefeiert. Martin animierte mich immer wieder auch mitzurennen, doch genau so wie für das Tennis war ich für die „Hash Runs“ nach der strengen, täglichen Arbeit auf dem Bau einfach zu müde. Zudem musste ich ja am nächsten Tag einen klaren Kopf haben und konnte mir deshalb die anschliessende obligate Sauferei gar nicht leisten. Ausserdem war ich auf dem Bau körperlich genug gefordert und hatte deshalb am Feierabend kein Verlangen nach zusätzlicher Bewegung.

Da es in Jakarta damals weder „Beizen“ noch Lokale für Ausländer gab, entwickelte sich an der „Jalan Blora“ bald ein Treffpunkt wo wir uns ab und zu nach der Arbeit trafen. Diese Strasse war damals bekannt für die vielen „Steam Baths“ und Massage Salons. In einem Salon befand sich eine grosse Bar wo wir „ohne Verpflichtung“ ein Bier trinken konnten. Natürlich entstanden bald die zu erwartenden Gerüchte und so wollte Marianne, die Frau eines Kollegen, unbedingt einmal mit von der Männerrunde sein. Während sie einen missbilligen Empfang von uns und den Masseusen erwartet hatte, geschah gerade das Gegenteil. Wir fanden ihre Anwesenheit in einem für Männer reservierten Salon mutig und bei den anwesenden Mädchen löste sie sogar Begeisterung aus. Sie begrüssten sie, umarmten sie als ob sie schon lange Freundinnen wären und entführten sie kurzerhand in ihre Arbeitswelt, wo ihr die ganze Einrichtung gezeigt wurde. Diese Unbekümmertheit und Toleranz überraschten mich und meine Freunde sehr. Aber jetzt wusste Marianne, dass unsere „Beiz“ an der „Jalan Blora“ harmlos und einfach eine Stammbeiz war. Später als ich ins „Wisma Irawati“ umgezogen war, konnte ich leider nicht mehr am „Stamm“ teilnehmen.

In unserem jugendlichen Übermut entschieden wir einmal nach dem „Stamm“ ein „Betja“-Rallye zu machen. Die „Betjas“ waren damals das übliche Transportmittel der lokalen Bevölkerung und dies nicht nur für Personen, sondern für alles was man irgendwie transportieren musste. Es hatte überall „Betjas“, vor allem aber vor den Hotels. Das Gefährt hat drei Räder und im Gegensatz zu den Rikschas wo die Fahrgäste hinter dem Fahrer sitzen, befindet sich die Sitzbank bei der Betja vor dem Fahrer. Die Fahrgäste haben daher freie Sicht auf die Strasse und geniessen das Verkehrschaos hautnah. Natürlich haben die „Betjas“ keine Stossdämpfer was beim Bewusstsein der Schutzlosigkeit Adrenalinschübe auslösen konnte. Damals waren die Strassen abends kaum befahren und so sollte das Rallye vom Hotel Indonesia auf der richtungsgetrennten Jalan Jenderal Sudirman bis nach Kebayoran stattfinden. Nachdem wir uns mit den „Tukan Betajk“ geeinigt hatten fuhren wir auf der etwa sieben Kilometer langen Strecke los. Sofort musste ich einsehen, dass dies ein happiges Abenteuer war. Erstens war das Trampeln sehr anstrengend und ein kleinster Schwenker konnte das Gefährt aus dem Gleichgewicht bringen. Doch wir waren in bester Laune und genossen die nächtliche Fahrt bis zum Kreisel in Kebyaoran. Bis anhin fuhren wir ja alles gerade aus, aber nun musste man nach links abdrehen, was für einige schliesslich zum Verhängnis wurde; Betjas kippten um und Fahrer fielen zu Boden. Zum Glück hatten wir die „Tukan Betajk“ als „Fahrgast“ bei uns und so konnten wir, ohne eine mühsame Rückfahrt zu machen, die Dreiräder den Besitzern zurückgeben. Ich weiss nicht mehr wer gewonnen hat, aber mit dieser Erfahrung bekam ich einen grossen Respekt für die „Tukan Betajk“, denn diese Arbeit ist nicht nur hart, sondern auch sehr gefährlich.

Vor dem Umzug ins „Wisma Irawati“ ging ich von Zeit zu Zeit auch zum Schlittschuhlaufen ins Eisstadion, jedoch nur zusammen mit Freunden. Anfänglich schien es für mich absurd und dekadent in einem tropischen Land ein solcher Sport zu treiben, doch irgendwie musste man die Freizeit entspannend verbringen. Eine totale Entspannung war einmal eine Party auf einem Schiff der Hapag Loyd AG. Das Transport- und Logistikunternehmen hatte sämtliche Angestellten ihrer Kunden auf ihr kürzlich angekommenes Schiff im Tanjung Priok, dem Schiffshafen von Jakarta, eingeladen. Da wurden uns herrliche Speisen und Leckebisse direkt aus Deutschland angeboten, von denen wir in Jakarta nur träumen konnten. Für einen Moment glaubten wir uns im Schlaraffenland, auch in Bezug auf Wein und Bier. Es wurde hemmungslos gegessen, getrunken und vor allem gefeiert. Nach Mitternacht, als die Party so langsam zu Ende ging, hatten einige dann aber grosse Mühe über die schwankende Aussenbordtreppe wieder sicher hinunter auf festen Boden zu gelangen. Wie man nachher vernahm, genossen gewisse der Partygänger fast den ganzen nächsten Tag einen ausgewachsenen Katzenjammer. Trotz den Nachwehen oder genau deswegen blieb es für alle ein unvergesslicher Abend.


Oasis.  Manchmal trafen wir uns auch zu einer Party im romantischen Restaurant „Oasis“, das vor allem westliche Speisen auf der Menü-Karte hatte. Es befand sich in einem schönen Haus aus der holländischen Kolonialzeit, wobei aber meistens im lauschigen Garten gespeist wurde. Robert, der Küchenchef kam aus der Zentralschweiz und freute sich immer seine Landsleute zu verköstigen. Durch seine vielen Arbeitstunden in der Küche, vor allem abends, hatte er fast keine andere Gelegenheit mit anderen Schweizern in Kontakt zu sein. Obwohl ich auch viele Stunden auf dem Bau verbrachte, empfand ich seine Arbeitsbedingungen doch besonders extrem. Deshalb besuchte ich ihn manchmal während seiner Zimmerstunde am Samstagnachtmittag. Obwohl er mir sagte er wohne in einem Zimmer über dem Restaurant, blieb die grosse Küche immer der einzige Ort wo wir uns trafen. Er erzählte mir meistens äusserst kuriose Geschichten aus seinem Leben die mich oft zum Schmunzeln brachten. Zum Beispiel sagte er mir, dass er sich von seiner Frau getrennt habe, weil sie ihm nie erlaubte sein Fahrrad mit in die Stube zu nehmen und zudem auch nie etwas für ihn gestrickt habe. Er hätte so gerne von ihr einen handgestrickten Pullover bekommen, aber eben dafür hatte sie scheinbar kein Verständnis. Vergrämt und enttäuscht kam er nach Jakarta, wobei sich hier seine Lebensqualität kaum verbesserte. Natürlich hatte er hier in Jakarta alles was er brauchte und punkto Frauen sogar reichlich. Doch nach seiner Auffassung waren sie viel zu klein, sodass er im Massage-Salon jeweils gleich zwei Mädchen aussuchte. Er meinte die kleinen „Dinger“ würden ja schon nach einigen Minuten schlapp machen. Deshalb hoffte er auf seinen Heimaturlaub um endlich wieder eine „richtige“ Frau kennen zu lernen.

Ganz verliebt, ja verstört kam er dann aus den Ferien zurück. Als ich in fragte wo er denn den seinen neusten „Schatz“ kennengelernt habe, meinte er kurz: „In einer Bar, wo sie auch arbeitet“. Ich erwiderte nichts denn ich ahnte, dass es sich in diesem Fall erneut nicht um eine echte Liebe handeln konnte. Nach ein paar Wochen rief er mich äusserst nervös an und sagte die „Air France“ habe ihn wegen einem Flugticket Schweiz-Indonesien kontaktiert. Seine neue Geliebte hatte angenommen, dass sie von Robert eingeladen war und so musste er eben bezahlen um sie erneut zu sehen. Leider hatte er gar keine Ferien um sich diesem überstürzten Besuch gebührend anzunehmen. So verbrachte die Freundin den langen Tag oft alleine in seinem kleinen Zimmer und trank den ganzen Tag frischen Orangensaft, der natürlich auf Kosten von Robert ging. Überdies rauchte sie ständig und blies ihm schon um sechs Uhr morgens Zigaretten-Rauch ins Gesicht um ihn zu wecken. Dabei hatte er ja bis weit über Mitternacht gearbeitet und deshalb noch ein bisschen mehr Schlaf verdient. Doch dies schien sie nicht zu verstehen. Nach ein paar Tagen war die Dame plötzlich verschwunden. Und wieder fragte mich Robert um Rat. Leider konnte ich ihm nicht helfen, denn ich hatte sie bis anhin gar nicht kennen gelernt. Dann aber erinnerte er sich, dass er einmal kurz mit ihr bei seinem Arbeitskollegen im Hotel Indonesia gewesen war. Also fuhr er zu seinem Kollegen, klopfte an die Türe und wartete. Als sich niemand meldete öffnete er die Türe und rief nach ihr. Total entsetzt entdeckte er sie mit der Frau seines Kollegen im Schlafzimmer. Durch ihre extremen Arbeitskonditionen hatten beide Männer ihre Frauen völlig vernachlässigt, was dann eben die beiden Unglücklichen zusammenbrachte. Damit war aber die grosse Liebe bei Robert wieder ein Mal zu Ende und seine Traumfrau kehrte in die Schweiz zurück.

Etwas später bat er mich an einem Samstagnachmittag in die Stadt zu kommen. Er hatte eine Verabredung mit einem General, der Frauen zwecks Heirat vermittelte, wollte aber nicht alleine hingehen. Ich war von seiner Bitte nicht begeistert, begleitete ihn aber dann doch. Schon von aussen schien mir das Haus befremdend und als wir dann auf einem bodenlosen ersten Stock von einem Balken zu andern springen mussten, wurde mir mulmig im Bauch. Aber wir mussten diese freie Decke überqueren, denn das Büro des Generals befand sich auf der anderen Seite. Wir klopften an und wurden hineingebeten. Da sass ein General in einem wunderbar eingerichteten Büro auf seinem feudalen Sessel. Es kam mir vor als wäre ich Statist in einer James Bond 007-Film Produktion. Der General hatte bereits die Formalitäten vorbereitet und so musste Robert nur noch unterschreiben. Man hatte nicht einmal Zeit um das Dokument in Ruhe zu lesen und schon war der grosse Akt vorbei. Er bezahlte den Agenten und wir kehrten über die Balken hüpfend wieder nach Hause zurück, allerdings ohne, dass er mir seine neue Frau vorgestellt hätte. Erst nach einigen Wochen hatte ich die Ehre sie kennen zu lernen. Dabei musste ich mich unwillkürlich fragen ob er sie vor dem Abschluss des Vertrages überhaupt gesehen hatte, denn sie war alles andere als eine „Miss Indonesia“. Wie war so etwas möglich in einem Land mit so vielen hübschen Mädchen? Aber eben, jeder hat so seine Vorstellungen von einer idealen Frau. Trotzdem liess mich die Sache nicht los und immer wieder fragte ich ihn wieso diese Frau so aussergewöhnlich für ihn war. Doch er wich mir immer aus und verweigerte eine Antwort. Eines Tages aber beichtete er mir das Unglaubliche: Seine Frau hatte bemerkt, dass er ständig an vielen Pickeln auf dem Rücken litt. In der Folge habe sie ihn gebeten sich auf den Bauch zu legen, sodass sie mit ihren feinen Fingern die Pinkel mit viel Liebe ausdrücken konnte! Ich schluckte drei Mal leer und verstand nun wieso er mir den Grund seiner grossen Liebe nicht preisgeben wollte! Allerdings hatte ich Mühe zu begreifen, dass dies ein Grund für eine Heirat sein konnte. Bald darauf verliess Robert mit seiner Gemahlin Indonesien. Er sagte sie wollten sich in Kanada niederlassen, wo er anscheinend ein Blockhaus an einem See besass. Seither hat niemand mehr etwas von den Beiden gehört.


Jalan Surabaya
.   Am Anfang fuhr ich an Sonntagen oft mit Bekannten in die Stadt um Neues zu entdecken. Dabei besuchten wir vor allem die „Jalan Surabaya“, eine Strasse wo an Sonntagen der Trödler- und Antiquitätenmarkt stattfand. Mit dem Mangel an Abwechslung in Jakarta begannen viele von uns Antiquitäten zu sammeln. Während die Einen sich von altem chinesischem Porzellan faszinieren liessen, suchten Andere gut erhaltene Bronzestatuen oder genossen einfach das Gewimmel auf dem Markt. Ich selbst hatte immer eine Vorliebe für alte und gebrauchte „Wayang Golek“, Figuren aus dem traditionellen Stabpuppenspiel in Indonesien. Diese Puppen verkörpern immer bestimmte Persönlichkeiten wie Prinzen oder Helden, sowie gute, schlechte und spezielle Charakteren. Immer wieder suchte ich fehlende Charaktere, doch leider gelang es mir nie die Gruppe zu komplettieren, jedenfalls nicht mit tatsächlich gebrauchten Puppen, denn es wurden schon damals überall billige Kopien angeboten. Bei den Vorstellungen bezogen sich die erzählten und imitierten Geschichten meistens auf das „Ramayana“, eine Erzählung die ursprünglich aus Indien stammt. Anderseits hatte diese spezielle Erzähltradition auch die Aufgabe der Bevölkerung mit Szenen aus dem täglichen Leben wichtige Informationen in Bezug auf Erziehung, Verhalten, Gesundheit und vieles mehr zu übermitteln. Die gleiche Aufgabe hatte das traditionelle SchattenspielWayang Kulit“ oder das Maskenspiel „Wayang Topeng“, von denen ich auf dem Lande auch gewisse „Schätze“ ergattern konnte die mir interessant erschienen. Wertvolle Antiquitäten suchte ich nie, sondern erstand einfach Dinge die mir auf den ersten Blick gefielen. Der Besuch des Marktes wurde deshalb auch für mich eine der bevorzugten Freizeitbeschäftigungen an Sonntagen.


(1) „Wayang Golek“, Figuren aus dem traditionellen Stabpuppenspiel in Indonesien.

„Wayang Golek“, Figuren aus dem traditionellen Stabpuppenspiel in Indonesien.



Batik
  Durch diesen Markt wurde ich bald auf die vielfältige Kunst in Indonesien aufmerksam. Neben den Holzschnitzereien und der nativen Malerei gefiel mir besonders das Textilfärbeverfahren „Batik“, was eigentlich „mit Wachs schreiben“ bedeutet. Dabei lernte ich eine chinesische Familie kennen, die noch auf traditionelle Weise Batikstoffe herstellte. Beni, einer der Söhne machte in seiner Freizeit Batik-Bilder. Manchmal besuchte ich ihn in seiner ruhigen Ecke im Betrieb wo er seine Inspirationen auf den Stoff brachte. Seine Bilder waren modern, beinhalteten aber immer Elemente aus dem täglichen Leben auf Java und traditionelle Batikmuster. Die eigentliche Arbeit machten dann aber Frauen. Sie füllten heisses Wachs in ein kleines Metallgefäss aus Kupfer und zeichneten mit dessen kleiner Öffnung die Linien des entworfenen Musters oder der Verzierung nach. So konnten diese beim Farbbad keine Farbe annehmen. Nach dem Färben wurde der Stoff in heisses Wasser gelegt und das Wachs dabei entfernt. Je nach Anzahl der verwendeten Farben begann dann der ganze Ablauf von neuem und musste demnach mehrfach wiederholt werden.

Auch Stoffe für Textilien mit uniformem Muster wurden von Hand bearbeitet. Dazu wurden Stempel aus Kupfer mit verschiedenstem Muster verwendet. Diese wurden zuerst auf eine Unterlage mit flüssigem Wachs gedrückt und das heisse Wachs dann auf den Stoff übertragen. Dies musste lückenhaft und haargenau geschehen. Dann folgte der oben genannte Färbevorgang. Die geheimnisvolle, ja fast mystische Stimmung in diesen uralten, offenen aber dunklen Räumen, der Geruch von heissem Wachs und das Palaver der vielen Arbeiterinnen faszinierten mich bei jedem Besuch erneut. Wie oft in chinesischen Betrieben wurden die Arbeiter mit Argusaugen von einer Frau, der alten Mutter, überwacht. Es fiel mir auf, dass sie Mühe hatte sich zu bewegen und merkte bald das Ungewöhnliche: sie hatte gebundene Füsse. Ich wusste, dass dies in China bei wohlhabenden Familien nicht nur ein uralter Brauch, sondern sogar ein Schönheitsideal war. Dies aber heutzutage noch anzutreffen war doch sehr speziell und überraschend. Trotz diesem uralten Brauch war diese Frau sehr fortschrittlich und wollte, dass ihre Töchter und Söhne im Ausland studierten, vor allem in Deutschland. Sie wollte erfahren wie man Batik maschinell effizienter herstellen konnte und was die chemische Industrie in Deutschland für Alternativen bot um ihre traditionellen, meist natürlichen, unstabilen Farben pflanzlichen oder tierischen Ursprungs, zu ersetzen. Mit der Rückkehr der jungen Generation nach Jakarta, entstand bald ein neues, mehrstöckiges Fabrikgebäude wo auf modernen Maschinen Batikmuster auf die Stoffe gedruckt wurden. Die alten Installationen verschwanden und damit auch die ganz spezielle Atmosphäre der traditionellen Herstellung von Batik. Das neue, helle Gebäude hatte wohl seine Vorteile, bot aber kaum mehr eine ruhige Ecke für Bernis künstlerische Aktivitäten und seine nötigen Inspirationen. So begann er einfache Muster für Vorhänge und Überzüge für Möbel zu entwerfen. Diese neuen Produkte präsentierte die junge Generation dann bald in Hotels und Einkaufszentren, wo entsprechende Läden eröffnet wurden. Schade, dass mit der industriellen Herstellung von Batik die traditionelle, uralte aber arbeitsintensive Handarbeit an Anerkennung, Respekt und Wert einbüsste und die Nachfrage nach billiger Massenware überhandnahm.


(2)

Ein Balinesisches Hochzeitspaar, eines der ersten Batikbilder das ich von Benny Setiawan erstand.


Durch diese Kontakte lernte ich auch Iwan Tirtaämidjaja kennen. Er mauserte sich in den Jahren zwischen 1970 und 1980 zum bekanntesten Batik-Designer des Landes und beschäftigte bald über 3000 Arbeiter, hauptsächlich in Zentraljava. Da er aus einer adligen, javanischen Familie stammte, brauchte er für seine Stoffe anfangs vor allem die traditionell vorgegebenen, oft religiös oder kulturell entstandenen Muster aus Yogyakarta und Surakarta (Solo) mit ihren typischen, dunklen Farben. Leider verlor er während dem ersten Börsenkrach im Jahre 1987 sein ganzes Vermögen und musste seinen Betrieb aufgeben. Trotzdem entschloss er sich für einen Neuanfang. Wegen der inzwischen entstandenen starken Konkurrenz von industriell hergestelltem Batik, entschied er sich diesmal auf Luxus-Stoffe im hohen Preissegment zu spezialisieren. Nur die beste Qualität von Textilien wurde für seinen Batik verwendet, der Wachs natürlich nur von Hand aufgetragen und mit teilweise echter Goldfarbe veredelt. Gleichzeitig begann er mit diesen Stoffen Damenkleider zu entwerfen und zu produzieren. Er eröffnete Filialen in New York und Tokio, machte Fashion-Shows in verschieden Städten der Welt, sogar in Bern, wo ich sein Gast sein durfte. Gleichzeitig setzte er sich immer überzeugt für die indonesische und insbesondere die javanische Kultur ein. Zudem sammelte er seltene, einheimische Antiquitäten. Leider verstarb er im Juli 2010 im Alter von 75 Jahren und ich verlor damit einen guten Freund.


(3) Ein Bild von Iwan Tirtaämidjaja, das er mir bei einem späteren Besuch geschenkt hatte.

Ein Bild von Iwan Tirtaämidjaja, das er mir bei einem späteren Besuch geschenkt hatte.



Samudra Beach
.   Nachdem ich mich in Jakarta ein wenig besser eingelebt hatte, fuhr ich manchmal an verlängerten Wochenenden mit anderen Schweizern ausserhalb Jakartas, zum Beispiel auf den Puncak Pass, wo einige ihr Ferienhaus hatten. Manchmal fuhren wir auch zusammen nach Sukabumi an die Samudra Beach bei Pelabuhuanratu. Direkt am schwarzen Sandstrand gab es dort ein sehr schönes, modernes Hotel. Allerdings wurde meine erste Begeisterung etwas gedämpft als ich vernahm, dass der Ort von einer mysteriösen Geschichte aus dem 16. Jahrhundert geprägt sei. Eine Eifersuchtsgeschichte im Königreich Mataram endete mit dem Tod der Königin Nyi Roro Kidul. Da sie ihr Leben dem Meer opferte, besteht seither die Legende, dass sie in den Gewässern vor dem Hotel weiterlebt und niemand duldet welcher mit ihrer Lieblingsfarbe grün bekleidet ist. Dies scheint mit der Tatsache bestätigt, dass schon viele Urlauber nach dem Schwimmen im Meer nie mehr aufgetaucht sind. Es heisst, dass die Opfer immer Männer waren und immer grüne Badehosen trugen! Ich aber hatte eher das Gefühl, dass die Männer Opfer der starken Meeresströmung waren. Jedenfalls hatte ich bemerkt, dass das Hotel am Strand eine Anlage installiert hatte um einen Rettungsring weit hinaus in Meer zu schiessen. Wie dem auch sei, die Legende hat es interessanterweise bis in die Gegenwart geschafft und mit der Zeit sogar einen grossen Respekt für die Königin entwickelt. Der Beweis befindet sich im Hotel selbst: Das Zimmer 308 ist immer für ihren Besuch reserviert. Obwohl ich nicht abergläubig bin, getraute ich mich mit meinen grünen Badehosen dennoch jeweils nur bis Kniehöhe ins Wasser. Irgendwie hinderte mich mein Schutzengel normal und ohne Furcht im Meer zu schwimmen. Mein offizieller Grund im Schwimmbad des Hotels zu bleiben war aber natürlich ausschliesslich wegen der starken Strömung im Meer!


Pulau Seribu
.   Meine Lieblingsdestination war aber immer „Pulau Putri“, eine von etwa 130 kleinen Inseln, „Pulau Seribu“ oder auch „Tausend Inseln“ genannt. Sie befanden sich ungefähr 60 km vor der Küste der Stadt Jakarta entfernt und konnten anfangs nur mit kleinen Booten erreicht werden. Damals war die Insel noch eine Traumidylle. Sie war urspru%u0308nglich, abgeschieden, teilweise fremd, aber dennoch einzigartig und wunderscho%u0308n. Beim Schnorcheln und Tauchen konnte man traumhafte Korallenriffe und Fische in allen Farben bestaunen. Am Abend liess man einfach die Seele baumeln, beobachtete die fantastischen Sonnenunterga%u0308nge oder dann später den wunderbaren Sternenhimmel (es gab keinen Strom auf der Insel). Es war schlicht ein Paradies. Die Unterkünfte in Bungalows waren äusserst einfach und das Essen bestand hauptsächlich aus frisch gefangenem Fisch, ausser wir hatten unser Essen und Früchte von zu Hause mitgenommen. Auf den Wegen zwischen den Bungalows konnte man riesigen Echsen, den Komodowaranen, begegnen, was mich bei der ersten Begegnung schon ziemlich erschreckte. Die Insel erlaubte mir aber jedes Mal neue Energie zu tanken und einen Moment totaler Entspannung zu geniessen. Später wurde auf einer Nachbarinsel eine Flugpiste gebaut und damit begann die Vermarktung der ganzen Inselgruppe. Dies bot sicher die Gefahr, dass die von uns so geschätzte Idylle verloren ging.


(4) Die paradiesischen Inseln von Pulau Putri

Die paradiesischen Inseln von Pulau Putri



Tigerjagd auf Sumatra
.   Der Strohmann unserer Firma, ein General, erwähnte an jeder Party die seltenen Sumatra-Tiger und seine Ranch “Bonanza“ im Dschungel der Insel. Das tönte immer sehr abenteuerlich. Eines Tages im Juni 1974 lud er mich offiziell, also nicht privat, sondern als Vertreter der Ciba-Geigy, zu einer Jagd-Partie ein. Ich war total überrascht und fühlte mich, obwohl ich die Jagd auf geschützte Tiere verabscheue, ausserordentlich geehrt. Wie immer bei solch zwiespältigen Angeboten sagte ich trotz Gewissenskonflikt aus purer Neugier spontan zu. Von Jakarta flogen wir nach Lampung, wo für uns zwei Landrover mit einer grossen Anzahl Waffen bereitstanden. Der General hatte mir nicht gesagt, dass es eine Jagd-Gruppe von ungefähr 12 Mann sein wird und so war dies die erste Überraschung. Ausser mir bekam jeder sofort eine Schrotflinte oder ein Gewehr. Dann ging es mit den offenen Fahrzeugen rassig durch eine ziemlich deprimierende Landschaft. Mit viel Geschrei wurden dabei die Gewehre in die Luft gehalten und mir schien als ob wir eine Revolution starten würden. Man sagte mir, dass dieses Gebiet für das von der Regierung Suharto im Jahre 1969 gestartete Projekt „Transmigrasi“ vorgesehen sei, also für die kontroverse Umsiedlung von ungefähr 1,7 Millionen Javaner. Die Vorbereitung hatte scheinbar bis anhin hauptsächlich aus dem Fällen von Bäumen bestanden, also der Zerstörung eines dichten Urwaldes. Leider geschah dies äusserst rudimentär und unprofessionell, denn die meisten Bäume schienen auf einer Höhe von ungefähr einem Meter brutal abgebrochen oder abgehackt worden zu sein. Also sah man so weit das Auge reichte diese bizarren, teilweise verkohlten Baumstrümpfe in den Himmel ragen. Es war ein himmeltrauriger Anblick. Meine Illusion, ein Wochenende im Dschungel von Sumatra zu verbringen, wurde damit genau so brutal zerstört wie die Natur.

Schliesslich erreichten wir die Ranch des Generals, bei der es sich zu meiner weiteren Überraschung oder Enttäuschung, um eine gewöhnliche Strohhütte so wie die jedes Einheimischen handelte, natürlich auch ohne Strom- und Wasseranschluss. Sie befand sich ganz alleine irgendwo verloren im baum- und schattenlosen Niemandsland. Sofort entledigte sich der General seiner Reiseklamotten und rannte von nun an in einem Sarong, nacktem Oberkörper und barfuss herum. Er meinte nur so fühle er sich richtig wohl und ungezwungen. Leider hatte ich beim Kofferpacken nicht an einen Sarong gedacht und so fühlte mich nach dem plötzlichen „Kleider-Wechsel“ der ganzen Gruppe ziemlich fremdartig und lächerlich. Zudem war ich erstaunt, dass überhaupt kein Personal dabei war, etwas das extrem selten vorkommt bei wohlhabenden Leuten. Der General bereitete das Essen selbst zu, meist am offenen Feuer. Es gab auch kein Besteck und so assen alle mit blossen Händen. Es war Folklore pur. In der Hütte gab es nur wenige Betten und so schliefen die Meisten auf dem Erdboden. Aber ans Schlafen wurde einstweilen nicht gedacht, denn nun ging es sofort auf die Jagd. Mit dem Eindämmern der Nacht wurden wir aber erst einmal von Millionen von Mücken in Beschlag genommen. Zum Glück hatte ich eine Windjacke mit Kapuze mitgenommen. Diese wurde nun bis zu einem kleinen Schlitz für meine Augen zugeschnürt. Damit konnte ich ausser dem ohrenbetäubenden Surren der Mücken fast nichts hören und auch keine Fährte riechen, war aber wenigsten einigermassen von den lästigen Plaggeistern geschützt. So fuhren wir, für meinen Begriff kopflos, durch die Nacht. Als wir in eine Gegend ohne Mücken kamen und ich die Kapuze lösen und abnehmen konnte, nahm ich tatsächlich den Geruch wilder Tiere wahr. Anstatt jetzt ruhig zu sein, schwatzten alle wild durcheinander und dann zündete sich der General tatsächlich noch eine Zigarre an. Selbst ein Jagd-Banause wie ich verstand seinen Drang nach seinem Statussymbol nicht mehr. Etwas sarkastisch fragte ich ihn scheu ob die Tiger den Rauch einer Zigarre wohl auch geniessen würden? Er bejahte und meinte, der Rauch sei ausserdem sehr effizient gegen die Mückenplage! Der oder die Tiger schienen uns aber zu meiden und so wurde es eine äusserst langweilige Nacht. Doch als wir durch eine Art Dorf kamen, bemerkten die Augen des Generals Wildschweine. Sofort stoppte der Landrover Convoy, alle sprangen aus den Fahrzeugen und rannten mit ihren Gewehren in der Gegend herum. Es schien sich um Tiere zu handeln welche während der Nacht etwas Fressbares zwischen den Hütten suchten. Sofort wurde sorglos losgeschossen. Es kam mir vor wie im Krieg und ich konnte nur hoffen, dass sich kein aufgeschreckter Einwohner ins Freie wagte. Die erlegte Beute liess sich sehen und bald wurden die toten Schweine mit Schnüren vorne und hinten an unseren Fahrzeugen festgemacht. Dann fuhren wir einfach wieder weiter. Doch schon bald hatte der General Hunger und befahl einen Stopp einzuschalten. In einem Haus nahe der Strasse wurden alle Bewohner brutal geweckt und heisses Wasser für Tee verlangt. Unterdessen wurde mitten auf der Strasse ein Feuer entfacht, dies hauptsächlich um uns zu wärmen und die Mücken abzuhalten. Nachdem Genuss eines warmen Getränkes wurde der Ort ohne Dank und ohne das Feuer zu löschen einfach wieder verlassen. Die Art und Weise wie die sogenannte Elite des Landes mit den lokalen Bewohnern umging war für mich äusserst schockierend und unbegreiflich. Bis anhin war ich noch nie so respektlosen und arroganten Indonesiern begegnet und bekam plötzlich eine ungeheure Abneigung gegen meine Jagd-Begleiter. Zum Glück waren dann plötzlich alle müde und so fuhren wir im Morgengrauen zurück zur “Bonanza“.

Wie betäubt erwachte ich gegen Mittag. Beim Anblick meiner Gefährten fühlte mich schlecht und wäre am liebsten sofort nach Jakarta zurückgekehrt. Doch es wurde mir bewusst, dass ich keine Alternative hatte als das von mir gewünschte Abenteuer nun einfach durchzustehen. Nach einem äusserst einfachen Mittagessen ging es wieder auf die Jagt. Als wir durch ein Sumpfgebiet fuhren gab man mir plötzlich eine Schrotflinte in die Hand und schrie: „Schiesse!“ Erst nach ein paar Sekunden entdeckte ich im Schilf einen weissen Vogel. „Schiesse“ wurde wieder geschrienen, doch ich war plötzlich wie erstarrt und konnte auf dieses unschuldige, wehrlose Tier einfach nicht schiessen. Besonders nicht mit einer Schrotflinte, mit welcher der Vogel gar keine Chance hatte. Energisch stellte ich die Waffe auf den Boden, der Vogel flog davon und damit hatte ich ihm das Leben gerettet. Für mich wurde diese Jagd zu einer sinnlosen Dezimierung von Lebewesen. Natürlich wurde ich von der Gruppe nicht verstanden und als Weichling betrachtet, doch es war mir egal. Später kamen wir bei einem „umgesiedelten“ Indonesier vorbei. Zusammen mit seiner Familie wohnte er weit abgeschieden in einer einfachen Strohhütte. Bald entdeckte ich an seinem rechten Arm eine riesige, klaffende Wunde. Er erzählte uns, dass ihm die Wildschweine sehr grosse Mühe bereiteten. Immer wieder zerstörten sie seine ganze Anpflanzung und frassen dabei jedes Mal einen Teil der Ernte weg. Er hatte wohl einen notdürftigen Hag um seinen Gemüsegarten erstellt, doch die schweren Tiere liessen sich damit vor Angriffen nicht abhalten. Als er sich ihnen einmal selbst in den Weg stellte, wurde er von einem Schwein brutal angegriffen und in den Arm gebissen. Leider fehlte ihm das Geld um in das weit entfernte Dorf zu fahren um sich dort ärztlich behandeln zu lassen. Ich hatte grosses Mitleid mit dem Mann, doch mit dieser Sentimentalität schien ich in der Gruppe alleine zu sein. So wurde der Mann dem Schicksal überlassen und wir fuhren wie am Vortag während der ganzen Nacht in der Gegend herum. Am nächsten Morgen kamen wir wieder mit einer grossen Anzahl Wildschweinen, wie Girlanden an den Autos aufgehängt, zurück.

Am nächsten Morgen versprach uns der General einen geheimen Ort wo uns die Tiger vor die Gewehre spazieren würden! Wieder fuhren wir sehr lange durch unwirtliches Gebiet bis wir an einen kleinen See oder Teich kamen. Jedem Teilnehmer wurde ein Spähposten zugeteilt. Ich musste mit einer Schrotflinte auf einen Baum klettern, der eine ganz besondere Rinde hatte. Sie war schneeweiss, sehr weich und vielschichtig, sodass man sie wie ein Buch abblättern konnte. Dies machte den Aufstieg etwas rutschig, dafür sass man dann oben sehr weich. Das Gewehr im Anschlag verbrachte ich den ganzen Nachmittag auf dem Baum, aber ein Tiger kam nie vorbei. Einschlafen durfte ich nicht, denn Tiger können sehr gut klettern und ich hätte mich dann wehren müssen…! Als es schon eindunkelte, bemerkte ich, dass sich meine Kollegen bei einer Hütte auf Stelzen besammelt hatten. Es war das Haus eines Fischers. Der General befahl in das Haus zu gehen, doch ich wartete unten bis man mich auf indonesische Art bat die Leiter hinaufzusteigen und einzutreten. Wieder konnte ich weder beim General noch bei seinen Bekannten den traditionellen Anstand und Respekt bei solch spontanen Besuchen spüren. Die armen Fischer wurden einfach gezwungen uns ein Essen vorzusetzen. Als ich dann noch annehmen musste, dass es sich beim vorgesetzten Fleisch wahrscheinlich um Geschlechtsteile von Tieren handelte, war mein Hunger verflogen. Wahrscheinlich glaubten sie, wie viele Indonesier, an magische Reaktionen solcher Leckerbissen. Aus purem Anstand bediente ich mich eines kleinen Stückes dieses feuerroten Fleisches, klemmte es erst zwischen zwei Finger und steckte es dann sofort in den riesigen Berg von weissem Reis.

Schon bei der Ankunft roch ich in der Hütte den penetranten Geruch von Durian, eine Frucht mit holzartigen Stacheln und einem süssen Fruchtfleisch. Bis anhin hörte ich immer nur sagen: „Durian schmeckt wie Himmel und stinkt wie Hölle“ und so hatte ich bis anhin nie den Mut gehabt die Frucht zu probieren. Und genau solche Früchte hatte es direkt hinter mir in grossen Körben. Da ich einen riesigen Hunger hatte, das rote Fleisch aber nicht mochte, entschied ich mich auf ein weiteres Abenteuer: Durian essen! Ich redete mir ein, dass eine selbst geöffnete Frucht steril sein musste und ich damit kein Gesundheitsrisiko einging. Ich weiss nicht ob es mein starker Hunger gewesen war, jedenfalls schmeckte mir die Frucht ausgezeichnet und sättigte mich schliesslich auch vollends. Damit hatte ich mein Vorurteil gegen Durian abgebaut und die Frucht wurde später sogar zu einer meiner Lieblingsspeisen. Wir sassen noch bis tief in die Nacht bei diesen Leuten. Leider sprachen alle nur Indonesisch und bald war ich so müde, dass ich ihrem Gespräch nicht mehr folgen konnte. Auch auf dem Rückweg wurde wieder nach Wildschweinen Ausschau gehalten, doch das Wort „Tiger“ hörte man nicht mehr. Und wieder kamen wir bei unserem Nachtlager mit einer stolzen Beute von Wildschweinen an.

Was mit den Wildschweinen nach der Jagd geschah, fand ich nie heraus. Da sie am nächsten Morgen nicht mehr an den Landrover hingen und allesamt auf mysteriöse Art verschwunden waren, fragte ich mich ob ich das Ganze wohl geträumt hätte. Und damit begannen meine Zweifel: Da Mohammedaner kein Schweinefleisch essen, wurde uns auch während der paaren Tage nie Fleisch der von den erlegten Tieren serviert. Aber meine Begleiter hatten die Schweine ja berührt, was sie schliesslich unrein machte. Aber vielleicht waren meine Begleiter gar keine Mohammedaner, sondern Christen aus Sumatra, die man für die Jagd angeheuert hatte. Vielleicht war ich auf den Leim gegangen und das Ganze war gar keine Tigerjagd, sondern eine kommerzielle Jagd auf Wildschweine gewesen. Vielleicht füllte der General damit eine Marktlücke und versorgte die Chinesische Bevölkerung von Indonesien mit Schweinefleisch. Waren die „geschützten Tiger“ deshalb nur ein Vorwand des Spektakels gewesen? Ich habe die Wahrheit nie herausgefunden, was ja schliesslich auch egal war. Für mich waren es keine erbauenden Tage gewesen, aber sie halfen mir wenigsten den täglichen Kram auf der Baustelle ein wenig zu vergessen. Ziemlich ernüchtert von der Erfahrung auf Sumatra, aber froh kein geschütztes Tier geschossen zu haben, flog ich am fünften Tag zurück nach Jakarta. Einige Monate später traf ich den General wieder auf einer Party und wieder prahlte er von der Tiger-Jagd. Als dann eine Dame meinte, dass diese Tiere doch geschützt seien, meinte er lakonisch: „Was soll ich machen, wenn ich von ihnen angegriffen werde…?“ Ich machte einen Schritt zurück und musste lachen; der Hampelmann spielte seine Rolle ausgezeichnet weiter!

Das Land der Badui.
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17.9.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Das Land der Badui..

Vor einigen Wochen hatte ich durch das „National Geographic“ von den „Badui“ erfahren. Die isolierte Lebensweise dieser Gemeinschaft beeindruckte mich und bald wuchs das Interesse mehr von ihnen zu erfahren. Sie lebten ja in der damaligen Provinz Banten, jetzt Java Barat genannt, nur etwa 120 Km von Jakarta entfernt. Trotzdem konnte man sie nicht einfach schnell an einem Sonntag besuchen, denn sie lebten total isoliert irgendwo in den Bergen. Aus diesem Grund durfte man ihr Gebiet nur mit einem offiziellen Empfehlungsschreiben des Distriktoberhauptes in Rangkasbitung betreten. Per Zufall erfuhr ich, dass einer meiner Leute, Muljadi, aus dieser Gegend kam und ein Verwandter dort bei der Polizei arbeitete. Durch diesen Kontakt erhielt ich bald die nötigen Details für diese Entdeckungsreise. Natürlich wollte ich diese Expedition nicht alleine unternehmen und so waren Muljadi sowie drei meiner Arbeiter bereit mich zu begleiten. In einer Gruppe von Indonesiern fühlte ich mich als einziger Ausländer sicherer und mit ihnen war es auch einfacher eine Bewilligung für den Zutritt zu diesem geheimnisvollen Land der „Badui“ zu bekommen. Eigentlich nennen sich die „Badui“ selbst nicht Badui (oder Baduy), sondern „Kanekes“. Den Grund wieso man sie Badui nennt und wieso sie sich von der Aussenwelt absondern, scheint niemand so genau zu kennen. Allerdings besteht eine Vermutung, dass sie sich Mitte des 16. Jahrhunderts, nach dem Zusammenbruch des hinduistisch-javanischen Grossreiches „Majapahit“, dem eindringenden Islam widersetzten und in die Berge flohen. Für das Wort Badui wird deshalb auch der Ursprung im arabischen Wort Badu, was „Beduinen“, als möglich gehalten.

Am 26. Dezember 1975 fuhren wir mit dem Auto von Jakarta via Bandung-Rangkasbitung nach Leuwidamar. Von da ging es dann zu Fuss ins Land der Kanekes bis nach Kaduketug. Zuerst marschierten wir auf äusserst lehmigen Fusspfaden in einem dichten Wald steil bergauf. Es war heiss und bald fing es an zu regnen, wobei der Weg noch glitschiger und anstrengender wurde. Bald waren meine Schuhsohlen am Ende und ich wäre am liebsten wie die Einheimischen einfach barfuss gegangen, aber dann entschloss ich mich meine Schuhe mit Schnüren zusammenzubinden. Zum Glück hatte der Verwandte von Muljadi für uns einen Begleiter aufgeboten, denn alleine hätten wir den richtigen Weg im grünen und dichten Buschwerk wohl nie gefunden. Anfangs gingen viele Leute denselben Weg die viel flinker unterwegs waren als wir. Doch nach einer gewissen Zeit waren wir alleine und die wenigen Leute die wir dann kreuzten schienen überhaupt nicht redselig. Als wir dann nach stundenlangem Marsch in Kaduketug ankamen wurde uns bewusst, dass wir unmöglich am gleichen Tag wieder zurückkehren konnten. Also versuchten wir zuerst das Dorfoberhaupt zu finden, denn nun brauchten wir ja nicht nur sein Einverständnis für unseren Besuch, sondern auch ein Nachtlager. Doch im verregneten Dorf schien alles wie ausgestorben und so war der erste Eindruck eher trostlos und deprimierend. Ausser dem Grün des Waldes und dem Blau des Himmels war farblich alles monoton. Nirgends sah man Blumen oder bunte Büsche. Es gab weder einen Markt noch einen Ort wo man sich verpflegen konnte. Irgendwie hatten wir aber eine solche Situation erwartet und unsere Verpflegung deshalb von Zuhause mitgenommen.


(1) Kaduketug, ein scheinbar ausgestorbenes Dorf an einem sehr geheimnisvollen Ort.

Kaduketug, ein scheinbar ausgestorbenes Dorf an einem sehr geheimnisvollen Ort.


Die Siedlung bestand aus etwa 20 Häusern, alles Holz- und Bambuskonstruktionen meist auf Pfählen abgestützt und mit Dächern aus Palmblättern oder Strohmatten. Die wenigen Männer denen man begegnete liefen barfuss, trugen blau-schwarze Kleider und eine turbanähnliche Kopfbedeckung. Da sie Sundanesisch sprachen und die Landessprache Bahasa Indonesia nicht verstanden, war eine Verständigung für mich unmöglich. Zum Glück waren da aber meine Begleiter die jemand fanden der uns zum Dorfoberhaupt führten. Es war ein älterer Mann mit scharfsinnigen Augen und einem fröhlichen Lächeln im Gesicht. Er nannte sich Hassan und war uns sichtlich wohlgesinnt. Er erlaubte uns nicht nur sein Dorf zu besuchen, sondern auch da zu übernachten und sogar Fotos zu machen. Diesbezüglich meinte er, dass ohne seine Bewilligung die Fotos nicht gelingen würden und einfach schwarz blieben. Wir wussten, dass die Badui für ihre magischen, kosmischen Kräfte in ganz Indonesien bekannt waren und dass sich sogar der ehemalige Präsident Sukarno von ihnen beraten liess. Man wusste aber auch, dass sich die Badui bei der Verletzung ihrer Gesetze mit genau diesen Kräften rächen konnten.

Ich musste annehmen, dass er die einzige Person war die bereit war, oder vielleicht das Recht hatte, sich mit uns Eindringlingen zu unterhalten und sich auf unsere vielen Fragen einzulassen. So erklärte er uns stolz, dass sein Stamm die traditionellen Bräuche und Tabus auch heute noch strikte pflege. So durften zum Beispiel nur zweibeinige Lebewesen verzehrt werden, Krankheiten nur mit selbsthergestellter Medizin behandelt werden, die Kinderzahl einer Familie sollte vier nicht übersteigen, Genussmittel wie Rauchen (ausser dem Kauen von Betelblättern) waren untersagt und der Schulbesuch der Kinder war ein Tabu. Zudem mussten sämtliche Wege, auch ausserhalb des Stammgebietes, zu Fuss (barfuss) zurückgelegt werden. Fahrzeuge waren verpönt und alle Aussenkontakte mussten auf ein Minimum beschränkt bleiben. Moderne Errungenschaften waren nicht geduldet und so gab es weder Telefon, Radio oder Fernsehen im Dorf. Ausser für Messer durfte auch Metall nicht verwendet werden und die Häuser wurden deshalb nur mit lokal erhältlichen Materialen erstellt. Das wollte ich genau wissen und suchte später die Häuser nach Nägeln ab. Und tatsächlich fand ich nichts aus Metall im Dorf, aber auch keine Abfälle! Beim Eindunkeln stiegen wir in die uns angebotene Unterkunft auf Pfählen und installierten uns in der zugewiesenen Ecke. Natürlich gab es keinen Strom, aber auch keine Kerzen oder Petrollampen. Die beiden Letzteren hätten ja von der Aussenwelt „importiert“ werden müssen, was ja verboten war. In der Mitte des Raumes hatte es aber eine Feuerstelle, die uns ein bisschen Licht und Wärme spendete, mich aber gleichzeitig beunruhigte. Immer wieder fragte ich mich wie ein offenes Feuer auf dem Holzboden einer Bambushütte möglich war? War es vielleicht ihre kosmische Magie? In der Nacht projizierte das flackernde Feuer, und später die Glut, seltsame Schattenbilder an die von Rauch geschwärzte Decke. Gleichzeitig schien es mir, dass sich immer wieder Menschen im dunklen Raum bewegten, wahrscheinlich um auf das Feuer zu wachen. Durch das Feuer und die geisterhaften Gestalten herrschte im Raum eine überaus geheimnisvolle, undefinierbare mystische, ja fast unheimliche Stimmung. Natürlich hatte es in diesem Haus keine Betten und so schliefen wir alle zusammengedrängt wie in einem Massenlager auf dem Boden. Doch wir waren müde und so schliefen wir auch auf dem harten Holzboden, und trotz den „Geistern“ im Raum, bestens.

Unsere Kleider waren durch den Regen ziemlich durchnässt und so entschied ich mich meine Hosen auszuziehen und sie während der Nacht auf einer Leine über unseren Köpfen zum Trocknen aufzuhängen. In einer der beiden Taschen hatte ich meinen Geldbeutel vergessen, doch da ich gehört hatte, dass die Badui das Geld verpönen, wollte ich nicht mehr aufstehen um das Geld bei mir auf dem Boden aufzubewahren. Zudem wusste ich ja, dass wir ihnen anstatt Geld bereits Grundnahrungsmittel wie Salz, Zucker, Reis, etc bei der Begrüssung geschenkt hatten. Dass dies von den Badui erwartet wurde, wurde uns schon bei der Planung der Exkursion mitgeteilt. Es wurde sogar definiert was man mitbringen durfte und was verboten war, eben zum Beispiel Geld. Doch zu meiner grossen Verblüffung war am Morgen das Geld aus meinem Geldbeutel verschwunden. Meine Begleiter waren sichtlich konsterniert und niemand wollte sich dazu äussern. Plötzlich machte ein Misstrauen die Runde, was mir sehr leidtat und auch die ganze Freude an der Exkursion dämpfte. Ich war sicher, dass es nicht meine Leute waren, hatte aber auch nicht den Mut das Dorfoberhaupt damit zu konfrontieren. Wahrscheinlich hatte sich eine der geisterhaften Gestalten einfach eine Entschädigung für die Übernachtung geholt oder dann konnten die Geister das verpönte Geld im Hause einfach nicht dulden. Die Sache wurde gegenüber den Einheimischen todgeschwiegen, aber ich hatte damit das Vertrauen in die Badui irgendwie verloren, denn jemand verabscheute hier das Geld offenkundig nicht.

Das wunderbare Wetter am nächsten Morgen half uns die Geschichte zu verdrängen und mehr von dem isolierten Volk zu erfahren. Wieder war das Dorfoberhaupt unser Informant. Mit der eben erlebten Kränkung versuchte ich ihn ein bisschen herauszufordern und stellte kritische Fragen. So wollte ich wissen wieso man die Kinder von der Schule abhält. Gelassen meinte er, dass man mit Schulwissen im Leben nicht glücklicher sei. Dabei wehrte er sich bestimmt gegen den staatlichen Druck der Alphabetisierung und dem geplanten Bau einer Schule in seinem Gebiet. Auch von einer geplanten Zufahrtsstrasse wollte er nichts wissen. Dann fragte ich ihn nach dem Grund, wieso nur zweibeinige Lebewesen verzehrt würden. Dazu erwähnte er die lange Vergangenheit, also der Zeit wo sie auf der Flucht waren. Scheinbar hielten sie damals Ziegen, doch durch ihr Gemecker wurden sie von ihren Verfolgern in ihrem Versteck entdeckt und mussten sofort noch tiefer in den Wald fliehen. Seither sind die Ziegen für die Badui, oder jedenfalls für das Dorfoberhaupt, ein Tier das Unglück bringt. Bei diesem letzten Gespräch schien ich irgendeinen Fehler gemacht zu haben, den das Dorfoberhaupt überhaupt nicht geschätzt hatte. Vielleicht hatte ich mich aber auch nicht so gebührend von ihm verabschiedet wie er dies erwartet hatte. Jedenfalls passiert schon beim Verlassen des Dorfes etwas Unerklärliches. Während ich noch die letzten Fotos der Gegend knipste, schritt der vordere Teil unsere Gruppe bereits weiter. Doch als ich mich ein paar Minuten später umdrehte waren sie verschwunden. Und dabei waren wir noch nicht im Wald, sondern auf einem offenen Gelände. Zum Glück war Karmadi noch bei mir und zusammen versuchten wir sie aufzuholen und nach ihnen zu rufen. Doch sie blieben verschwunden. Und niemand der uns entgegen kam schien sie gekreuzt oder gesehen zu haben. Da wir den Rückweg nicht kannten, irrten wir stundenlang in der Gegend herum. Schliesslich kamen wir an einen sehr breiten Bach an dem wir auf dem Hinweg nicht vorbeigekommen waren, was uns natürlich noch mehr verwirrte. Da wir aber auf der anderen Seite Häuser sahen, wateten wir durch das kniehohe Wasser und ich riskierte mit der Fotoausrüstung auf den glitschigen Steinen auszurutschen. Schliesslich hatten wir aber Glück und fanden dort den Rest der Gruppe wieder. Sie hatten sich auch Sorgen gemacht und uns auch erfolglos gesucht. Sie waren sogar ein grosses Stück zurückmarschiert, aber auch ohne Erfolg. Ob dies eine Strafe vom geheimnisvollen Hassan war oder einfach ein banaler Zufall, blieb für uns alle ungeklärt.


(2) Stundenlang verloren auf dem Rückweg bei Tjisemeut und gezwungen den breiten Bach zu überqueren.

Stundenlang verloren auf dem Rückweg bei Tjisemeut und gezwungen den breiten Bach zu überqueren.


Er gibt zwei Gruppen von Badui: Erstens die „Badui Luar“, Badui die im äusseren Randgebiet ihres Gebietes leben. Da es in diesem Gebiet keine Abgrenzungen zur Aussenwelt gibt musste ich annehmen, dass sich das Dorf Kaduketug im Gebiet der „Badui Luar“ befand. Die zweite Gruppe sind die „Badui Dalam“, Badui die im Kern ihres Landes leben und absolut keine Besuche dulden. Bei dieser Gruppe steht das Tragen von Schuhen und mit Maschinen gefertigte Kleidung unter Strafe und Lügen sind ein Verbrechen. Man sagt, dass die „Badui Luar“ Menschen sind, die von den „Badui Dalam“ ausgestossen wurden, weil sie ihre noch strikteren Gebote und Bräuche missachtet hatten. Während die „Badui Dalam“ weiss gekleidet sind, dürfen die „Badui Luar“ nur schwarze oder dunkelblaue Kleider tragen. Trotz der Einzigartigkeit ihres abgeschiedenen Lebens, hatte ich das Gefühl, dass ihre Assimilation an den Rest des Landes nur eine Frage der Zeit sein kann. Ein Beispiel war Hassan, das Dorfoberhaupt. Während er alle Zeichen der modernen Zivilisation aus dem Dorf verbannte war ich überrascht, dass er sich am zweiten Tag mit einer dunklen Sonnenbrille zeigte. Vielleicht war sie aber einfach ein Statussymbol das toleriert wurde. Es war mir auch aufgefallen, dass wir immer wieder Träger mit schweren Lasten sahen, aber niemand wusste was in den Schachteln ins Dorf gebracht wurde. Die Zukunft wird wohl von den Badui selbst abhängen, denn schon heute scheinen besonders junge Badui (auch „Badui Dalam“) Arbeit ausserhalb ihres Gebietes zu suchen. Es werden dann diese jungen Leute sein, die schliesslich auch von den modernen Errungenschaften der Aussenwelt profitieren möchten und damit die starren Strukturen der Gemeinschaft ins Wanken bringen.

Ich besuchte die Badui zwei Jahre später mit Gregory Elias noch einmal. Er war vorher in Irian Jaya (Westneuguinea) auf Exkursionen bei den Ureinwohnern und wollte nun auch die Badui kennen lernen. In der kurzen Zwischenzeit seit meinem ersten Besuch waren trotz dem Widerstand der Badui eine Strasse bis fast nach Kaduketug, eine Schule und scheinbar eine Moschee gebaut worden. Für uns war es deshalb keine Expedition mehr, sondern ein gewöhnlicher Sonntagsausflug. Der Besuch bei den Badui war diesmal auch kein Abenteuer und das Geld plötzlich willkommen. Zudem hatte der Tourismus die Badui entdeckt und dies wird wohl in den kommenden Jahren auch seine Konsequenzen haben. Zusammen mit den Entwicklungsprojekten der Regierung werden die Badui wohl bald aus ihrer Isolation gedrängt, ausser wenn ihre magischen Kräfte dies noch zu vermeiden mögen.

Das Land der Torajas und Bali.
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17.10.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Das Land der Torajas und Bali..

Eines Tages fragte mich Traudl, die Frau des Swissair Managers Otto Pfeifer, ob ich Interesse hätte mit ihr das Torajaland auf Sulavesi zu besuchen. Ebenfalls im „National Geographic“ hatte ich vom Ahnenkult und den ganz speziellen Häusern der Torajas gelesen und war daher sofort hell begeistert. Die Gegend war damals nämlich noch ziemlich unbekannt und vor allem vom Tourismus verschont geblieben. So durfte man sich auf ein echtes Abenteuer freuen. Ein Bekannter aus der Reisebranche hatte Traudl die Reise vorgeschlagen und war bereit diese bis ins Detail zu organisieren. Nach der ersten Euphorie wollte ich wissen, ob ihr Gemahl damit wohl einverstanden sei? Ohne zu Zögern versicherte sie mir, dass alles bereits besprochen war. Scheinbar war es aber dann doch nicht so, denn ein paar Tage später offerierte mir Otto während einer Party ganz spontan einen Whiskey, der genau in meinem Gesicht landete. Am nächsten Tag fuhr ich zu ihm nach Hause und stellte ihn zur Rede. Neben seinem knurrenden Hund, dem Bruder meines Hundes „Buddie“ stehend, meinte er dann kurz gebunden, dass alles in Ordnung sei, denn er hätte in seine Frau sehr grosses Vertrauen. Doch ein paar Tage später rief mich Traudl an und meldete, dass nun noch eine Freundin aus Deutschland mitreisen werde. Für mich war das kein Hindernis, Hauptsache ich durfte zu den Torajas fahren.

Ich traf die beiden Damen anfangs Mai 1976 in Surabaya. Es war vorgesehen vorher noch den Mount Bromo zu besteigen. So ging es sofort los und wir wurden mit einem VW-Kombi bis zum Motel „Bromo Permai“ beim Ausgangspunkt gebracht. Hier waren für uns Zimmer reserviert um bis zum Aufbruch um drei Uhr morgens etwas zu schlafen. Doch es war sehr kalt und auf einer Höhe von ungefähr 2329 Metern war ein tiefer Schlaf natürlich Illusion. Trotzdem legten wir uns hin und dösten eine Weile. Doch die beiden Damen standen bald wieder auf und entschieden nicht auf den Weckruf zu warten. Ich wusste, dass es noch viel zu früh für den Aufbruch war, doch meine Einwände wurden ignoriert. So sassen wird bald auf Pferderücken und trabten durch dicken Nebel und die stockdunkle Nacht bis an den Fuss des Kraters. Es war augenfällig, dass wir zu früh waren, doch die beiden liessen sich nicht belehren und wollten auf keinen Fall den Sonnenaufgang verpassen. Also nahmen wir sofort auch noch die letzten zehn Minuten Treppenaufstieg in Angriff. Als wir ganz oben ankamen war es halt immer noch dunkel und ohne Taschenlampe war man sich gar nicht bewusst, dass wir auf dem Kraterrand standen und dass vor uns ein tiefer Abgrund mit heisser Lava gähnte. Es war hier noch kälter und roch, so wie es sein muss auf einem aktiven Vulkan, nach faulen Eiern und Schwefel. Frierend, in Wolldecken gewickelt, warteten die beiden Frauen ungeduldig auf den Sonnenaufgang und verstanden erst jetzt, dass wir uns fast eine Stunde zu früh auf den Weg gemacht hatten. Bald wurde gejammert, dass die Sonne heute vielleicht gar nicht aufgehen möge. Doch dann erschien die „Verspätete“ doch noch in vollem Glanz und machte uns klar wo wir standen. Sofort fühlten wir ihre Wärme und genossen gleichzeitig ihr wunderbares Morgenlicht. Jetzt erst konnten wir auch den jüngsten Krater „Gunung Batok“ nebenan sehen, ein Vulkan welcher sich wie ein perfekter Gugelhopf unten aus der Ebene erhob. Es war ein unbeschreiblich schönes und überwältigendes Erlebnis.
 

(1) Auf dem Kraterrand des Bromo.

Auf dem Kraterrand des Bromo.

 

 
(2) Ein herrlicher Blick auf den zerfurchten Krater im Krater des Bromo.

Ein herrlicher Blick auf den zerfurchten Krater im Krater des Bromo.


Nach dem Frühstück im Motel ging es rassig den Berg hinunter zurück nach Surabaya ins Hotel, wo wir uns von der „Freinacht“ und der bissigen Kälte erholten. Schon am anderen Tag flogen wir nach Makassar (Ujung Pandang) wo der Reisebegleiter mit einem Landrover auf uns wartete. Und dann machten wir uns sofort auf den Weg ins Land der Torajas. Die Fahrt nach Rantepao dauerte acht Stunden, alles auf sehr schlechten, meist Naturstrassen, auf welchen wir so richtig durchgeschüttelt wurden. Dafür wurden wir mit einer einmaligen Landschaft belohnt. Mit Alpweiden und Kühen erinnerte mich die Gegend stark an die Schweiz. In Rantepao verbrachten wir drei Tage und logierten in der sauberen und netten Pension „Maria“. Auf der Fahrt erklärte uns der Begleiter, dass sich das Volk der Torajas während den letzten Jahrhunderten nur unwesentlich verändert habe. Ihr ganzes Leben sei geprägt von ihrem überlieferten Glauben, den Geistern, Dämonen, Mythen und einem einzigartigen Ahnenkult. Neben der aussergewöhnlichen Bauweise ihrer Häuser interessierte mich genau dies besonders. Unser Begleiter erklärte, dass ihre Häuser auf dem Kopf stehenden Booten ähnlichsehen und dass sie ganz ohne Nägel gebaut wurden. Nach einer alten Sage sollen die Vorfahren der Toraja einst über das Meer nach Sulawesi gekommen sein und in Ermangelung einer Behausung anfangs unter ihren umgedrehten Booten gelebt hätten.

Am anderen Tag fuhren wir zu den Dörfern Palawa, Lempong und Naggala wo wir diese ganz speziellen Häuser bewundern konnten. Der Begleiter erklärte, dass die an den vorderen Stützbalken befestigten Büffelhörner auf den sozialen Stand des Eigentümers hinweisen, je mehr Hörner, desto höher war der soziale Stand. Alle Häuser standen auf Pfosten. Um in den grossen Gemeinschaftsraum zu gelangen musste man eine Leiter hinaufsteigen. Darunter wurden Schweine und Hühner gehalten, denen man durch ein Loch im Boden alle Speiseabfälle hinunterwarf, also perfekt rezykliert. Auffallend schön bestickt waren die Kleider der Frauen. Durch unseren Begleiter hatten wir das Privileg die Häuser zu besuchen. In einem Haus überraschte uns in der Mitte des Raumes ein schräg aufgestellter Sarg. Der Begleiter erklärte, dass die Toraja glauben das Erdenleben sei nur ein Übergang zum Jenseits und dass nur dies von Bedeutung sei. Beim Tod eines Menschen verlässt die Seele zwar den Körper, diese aber verbleibt in der nächsten Umgebung. Der Leichnam wird deshalb zuerst in weisse Tücher gewickelt und im Hause aufgebahrt. Die Schräglage des Sarges erlaubt der Köperflüssigkeit auszufliessen bis die Körper für die Mumifizierung bereit ist. Bis das Begräbniszeremoniell vollzogen wird können aber mehrere Jahre vergehen. Je höher der Status, desto länger wird der Leichnam im Haus aufbewahrt und umso höher wird die Erwartung für eine besonders grosse Beerdigung. Der im Haus aufbewahrte Verstorbene wird während dieser Zeit wie ein schlafendes Familienmitglied behandelt. An den Begräbnisfeierlichkeiten, welche mehrere Tage dauern können, nehmen einige hundert Personen teil. Die Trauernden tragen Kleidung in dunklen Farben, vor allem rot oder schwarz. Solche Feierlichkeiten können zum finanziellen Ruin führen. Das Schlachten von Dutzenden von Wasserbüffeln und Hunderten von Schweinen ist der Höhepunkt der aufwendigen Todesfeier mit Tanz und Musik.


(3) Die typischen Häuser der Torajas.

Die typischen Häuser der Torajas.


Da die Toraja glauben alles ins Jenseits mitnehmen zu können, werden den Toten wertvolle Grabbeigaben mitgegeben und in kunstvoll geschnitzten Holzsärgen an Felswänden aufgehängt. Wegen der Grabplünderungen begannen die Toraja ihre Toten in Höhlen oder in künstlich angelegten Felsengräbern zu verstecken. Vor den Eingängen der Höhlen und Felsengräber wurden Balkone errichtet auf denen Holzfiguren die Verstorbenen darstellen. Die einfachen Leute wurden oft vor den Höhlen der Adeligen bestattet. Je nach Status kann der Sarg in einer Höhle, in einem Steingrab oder dann frei hängend an einer Felswand deponiert werden. Erdbestattungen sind tabu. Da immer mehr Toraja in die Städte ziehen und dort nach Arbeit suchen, scheinen sich auch hier die althergebrachten Traditionen leider langsam zu verändern. Am zweiten Tag unseres Besuches führte uns der Begleiter zu Grabstätten nahe den Dörfern Sangalla, Lemo, Marante, Londa und Lo’Ko’Mat. Diese zu besuchen und die Figuren auf den Balkonen zu sehen war für mich sehr eindrücklich und speziell. Auch durften wir in die Höhlen gehen, doch als ich nach ein paar Meter merkte, dass ich auf Knochen trat, zog ich es vor die Toten in Ruhe zu lassen.

Am dritten Tag hatten wir noch Zeit um im Zentrum von Rantepao zu bummeln und den Ort zu entdecken. Natürlich hatte hier schon die moderne Zeit Einzug gehalten, aber die alten Traditionen spürte man noch in allen Ecken. Etwas das mir speziell auffiel war der Transport von Ferkeln. Sie waren eingeschnürt wie ein Rollbraten und man trug sie an einem Griff, so wie Handtaschen, ganz elegant durch die Strassen. Ich hatte das Gefühl, dass die Schweinchen den Spaziergang auch genossen, denn man hörte sie nur selten grunzen. Ihr Anblick war aber so lustig, dass ich mich bei jeder Begegnung auf der Strasse immer wieder umdrehen und lachen musste. Und damit war unser Abenteuer, das durch die Erklärungen unseres Begleiters äusserst interessant war, auch schon zu Ende. Ich reiste zurück zur Arbeit nach Jakarta und die beiden Damen machten noch zwei Wochen Ferien auf Bali.

Übrigens war Traudl eine ausgezeichnete Gastgeberin und wenn man bei ihr zum Frühschoppen eingeladen war, dann kam man vor dem Einnachten selten nach Hause. Es wurde oft getanzt und man hatte es immer lustig zusammen. Sie gab sich alle Mühe sich uns Deutschweizern anzupassen und wollte sogar unseren Dialekt lernen. Doch ihre Mühe wurde eines Tages brutal zerstört. Sie hatte wahrgenommen, dass das Wort „gleich“ auf Schweizer-Deutsch ein „“gliich“ wird. Also bestellte sie in der Metzgerei ganz selbstsicher 500 Gramm „Schweinefliisch“…! Doch der Metzger verstand das Wort nicht und fragte ob sie „Schweinefleisch“ meine. Verwirrt und enttäuscht musste sie einsehen, dass ihre Mühe an der fehlenden Grammatik im Schweizer-Deutsch gescheitert war. Aber auch ohne das Schweizer-Deutsch perfekt zu beherrschen, wussten wir Traudl mit ihrem charmanten Nürnberger-Dialekt zu schätzen.

Otto, ihr Mann, war Geschäftsführer der ehemaligen SWISSAIR und so gab es jedes Jahr eine St. Niklaus Feier für die Kinder ihrer Kunden und Bekannten. Otto übernahm immer die Rolle des „Samichlaus“ und dabei entzündete sich einmal sein Bart. Er hatte nicht gemerkt, dass während er mit den Kindern plauderte, unter seinem Bart eine Kerze brannte. Bis sein Bart Feuer gefangen hatte schien niemand etwas bemerkt zu haben. Aber dann versuchte man den „Samichlaus“ mit Decken zu löschen, was auch gelang. Doch er hatte starke Verbrennungen im Gesicht, sodass er ins Krankenhaus gebracht werden musste. Ein paar Monate später als wir den 1. August in Gandaria feierten (alle in einem T-Shirt mit Schweizer Kreuz), brachte Otto einen Karton mit von der SWISSAIR offeriertem Wein. Er packte die Flaschen aus, entfernte das Seidenpapier und wollte damit das Augustfeuer anzünden. Unsere Arbeiter hatten nämlich im Garten der Fabrik einen riesigen Holzhaufen vorbereitet und um das Feuer zu bescheunigen am Schluss noch Altöl über die Bretter gegossen. Leider hatte ich nicht bemerkt, dass auch ein Benzingemisch dabei war. Es war noch lange nicht dunkel und schon wollte Otto den Holzstoss anzünden. Immer wieder sagte ich ihm die Gäste seinen noch nicht da und zudem sei es noch nicht dunkel. Doch immer wieder kam er mit dem Seidenpapier in der Hand und wollte den Holzstoss in Flammen sehen. Obwohl er ja schon einmal ein übles Erlebnis mit dem Feuer gehabt hatte liess er nicht los und zündete unerwartet sein Seidenpapier an. Unbeirrbar schritt er zum Holzstoss und steckte das Papier hinein. Sofort gab es einen riesigen Knall und Otto wurde etwa 20 Meter zurück auf den Boden geworfen. Zum Glück stand ich nicht so nahe beim Holzstoss und kam deshalb mit dem Schrecken davon. Er hatte am ganzen Körper Verbrennungen, vor allem da wo er von Kleidern nicht abgedeckt war. Man musste ihn sofort ins Krankenhaus bringen wo er während 2 – 3 Wochen gepflegt wurde. Natürlich dämpfte der Vorfall unsere Festlaune, aber schliesslich war da noch der offerierte SWISSAIR-Wein der getrunken werden musste! Zudem hatten alle ihre selbstgebackenen Kuchen mitgebracht die man auch nicht ignorieren durfte. Einige Wochen später brannte das Dieselreservoir seines Nachbars und bei einer Einladung von Reiseagenturen zum Fondue fingen bei ihm zu Hause die Rechauds Feuer. Obwohl diese Vorfälle tragisch waren konnten es einige nicht lassen Spässchen darüber zu machen, so wie etwa: „Vorsicht, der brennende Sami Chlaus“ oder „Zünde dir nie eine Zigarette in der Gegenwart von Otto an! Für Indonesier hatten diese Ereignisse aber sicher eher mit dem Unwillen der lokalen Geister, den Hantus, zu tun…!


(4) Typische Balinesische Malerei

Typische Balinesische Malerei


Bali.
  Wie für meine Freunde war auch Bali für mich ein Favorit um ein paar Tage auszuspannen. Allerdings war ich beim ersten Besuch ziemlich enttäuscht. Ich kannte ja bis anhin Bali nur aus den Hochglanz-Prospekten wo man mit Fotos von professionellen Fotographen warb, natürlich alle aufgenommen bei bestem Wetter und idealen Lichtverhältnissen. Aber bei meiner Ankunft regnete es in Strömen und die Umgebung erschien mir deshalb alles andere als paradiesisch. Da ich sehr müde war, verbrachte ich halt die regnerischen Tage im Hotel um mich auszuruhen. Erst beim zweiten Mal, diesmal bei wunderbarem Wetter, begann ich die Insel und deren Charme zu entdecken. Aber auch diesmal kehrte ich nicht ohne ein abenteuerliches Ereignis zurück. Beim Start zum Rückflug platzten die Pneus am rechten Fahrgestell des Flugzeuges, was wir Passagiere aber kaum bemerkten. Erst als das Flugzeug kurz darauf wieder zu einer Landung ansetzte wurde uns bewusst, dass etwas nicht in Ordnung war. Bei der Notlandung kam es um ein Haar zu einer „Bruchlandung“. Interessanterweise brach in der Kabine keine Panik aus, sondern eher eine allgemeine Lethargie. Die Landung war sehr hart, wir wurden umhergeschüttelt und gebeten sofort auszusteigen. Anschliessend warteten wir eine Ewigkeit neben dem havarierten Flugzeug bis uns jemand holte. Im Bus meinte dann eine nette Stimme am Lautsprecher: „Welcome to Bali“, was in dieser Situation eher sarkastisch tönte. Da die „Garuda“ kein Ersatz-Flugzeug hatte, durften wir nochmals eine Nacht auf Bali geniessen, diesmal aber nur in einem miesen 2-Stern Hotel.


(5) Nach der Notlandung der GARUDA auf dem Flugplatz von Bali

Nach der Notlandung der GARUDA auf dem Flugplatz von Bali


Die weiteren Aufenthalte in Bali, die ich meistens mit Bekannten verbrachte, waren dann problemlos und ich entdeckte jedes Mal wieder neue Orte. In der Folge begann ich die Insel mit den religiösen Tempeln, den Vulkanen, den typischen Reisfelder sowie den selbstbewussten Einheimischen sehr zu schätzen. Weil die populäre Kuta Beach damals ein internationales Eldorado für Windsurfer war, zog ich es jeweils vor in einem Hotel an der Sanur Beach zu übernachten, meistens aber im damals traumhaften Hotel Hyatt. Nachdem in den 60er Jahren die Hotelkette „Interkontinental“ ein mehrstöckiges Hotel an der Sanur Beach gebaut hatte wurde klar, dass solch hohe Gebäude auf der Insel keinen Platz hatten. Die Regierung beschloss deshalb entlang des Standes keine Gebäude mehr zu dulden die höher als eine Kokospalme waren.

Über die Ostertage im Jahre 1974 war ich bei meinem Assistenten, Gusti Karmadi, eingeladen. Er war in Bali aufgewachsen und wollte, dass ich ein paar Tage in seinem Dorf, Palasari, verbringe. Die Erfahrung Bali unter Einheimischen zu entdecken war eine einmalige Gelegenheit. Sein Vater hatte oberhalb des Wohnhauses Gewürzvanille angebaut, die er mir mit grossem Stolz zeigte. Ich hatte diese Pflanze in der Natur vorher noch nie gesehen und war deshalb erstaunt zu vernehmen, dass es eine immergrüne Kletterpflanze aus der Familie der Orchideen war. Im Dorf spielten tagsüber die Kinder und alles schien mir so harmonisch und beruhigend. Am 29. Dezember 1976 war ich erneut bei Karmadi eingeladen, diesmal zu seiner Heirat. Erneut durfte ich bei seiner Familie übernachten und hatte gleichzeitig die Gelegenheit die aufwendige Vorbereitung für eine Balinese Hochzeit zu verfolgen. Es schien als ob für dieses Fest schon seit Tagen emsig gearbeitet wurde. Erstens für die aufwendige Dekorationen aus Bambusblättern, dann aber auch für das kulinarische Wohl der Gäste. Über einer heissen Glut wurden mit Kräutern gefüllte Spanferkel gedreht und in einer anderen Ecke wurden Reis und weitere Spezialitäten gekocht. Das Ganze wurde durch Hundegebell, Grillen und anderen natürlichen Geräuschen akustisch begleitet, auch nachts! Das Paar heiratete in der katholischen Kirche, war aber ganz traditionell balinesisch gekleidet. Sie waren ein wunderbares Paar und die Tage in Palasari für mich ein unvergessliches Erlebnis.


(6) Das Hochzeitspaar I Gst Ngurah Karmadi, mein Assistent und Nachfolger

Das Hochzeitspaar I Gst Ngurah Karmadi, mein Assistent und Nachfolger

 

 

 

 

Kreuzfahrt um Sumatra.
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17.11.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Kreuzfahrt um Sumatra. .

Ende 1976 hörte ich durch Margrit Beck von einer Kreuzfahrt mit der MS Prinsendam der Holland American Line die rund um die Insel Sumatra führte. Sie wollte die Reise mit einer Bekannten machen. Da ich noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff gewesen war, interessierte mich diese Reise. Ein Grund für das Interesse war aber auch die Möglichkeit während ein paar Tagen einmal richtig auszuspannen. Die 10-tägige Reise führte von Jakarta nach Singapor-Penang-Belawan (Medan)-Sibolga-Nias-Krakatao und zurück nach Jakarta. Schliesslich brauchte ich aber nicht lange zu überlegen und buchte die Reise ebenfalls.


(1) MS Prinsendam der Holland American Line

MS Prinsendam der Holland American Line


Mein erster Eindruck auf einem Kreuzfahrt-Schiff war überwältigend. Ich kam mir vor wie in einem Luxushotel in welchem Komfort, gutes Essen und abendliche Unterhaltung geboten wurden. Während dem kurzen Halt in Belawan (Medan) besuchten Margrit und ich unsere Freundin Erika Rüesch. Ihr Gemahl war Agronom und arbeitete für eine internationale Gesellschaft. In Sibolga machten wir nur einen kurzen Spaziergang im Dorf und kehrten dann wieder auf das Schiff zurück, denn da schien es mir unterhaltsamer und zivilisierter. Bei der Überquerung des Äquators erschien auf dem Schiff sogar der Meeresgott Neptun mit seinem Gefolge, wobei dann aber einige davon in das Schwimmbad fielen oder hineingestossen wurden! Aber die meiste Zeit genoss ich einfach das Schiff und die Ruhe.

Der absolute Höhepunkt der Reise war für mich aber der Besuch der Insel Nias und seiner Einwohner. Die Insel liegt 126 km vor der Westküste Sumatras und ist normalerweise nur mit einem kleinen Motorboot erreichbar. Die Bevölkerung lebt schon seit mehr als tausend Jahren auf der Insel und besteht überwiegend aus indigenen Niassern. Wahrscheinlich waren sie vom Indischen Festland eingewandert und hatten von dort eine eindrucksvolle megalithische Kultur mitgebracht, deren Spuren sich in antiken Bauwerken in der Inselmitte und im Süden erhalten haben. In ihrer isolierten Lage von der Aussenwelt haben die Leute von Nias eine eigene Sprache und Kultur entwickelt, mit einer im Bild des Universums wurzelnden Mythologie. Diese hatte sich auch in ihrer gesellschaftlichen Ordnung niedergeschlagen, dies in Form von Dorfgemeinschaften unter Häuptlingen, die wiederum einem regionalen Oberherrn unterstanden. Die Einwohner waren früher als Kopfjäger gefürchtet und wurden deshalb lange Zeit gemieden. Erst Mitte des 19. Jahrhundert getrauten sich französische Priester auf die Insel um ihre Bewohner zum Katholizismus zu bekehren, was aber scheiterte, weil sie vergiftet wurden. Später kamen deutsche Missionare, die mehr Erfolg hatten. Viele gaben dann ihre ursprünglichen Traditionen wie die Kopfjagd und der Ahnenkult auf, doch in der Form von Sagen wurden sie nie vergessen und viele Sitten und Bräuche blieben bis heute erhalten.

Jahrhunderte lang haben Sklavenjäger aus Nordsumatra den nördlichen Teil der Insel heimgesucht. Sie sind aber nie bis in den Süden vorgedrungen, wo ein freiheitsliebendes, kriegerisches Volk sich in den Bergdörfern zu verteidigen wusste. Und genau diese Gegend besuchten wir mit einer vom Schiff organisierten Tour. Vom kleinen Hafen Teluk Dalam ging es etwa 9 km auf einer äusserst schmalen Strasse zwischen Kokosnusspalmen nach Bawömatualuao. Das Beförderungswesen auf Nias war damals erst im Entwicklungsstadium und so erfolgte unsere Rundfahrt mit alten Lastwagen die mit Sitzbänken ausgestattet waren. Der Fahrer musste äussert vorsichtig fahren, denn das Kreuzen mit anderen Fahrzeugen war abenteuerlich und gefährlich. Das Dorf Bawömatualuao lag auf einer Anhöhe und konnte vom Ende der Strasse nur über eine alte Steintreppe mit 82 Stufen erreicht werden. Der Dorfplatz war mit Felsplatten belegt und hatte an zwei gegenüberliegenden Seiten je ein Pfahlhaus mit hohen Palmdächern. Dazwischen gab es viele kleiner Pfahlhäuser aus denen uns Kinder zuwinkten. Auffallend waren auf dem grossen Platz die Springsteine, die bei militärischen Übungen benutzt wurden. Hier wurden damals Krieger des Dorfes für den Ansturm über Palisaden feindlicher Dörfer ausgebildet. Zu meiner Überraschung wurden uns traditionelle Begrüssungs- und Kriegstänze in echten Kostümen und Waffeausrüstungen gezeigt. Plötzlich fing es an zu regnen, doch die Leute liessen sich davon nicht beeindrucken und fuhren mit ihren Darbietungen unbeirrt fort. Am Schluss zeigte uns die Dorfjugend im strömenden Regen ihre Sprungakrobatik über die Sprungsteine. Trotz grauem Himmel waren es magische Darbietungen die einem nicht unberührt liessen.


(2) Der magische Hochsprung (etwas gefährlich bei nassem Wetter)

Der magische Hochsprung (etwas gefährlich bei nassem Wetter)


Zurück am Hafen von Teluk Dalam hatte es zu meinem Erstaunen Einheimische die vereinzelt Schnitzereinen und anderen Handarbeiten verkauften. Dabei fiel mir eine kleine Holzdose auf, in der es eine äusserst fein gearbeitete Waage aus Horn hatte. Der Verkäufer erzählte mir, dass die Niasser unter dem Sklavenhandel nicht nur litten, sondern dies auch geschickt für sich selbst nutzten. Anstatt lokale Gesetzesbrecher und Kriminelle einzusperren, verkaufte man sie dem nächsten Sklavenhändler der bei der Insel vorbeikam. Da sie damals kein Geld hatten, verlangte man für die feilgehaltenen Sklaven Gold. Und dazu brauchte man feinste und präzise Waagen, genau solche wie ich in der Hand hielt. Es brauchte eine gewisse Zeit bis ich mich entschieden hatte, dieses kleine Kunsthandwerk zu kaufen, denn es erinnert ja bei jedem Anblick an düstere und brutale Zeiten.


(3) Handgefertigte Präzisions-Goldwaage für den Handel mit Piraten und Sklavenhändler.

Handgefertigte Präzisions-Goldwaage für den Handel mit Piraten und Sklavenhändler.


Auf dem Rückweg kamen wir beim bekannten Vulkan „Krakatau“ vorbei. Der „Krakatau“ ist eine Vulkaninsel in der Sundastrasse zwischen den indonesischen Inseln Sumatra und Java. Der bis anhin heftigsten Ausbruch erfolgte im August 1883, bei dem der Knall scheinbar über fast 5000 km weit im Indischen Ozean zu hören war. Die Druckwelle der Explosion umlief damals die Erde insgesamt siebenmal. Der Vulkan schleuderte Asche und Gestein bis in die Erdatmosphäre. Er brach in den letzten Jahrhunderten mehrmals aus und ein weiterer Ausbruch ist nicht unmöglich. Obwohl er vom Schiff aus sehr friedlich schien, weiss man nie wann er erneut ausbricht. Von diesem Vulkan bis nach Jakarta war es nicht mehr weit und ich bedauerte, dass die schöne und interessante Fahrt mit der „Prinsendam“ bereits wieder zu Ende war. Im Winter war das Schiff jeweils im Fernen Osten unterwegs und im Sommer in Alaska. Vier Jahre später, am 4. Oktober 1980, brach an Bord des Schiffes ein Brand aus und ein paar Tage danach, am 11. Oktober, sank das schöne Schiff „Prinsendam“ im „Golf von Alaska“. Zum Glück kam dabei niemand ums Leben.

Heimaturlaube
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17.12.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Heimaturlaube.

Damals gab es bei der „Pan American World Airways“ (Pan Am) für den Preis eines Flugbilletes in die Schweiz und zurück ein „around the world ticket“. Also konnte ich auf dem Heimweg einen Umweg über Südamerika und USA mit verschiedenen Zwischenhalten machen.


Beim ersten Heimurlaub
(29.2. -30.4 1972) reiste ich deshalb wie folgt: Jakarta – Singapur – Hongkong – Taipeh – Osaka – Kyoto – Honolulu - San Francisco - Los Angeles - Mexiko-City - New York – Boston - Zürich. Auf dem Heimweg besuchte ich zuerst Sehenswertes in Japan, so zum Beispiel den Kiyomizu Tempel in Kyoto, den Great Buddha in Kamakura und den Shint%u014D Schrein in Nara. Aber schlussendlich war ich von Mexico am meisten begeistert. Hier hatte ich allerdings den Vorteil einen mexikanischen Reiseführer zu haben und zwar Jorge welchen ich in Jakarta kennen gelernt hatte. Zuerst fuhren wir mit seiner Schwester und zwei Tanten nach Guernavca. Es war Sonntag und so besuchten wir erst die Kirche in der ein Verwandter von Jorge die katholische Messe hielt. Der Priester war im ganzen Land für seine provokativen und extrem linken Ansichten bekannt und sogar verrufen. Ohne Erlaubnis von Rom hatte er alles Kostbare und Vergoldete in der Kirche demontieren lassen und verkauft. Den Erlös teilte er mit den Armen in Guernavca. Seine Kirche schien mir tatsächlich etwas „ausgeraubt“ und ihre Türen waren tatsächlich nie geschossen, auch während der Heiligen Messe nicht. Deshalb herrschte in der Kirche ein endloses Kommen und Gehen. Während der eucharistischen Liturgie spielte in einer Ecke eine Gruppe Mariachi Musik und ambulante Verkäufer hielten frittiertes Gebäck feil, sodass ich mich bald in einer Markthalle glaubte. Das Gewimmel wurde mir bald zuviel des Guten und da man die Gebete des Priesters gar nicht hören konnte, suchte ich meine spirituelle Ruhe ausserhalb der Kirche in der Natur.

Nach der Messe waren wir beim Priester zum Mittagessen eingeladen. Hier lernte ich den Idealisten als äusserst offenen, fröhlichen Menschen kennen, der sogar wissen wollte was ich von seiner Folklore-Sonntagsmesse halte. Genau so offen sagte ich ihm, dass mir leider beim Klamauk in der Kirche die nötige Stille zum Gebet gefehlt habe. Sofort erwiderte er mir, dass seine Kirche für alle Leute da sein und die offenen Türen zur Teilnahme an der Messe motivieren sollen. Darauf fragte ich ihn wieso er dann seine Messe nicht auf dem Markt abhalte, da wäre er noch viel näher beim Volk. Betreten schwiegen nachher alle am Tisch, aber er schlug meinen Vorschlag nicht kategorisch ab. Nachher fuhren wir zurück nach Mexico, wo ich am nächsten Tag Zeit hatte die Stadt und das Nationalmuseum für Anthropologie zu entdecken.

Ein paar Tage später ging es mit dem Nachtzug nach Guadalajara, wo wir von seinem Bruder Federico und einer seiner Schwestern abgeholt wurden. Von hier machten wir einen Ausflug nach Tonalà, ein kleines Dorf das durch seine typischen Töpfereien bekannt wurde. Am anderen Tag ging es zur Laguna De Cajitila und den Lago Di Chapala. In Ajijic genossen wir ein Bad bevor wir wieder zurück nach Guadalajara fuhren. Am nächsten Tag ging es mit dem Bus nach Guanajuato, der legendären Silberstadt Mexikos die seit 1988 Weltkulturerbe der UNESCO ist. Alte Flussbette, Bergwerkschächte und unterirdische Wege werden heute als Tunnel genutzt, sodass ein grosser Teil des Strassenverkehrs unter der Stadt geführt wird. Zusammen mit der ansprechenden Architektur aus der Kolonialzeit und den engen, verwinkelte Strassen hinterliess mir die Stadt einen äusserst sympathischen und interessanten, aber auch geheimnisvollen Eindruck. Es war eine Stadt die ich gerne noch einmal besuchen würde.

Zurück in Mexico City besuchte ich wie alle Touristen die Sonnen- und Mondpyramide sowie die „Straße der Toten“ in Teotihuacán. Auch die archäologische Stätte Tula war auf dem Programm der offiziellen Tour. Und schliesslich durfte ich auch das von Hauptstadtbewohner sowie Touristen beliebte Ausflugsziel Xochimilco, die „Schwimmenden Gärten“, nicht ignorieren. Ohne minimale Kenntnisse der Geschichte Mexikos hätten all diese Besuche wenig Sinn gemacht. Darum besuchte ich, wenn immer ich dazu Zeit hatte, das ausgezeichnete Nationalmuseum für Anthropologie in der Hauptstadt.


Während dem zweiten Heimaturlaub (16.11.1973 – 27.01.1974) wollte ich Bekannte in Malaysia (Gröblin’s) und Nepal (Herr Moretti der SATA) besuchen. Also flog ich wie folgt: Jakarta - Kuala Lumpur - Penang - Bangkok - Kathmandu (und Bhaktapur in Bhadgaon) - Calcutta - Bombay - Rom – Zürich. Auf der Heimreise machte ich jeweils kleine Umwege und reiste via Bangkok oder Singapur zurück.


Den dritten Heimaturlaub (28.12. – 21.4.1975) benutzte ich in erster Linie um Australien kennen zu lernen. Mit dem Zug fuhr ich von Perth and der Südwestküste quer durch das Land bis nach Melbourne an der Südostküste. Damit bestand diese Heimreise ausfolgenden Zwischenhalten: Jakarta - Perth - Melbourne - Sidney - Fiji - Papeete - Bora Bora - Papeete - Acapulco - Mexico – Merida – Guatemala-City – Panajachel – Sololà – Guatemala-City und Antigua – Panama - Caracas - Brasilia - Rio de Janeneiro - Zürich. Nachdem ich schon Fiji traumhaft schön gefunden hatte, musste ich meine Meinung bald ändern, denn es gibt wohl nichts Romantischeres auf der Welt als Bora Bora. In Acapulco dominierte der Tourismus und so war ich froh in einem Hotel etwas ausserhalb zu sein. Unweit des Hotels war die bekannte Felsklippe von wo Sportler zehn Meter tief ins Meer sprangen. In Mexico Stadt traf ich dann meinen Freund Jorge, diesmal aber hatte er nur begrenzt Zeit für mich und so begleiteten mich zwei Freunde nach Puebla, eine sehr sympathische Stadt die auf 2175 m Höhe liegt. Der Ort ist von verschiedenen Vulkanen umgeben, so zum Beispiel vom bekannten Popocatépetl. Dann brachten sie mich zur Pyramide von Cholula, der grössten bekannten Pyramide der Welt.

Am nächsten Tag flog ich dann alleine nach Merida um die Halbinsel Yucatán zu besuchen. In Merida schloss ich mich sofort einer geführten Tour an, denn ich wollte von Chichén Itzá, die weltberühmte Ruinenstätte der Maya-Kultur, mehr erfahren. Ein enthusiastischer Guide machte uns auf Details an der massiven Stufenpyramide El Castillo, sowie an anderen Bauwerken wie dem Ballspielplatz, dem Kriegertempel oder der Schädelwand aufmerksam. Wie in der Stadt Fatehpur Sikri in Indien war auch hier aus unerklärlichen Gründen die gesamte Bevölkerung plötzlich verschwunden. Der Guide meinte allerdings, dass hier ein religiöses Ritual der Grund sein könnte. Jedes Jahr wurde nämlich eine Jungfrau den Göttern geopfert indem man sie in den tiefen Gemeinschafts-Brunnen stiess. Sollte das Opfer unwissentlich krank gewesen sein, hätte es das Wasser im Brunnen verseucht und so wären alle die dort Wasser holten ebenfalls erkrankt oder eben vielleicht gestorben. Am anderen Tag führte uns die Tour durch eine faszinierende, aber wilde Gegend nach Uxmal, den Ruinen einer ehemals grossen und kulturell bedeutenden Stadt. Die Bauten von Uxmal sind weitgehend regellos über ein riesig grosses Gelände verstreut. Die Gestaltung der Fassaden und ihre Steindekors, schienen mir speziell schön und fein hergestellt. Anschliessend fuhren wir noch zur Maya-Ruinenstadt Kabah, wo der grösste Teil der Anlage noch nicht ausgegraben war. Die archäologischen Untersuchungen begannen erst um das Jahr 1960 und so fand ich den Besuch umso spannender. Auch dieser Ort wurde aus unerklärlichen Gründen ungefähr im 12. Jahrhundert n.Ch. völlig verlassen. Die verschiedenen Bauten werden von der Pyramide des Zauberers überragt. Mächtigstes einzelnes Gebäude ist der auf einer hohen Plattform gelegene sogenannte Gouverneurspalast. Ausser diesen Gebäuden fiel mir vor allem der „Palast der Masken“ (Codz Poop) auf. An einer Aussenseite der Gebäudeplattform wir man von einer ununterbrochenen Folge von Chaac-Masken überrascht. Sie sind so schön und eindrücklich, dass ich fassungslos dastand und über die Kunstwerke nur staunen konnte. Da damals noch viel Wertvolles unter der Erde vermutet wurde, fand ich den Ort äusserst spannend und magisch. Vielleicht weil am hier noch träumen konnte war ich vom unerforschten Kabah mehr fasziniert als vom perfekt restaurierten Chichén Itzá.

Von Merida flog ich direkt nach Guatemala, wo ich erst Bekannte aus Indonesien besuchte. Zwei Tage später ging es mit dem öffentlichen Bus nach Panajachel am Lago de Atitlán, wo es scheusslich kalt war. Trotzdem fuhr ich am nächsten Morgen mit dem Schiff auf die andere Seite des Sees nach Santiago Atitlán. Die Aussicht auf den See mit den beiden Vulkanen Tolimán (3.144 m) und Atitlán (3.516 m) im Hintergrund war unglaublich schön und eindrücklich. Zurück in Panajachel traf ich per Zufall auf eine farbenfrohe Prozession, wobei alle Teilnehmer traditionelle Kleider trugen. Bereits am nächsten Morgen ging es nach Chichicastenango im Hochland von Guatemala. Der Ort ist bekannt für seinen farbenfrohen Markt auf den Treppen der Kirche Santo Tomás, der jeden Donnerstag und Sonntag stattfindet. Dieser Markt war mein Hauptgrund um nach Chichicastenango zu fahren und so genoss ich das emsige Treiben von Händlern und Käufern aus der ganzen Gegend. Leider war ich schon damals nicht der einzige Tourist, es hatte so viele, dass man die indigene Bevölkerung kaum ohne sie fotografieren konnte…! Da es für mein Empfinden zu kalt war, kehrte ich bald nach Guatemala City zurück. Da empfahl mir mein Bekannter vor meiner Weiterreise unbedingt noch nach Antigua zu fahren, was ich auch tat. Der Ausflug war tatsächlich sehr schön und interessant. Die Kleinstadt ist umgeben von Vulkanen und war 200 Jahre lang Guatemalas Kolonialhauptstadt. Die Gebäude aus der spanischen Kolonialzeit prägen daher das Stadtbild. Im Gegensatz zu Guatemala City war es hier ruhig und sauber. Man konnte gefahrlos und gemütlich in der Stadt bummeln und dabei die barocke, gelbweisse Kirche La Merced bewundern.

Am nächsten Tag ging die Marathon-Reise bereits weiter nach Panama wo ich mit einem Touristenbus die Stadt und den Panama-Kanal besuchte. Und wieder einen Tag später landete ich bereits in Brasilia, an einem Ort an welchem im Jahr 1956 noch nichts von einer Stadt zu sehen war. Die Regierung hatte damals entschieden die Hauptstadt von Rio de Janeiro ins Zentrum des Landes zu verlegen. Der Bau einer neuen Stadt im brasilianischen Hinterland weckte schon damals mein Interesse und dem Wunsch diese Stadt einmal zu besuchen, wobei mich aber vor allem die avantgardistischen Gebäude faszinierten. Und nun hatte sich mein Wunsch erfüllt und ich durfte die grosse Vision von Stadtplaner Lúcio Costa sowie dem Star-Architekten Oscar Niemeyer bewundern. Der Grundriss der neuen Stadt hat die Form eines Kreuzes, wobei man es auch als Flugzeug oder Vogel interpretiert. Der Architekt Lúcio Costa sagte 1968 über Brasilia: „Alles ist monumental, menschlich, einfach, grandios, asketisch in der Reinheit seiner Formen, die auf das Nötigste reduziert wurden“. Und genau so war mein Endruck dieser grosszügigen Stadt. Mitten durch die Stadt führt die „Monumentalachse“ (o Eixo Monumental), die zentrale, 8 km lange und maximal 250 Meter breite Ost-West-Achse. Hier befinden sich die architektonischen Meisterwerke wie die Kathedrale, das Parlamentsgebäude oder Palácio do Planalto, der offizielle Arbeitsplatz des Präsidenten, sowie das Kongressgebäude oder „Congresso Nacional“, ein äusserst imposanter Blickfang, bestehend aus zwei Türmen, einem Kuppelbau und einer großen Schale. Aber auch der Palast der Bögen oder Palácio Itamaraty, dem Sitz des Aussenministeriums oder der Platz der drei Gewalten (Praça dos Três Poderes), der sich am westlichen Ende des Eixo befindet, beeindruckten mich sehr. Hinter der Kathedrale begann die Strasse der Ministerien, die Esplanada dos Ministérios. Die Stadt war zu dieser Zeit noch immer im Bau und schon begann man sich zu fragen, ob die Stadt die grossen Visionen der Star-Architekten je erfüllen würden. Diese sollte ja die Utopie der Gleichheit und Gerechtigkeit umsetzen, ein Traum der leider nie wahr wurde.

Von Brasilia flog ich nach Rio de Janeiro, wo genau zu dieser Zeit der Karneval, die Hauptattraktion der Stadt, begann. Ganz zufällig traf ich an einem Abend einen Geologen der Petrobras, dem halbstaatlichen Mineralölunternehmen. Er hiess Othoniel, sprach Englisch und gab mir Ratschläge wie ich den Karneval am besten erleben konnte. Sofort versuchte ich eine Eintrittskarte für die vielfarbige Parade der Sambaschulen zu ergattern, was mir nur mit grosser Mühe gelang. Leider war das Wetter an diesem Abend regnerisch und so kehrte ich, obwohl die Parade bis am Vormittag des nächsten Tages dauerte, „schon“ um 04.00 Uhr morgens ins Hotel zurück. Zum Glück war während den anderen Tagen besseres Wetter, sodass ich die Wahrzeichen wie den Corcovado, der 710 m hohe Berg mit der monumentalen Christusstatue Cristo Redentor, den Zuckerhut, das Kunstmuseum, der Botanische Garten etc. besuchen konnte.

Zwei Tage später lud mich Othoniel zu einem Karnevalsball ein. Unter den fröhlichen Brasilianern die alle ausgelassen zu Samba tanzten, fühlte ich mich zum ersten Mal so richtig in Brasilien angekommen. Doch dann passierte plötzlich etwas Unerwartetes. Während dem lebensfrohen Tanzen nahm mich Othoniel plötzlich in seine Arme, so wie dies in Brasilien unter guten Freuden üblich ist. Dies provozierte bei mir sofort eine heftige emotionelle Reaktion und aus unerklärlichen Gründen begann ich zu weinen. Natürlich konnte Othoniel die absurde Situation nicht verstehen und war deshalb verwirrt - und ich auch! Erst nach einer Weile wurde mir bewusst, dass mich noch nie jemand in die Arme genommen hatte, nicht einmal mein Vater. Zu Hause war das Zeigen von Emotionen, ausser bei Streit, ein Tabu und so hatte sich bei mir wahrscheinlich ein riesiges Vakuum an Zuneigung aufgebaut. Der Grund schien mir nun klar, aber um sich nachher genau so entspannt, natürlich und spontan wie Brasilianer zu benehmen, genügten leider die paar Tage während des Karnevals nicht. Und so brauchte es schliesslich noch Jahre bis ich mich von unterdrücken Gefühlen befreien konnte. Gleichzeitig wurde ich wieder an meine Verpflichtungen und an die Realität erinnert, denn meine Reise ging zu Ende und ich musste zurück in die beherrschte Heimat und die gefühlsarme Firma.

Diese Heimaturlaube waren immer mit Verpflichtungen der Ingenieurabteilung der CIBA-GEIGY in Basel verbunden. Auf dem Arbeitsprogramm waren Besuche bei Fabrikanten von Maschinen, hauptsächlich in Deutschland. Der dritte Urlaub wurde viel länger als vorgesehen, dies insbesondere, weil ich unverhofft gesundheitliche Probleme hatte.

Die Geisterwelt in Indonesien und anderes Kurioses.
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17.13.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Die Geisterwelt in Indonesien und anderes Kurioses. .


(1) Opfergaben werden zum einem Tempel auf der Insel Bali gebracht (von Citra)

Opfergaben werden zum einem Tempel auf der Insel Bali gebracht (von Citra)


Hantus
.   Seit meiner Ankunft im abgelegenen „Wisma Irawati“ bei Cisalak hatte ich immer das Gefühl von Geistern oder „Hantus“ umgeben zu sein, etwas das für Indonesier aber ganz normal war. In Indonesien hatte es nämlich überall „Hantus“, meistens gute, aber auch solche die einem schlecht gesinnt waren. Obwohl ich an dieser Geisterwelt zweifelte, musste ich bald einsehen, dass sie auch für mich existierte. Die erste Erkenntnis begann beim „Slametan“ im renovierten Haus. Nach dem Ritual sagte mir einer der spirituellen Männer, dass Präsident Sukarno das Haus damals von Geistern beschützen liess und dass diese noch immer da seien. Schliesslich waren unter seinem Kommando während den Massakern in den Jahren 1965-1966 zwischen 500'000 bis 3 Millionen Menschen umgekommen und so versuchte er sich wohl möglichst vor Vergeltung zu schützen. Ich müsste mich also nicht fürchten, denn es seinen alles gute Geister, „Hantus“ die das Haus auch mit mir als Bewohner beschützten. Und tatsächlich hatte ich in diesem Hause nie Angst und dies obwohl ich der einzige Europäer in der ganzen Gegend war. Einer der Geister schien sich meistens in der Zwischendecke genau über meinem Bett aufzuhalten, denn ich hörte seinen tiefen Atem jede Nacht. Zuerst glaubte ich das Geräusch käme vom Klimagerät, aber dem war nicht so. Nachdem ich das Gerät abgestellt hatte, konnte ich seinen Atem noch viel besser hören. Interessanterweise machte ich mir darüber nie Gedanken und fühlte mich einfach immer sicher und wohl im Hause. Während bei meiner Nachbarin, seiner sechsten Gemahlin, immer wieder eingebrochen wurde, war dies interessanterweise bei mir nie der Fall.

Einmal sah ich im Garten am Fusse eines Baumes während Tagen Blumen und Esswaren liegen. Erst glaubte ich es wären Abfälle und bat Ibu die Sachen endlich wegzuräumen. Etwas verlegen erklärte sie mir, dass die „Sachen“ am Fusse des Baumes keine Abfälle, sondern Opfergaben seien. Dann erzählte sie mir, dass mein Nachtwächter eines Abends versucht hatte im Haus etwas zu entwenden. Doch als er das gewünschte Objekt berühren wollte, blockierte sich sein Arm und seine Hand wurde steif. Er konnte das Objekt nicht berühren. Völlig traumatisiert rannte er dann scheinbar aus dem Haus und verliess das Grundstück so schnell er konnte. Von grosser Angst getrieben sei er dann nach ein paar Tagen zurückgekommen und versuchte sich mit seinen Opfergaben mit den Geistern zu versöhnen. Danach hat man ihn nie mehr gesehen und damit musste ich einen neuen Nachwächter suchen.


Die weisse Frau.
  Schon während dem Umbau des Hauses sprachen Arbeiter von einer Frau, die ganz in weiss gekleidet jeweils nachts im Garten erschien. Da man in Indonesien immer wieder von Geistern sprach, machte ich mir nicht weiter Gedanken und lachte über ihre Aussagen. Nachdem ich im Hause eingezogen war, erzählten mir nun aber auch meine Angestellten von diesem Phänomen. Doch da diese glaubten, dass Verstorbene in Pflanzen und Tieren weiterlebten, liess ich sie in ihrem Glauben. Sie sagten mir auch einmal, dass im Fischteich eine Kröte lebe, in der sich ein böser Geist verstecke und mich bedrohe. Ich warf die Kröte dann eines Tages furchtlos im hohen Bogen über den Bambushag in den Garten der Nachbarin. Damit war wieder Ruhe im Hause. Aber dann kam meine Mutter auf Besuch. Sie blieb drei Wochen und sass meistens im Garten mit einem Buch in der Hand. Ich hatte ihr nichts von den Geistern und dem Erscheinen einer weissen Frau im Garten erzählt, denn ich hatte Bedenken, dass sie mich auslachen wurde. Vielleicht hätte sie sogar vermutet, dass ich nun selbst von Geistern besessen sei, so wie es mir meine Tante Berta vor meiner Abreise prophezeit hatte. Als ich an einem der letzten Tage ihres Aufenthaltes abends nach Hause kam, fand ich meine Mutter irgendwie strahlend, betört und überglücklich. Sie erzählte mir, dass ihr im Garten plötzlich eine ganz in weiss gekleidete Frau erschienen sei. Die fremde Frau winkte und lächelte ihr zu. Sie schien zu fliegen und als meine Mutter versuchte sich ihr zu nähern, verschwand sie wie im Nebel. Meine Mutter sprach nachher noch lange von dem beglückenden Spuk. Da meine Mutter kein Indonesisch sprach und meine Hausangestellten kein Englisch verstanden, konnte sie von ihnen nichts von dieser Frau erfahren haben. Damit hatte ich die Bestätigung, dass die Arbeiter und meine Hausangestellten nicht fabulierten.

Da ich nun überzeugt war, dass diese ominöse Frau scheinbar existierte, wollte ich sie nun auch sehen. Also wendete ich mich an die spirituelle Gruppe. Diese meinten ich könnte sie nur in total entspanntem, mentalem Zustand wahrnehmen. Dies sei jederzeit möglich und nicht auf Gespensterstunden beschränkt. So setzte ich mich eines Abends in den Garten und wartete. Ich versuchte zu meditieren und mich geistig total zu entspannen. Doch dann bellte der Hund und ich fragte mich wieso und was los war. Dann versuchte ich erneut an nichts zu denken. Aber dann surrten plötzlich Mücken um meinen Kopf und störten mich in meinem Versuch ruhig zu sitzen. Nach etlichen negativen Versuchen musste ich einsehen, dass mein Kopf zu stark mit Problemen auf dem Bau absorbiert war und ich mein Hirn nicht abschalten könnte. Ich brachte es auch viel später nicht fertig und so war mir ihre Erscheinung leider versagt. Aber die Tatsache, dass meine Mutter nach drei Wochen totaler Ruhe und Entspannung die Dame sehen konnte, schien mir ein Beweis, dass übernatürliche Phänomene existieren. Ich musste einsehen, dass ich nicht im primären Lebensrhythmus wie die meisten Indonesiern lebte und deshalb die unsichtbaren Kräfte gar nicht wahrnehmen konnte. Dabei entging mir aber bestimmt viel Interessantes aus einer Welt die ich mit den Einheimischen nicht teilen konnte.

Trotzdem hätte ich diese Fähigkeit natürlich auch gerne erworben und wendete mich erneut an die spirituelle Gruppe. Zuerst wollte ich wissen was der Unterschied zwischen schwarzer und weisser Magie sei. Sofort erklärten sie, dass es keinen Unterschied gebe und dass Magie für diese Kräfte das falsche Wort sei. Jeder Mensch komme mit einer gewissen natürlichen Begabung oder Talent auf die Welt, die aber bei der Geburt meist noch unentwickelt sei. Diese Gabe zeige sich im Kindesalter aber von selbst und wenn nicht, dann müsse man sie selbst entdecken. Bei einer solchen Begabung kann es sich um Heilung von Krankheiten, Telepathie, etc. handeln. Wenn zum Beispiel jemand die Gabe hat zu heilen, hat er diese auch für das Gegenteil, also um die Gesundheit eines Menschen zu manipulieren! Daher gehe es in erster Linie darum mit seiner wertvollen, natürlichen Gabe verantwortungsvoll umzugehen und erst ein diszipliniertes, spirituelles Leben zu führen. Man sagte, dass auch in mir ein Talent schlummere und dass ich es weiterentwickeln und fördern könnte, doch dazu leider noch viel zu jung und impulsiv sei. Es könnte daher vorkommen, dass ich mit einer voll entwickelten Gabe mehr Schaden anrichten könnte als Gutes zu tun. Sie wollten mir die Türe zu diesem Wissen nicht öffnen. Allerdings durfte ich einmal bei einer spirituellen Anweisung zur Selbstverteidigung mit dabei sein. Es waren viele junge Leute da, auch Mädchen, die von Mentoren andauernd auf ihre Fähigkeit zur Konzentration geprüft wurden. Die Schüler mussten sich mental ein Schutzschild um ihren Körper vorstellen, der vor Schlägen der Angreifer (Mentoren) schützen sollte. Ich beobachtete vor allem ein Mädchen aus der indischen Volksgruppe. Der Mentor versuchte auf sie einzuschlagen, doch meistens gelang es ihm nicht und er wurde von ihrem mentalen Schutz sogar zurück auf den Boden geworfen. Wenn sie aber nur für einen Augenblick die Konzentration verlor, prallte sein schonungsloser Schlag auf ihren Körper. Ich war erstaunt mit eigenen Augen zu sehen was mit mentaler Kraft alles möglich war und versuchte diese Fertigkeit später auch bei mir anzuwenden, besonders nachts auf der Strasse, wenn ich plötzlich einen Unbekannten hinter mir spürte.


Onke.  
Schon kurz nach meiner Ankunft in Jakarta machte mich die Sekretärin meines Vorgesetzten mit ihrer Schwester bekannt. Sie hiess Onke und nahm mich sofort total in Beschlag. Ständig brachte sie mir kleine Geschenke ins Büro, wollte mit mir an Partys erscheinen und erwähnte immer wieder eine mögliche Heirat. Um sie vor Illusionen zu schützen machte ich ihr klar, dass ich einen zeitlich limitierten Vertrag habe und nach dessen Ablauf wieder in die Schweiz zurückkehren werde. Zudem sagte ich ihr, dass das Leben in Europa nicht so komfortabel sei wie dies für Ausländer in Jakarta sei und dass ich mir wohl niemals Hausangestellte leisten könnte. Aus diesem Grund müsste eine zukünftige Frau wohl auch alle Haushaltarbeiten wie kochen, waschen, etc. beherrschen. Da sie Bekannte in Holland hatte und auch die Sprache verstand, empfahl ihr erst einmal während einem Jahr in Europa zu arbeiten. Und tatsächlich reiste sie nach Holland und blieb dort ein ganzes Jahr. Natürlich hatte ich gehofft, dass sie während dieser Zeit ihre Heiratspläne vergessen würde, doch ich hatte mich getäuscht. Nach ihrer Rückkehr wurde es noch schlimmer, denn sie rief mich jeden Tag etliche Male an. Da man damals noch kein mobiles Telefon hatte, wurde ich meistens wegen einem „dringenden Anruf“ vom Baugerüst heruntergeholt. Meistens wollte sie nur die Bestätigung, dass ich dann am kommenden Samstag auch sicher mit ihr an eine Party gehen werde. Als sich dies unzählige Male wiederholt hatte, verlor ich schliesslich die Geduld und sagte ihr, dass ich für kommenden Samstag schon mit einem anderen Mädchen verabredet sei. Eines Tages brachte sie mir einen riesigen Beutel mit Kartoffelchips ins Büro. Als ich den Beutel berührte, erfasste mich plötzlich ein äusserst komisches Gefühl, etwas das mir sagte, dass ich diese Chips niemals essen dürfe. Ich nahm sie mit auf den Bau und gab sie den Arbeitern. Ab diesem Moment liess sie mich in Ruhe, was ich wenigstens glaubte.

Genau ab diesem Moment fühlte ich mich jedes Wochenende miserabel. Schon beim Erwachen am Samstagmorgen fühlte ich mich schlecht, hatte keine Lust um aufzustehen. Das Essen liess ich nach ein paar Bissen meistens liegen. Nach einigen Wochen meinten meine Freunde, dass ich so weit entfernt von der Stadt an Einsamkeit leide. Deshalb wurde ich oft zum Mittagessen in die Stadt eingeladen, doch meistens musste ich absagen. Einmal aber fasste ich allen Mut und liess mich mit dem Fahrer zur Familie Autsch fahren. Der Hausherr, Donat, arbeitete bei Sandoz und hatte ein spezielles Hobby. Anstatt Antiquitäten kaufte er auf dem bekannten Vogelmarkt immer wieder besondere Arten Vögel, die er in einer sehr grossen Voliere mitten im Haus untergebracht hatte. Vor kurzem hatte er auf dem Markt ein Exemplar entdeckt welches in seiner Sammlung fehlte. Nachdem er den zusätzlichen Bewohner in die Voliere entliess entstand sofort ein Tumult; die „Ansässigen“ wollten den fremden Vogel nicht akzeptieren. Am nächsten Morgen lag er tot auf dem Boden der Voliere. Ich war erstaunt, dass Vögel genau so grausam sein können wie die Menschen. Etwas ernüchtert bewunderte ich das Treiben der farbigen Vogelschar trotzdem und genoss ihre Stimmen bis das Essen serviert wurde, doch sobald ich am Tisch sass wurde es mir wieder übel. Seine Frau Luzia gab mir ein „Optalidon“ und bat mich einen Moment hinzulegen. Doch nach einer Stunde fühlte ich mich immer noch äusserst unwohl und so ich liess mich von meinem Fahrer wieder nach Hause bringen. Interessanterweise war dieses Leiden jeweils am Montagmorgen wieder wie ein Spuk verschwunden und ich fühlte mich erneut super fit und ausgeruht.

Dieses unerklärliche Phänomen erzählte ich eines Tages beim Mittagessen in der Kantine einer Laborantin, der Lin Lin. Als erstes fragte sie mich ob ich vor dem Essen bete. Als ich noch bei meinen Eltern zu Hause lebte wurde nie gegessen ohne dass vorher meine Mutter ein Gebet gesprochen hatte. Seither ging dieses Ritual bei mir in Vergessenheit. Lin Lin, eine Chinesin und Christin, meinte man müsse sich in Indonesien immer mit Gebeten schützen, vor allem bei Mahlzeiten die man nicht selbst zubereitet hatte. Beim Essen nehme man Speisen zu sich, die vielleicht mit bösen Geistern belastet waren und einem Unheil bringen könnten. Sie riet mir einen Guru aufzusuchen den sie sehr gut kannte und der mir sicher helfen würde. Geplagt von den üblen Wochenenden, bat ich meinen Fahrer an die erhaltene Adresse zu fahren. Da wurde ich von einem älteren Herrn empfangen, der mich nach meinen Problemen fragte. Dann setzte er sich hinter mich und es kam mir vor als bete er ziemlich lange. Anschliessend meinte er ich könne jetzt gehen, es sei alles wieder in Ordnung. Doch ich wollte wissen wieso ich gelitten hatte und wer hinter der Belästigung gewesen sei. Er schaute mich etwas enttäuscht an und fragte: „Bist Du nicht zu mir gekommen um Heilung zu bekommen? Für Rache bist Du hier am falschen Ort. Du sollst niemals Böses mit Bösem vergelten!“ Sehr beschämt fragte ich ihn nur noch ob es eine Frau oder ein Mann gewesen sei. Das Einzige was er mir schliesslich verriet war, dass es eine Frau gewesen war. Von diesem Moment an war der Bann gebrochen und ich konnte das Wochenende wieder wie andere Leute voll geniessen. Die Onke habe ich nachher nie mehr gesehen, aber mit dieser Erfahrung wusste ich, dass Lin Lin wohl recht gehabt hatte.


Usup.
  Anfangs Februar 1974, kurz nach der Rückkehr von meinem Heimaturlaub, erfuhr ich, dass Usup seit einer gewissen Zeit krank sei. Usup war für die Bedienung und den Unterhalt des Stromgenerators meines Hauses verantwortlich. Schon die Art wie mir die Neuigkeit überbracht wurde lies nichts Gutes erahnen. Sofort ging ich zu seinem Haus um nach ihm zu sehen. Was mich da erwartete war erschreckend. Da lag der sonst immer fröhliche Usup abgemagert und total verwirrt auf dem Bett. Er hatte am ganzen Körper unzählige Abszesse (vulkanartige, eitrige Wunden), war inkontinent und konnte kaum sprechen. Da mich sein trauriger Anblick an das besessene Mädchen im Film „Der Exorzist“ erinnerte kam mir der Gedanke, dass auch er von einem Dämon besessen sein könnte. Vielleicht hatte er bei seiner nächtlichen Arbeit gewisse Geister oder sogar die weisse Frau im Garten gestört oder verärgert. Aus diesem Grund wollte ich unbedingt erst den Rat von meinem Guru, der mich ja von meinen miesen, bettlägerigen Wochenenden befreit hatte. Um Usup sicher zu transportieren und das innere meines Autos vor Überraschungen zu schützen, bedeckte ich mit Hilfe von Karmadi den hinteren Sitz meines Autos mit Plastikfolie. Die Fahrt überlebten wir problemlos, doch bei der Ankunft schien auch der Guru überrascht von Usup’s erschreckendem Zustand. Nach seiner „Fürbitte“, oder wie man seine Hilfe auch nennen mag, wurde Usup sichtlich ruhiger und so brachten wir ihn wieder nach Hause. Nach etwa zehn Tagen wollte ich sehen wie es ihm ging. Und tatsächlich waren all die Abszesse verschwunden und Usup hatte sich beruhigt. Dafür aber war nun sein Körper extrem aufgebläht, sodass ich keinen anderen Ausweg wusste als erneut den Guru um Rat zu bitten. Dieser stellte fest, dass ihn keine Geister mehr belästigten, er aber nun unbedingt medizinische Hilfe brauche um seinen geschädigten Organismus wiederaufzubauen. Er riet uns Usup in eine psychiatrische Klinik zu bringen, was wir auch sofort taten. Teilnahmslos schien Usup unseren Entschluss zu akzeptieren.

In der Klinik wurde er von den Ärzten freundlich in Empfang genommen und ich fühlte mich erleichtert ihn in guten Händen zu wissen. Nach etwa zehn Tagen besuchte ich Usup in der Klinik. Während man Usup aus seinem Zimmer holte, erzählte mir ein strahlender Arzt von unglaublichen Fortschritten und dass er noch nie eine so schnelle Genesung bei einem Patienten beobachtet habe. Als dann Usup in Begleitung einer Krankenschwester erschien, konnte ich kaum glauben was geschehen war. Wie ein Wunder schien er wieder so gesund wie vorher. Allerdings wollte man ihn noch ein paar Tage in der Klinik behalten um weitere psychiatrische Abklärungen zu machen. Man konnte sich in der Klinik diese schnelle Genesung einfach nicht erklären. Nachdem ich ihn dann definitiv nach Hause holen durfte, arbeitete er genau so fleissig weiter wie vorher. Einige Monate später verriet er mir, dass er bald heiraten werde. Auch für mich blieb die ganze Geschichte ein Geheimnis und musste einsehen, dass es in Indonesien Sachen gibt die man besser nicht hinterfragt, ausser man möchte seinen eigenen Verstand verlieren.


Meine Schwester.
  Etwas Ähnliches erlebte ich mit meiner Schwester bei ihrem zweiten Besuch in Indonesien. In der Schweiz hatte sie plötzlich motorische Störungen. Ihr Arzt diagnostizierte Multiple Sklerose (MS) und schickte sie in eine Klinik nach Arosa wo sie übermässig lange mit Cortison behandelt wurde. Während diesem Aufenthalt schrieb sie mir regelmässig Briefe. Einmal erwähnte sie, dass sie in einer Therapiestunde grünen Knetlehm für ihre Handarbeit verwendet hatte. Zwei Ärzte hatten sie dabei beobachtet und diskutierten anschliessend ihren „Fall“. Sie konnte hören, dass für die Ärzte die Wahl der grünen Farbe ein Hinweis für eine psychische Krankheit war. Ich hatte schon seit einiger Zeit festgestellt, dass ihre Schrift immer schlechter wurde und bekam deshalb den Eindruck, dass mit diesen Ärzten kaum eine Aussicht auf Gesundung bestand. Aus diesem Grund riet ich ihr die Klinik sofort zu verlassen und zu mir nach Jakarta zu kommen. Es ist mir heute noch ein Rätsel wie sie dies in ihrem äusserst schlechten körperlichen Zustand überhaupt schaffte und tatsächlich sofort nach Jakarta kam.

Bei der Ankunft konnte ich sie kaum mehr erkennen. Sie war abgemagert und sah aus wie eine Wasserleiche. Ihr Anblick erinnerte mich an Usup, wusste aber, dass bei ihr der Grund keine Dämonen sein konnten. Als ich sah, dass sie mehr als ein Dutzend verschiedener Medikamente einnehmen musste war mir klar, dass sie vor allem an all den vielen Nebenwirkungen litt. Ich bat sie vorläufig keine dieser Mittel mehr einzunehmen, sich vor allem auszuruhen und sich einfach natürlich zu ernähren, was unausweichlich unangenehme Reaktionen zur Folge hatte. Während drei Wochen weinte meine Schwester fast andauernd und wehrte sich gleichzeitig ärztliche Hilfe anzunehmen, was ich nach ihrem traumatischen Aufenthalt in Arosa auch verstehen konnte. Mit der zu langen Abreichung von hohen Dosen Cortison hatte sich ihr Hormonhaushalt total verändert, was zum Beispiel zu starkem Haarausfall geführt hatte. Als sich ihre Nerven langsam beruhigten, schlug ich ihr eine Behandlung mit Akupunktur vor. Da sie sofort damit einverstanden war, brachte ich sie zu einem Chinesen den ich bereits kannte. Ich war mir bewusst, dass sie immer noch sehr schwach und vor allem schreckhaft war. Als wir zusammen im Wartezimmer des Chinesen sassen, entdeckte sie plötzlich an der Decke eine kleine Echse, ein Gecko, so wie es sie eben überall in den Häusern gab. Ich versuchte ihr zu erklären, dass diese nützlichen Tiere Mücken, Fliegen, etc. frassen. Doch sie war total auf das Tier fixiert. Plötzlich bewegte sich die Echse und liess sich genau auf ihren Kopf fallen! So etwas hatte ich noch nie erlebt und musste darum ein spontanes Lachen loswerden. Doch bei meiner Schwester löste die Echse auf ihrem Kopf hysterische Schreie aus und ich hatte Mühe sie wieder zu beruhigen. Da Echsen mit starken Saugnäpfen an den Füssen ausgestattet sind passiert so etwas eigentlich nie und so amüsierten sich auch alle anderen Patienten im Wartsaal. Der Chinese hatte den Aufruhr gehört und holte meine Schwester in seinen Raum. Seine Behandlung tat ihr sichtlich gut und so war sie bereit nachher noch weitere Male bei ihm Nadeln stechen zu lassen. Ganz langsam erholte sie sich und bald konnte ich sie an Partys und andere Einladungen mitnehmen. Auch diese Kontakte schienen ihr gut zu tun. Nach drei Monaten hatte sie sich so gut erholt, dass sie wieder nach Hause reisen konnte. Wie sie in so kurzer Zeit und ohne Medikamente zu neuen Kräften kam war mir ein Rätsel. Entweder hatte ihr die absolute Ruhe in meinem Haus gutgetan oder dann waren es vielleicht meine Hausgeister die ihr gut gesinnt waren? Wie dem auch sei, sie schien wieder gesund und reisefähig. Trotzdem hatte ich kurz vorher noch zwei Freunde, beides Ärzte, zu mir nach Hause eingeladen. Ich hatte sie gebeten meine Schwester auf ihren Gesundheitszustand zu begutachten, dies natürlich ohne dass sie es selbst merkte. Dabei konnten Beide keine typischen Symptome für MS feststellen. Doch sie meinten, dass bei ihr eine unerklärliche, nervliche Störung bestehe und dass man dies in der Schweiz genauer abklären müsste. Deshalb begleitete ich meine Schwester bis nach Singapur und zeigte ihr bei dieser Gelegenheit die schöne Stadt.

Zu Hause konnte sie bald wieder normal arbeiten und lernte dabei einen Studenten aus Ägypten kennen. Als sie mir mitteilte, dass sie ihn heiraten werde, wurde ich so besorgt, dass ich erneut die Hilfe meines Gurus brauchte. Bis in alle Details erzählte ich ihm ihre Geschichte. Da schaute mich der Guru überrascht an und fragte wieso ich mich für das Leben meiner Schwester verantwortlich fühle und ob ich mit meinem eigenen Leben nicht schon genug hätte? Energisch erwiderte ich ihm, dass es sich um meine Schwester handle und dass ich sie einfach vor einem möglichen Desaster schützen möchte. Ich sagte ihm auch dass meine gut gemeinten Ratschläge von meiner Schwester nicht verstanden wurden und sie glaubte ich sei gegen ihre grosse Liebe. Dann fragte er mich ob sie mich je um Rat oder Hilfe gebeten hätte. Etwas betreten musste ich gestehen, dass dies nicht der Fall war. Er fuhr dann ruhig weiter und meinte, dass wenn jemand etwas unbedingt tun will, er dies auch tun werde. Trotz dem Wissen ihrer Krankheit werde sie heiraten und sogar ein Kind bekommen. Dann fügte er hinzu, dass sie für meine gut gemeinten Ratschläge erst wieder bereit sei, wenn sie diese auch wirklich brauche und wolle. Also bat er mich zu schweigen und abzuwarten.

Ich wartete sechs Jahre bis sie sich wieder meldete. Während dieser Zeit musste ich erfahren wie unendlich schwierig es ist nichts zu sagen. Erst jetzt wurde mir bewusst wie richtig das Sprichwort „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ eigentlich war. Dann zitierte er ein Indonesisches Sprichwort das sagt, dass man niemals zu einem Ertrinkenden im Meer schwimmen soll. Eine in Panik geratene Person klammere sich dann sofort an die helfende Person und lasse ihn damit nicht mehr schwimmen. Beide würden schliesslich zusammen ertrinken. Man müsse warten, bis das Meer die Person ans Meer bringe und man sie wieder sicher beleben könne. Dies war natürlich mehr symbolisch gemeint, aber im Grunde genommen hatte er Recht. Wie oft wollte ich schon jemandem helfen und wurde damit nur in fremde Probleme hineingezogen. Da ich mich bei diesen offenen Gesprächen mit dem Guru und seiner Frau sehr wohl fühlte, fragte ich ihn einmal wann ich wohl das Glück hätte zu heiraten. Spontan und sofort sagte er. „Nie“! Seine Frau war entrüstet und sagte warum er dies sage. Dann meinte er schlicht, dass ich auf dieser Welt andere Aufgaben hätte als eine Familie zu gründen. Als Beweis erwähnte er den Bruder seiner Frau, der auch ledig sei und trotzdem glücklich war. Dennoch wollte ich wissen warum dies so sei. Erneut sehr überlegt fragte er mich ob ich auf einer Blumenwiese schon einmal zwei ganz genau gleiche Pflanzen gesehen hätte. Dann fuhr er weiter und sagte, dass unsere Welt alles andere als normiert sei und ich diese Vielfalt nur sehen und vor allem akzeptieren müsse. Dieser Guru gab mir später noch öfters äusserst plausible und logische Ratschläge. Ich liebte die natürliche Art seiner Antworten und Ratschläge, die mich noch heute inspirieren. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass in unseren Kirchen so einleuchtende Vergleiche meistens fehlen und die Leute deshalb bedauerlicherweise Hilfe bei Psychiater und Psychologen suchen müssen.


Monique.
   Als ich eines Tages im Wartsaal meines Arztes sass, kam unerwartet eine ausgesprochen elegante und westlich gekleidete Indonesierin herein. Es hatte schon einige Patienten im Raum und so setzte sie sich genau mir gegenüber. Plötzlich schaute sie mich an und fragte ob ich Junggeselle sei. Da ich dies bejahte glaubte sie lautstark und vor allen Leuten zu wissen, dass ich meine intimen Bedürfnisse wohl gedankenlos genossen hätte und nun eine Behandlung des Arztes brauche. Mir schien als ob sich alle Patienten im Raum umdrehten um mich zu begaffen. Da ihre Vermutung nicht zutraf stellte ich ihr sofort die gleiche Frage und sagte: „Und Sie? Wohl auch eine routinemässige Untersuchung?“ Darauf antwortete sie nicht, gab mir aber ihre Visitenkarte und meinte sie würde mich gerne näher kennenlernen, was dann auch bald geschah. Interessanterweise trafen wir uns meistens in einem Haus, das sie scheinbar während der Abwesenheit des Besitzers hütete. Mehr erfuhr ich nie. Während diesen harmlosen Verabredungen erwähnte sie ein glückliches Leben vor ihrer Heirat und dass sie damals zusammen mit Maximilian Schell einen Film gedreht hatte. Beweise bekam ich nie. Sie gestand mir auch, dass sie Kinder hatte und ihr Gemahl ein bekanntes Restaurant in Jakarta führte. Oft bat sie mich um Begleitung an Partys, liess ihr Auto aber meistens bei mir zu Hause stehen und liess sich von mir chauffieren. Sie wollte inkognito an Einladungen teilnehmen, kannte aber interessanterweise alle Diplomaten sowie CEO’s von internationalen Firmen. Es kam aber auch vor, dass sie mit einem Auto chauffiert wurde, das ein Logo von einer Multinationalen Firma hatte. Über alles war sie bestens informiert, beherrschte verschiedene Sprachen, blieb aber total undurchschaubar. Manchmal fragte ich sie ob sie beim CIA oder dem Geheimdienst von Indonesien arbeite. Die Antwort war immer dieselbe: Wäre auch möglich! Es gelang mir nie herauszufinden was sie für eine Rolle spielte und so blieb sie für mich immer unberechenbar, geheimnisvoll und mysteriös. Ich fragte mich auch wieso sie mich kennen wollte und was sie mit mir im Sinne hatte? Genau dies spornte mich aber an mehr über sie zu erfahren!

Immer wieder überraschte sie mich mit unerwarteten, ja absurden Ideen. Einmal hinterliess sie bei meiner Köchin, der Ibu, eine Nachricht. Scheinbar lag sie im Krankenhaus, aber nicht in einem normalen Zimmer, sondern im privaten VIP Pavillon. Besorgt und ohne vorher zu duschen fuhr ich sofort ins Krankenhaus. Als ich die Türe des VIP Pavillon öffnete glaubte ich in ein Blumengeschäft zu treten. Überall hatte es Orchideen und mitten in diesem Blumenmeer sass Monique in einem Spitalbett. Das Ganze schien mir erst grotesk oder eine Sinnestäuschung, doch dann sah ich überall Diplomaten und CEO’s sitzen. Das Ganze war einfach irreal. Zu meiner Überraschung fragte mich Monique wieso ich ohne Blumen gekommen sei? Diese Frage beleidigte mich und so erwiderte ich etwas gereizt: „Wenn dir Blumen wichtiger sind als Freunde die sich ehrlich um dich kümmern, dann kann ich ja gleich wieder gehen und dir Blumen schicken lassen“. Bevor ich ihr den Rücken kehrte wollte ich aber wissen wieso sie mich ins Krankenhaus kommen lies. Darauf meinte sie lächelnd, dass eine Operation für den nächsten Tag geplant sei und da man nie wisse ob man einen chirurgischen Eingriff überlebe, wollte sie diesen Abend mit ihren Freunden zelebrieren, also auch mit mir. So langsam verstand auch ich, dass es sich hier um eine Party handelte, also mit Alkohol und so allem was dazu gehört. Plötzlich hatte sie Lust nach gebratenen Hühnerflügeln und so gab sie dem Fahrer des Englischen Botschafters den Auftrag diese Delikatesse auf dem Markt holen. So eine exzentrische Party war wohl nur in einem indonesischen Spital und mit den nötigen Beziehungen möglich, aber irgendwie reizte mich genau diese Verrücktheit.

Bei unseren Begegnungen wurde viel diskutiert und dabei hatte ich ihr erzählt, dass meine Schwester an MS erkrankt war und sie trotzdem einen Ägypter geheiratet hatte. Da sie sah, dass ich mir Sorgen um meine Schwester machte, flog sie kurz entschlossen nach Zürich und besuchte meine Schwester und ihren Mann in ihrer Wohnung. Nach ihrem Besuch schrieb sie im Hotel Hilton einen ausführlichen Bericht, für den sie sicher einige Stunden Schlaf geopfert hatte und den sie am nächsten Morgen per Express nach Jakarta sandte. Irgendwie hatte ich aber das Gefühl, dass der wahre Grund ihrer Reise in die Schweiz nicht meine Schwester war und sie noch andere Geschäfte zu erledigen hatte. Aber wie immer konnte ich die volle Wahrheit nie erfahren.

Ein anders Mal, als ich abends nach Hause, kam sass Monique in meinem Wohnraum. Sie sprach von einem Projekt, das wir zusammen ausführen müssten. Anfangs erzählte sie mit aber von ihrem jüngeren Bruder und seiner Freundin. Die Beiden hatten nicht aufgepasst und als die Freundin merkte, dass sie schwanger war baten sie Monique um Hilfe. Schliesslich war sie die älteste der Geschwister und musste ihnen nach indonesischer Kultur wie eine Mutter beistehen. Da die Abtreibung in Indonesien verboten war, baten sie Monique jemanden zu finden der bereit war dies trotzdem zu tun, denn in der aristokratischen Familie wäre ein aussereheliches Kind eine grosse Schande gewesen. Monique fand einen längst pensionierten Arzt der bereit war dies zu tun, allerdings mit der Bedingung, dass keine Zeugen mit dabei waren. Also gab es keine andere Lösung als dass Monique assistieren musste. Scheinbar war es eine schreckliche Prozedur gewesen und nur mit Hilfe eines Schöpflöffels gelungen. Damit war das Problem gelöst und die Ehre der Familie gerettet. Trotz dieser Erfahrung blieben die beiden Jungen zusammen und heirateten nach dem Ende des Studiums. Doch bald entdeckte man bei der jungen Frau einen kokosnussgrossen Tumor in der Gebärmutter. Also bat man erneut Monique um Rat. Diesmal gab es keinen anderen Weg als eine professionelle Behandlung im Krankenhaus. Leider musste dabei aber auch die Gebärmutter entfernt werden. Mit dieser Tatsache entstand eine neue Situation, denn nun wusste das junge Paar, dass sie nie Kinder haben würden. Und wieder bat man Monique um Hilfe, diesmal aber begleitet mit heftigen Vorwürfen. Man machte sie für die Kinderlosigkeit verantwortlich und forderte sie auf zur Wiedergutmachung ein Ersatz-Kind für sie zu „produzieren“.

Nach dieser Vorgeschichte zog sie eine Mappe heraus und zeigte mir einen Vertrag der meine Beteiligung juristisch regeln sollte. Darin war festgelegt, dass meine Mitarbeit bis zur Befruchtung freiwillig sei und ich anschliessend weder Verantwortung noch Rechte auf das Kind haben werde. Um den Einsatz geordnet auszuführen, würde ein Arbeitsplan erstellt, sie nennte dies einen „workshop“. Nach Vertragsende hätte ich weder das Recht das Kind zu sehen, noch Kontakt mit ihm aufzunehmen. Die Arbeit konnte erst nach der Unterzeichung des Vertrages aufgenommen werden. Als sie merkte, dass ich inzwischen total verwirrt, fassungslos und kreideweiss dasass, versuchte sie mich zu beruhigen. Sie meinte, dass ich als Christ verpflichtet sei ihr und dem jungen Paar aus der Not zu helfen. Um ganz sicher zu sein, hätte sie die Sache mit einem protestantischen Pfarrer besprochen und dieser hätte ihrem Vorhaben voll beigepflichtet. Schliesslich schien sie aber zu verstehen, dass ich unter Schock stand und Zeit brauchte um die Sache zu verarbeiten. Sie gab mir aber auch zu bedenken, dass das Projekt für sie viel anspruchsvoller sei als für mich. Einmal schwanger hätte sie nur die Wahl neun Monate im Ausland zu leben oder ihre körperliche Veränderung vor Nachbarn, Freunden, etc. irgendwie zu verstecken.

Nach einer Weile, als ich mich von dieser Nachricht etwas erholt hatte, schlug ich vor, dass mit den vielen Waisen im Lande eine Adoptierung doch eigentlich die vernünftigere Lösung wäre? Ich konnte auch nicht verstehen wieso genau ich helfen sollte und ein Kind mit zwei genetisch unterschiedlichen Elternteilen überhaupt sinnvoll sei. Doch sie winkte ab und meinte sie wünschten kein Adoptivkind und auch keines mit der Beihilfe eines Einheimischen. Das Projekt sei mit dem jungen Paar und der ganzen Familie diskutiert wurden und alle wären sich einig, dass es nur mein Beitrag sein dürfe. Damit hatte sie bei mir alle ethischen Grundsätze ins Wanken gebracht und ich brauchte mehr als eine Woche bis ich mich zu meiner „christlichen Pflicht“ äussern konnte. Es wurde für mich klar, dass diese Aufgage für mich unausweichlich zu einer Tortur oder sogar zu einem Trauma führen könnte. Ich konnte mir nicht vorstellen an etwas bewusst zu arbeiten und dann niemals das Recht zu haben das Geschaffene zu sehen, besonders im Falle ich später selbst nie Kinder haben würde. Nachdem ich alles reiflich überlegt hatte, teilte ich Monique mit, dass ich mental nicht bereit sei die Aufgabe zu übernehmen. Sie schien meine Absage zu verstehen und danach sprach man nie mehr darüber. Nachträglich fragte ich mich ob die ganze Geschichte nur ein Hirngespinst war oder ob sie mich einfach auf perfide Art testen wollte? Ich erfuhr auch nie ob sie die Bitte des jungen Ehepaares je erfüllte.

Ein anderes Mal zeigte sie mir eine Druckschrift in der detaillierte Informationen über sämtliches Personal aller Botschaften in Jakarta aufgelistet waren. Natürlich fragte ich sie sofort wie man zu solch sensiblen Daten kommt, doch anstatt zu antworten bat sie mich sofort um einen Dienst. In diesem Dokument hatte sie nämlich entdeckt, dass ein Sekretär der Mexikanischen Botschaft sein Anrecht für die Einfuhr eines zollfreien Autos nicht ausgenützt hatte. Sie wollte dieses Anrecht selbst nützen und daher den Mann kennen lernen. Da sie wusste, dass ich die Leute der Botschaft kannte, bat sie mich ein Treffen mit ihm zu organisieren, was ich auch tat. Nach ein paar Wochen übergab sie mir einen grosszügigen Betrag für meine Gefälligkeit, also musste ich annehmen, dass der Import eines Autos geklappt hatte. Als ich ihre Anerkennung ablehnen wollte meinte sie überzeugt, dass ich diese verdient hätte, aber mehr erfuhr ich nicht. Eine gewisse Zeit später teilte sie mir mit, dass sie sich mit einem Amerikaner vermählt habe und in die USA auswandere. Doch dann vernahm ich durch eine andere Quelle, dass sie wegen illegalem Autoimport hinter Gittern sass. Wie immer erfuhr ich die Wahrheit nie und habe anschliessend auch nie mehr etwas von ihr gehört. Sie war so rätselhaft verschwunden wie sie in mein Leben getreten war!

Der Abschied und die Heimreise
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17.14.  Indonesien (1.2.1971 –15.03.1977) – Der Abschied und die Heimreise.

Über multinationale Gesellschaften hört und liest man so viel Negatives, besonders wie schlecht ihre Arbeitnehmer behandelt werden. Wäre dies in unserer Fabrik der Fall gewesen, hätte ich es wohl kaum sechs Jahre in Jakarta ausgehalten. Der CEO sowie die anderen Verantwortlichen pflegten immer eine humane, respektvolle Beziehung mit den Angestellten und stellten auch sicher, dass alle gegen Krankheit und Unfall versichert waren. Zudem war die Firma eine der Ersten im Lande die eine obligatorische Alters- und Invaliden Versicherung für alle einführte, eine Versicherung die nun bereits vielen ehemaligen Arbeiter eine würdige Existenz garantiert. Um den Gemeinschaftssinn zu fördern wurde das Mittagessen täglich zusammen mit den Arbeitern in der hauseigenen Kantine eingenommen. Aus hygienischen Gründen wurden ihre Uniformen in der eigenen Waschküche gewaschen und für kleinere Bobos war immer eine Krankenschwester im Haus. Überdies stand der Belegschaft ein Arzt zur Verfügung, der auch regelmässig Impfaktionen durchführte. Man unterstütze die Angestellten in Bezug auf Freizeit und Sport und obwohl die Ökologie damals noch kein Thema war, tat man alles um die Umwelt zu schonen. Vielleicht war all dies ein Grund warum es fast keinen Wechsel in der Belegschaft gab.

Nach sechs Jahren war mein Vertrag abgelaufen und die Zeit gekommen um eine neue Aufgabe zu übernehmen. Es war ein schmerzhafter Abschied, denn ich hatte meine ganze Energie, ja sogar mein Leben für diese Firma eingesetzt. Die Fabrik war für mich wie ein Kind das ich während den sechs Jahren hegte und pflegte. Mit meiner „Engineering“ Equipe und den Indonesiern im Allgemeinen, hatte ich ein sehr gutes Verhältnis und sie waren mir ans Herz gewachsen. Das Projekt war äusserst interessant, gleichzeitig aber eine immense Herausforderung, denn ich hatte ja anfangs absolut keine Erfahrung mit einer solch komplexen Baustelle. Zudem hatte ich keine Ahnung von Psychologie und wie man mit Mitarbeitern umging. So bedeutete fast jeder Tag eine neue Herausforderung die immer gemeistert werden musste. Natürlich gab es auch Enttäuschungen und Unstimmigkeiten, aber gerade durch sie durfte ich sehr viel lernen und wachsen. Im Nachhinein bin ich mir aber nicht sicher ob ich den Mut hätte mich ein zweites Mal für ein so anspruchvolles Projekt zu bewerben. Zum Glück hatte ich immer gute und treue Freunde an meiner Seite, die mir bei Rückschlägen neuen Mut gaben und dies obwohl viele bei der Konkurrenz arbeiteten. Auch durch sie war es für mich wohl die schönste Zeit meines Lebens gewesen.

Am 22.01.1977 kehrte ich definitiv nach Hause zurück. Zuerst flog ich nach Bangkok und von dort zum 2 ½ Stunden entfernten Nationalpark Khao Yai, wo ich erst einmal Ruhe suchte. Nachher wollte ich den Bundesstaat Rajasthan in Indien kennen lernen. In Agra besuchte ich natürlich das berühmte Taj Mahal, ein wunderbares Grabmahl das einem unmöglich gleichgültig lässt. Aber auch das Rote Fort, das Itimad-ud-Daula-Mausoleum und Sikandra mit dem Grabmahl des Mogul-Kaisers Akbar waren eindrücklich. Was mich persönlich aber besonders faszinierte war Fatehpur Sikri. Hier befand sich Ende des 16. Jahrhunderts die ehemalige Hauptstadt des Mogulreiches. Es ist bis heute unklar wieso diese Stadt von der Bevölkerung verlassen wurde und noch heute unbeschädigt dasteht. Diese mysteriöse Vergangenheit macht den Ort sehr speziell, ja fast magisch. Ein älterer Mann, der mir wie ein Guru vorkam, zeigte mir die Stadt und sagte am Schluss der Führung folgendes: „Alle Religionen wurden von Menschen geschaffen und nach ihren Bedürfnissen gestaltet“. Dass solche Worte von einem Guru kamen verwunderte mich sehr, liessen aber meine Gedanken nie mehr los. Dann ging es weiter nach Jaipur, wo man unbedingt das aussergewöhnliche Bauwerk Hawa Mahal (Palast der Winde) aus rotem und rosa Standstein in der Altstadt sehen muss. Auf dem Rücken von Elefanten ging es dann hinauf zum Fort Amber, dem Fürstenpalast der ehemaligen Kachchwaha-Dynasitie. Während die Säulen aus massivem Marmor hergestellt waren, sind die Wände und Pfeiler des Palastes vollständig mit weißen Marmorplatten verkleidet. Besonders sehenswert war der Spiegelsaal, dessen Wände und Decke mit einer Vielzahl von kleinen Spiegeln dekoriert sind.

Dann flog ich nach Udaipur, der ehemaligen Hauptstadt des Reichs Mewar, die in erster Linie für ihre prunkvollen Residenzen und künstlich angelegten Seen bekannt ist. Kaum angekommen fuhr ich zum Jagat Mandir, oder auch „Lake Garden Palace“ genannt, der sich auf einer Insel im Pichhola See befindet. Die königliche Familie nutzte den Palast früher als Sommer-Residenz und für Festveranstaltungen. Später wurde auch aus diesem Palast ein Hotel, dar „Jagmandir Island Palace“. Es war ein äusserst eleganter und traumhaft schöner Ort den ich gerne mehr als nur eine Stunde genossen hätte. Aber im Hotel wartete das Mittagessen, das ich ganz alleine auf der Terrasse geniessen durfte. Ich hatte noch nie Indisch gegessen und war deshalb neugierig was man mir servieren würde. Als dann die Angestellten mit den vielen silbernen Schalen und Töpfchen erschienen fühlte ich mich wie ein Maharaja. Das Essen war ausgezeichnet, fein gewürzt und schön angerichtet. Zum Schluss gab es verschiedene Süssspeisen, wovon eine mit 100% reinen Silber Blättern überdeckt war. Da ich wahrscheinlich grosse Augen machte, beruhigte mich der Diener und sagte die äusserst feine Silberfolie sei essbar. Eine solch wertvolle Speise zu essen war für mich schliesslich der Höhepunkt der Reise.

Bei der Ankunft am Flugplatz hatte man mir mitgeteilt, dass alle Hotels ausgebucht waren, dass aber noch ein Zimmer im Jagdsitz der königlichen Familie von Mewar in Shikarbadi frei war. Erst war ich skeptisch, denn er befand sich 28 km vom Flugplatz entfernt. Aber da ich keine andere Wahl hatte, willigte ich ein. Und ich sollte es nicht bereuen, denn es war ein einmaliges Erlebnis. Wie viele Adlige in Indien hatten auch die Mewars finanzielle Probleme und begannen ihre Residenzen in Hotels umzubauen. Obwohl der Besitzer noch im ersten Stock wohnte, war auch der Jagdsitz im Begriff sich in ein Hotel zu verwandeln. Zu diesem Zeitpunkt waren erst 2 oder 3 Zimmer für Touristen bereit, wurde aber später das 4-Sterne Shikarabadi Hotel-Heritage. Es befand sich in einem riesigen Jagdgebiet das heute vielen Tierarten Rückzug bietet. Neben dem Jagdsitz gab es auch eine Pferdezucht wo man mir einen Ausritt anbot, oder genauer ausgedrückt dazu drängte. Da ich schon negative Erfahrungen mit Pferden gemacht hatte, begeisterte mich die Einladung überhaupt nicht. Also versprach man mir ein altes, zahmes Tier und jemand der mich auf dem Spaziergang begleiten würde. Doch sobald ich auf dem Pferd sass rannte das „zahme“ Tier wie wild durch die Dornenbüsche in der weiten Gegend davon. Ich wusste nicht was ich gemacht hatte um es so anzuspornen. Es hatte ja auch den Begleiter zurückgelassen und so bekam ich eine Heidenangst, dass es mich irgendwann mit Gewalt abschütteln würde. Doch ich hatte Glück, nach einer Weile trabte es wieder ruhig dahin und der Begleiter brachte es erneut unter seine Kontrolle. Mit Schrecken und ein paar Kratzern an Beinen und Armen kam ich erleichtert wieder ins Hotel zurück. Trotzdem machte ich dann vor dem Sonnenuntergang noch einen Bummel auf den nahegelegenen Hügel, von wo man eine wunderbare Aussicht auf das Jagat Mandir hatte. Am nächsten Tag ging ich per Taxi nach Eklingji, einem kleinem Ort der wegen der hinduistischen Tempelstadt mit angeblich 100 Tempeln bekannt ist. Der Name des Ortes weist auf das dem Gott Shiva geweihten Hauptheiligtum hin. Es war erneut ein überraschend schöner Ort, an dem man damals die Ruhe noch geniessen konnte. Am nächsten Tag endete meine Rajasthan Entdeckungsreise und ich kehrte etwas wehmütig in die Schweiz zurück. Es wurde mir bewusst, dass das Kapitel Indonesien nun definitiv beendet war.

 

Epilog.

Im Jahre 1996 fusionierten Ciba-Geigy und Sandoz, wodurch die NOVARTIS entstand. Da Sandoz bereits ihren eigenen Pharmabetrieb in Citeureup in der Nähe von Bogor hatte, hatte sich das Management von NOVARTIS entschieden die Pharma-Konfektionierung in Gandaria aufzugeben und die Präparate der Ciba-Geigy im Werk der Sandoz herzustellen. Im Jahre 2006 wurde die die ganze Anlage in Gandaria schliesslich an die Firma P.T. Huntsman Indonesia verkauft. Im Jahre 2014 entschloss sich Novartis die Effizienz ihrer Betriebe weltweit zu steigern und schaffte in Basel die Abteilung „Novartis Technical Operations (NTO)“. Man begann schrittweise die Herstellung von Arzneimitteln an externe Dienstleister zu übergeben und das Wort „Outsourcing“ wurde zum Leitmotiv. In der Folge wurde auch der Betrieb in Citeureup verkauft und die Produktion lokalen Unternehmen übergeben. Nach meinen sechs Jahren Aufopferung für die Firma enttäuschte mich diese Entwicklung ausserordentlich und ich fragte mich zudem was wohl aus den vielen, gut ausgebildeten und treuen Arbeitern geworden ist. Zudem konnte ich mir nur schwierig vorstellen, dass mit einer Politik die einzig auf Profit ausgerichtet ist, ein Betrieb noch auf loyale Arbeiter zählen konnte.

 

Brasilien
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18.  Brasilien



(1) Brasilien zur Kolonialzeit

Brasilien zur Kolonialzeit

 

 

 

Die ersten Wochen
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18.1.  Brasilien – Die ersten Wochen.

Nach fast zwei Monaten in der Schweiz, beschäftigt mit Besuchen bei Bekannten und Besprechungen im Ingenieurbüro der Ciba-Geigy in Basel, flog ich am 31. März 1977 nach Brasilen. In Rio machte ich einen Zwischenhalt um Othoniel zu besuchen, den Brasilianer den ich während meiner Weltreise im Jahre 1975 getroffen hatte. Dann ging es am 4. April weiter nach São Paulo, wo mich Fritz Brunner, mein zukünftiger Vorgesetzter auf dem Flugplatz bereits erwartete. Zuerst brachte er mich in ein Hotel im Zentrum und anschliessend in eine Churrascaria, ein traditionelles Restaurant in dem es vor allem am Spiess gegrilltes Fleisch gab. Die gewünschte Anzahl Fleischstücke wurden vom Servierpersonal direkt am Tisch für jeden Gast mit einem scharfen Messer von einem Spiess geschnitten. Jedes Mal, wenn ein Grillspiess von hinten links oder rechts über meiner Schulter auftauchte erschrak ich und machte mir Sorgen wegen dem möglicherweise heruntertropfenden Fett auf meine Kleidung. Herr Brunner animierte mich immer wieder eine weitere Ladung Fleisch zu essen. Plötzlich konnte ich nicht mehr und es wurde mir übel von dem vielen Fleisch. Traumatisiert von dieser ersten Erfahrung in einer Churrascaria, habe ich solche Restaurants später immer gemieden.

Herr Brunner hatte versucht für mich eine Unterkunft zu finden und diese auch gefunden. Es war ein kleines, voll eingerichtetes Einfamilienhaus, dessen Bewohner erst kürzlich gestorben waren. Bei dessen Besichtigung wurde mir aber sofort klar, dass ich mich in dieser uralten Einrichtung von 90-Jährigen nie wohl fühlen könnte und immer an die Verstorbenen denken müsste. Es tat mir leid für die Mühe von Herrn Brunner, aber das Haus hätte mich sicher auf die Länge deprimiert. Also ging ich selbst auf Wohnungssuche. Es wurde ja überall gebaut und wimmelte nur so von Angeboten, aber irgendwie fand ich nie das Passende. Zudem war ich oft entsetzt über die Art und Weise wie man mich behandelte. Bald musste ich einsehen und akzeptieren, dass ich nun nicht mehr in Indonesien war, sondern in einem Land wo derbe Umgangsformen auch mit Ausländern normal waren. Mit der Hilfe von Othoniel und anderen Bekannten suchte ich aber unbeirrt weiter. Zu meiner Überraschung rief mich eines Tages ein Herr Capaccione an. Es stellte sich heraus, dass er ein Mitarbeiter der Firma war und eine möblierte Wohnung zu vermieten hatte. Sein Anruf war ein Volltreffer und seine Wohnung ein wahres Bijou. Sie war nicht gross, aber äussert geschmackvoll eingerichtet. Am 2. Mai 1977 bezog ich die Wohnung im 9. Stock eines Mehrfamilienhauses an der Rua Dr. Mario S. Cardim, 575, direkt gegenüber dem „Parque do Ibirapuera“, einem grossen Stadtpark mit kulturellem Zentrum. Leider befand sich dazwischen die Avenida 23 de Mayo mit einem riesigen Gewimmel von Zufahrtstrassen mit Über- und Unterführungen von denen unaufhörlich Lärm in meine Wohnung drang. Aber eben, ich wohnte nicht mehr im ruhigen „Wisma Irawati“, sondern in einer Millionenstadt die nie ruhte und daran musste ich mich wohl oder übel gewöhnen. Leider kam dann oft noch die Luftverschmutzung dazu, die so stark war, dass ich glaubte es gebe irgendwo ein Gasleck in der Umgebung. Diese üblen, undefinierbaren Gerüche waren oft auch der Grund für Kopfweh und Unwohlsein.


(1) So wie ich mir Brasilien vorgestellt hatte .....

So wie ich mir Brasilien vorgestellt hatte .....



(2) .....und so wie es im Jahre 1977 aussah. Der Pfeil zeigt meine Wohnung an der Rua Dr. Mario S. Cardim, 575, Ed. Teresa Cristina, Apto 93.

.....und so wie es im Jahre 1977 aussah. Der Pfeil zeigt meine Wohnung an der Rua Dr. Mario S. Cardim, 575, Ed. Teresa Cristina, Apto 93.


In den ersten Wochen meines Aufenthaltes erhielt ich ein Aufgebot der Gesundheitsbehörde. Vor der Ausstellung der definitiven Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung wollte man wissen ob ich die lokalen, gesundheitlichen Anforderungen tatsächlich erfüllte. Die mitgebrachten medizinischen Unterlagen aus der Schweiz schienen in Brasilien keine Gültigkeit zu haben. Nach der medizinischen Untersuchung bestand man noch unerwartet auf eine grosse Anzahl vorgeschriebener Impfungen. Da ich diese vor der Abreise in der Schweiz bereits gemacht hatte, wehrte ich mich mit meinem sehr limitieren Wortschatz äusserst energisch. Ich wollte keine Doppel-Impfung und konnte dies mit wild gestikulierender Abwehr überraschenderweise auch vermeiden. Resigniert und ratlos stand der Arzt danach im grossen Impfraum. Dieser erinnerte mich an eine Autowaschanlage, denn er war gekachelt bis an die Decke. Anstatt Wasserventile hatte es aber mehrere Impfstationen die an den Wänden verteilt angebracht waren. Um das vorgegebene Formular trotz meinem Protest korrekt auszufüllen ging er plötzlich zu jeder Impfstationen, öffnete das Ventil und spritzte je eine Dosis Impfstoff in die Luft. Jedes Ventil hatte scheinbar einen Zähler und so stimmte der Verbrauch von Impfstoff wenigstens mit den Angaben auf dem Formular überein. Damit war die Untersuchung beendet und ich war stolz mich ganz alleine, sowie ohne Dolmetscher verständigt und durchgesetzt zu haben. Und zudem schienen auch die Resultate überzeugend, denn bald danach erhielt ich die definitive Aufenthaltsbewilligung.

CIBA-GEIGY QUIMICA. S.A. São Paulo
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18.2.  Brasilien – CIBA-GEIGY QUIMICA. S.A. São Paulo.

Der Grund meines Wechsels von Indonesien nach Brasilien war ursprünglich ein Chemie-Projekt gewesen, geplant in Camaçari, einer Grossstadt im brasilianischen Bundesstaat Bahia. Daher hatte man für mich ein „visa permanente“ beantragt, also ein Visum für eine dauernde Niederlassung. Ich stellte mir deshalb vor für den Rest meines Lebens in Brasilien zu bleiben. Doch das Projekt in Camaçari hatte sich scheinbar plötzlich verzögert und so hatten sich meine Chefs in Basel entschieden, mich für eine Aufgabe in São Paulo einzusetzen. Dort war nämlich ein neuer Pharmabetrieb im Bau. Die bestehende Anlage war veraltet und musste unbedingt vergrössert werden. Da auch andere Divisionen der Ciba-Geigy Erweiterungspläne hatten, erwarb die Firma ein riesiges Stück Land von 472'000 m² bei der Stadt Taboão da Serra, etwa 18 km südwestlich von São Paulo entfernt. Eigentlich war es ein Hügel den man terrassenförmig abgetragen hatte um die nötigen Bauflächen zu schaffen. Auf einer dieser riesigen Plattformen stand bei meiner Ankunft bereits der Rohbau für den Pharmabetrieb. Es war für mein Verständnis ein äusserst gigantischer Bau. Ich bekam den Auftrag den Umzug sämtlicher Produktionsmaschinen in diesen neuen Betrieb zu planen und dann die Installation sowie die nötigen Anschlüsse wie Wasser, Druckluft, Elektrizität usw. zu überwachen. Zusätzlich zu den vorhandenen Maschinen waren einige grosse, neue Maschinen im Ausland bestellt worden. Einige Maschinen waren so gross, dass man sie mit einem Kran durch temporäre Öffnungen in den Aussenwänden zu ihren zukünftigen Standorten bringen musste. Ich war vor allem mit der Anfertigung von Installations- und Detailplänen beschäftigt. Es war eine interessante Arbeit, aber irgendwie nicht so fesselnd wie die Vorhergehende in Indonesien. Meine Verantwortung bezog sich ja nur auf den Umzug der Maschinen und so wurde ich nur bedingt in das Gesamtprojekt einbezogen. Der Vorteil war eine geregelte Arbeitszeit und freie Wochenende, was in Indonesien kaum möglich gewesen war.


(1) Die riesigen Maschinenteile konnten nur durch die Aussenwand an den vorgesehenen Platz gebracht werden.

Die riesigen Maschinenteile konnten nur durch die Aussenwand an den vorgesehenen Platz gebracht werden.


Die Büros der Ingenieur Abteilung waren in einem zweistöckigen Privathaus untergebracht und etwa 20 Minuten zu Fuss von Hauptsitz entfernt. In dieser Abteilung arbeiteten mehr als ein Dutzend Brasilianer verschiedener Abstammung. Sie wurde von 2 Schweizern geführt, die schon in jungen Jahren nach Brasilien ausgewandert waren und sich hier seither eine Karriere bis zum „Engenheiro“ aufgebaut hatten. Schon bei der Ankunft fühlte ich mich kaum willkommen und bemerkte in den Gesichtern meiner Vorgesetzten ein undefinierbares Unbehagen. Da ich durch das Stammhaus der Ciba-Geigy in Basel nach Brasilien versetzt worden war, hatte ich erst den Eindruck, dass dieser Umstand sie vielleicht irritierte oder sogar unsicher machte. Doch ich hatte mich völlig geirrt. Schon nach kurzer Zeit musste ich erfahren, dass die zugesicherte Stelle im Chemie-Projekt in Camaçari, welche der Grund für meinen Transfer nach Brasilien war, inzwischen mit einer anderen Person besetzt worden war. Da ich für das Chemie-Projekt in Camaçari nun nicht mehr in Frage kam, hatte man scheinbar eine Alternative gesucht und fand sie in der Ingenieur Abteilung in Ciba-Geigy Quimica. S.A. in São Paulo. Also musste ich annehmen, dass ich als „Notlösung“ meinen Vorgesetzten aufgedrängt worden war. Dies wurde mir allerdings nie schriftlich mitgeteilt oder offiziell bestätigt, aber irgendwie spürte ich dies jeden Tag. Zudem wurde mir eines Tages erklärt, dass ich in São Paulo nun als lokaler Mitarbeiter angestellt sei und den Status eines internationalen Mitarbeiters verloren hätte. Diese Hiobsbotschaft erfuhr ich aber erst als ich mich im Personalbüro meldete und man mir noch beiläufig sagte, dass ich nun auch meine Wohnung, das Auto und vieles anderes ohne Hilfe der Firma selbst organisieren und berappen müsse. Zudem hätte ich kein Anrecht mehr auf einen Heimaturlaub und bei einem Todesfall in der Familie würde die Reise in die Schweiz nicht mehr vergütet. Als ich dann später noch vernahm, dass mir auch der Verbleib in der Kollektiv Kranken- und Unfallversicherung der Firma in Basel verweigert wurde, geriet ich in Panik. Eine solche Situation konnte ich nicht akzeptieren und so beschwerte mich mit deutlichen Worten bei den Verantwortlichen in Basel. Etwas konsterniert wurde mir dann „ausnahmsweise“ erlaubt wie bis anhin bei der Kollektiv-Krankenkasse versichert zu bleiben. Was mich später aber noch mehr aufschreckte war eine Bemerkung während einem Gespräch bei dem ich erfuhr, dass bei einer definitiven Rückkehr in die Schweiz die Kosten für den Umzug des Hausrates und der Reise von der Firma nicht übernommen würden. Erst jetzt wurde mir klar, dass man mich wohl für ein Projekt nach Brasilien geholt hatte, dann aber nicht mehr brauchte und mich deshalb auf diese niederträchtige Weise los werden wollte. Diese Tatsache entsetzte mich so grauenhaft, dass ich am Liebsten sofort die Koffer gepackt hätte und in die Schweiz zurückgekehrt wäre. Aber in diesem Moment war ich zu verwirrt und aufgewühlt um dies zu tun. Ich brauchte danach reichlich Zeit um meine Enttäuschung über die Ciba-Geigy zu verarbeiten. Natürlich dämpfte dieser Sachverhalt meine Motivation und ich war nicht mehr bereit so wie in Indonesien für die Firma mein Bestes zu geben. Aber ich liess mir nichts anmerken und machte die mir anvertraute Arbeit so gut ich es konnte. Dabei fragte ich mich aber ständig wieso mich die Firma nach der einjährigen Ausbildung in Basel/Kairo und den sechs Jahren Erfahrung in Indonesien nun plötzlich in Brasilien deponieren wollte? Wieso tat man mir so etwas an? In dieser misslichen Situation begann meine Gesundheit sichtlich an zu leiden. Ich fühlte mich häufig extrem müde, war oft erkältet oder krank, sodass ich manchmal gar nicht zur Arbeit erscheinen konnte. Zudem hatte ich zunehmend Probleme mit den Augen, sodass ich schliesslich eine Brille brauchte.

Leider war auch das Verhältnis mit meinen Chefs nicht inspirierend, denn sie waren für meinen Begriff in vielen Belangen sehr rückständig geblieben. So bestand zum Beispiel ein ungeschriebenes, absolut lächerliches Prinzip: man kaufte nie ein teureres Auto als das seines Vorgesetzten, etwas das ich mir aus finanziellen Gründen sowieso nicht leisten konnte. Dann war mir ihr Umgang mit den Einheimischen oft schwer verständlich, denn vieles erinnerte mich an die Kolonialzeit. Ich selbst arbeitete zu viert in einem lieblos eingerichteten Büro wo man hinter militär-grauen Metall-Schreibpulten sass. Das Ganze empfand ich so hässlich, dass ich eines Tages nicht anders konnte als die ganze Einrichtung umzustellen. Meine Absicht war für mich und meine Kollegen je einen Arbeitsbereich zu schaffen in dem man sich wohl fühlte und wo man sich nicht mehr so „ausgestellt“ wie in einer Schulklasse vorkam. Natürlich hatte ich die Umgestaltung vorher mit meinen Büro-Kollegen besprochen und ihre Ideen miteinbezogen. Aber genau so wie bei meinem Vater, kamen diese Veränderungen bei meinen Vorgesetzten nicht gut an. Zudem war es auch nicht üblich die Meinung von Brasilianern einzuholen. Glücklicherweise wurde die Umstellung des Büros dann von allen als sehr ansprechend und überzeugend beurteilt und so machten meine Vorgesetzten schliesslich gute Mine zur gewagten Änderung. Eines Tages entschied ich spontan unseren Zeichner Jorge, ein junger Japaner der in Brasilien aufgewachsen war, mit auf die Baustelle zu nehmen. Da er noch nie dort gewesen war fand ich es wichtig, dass er sich von der Anlage und den nötigen Installationen ein Bild machen konnte. Gleichzeitig wollte ich ihn motivieren sich mit dem Projekt zu identifizieren. Aber scheinbar verstiess ich damit erneut gegen ungeschriebene Regeln, denn dies kam bei meinem Vorgesetzten überhaupt nicht gut an. Ich glaube ich war ihnen zu selbstsicher und zeitgemäss. Doch ich liess ich mich nicht beirren und schickte Jorge später sogar alleine auf den Bau um Arbeiten zu überwachen die er selbst vorbereitet und gezeichnet hatte.


(2) Platform "0" mit dem Pharmabetrieb und Lager

Platform "0" mit dem Pharmabetrieb und Lager


Das zweistöckige Privathaus mit unseren Büros befand sich genau zwischen zwei stark befahrenen, je zweibahnigen Strassen, der Av. Adolfo Pinheiro und der Av. Santo Amaro. Beide konnte man schon damals nur mit Mühe zu Fuss überqueren. Gleichzeitig war der Lärm dieser beiden Strassen so ohrenbetäubend, dass man die Fenster den ganzen Tag geschlossen hielt um ohne zu schreien miteinander sprechen zu können. Dazu kam die Luftverschmutzung durch den starken Verkehr. Damals hatten die Fahrzeuge noch keine Katalysatoren und so kamen vor allem aus den Auspuffrohren der Lastwagen und Autobussen meistens dicke, schwarze Rauchwolken. Mit diesen vor der Windschutzscheibe verlor man leicht die Sicht auf die Strasse und riskierte dabei nicht nur einen Unfall, sondern auch eine Kohlenmonoxidvergiftung. Über diese gesundheitsschädigenden Zustände schien ich mich bei meinen Kollegen oft beschwert zu haben. So zog mich eines Tages ein Kollege beim traditionellen „cafezinho“ diskret in eine Ecke und meinte mit gedämpfter Stimme, dass ich vollkommen recht hätte mit meinen Bemerkungen wegen Lärm und Umweltverschmutzung. Mein berechtigtes Gejammer nützte aber niemandem und werde von meiner Umgebung zunehmend als lästig empfunden. Andererseits müsste ich mir bewusst sein, dass alle 12 Millionen Einwohner der Stadt davon betroffen seien und ausser mir niemand eine andere Wahl hätte als sich irgendwie damit abzufinden. Als Ausländer hätte ich nämlich das riesige Glück diese Situation nicht dulden zu müssen, denn ich könne Brasilien jederzeit zu verlassen, ein Privileg das die Einwohner von São Paulo leider nicht hätten. Seine Worte machten mich perplex und ich fühlte mich plötzlich äusserst beschämt. Ich musste einsehen, dass meine Nörgelei eine Dummheit gewesen war. Er hatte recht, denn wenn mir die Zustände in Brasilien nicht passten, dann war ich ja wirklich nicht gezwungen zu leiden und konnte wann immer ich wollte in die Schweiz zurück zu kehren. Danach hielt ich mich mit Beschwerden bewusst zurück. Gleichzeitig stellte ich mir die Frage wie ich wohl in der Schweiz mit einer solchen Situation umgegangen wäre. Und tatsächlich kam ich nach vielen Jahren genau in so eine Lage. Seit Monaten versuchte ich einer Flüchtlinsfamilie bei der Integration beizustehen und hörte dabei immer nur Kritik und Klagen. Nichts gefiel ihnen und nichts war gut genug. Da erinnerte ich mich an die Bemerkung meines Bürokollegen in Brasilien und sagte ihnen sie seien nicht gezwungen in einem Land zu leben indem sie sich nicht wohl fühlten und seinen frei die Schweiz zu verlassen. Doch meine gut gemeinten Worte kamen äusserst schlecht an und ich wurde sofort mit Rassist beschimpft. Zudem konnte ich sie auch nicht zum Nachdenken veranlassen, so wie dies bei mir gelungen war.

Mit meinen brasilianischen Arbeitskollegen hatte ich von Anfang an immer ein sehr gutes Verhältnis. Es waren fast alles Brasilianer deren Eltern oder Grosseltern einmal eingewandert waren, zum Beispiel aus Deutschland, Italien, Portugal, Japan, etc., also mit Immigrationshintergrund. Bald musste ich aber feststellen, dass Brasilien wohl ein „melting pot“, ein multikultureller Schmelztopf war, gleichzeitig aber trotzdem so etwas wie Gettos oder sogar Apartheid bestanden. In São Paulo gab es Quartiere wo fast ausschliesslich Japaner und andere Asiaten wohnten, dann solche wo sich eher Italiener, Portugiesen oder deutschsprachige Brasilianer niedergelassen hatten. Die Meisten ehemals Deutschen wohnten aber im Süden von Brasilien, wo die Dörfer und Städte architektonisch genau so aussahen wie die in Deutschland und wo man sich auf Deutsch überall noch sehr gut verständigen konnte. Interessanterweise brauchten meine deutschstämmigen Arbeits-Kollegen immer etwas abschätzig das Wort „Brasilianer“, wenn sie vom Volk sprachen und dies obwohl sie ja selbst Brasilianer waren. Sie zogen es auch meistens vor mit mir Deutsch zu sprechen. Vielleicht hatten sie genau mit diesem Vorteil eine grössere Chance eine Arbeitstelle bei einer Internationalen Firma zu bekommen. Allerdings schienen sie sich immer ein bisschen von anderen Brasilianern abzugrenzen. Neben den Europäisch-stämmigen Kollegen hatte es natürlich auch solche aus Südamerika, zum Beispiel die Argentinier die punkto Überheblichkeit alle übertrafen. Damals war für sie Argentinien das beste und fortschrittlichste Land der Welt. Allerdings fand ich es seltsam, dass genau diese Wichtigtuer nicht in Argentinien, sondern in Brasilien arbeiteten. Und dann waren noch die vielen Dunkelhäutigen und Afro-Brasilianer, die offenbar in der brasilianischen Gesellschaft eine untergeordnete Rolle spielten und vor allem als Hilfskräfte oder Hauspersonal arbeiteten. Es war mir nämlich aufgefallen, dass es in unserer Firma, ausser im Warenlager, gar keine Schwarzen in führenden Stellungen gab. Als ich einmal im Lager mit einem Arbeiter darüber sprach, sagte er mir etwas traurig, dass dies eben das Schicksal der Schwarzen und Armen sei. Er wünschte sich so sehr, dass seine Kinder es einmal besser haben würden, doch mit dem staatlichen Bildungssystem sei dies eine Illusion. Es herrsche dort keine Disziplin, die Lehrer würden sehr oft nicht in der Schule erscheinen und damit die Kinder das nötige Wissen nie bekommen um im Berufsleben mithalten zu können. Nur in Privatschulen sei die Ausbildung der Kinder befriedigend, doch dies könnte er sich mit seinem Salär leider nicht leisten. Und so würden sich später wohl auch seine Kinder mit unqualifizierten Arbeiten zurechtfinden müssen. Natürlich war für mich seine Ansicht etwas zu negativ und mit einem „Sklaven-Komplex“ behaftet, aber es war halt schon Tatsache, dass nicht alle Kinder das Glück hatten eine gute und befriedigende Ausbildung zu erhalten. Sogar Othoniel, der ein Mulatte, oder Mischling war, schien einen latenten Minderwertigkeitskomplex zu haben. Er zeigte nämlich oft Hemmungen in gewisse Geschäfte oder Restaurants zu gehen und dies obwohl er Akademiker war und bei der PETROBRAS, dem halbstaatlichen Mineralölunternehmen, eine anspruchsvolle Funktion ausübte.

All dies beschäftigte mich natürlich sehr, aber da ich nichts ändern konnte versuchte ich einfach mit allen wenigstens gut auszukommen. Aus diesem Grund lud ich einmal einige Bürokollegen und Kolleginnen mit denen ich mich gut verstand, zu mir nach Hause ein. Sie hatten schon seit einer Weile ein Schweizer Fondue erwähnt. Also suchte ich in der Stadt den entsprechenden Käse, einen trockenen Weisswein, den Kirsch und alles andere was man dazu braucht. Ich gab mir sehr Mühe, doch als ich das Fondue auf den Tisch stellte machten alle grosse Augen und schienen äusserst überrascht, ja sogar enttäuscht. Sofort fragten sie mich wo das Fleisch sei? Erst jetzt wurde mir klar, dass meine Kollegen ein Fondue Bourguignonne, also ein Fleisch-Fondue erwartet hatten. Da die Brasilianer vor allem Fleisch essen, hätte ich dies eigentlich wissen sollen oder wenigstens vorher nachfragen müssen. Aber da ich an diesem Abend nichts anderes im Hause hatte, gab es halt eine, für sie „brasilianische Käsesuppe“. Die Meisten hatten noch nie ein Käse-Fondue gegessen und rümpften daher erst die Nase, aber schliesslich schien ihnen mein „flüssiger Käse“ doch zu schmecken.

Während diesen persönlichen Kontakten entstanden interessante Gespräche, was mir erlaubte die brasilianische Denkweise allmählich besser zu verstehen. So erfuhr ich wieso die Brasilianer nicht den gleichen Respekt gegenüber der Natur aufbrachten wie wir Europäer. Ich hatte nämlich beobachtet, dass man jeden freien Quadratmeter Boden zu betonierte, anstatt darauf etwas zu pflanzen so wie dies in Indonesien der Fall war. Traude, eine deutschstämmige Sekretärin, versuchte mir den Ursprung dieser Denkweise zu vermitteln und lieh mir ein Buch in dem die Auswanderung eines österreichischen Kaufmanns vor dem ersten Weltkrieg geschildert wird. Damals versuchte die Brasilianische Regierung Europäer nach Südamerika zu locken und bot Grundstücke zu Schleuderpreisen an. Aus diesem Grund entschied sich ein reicher Kaufmann aus Wien nach Brasilien auszuwandern. Durch eine Agentur erwarb er ein grosses Stück Land, wobei ihm aber der genaue Ort seiner neuen Liegenschaft verschwiegen wurde. Und so reiste der Kaufmann mit seiner kinderreichen Familie per Schiff nach Brasilien. Bei der Ankunft in Rio de Janeiro kam die erste Enttäuschung denn erst hier wurde ihnen gesagt, dass sich ihr Grundstück im Süden des Landes befand. Also wurde das ganze Hab und Gut nach Florianópolis weiter verfrachtet. Aber hier mussten sie feststellten, dass sie immer noch nicht an ihrem Ziel angekommen waren. Einige Tage später wurden sie tief ins Landesinnere gebracht wo ihr ganzes Umzugsgut mitten im Urwald abgeladen wurde. Es stellte sich heraus, dass sein erworbenes Grundstück einfach ein Stück Urwald war. Als Kaufmann war er mit dieser Situation natürlich total überfordert und so musste er erst Leute suchen, die für ihn Bäume fällten und das Stück Land einigermassen bewohnbar machten. Zu dieser Zeit waren schon viele Italiener im Lande. Diese waren sofort bereit diese harte Arbeit für ihn zu übernehmen, allerdings zu Wucherpreisen. Ohne die portugiesische Sprache zu verstehen und ohne mit den lokalen Verhältnissen vertraut zu sein, war er den Italienern hoffnungslos ausgeliefert. In dieser äusserst unglücklichen Situation schmolz sein Vermögen bald schnell dahin und es blieb der Familie nichts anderes übrig als Selbstversorger zu werden. Dabei hatten die Kinder keine andere Wahl als mitzuarbeiten und auf die Schule zu verzichten. Demzufolge entstanden damals bis zu drei Generationen ohne jegliche Schulbildung. Als die Söhne grösser wurden versuchten sie als Taglöhner, Handlager oder Strassenarbeiter etwas Geld zu verdienen um die Familie vor dem finanziellen Zusammenbruch zu schützen. Konfrontiert mit dem Wald und all dem was darin lebte, überwog instinktiv der Überlebenskampf. Für viele naive oder geprellte Einwanderer wurde die Natur deshalb zum Widersacher und schliesslich zu einer Erfahrung bei welcher der Respekt gegenüber der Natur und das Unverständnis für ihren Schutz sehr gelitten hatten. Glücklicherweise hat sich dies in den letzten Jahren wieder verbessert. Ein weiterer Grund schien mir aber auch die Religion zu sein. Während in Indonesien jede Pflanze als ein göttliches Wesen gewürdigt wird und deshalb Respekt verlangt, fehlt dies in den christlichen Religionen völlig. Im Gegenteil, in der Bibel steht ja geschrieben „Macht euch die Erde untertan!“ (1. Mose 1,28), ein Bibelvers der bis heute leider missverstanden und falsch interpretiert wird. Und dann folgt noch der Satz: "Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen."  Mit solchen Bibelversen muss man sich nicht wundern, warum sich die Welt so erschreckend schnell verändert und der Bestand der wilden Tiere in den letzten Jahren so dramatisch gesunken ist. Jedenfalls hatte mich das Buch über die Erfahrung der österreichischen Familie sehr aufgewühlt und mir bewiesen, dass viele Denkweisen einen dramatischen Ursprung haben können.

Das Mittagessen nahm ich meistens zusammen mit meinen Kollegen in der Kantine des Hauptgebäudes der Firma ein. Es war immer sehr einfach aber genug um meinen Hunger zu stillen. Einmal pro Woche gab es das Nationalgericht „Feijoda“, ein Eintopf aus Bohnen, Schweine- oder Rindfleisch und zahlreichen weiteren Zutaten. Das Gericht stammt ursprünglich aus der Zeit der Sklaverei. Abfällen wie Ohren, Füssen, Schwänze aus der Küche der reichen Gutsbesitzer wurden von den Feldarbeitern mit schwarzen Bohnen als Eintopf gekocht. In unserer Kantine wurden solche Teile auch mitgekocht, aber nur in kleinen Mengen, wobei aber normales Schweine- oder Rindfleisch immer überwogen. Trotzdem wurde dieses Gericht für mich nie eine bevorzugte Mahlzeit. Nur einmal, als ich von wohlhabenden Brasilianern eingeladen wurde, war dieser Eintopf ein wahrer Genuss. Allerdings hatten sie nur ausgewähltes, feinstes Fleisch dazu verwendet.

Auf dem Weg zur Kantine kam ich immer an einer Sprachschule vorbei. Mit dem Wunsch mich mit den Kollegen einigermassen verständlich zu unterhalten, begann ich dort bald mit einem Intensivkurs. Das half mir vor allem die Grundbegriffe der Grammatik zu verstehen. Die Anwendung im Alltag lernte ich dann aber hauptsächlich durch das Fernsehen. Es gab ja damals jeden Tag auf allen Kanälen „Novelas“, was so etwas wie Fernseh-Seifenopern waren. Die „Novelas“ konnten Monate, ja sogar Jahre dauern. Meine Favoritin war „O astro“, die jeden Tag um 20h00 Uhr ausgestrahlt wurde. Ich wurde richtig süchtig danach und lernte dabei vor allem gängige Redewendungen die typisch für Brasilien waren. „Novelas“ konnte man den ganzen Tag ansehen, wobei die Qualität nach 20h00 Uhr bedeutend anstieg und um 22h00 Uhr sogar intellektuell wurde. Eine dieser anspruchsvolleren „Novelas“ hiess „Sinal de alerta“, bei der hauptsächlich die Gefahr der Umweltverschmutzung durch die Industrie thematisiert wurde, also eher politische Botschaften vermittelte. Und um bei dieser Sucht meine körperliche Ertüchtigung nicht zu verpassen, besuchte ich nach der Arbeit ein bis zwei Mal pro Woche das Fitness Studio „Silhouette“ im obersten Stock eines Hochhauses im Stadtzentrum. Spaziergänge in der frischen Luft waren halt leider eine Illusion. Natürlich hätte ich frische Luft kilometerweit ausserhalb der Stadt gefunden, dafür hätte ich aber im täglichen Stau mehr als eine Stunde gebraucht und während dieser Zeit eine grosse Dosis Kohlenmonoxid eingeatmet.

Bereits am 4. Juni 1977 fand das Aufrichtfest statt, oder auf portugiesisch: „Festa da Cumeeira da nova Fabrica Farma”. Neben den Ansprachen des Präsidenten und des leitenden Direktors der Firma, wurde ein Baum gesetzt, ein Jequitibá der scheinbar über 3'000 Jahre alt werden kann. Dann wurde zu einem Churrasco eingeladen und um 14h30 brachten uns Busse wieder zurück in die Stadt. Es war weder ein überwältigender noch gemütlicher Anlass und mehr eine Pflichtübung gewesen. Kurz danach kaufte ich mir einen creme-farbigen Opel Kadett. Ohne Auto war das Pendeln zwischen meiner Wohnung und dem Büro sowie der Baustelle sehr mühsam geworden. Allerdings meinte einer der Vorgesetzten, dass für die Fahrten zur Baustelle ausschliesslich der VW-Bus der Firma zu benützen sei. Dieser fuhr aber nur zu fixen Zeiten und für mich deshalb nur bedingt geeignet. Oft hatte ich Besprechungen auf dem Bau die nicht mit diesen Abfahrtszeiten übereinstimmten und so benutzte ich halt trotzdem manchmal mein Auto. Auch wenn Vertreter von Firmen der bestellten Maschinen aus Deutschland uns besuchten, fuhr ich sie mit meinem Auto zur Baustelle. Manchmal musste ich sie sogar am Flughafen abholen, aber eine Entschädigung erhielt ich nie. Bereits nach zwei Monaten hatte ich bei so einer Fahrt eine Auffahrtskollision. Eine Frau die hinter mir fuhr hatte nicht gemerkt, dass die Autokolonne sich plötzlich langsamer bewegte. Es gab einen Knall und mein schönes neues Auto musste bereits zur Reparatur in die Garage. Der Besitzer des Autos lehnte jede Verantwortung ab und gab mir, entgegen allen Regeln, die ganze Schuld, weil ich gebremst hatte. Wie viele Brasilianer hatte er keine Haftpflichtversicherung und so musste ich schlussendlich den ganzen Schaden selbst übernehmen. Da ich auf Befehl meines Chefes den Auftrag ausführte, war es für mich ganz klar eine geschäftliche Fahrt gewesen. Doch auch die Administration im Hauptgeschäft wimmelte mich ab und verweigerte sich die Kosten zu übernehmen. Nach diesem Vorfall ging ich nur noch mit dem VW-Bus der Firma auf die Baustelle und verliess auch wichtige Besprechungen um dessen Fahrplan einzuhalten. Als ich später das Auto verkaufte entdeckte man die Reparatur und so wurde der vereinbarte Verkaufspreis zusätzlich reduziert. Also hatte ich mit meiner Gutmütigkeit zwei Mal verloren. Aber eben, genau solche Erfahrungen sind wichtig um den Mut zu bekommen solche Situationen in Zukunft zu vermeiden.

 

 

Die Freizeit
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18.3.  Brasilien – Die Freizeit.

Bald hatte ich weitere Schweizer kennen gelernt die bei der Firma arbeiteten. Im Gegensatz zu meinen Vorgesetzten verstand ich mich mit ihnen sehr gut. Wir luden uns gegenseitig ein, hatten es immer lustig zusammen und genossen dabei oft ein feines Essen. Doch Othoniel war wohl der Einzige dem ich meine Sorgen und Frustrationen anvertrauen konnte. Er war in schwierigen Momenten immer da, machte mir Mut und motivierte mich auch die oft seltsame Lebensweise der Brasilianer zu verstehen und zu akzeptieren. Anfangs kam er oft über das Wochenende nach São Paulo um mir bei administrativen Angelegenheiten und der Einrichtung der Wohnung behilflich zu sein. Da er einige Wochen später auch umzog, war es dann an mir nach Rio zu fliegen und ihm zu helfen. Bald merkte ich, dass mir diese Abwechslung half meine Enttäuschung mit der Firma etwas zu vergessen und die unangenehme Stimmung im Büro zu ertragen. Aus diesem Grund entschied ich mich, wenn immer möglich, meine Wochenenden so angenehm wie möglich zu gestalten und dies egal ob in São Paulo oder in Rio de Janeiro. Da ich ganz in der Nähe vom Flughafen Congonhas wohnte, benutzte ich für die 366 Kilometer Luftlinie, immer die „Ponte Aérea SP-RJ“, eine Luftbrücke die mich mit einer viermotorigen Lockheed L.188 Electra in etwa einer Stunde zum Flughafen Rio de Janeiro-Santos Dumont nahe dem Stadtzentrum brachte. Die neue Wohnung von Othoniel befand sich nahe der Copacabana und so verbrachten wir die Freizeit oft am Strand. Doch mit meiner weissen Haut war ich trotz Sonnenschutz und Sonnenschirm abends meistens so rot wie eine frisch gekochte Garnele. Aber ich wollte am Strand eben nicht als weisser „Gringo“ auffallen und versuchte immer wieder erfolglos braun wie ein „Carioca“, ein Einwohner von Rio, zu werden. Derweil schien Othoniel einen riesigen Respekt vor dem Meer zu haben und warnte mich immer vor den unberechenbaren Wellen. Doch ich erwiderte ihm, dass ich an einem See aufgewachsen sei und deshalb keine Angst vor Wasser hätte. Zudem sei ich kein „Carioca“ der nicht weiter als bis zu den Knien ins Wasser ging. Trotz seinen Wahrungen sprang ich eines Tags spontan ins Wasser um ins Meer hinaus zu schwimmen. Doch unverhofft wurde ich sofort von einer riesigen Welle überrascht. Sie stürzte direkt auf mich und riss mich bis auf den sandigen Grund des Strandes. Als ich dann wieder auftauchte brach bereits eine zweite, genau so heftige Welle über mir zusammen und spülte mich erneut in die Tiefe. Jetzt fehlte mir plötzlich die Luft und war froh als ich wiederauftauchte. Doch ich hatte mich zu früh gefreut, denn sofort schlug eine weitere Welle auf mich ein. Nun erfasste mich Panik und ich versuchte mit aller Kraft dem wilden Wasser zu entkommen. Diesmal gelang es mir, doch ich brauchte eine ganze Weile bis ich wieder normal atmen konnte. Othoniel hatte alles mit Sorge beobachtet und empfing mich mit einem vorwurfsvollen Blick. Ich hatte nicht auf ihn gehört und ignorierte die Gefahr. Darum entschuldigte ich mich für meinen Leichtsinn und meine Starrköpfigkeit. Später genoss ich das Meer genau so wie die „Cariocas“, nur noch bis zu meinen Knien.


Ausser den bekannten Stränden Copacabana und Ipanema, sowie der Insel Paquetá in der Bucht von Guanabara, gab es natürlich in Rio die 39 Meter hohe Christusstatue auf dem Corcovado und den Zuckerhut sowie eine Vielzahl anderer Touristenattraktionen. Othoniel kannte sich in der Stadt sehr gut aus und so besuchten wir auch all die schönen Pärke, Ausstellungen, Museen sowie Kino- und Theatervorstellungen. Ich war erstaunt wie gut sich Othoniel in der Kunst und Kultur auskannte und so kam ich mir erneut wie der „Bub vom Lande“ vor. Natürlich kannte er sich auch in der vielfältigen brasilianischen Musik aus und nahm mich mit an Konzerte. Dabei begann ich auch diese Musik zu verstehen und Samba, Bossa Nova etc. zu lieben. Berühmte Namen von Komponisten und Sänger wie João Bosco, Caetano Veloso, Gilberto Gil, Roberto Carlos Braga, Chico Buarque, Maria Bethânia, Gal Costa und natürlich die berühmte, im Jahre 1955 verstorbene Carmen Miranda wurden mir schliesslich geläufig und ich kaufte deren Aufzeichnungen auf Musik-Kassetten

An heissen Tagen fuhren wir manchmal nach Petrópolis, eine Stadt die 60 Kilometer nördlich von Rio auf einer Höhe von 838 Meter ü. M. liegt und wo es meistens etwas kühler war als unten am Meer. Diese Stadt wurde von deutschsprachigen Einwandern aus dem Tirol gegründet. Angetan vom angenehmen Klima liess sich hier im Jahre 1843 der brasilianische Kaiser Dom Pedro II eine Sommerresidenz bauen. Die benötigten Handwerker wurden damals hauptsächlich in Deutschland angeworben. Zwischen 1894 und 1902 wurde dann Petrópolis sogar Hauptstadt des Bundesstaates Rio de Janeiro und dies wurde uns von Einheimischen immer wieder ausdrücklich betont. Die Stadt ist architektonisch bis heute noch immer geprägt von den Einwanderern aus den verschiedenen europäischen Ländern, was vor allem die zahlreichen Kirchen bewiesen. Leider war ein Tagesausflug immer zu kurz um die interessante Stadt entsprechend zu erkunden und zu geniessen.

Manchmal machten wir einen Tagesausflug zur Küstenregion Costa Verde, der Baia de Sepetiba, ungefähr 72 km südlich von Rio. Es war eine Gegend wo die „Cariocas“ gerne das Wochenende am Meer verbrachten. Zu den beliebtesten Destinationen gehörte Angra dos Reis, die Tropeninseln Jaguanum und Itacuruçá, die zur Gemeinde Mangaratiba gehören. Auf der „Ilha de Jaguanum“, die auch Paradies- oder Blumeninsel genannt wird, fühlte ich mich besonders wohl. Da die Reise dorthin etwas kompliziert war, fanden wir es am einfachsten den Tagesausflug bei einem Reisebüro zu buchen. Schon auf der Fahrt mit dem Boot zur Insel fiel mir die perfekte Harmonie zwischen dem blauen Wasser und den grünen Farben des atlantischen Regenwaldes auf. Die Insel schien schon seit einer Weile für den Tourismus gerüstet zu sein und so fanden wir dort ein Restaurant, eine Bar sowie Souvenirläden. Im Ausflugs-Arrangement war jeweils auch das Mittagessen im Preis inbegriffen und so drängten sich die scheinbar ausgehungerten Ausflügler bereits schon nach der Ankunft lärmend ans Selbstbedienungsbuffet und verliessen es dann mit abstossend überladenen Tellern. Anscheinend war für sie nicht die wunderbare Natur, sondern das Essen der Hauptgrund die Insel zu besuchen. Wir suchten uns deshalb bald ein ruhiges Plätzchen wo wir alleine waren und das Essen in Ruhe geniessen konnten. Dann legten wir uns an den herrlichen Strand, schwammen im glasklaren Wasser und ergötzen uns an der noch unberührten Natur. Dabei staunte ich, dass sich ein solch paradiesischer Ort so nahe beim pulsierenden Rio existierte und war glücklich ihn den ganzen Tag geniessen zu dürfen. Nicht allzu weit von Angra dos Reis entfernt befand sich die ehemalige Kolonialstadt Paraty. Früher profitierte der Ort von den Goldminen und geriet dann lange in Vergessenheit. Heute ist der äusserst sympathische Ort vor allem ein Geheimtipp bei Künstlern und Touristen auf der Suche nach Entspannung.


An einem verlängerten Wochenende fuhren wir mit dem öffentlichen Bus nach Belo Horizonte, der Hauptstadt von Minas Gerais. Sie gehört zu den wichtigsten Städten Brasiliens und befindet sich im Südosten Brasiliens, rund 430 km nördlich von Rio de Janeiro. Obwohl etwas lange, hatte sich die Fahrt zum eindrücklichen Wirtschafts- und Kulturzentrum gelohnt. Am nächsten Tag ging es mit dem Bus weiter nach Oro Preto, dem eigentlichen Grund unserer Reise. Der Name Oro Preto bedeutet auf Deutsch „schwarzes Gold“ und entstand wegen des riesigen Goldvorkommens damals. Die Stadt ist 100 km von Belo Horizonte entfernt und liegt auf 1179 Meter ü.M. Wegen ihrer schönen, barocken Altstadt ist sie in der Welt einzigartig und einer der wichtigsten Touristenmagnete Brasiliens. Im Jahre 1980 wurde die Altstadt zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. Am nächsten Tag ging es bereits weiter nach Congongnas do Campo, eine kleine Stadt in einem weiten Tal, 85 km südlich von Belo Horizonte entfernt. Auch ihre Entstehung verdankte sie den Goldfunden am Rio Maranhão. Seit dem Goldrausch lebt sie aber hauptsächlich von Bergbau und Metallverarbeitung und in den letzen Jahren auch vom Tourismus. Im Jahre 1985 wurde nämlich die WallfahrtskircheBom Jesus de Matozinhos“ mit den Skulpturen von „Aleijadinho“ und den Kreuzwegkapellen auf der UNESCO-Liste der Weltkulturerbe aufgenommen. Während den drei Tagen war das Wetter sehr launisch und kalt gewesen, aber ich machte von den eindrücklichen Gebäuden aus der Kolonialzeit trotzdem viele Fotos, die ich immer wieder gerne ansehe.

Zwischen den Jahren 1819 und 1820 kamen die ersten Einwanderer aus der Schweiz nach Brasilien. In der Serra Fluminense, auf zirka auf 850 Metern über Meer und 130 Kilometer nordöstlich von Rio de Janeiro, liessen sich damals 261 Familien nieder. Bei der offiziellen Gründung ihrer Gemeinde wurde diese zu Ehren ihrer schweizerischen Herkunft (Freiburg) auf den Namen „Nova Friburgo“ getauft. Es war die erste nicht-portugiesischsprachige Kolonie auf brasilianischem Boden. Diesen Ort wollte ich unbedingt besuchen. Doch ausser einigen Häusern bei denen man den schweizerischen Baustiel noch wage erkennen konnte, schien die Entwicklung des Ortes die Vergangenheit ausgelöscht zu haben. Nova Friburgo ist inzwischen eine Stadt mit über 180.000 Einwohnern geworden, doch die Bande mit der Schweiz, besonders mit Freiburg, sind geblieben.


Wenn ich über das Wochenende in São Paulo blieb konnte man mich am Sonntagmorgen meistens auf der Praça da Republica im historischen Zentrum der Stadt finden. Auf diesem Platz gab es einen Markt, auf dem immer allerhand Kunsthandwerk wie Schmuck, von Hand gewobene Textilien, Porzellan, etc. angepriesen wurde. Mich zog es aber meistens zuerst zu den Kunstmalern, die ihre Bilder zur Schau stellten. Mein Favorit war D. Vanni der nur Naive Kunst malte. Die einfache, unbekümmerte und phantasievolle Wahl seiner Motive faszinierten mich. Sie reflektierten die farbenfrohe, üppige Natur mit vielen Pflanzen, Blumen und Vögeln, so wie man Brasilien gerne sehen möchte, der Realität aber leider nicht entsprach. Ich liebte seine Bilder und begann sie zu sammeln. Einmal bat ich ihn sogar die Kirche „Nossa Senhora da Glória do Outeiro“ für mich zu malen. Später entdeckte ich auf dem Platz einen älteren Japaner mit ganz speziellen Töpferei-Arbeiten. Seine Keramik war sehr ansprechend, äusserst einfach und vor allem geprägt von der Japanischen Kultur. Seine Kunst war mir so angetan, dass ich ihn später in seinem Atelier besuchte um bei ihm sechs Teller, sowie eine grosse runde Platte machen zu lassen. Es wurden einmalige Stücke auf die ich heute noch stolz bin.


(1) So wie ich mir Brasilien vorgestellt hatte: frische Luft und farbenfroh, was dann aber leider nicht der Fall war.

„Nossa Senhora da Glória do Outeiro“, eines der farbenfrohen Bilder von D. Vanni


Wenn Othoniel übers Wochenende nach São Paulo kam, war er natürlich auch immer auf dem Markt dabei. Meistens genossen wir dann aber eher die kulinarische Seite der Stadt, denn wir hatten sehr gute Restaurants ausgemacht. Wenn ich nicht zu müde war, verliessen wir manchmal die Stadt um mit meinem Auto die Umgebung zu entdecken. Manchmal fuhren wir nach Embu wo im historischen Zentrum allerhand Kunsthandwerk, Antiquitäten und rustikale Möbel zu haben war. Dieser Markt war schon damals eine Touristenattraktion und der Andrang an Wochenenden besonders in den Restaurants gross. In einem typisch brasilianischen Restaurant gab es jeden Sonntag „Ensopado de músculo con batatas“, ein äusserst schmackhaftes Eintopf-Gericht mit Muskeln vom Rind und Kartoffeln. Zuerst war ich gar nicht begeistert zähe Muskel zu essen, doch das Fleisch war äusserst zart und wunderbar zubereitet. Und dann genossen wir zum Dessert ein „Pudim de leite condensado“, ein Caramelköpfli mit Kondensmilch hergestellt, und zum Schluss ein „Cafzinho“! Natürlich fuhren wir auch nach Santos, der bedeutendsten Hafenstadt Lateinamerikas. Trotz dem offiziellen Status eines Badekurortes, konnten mich die Strände aber nie begeistern. Sie waren einfach zu überlaufen und ich hatte immer das Gefühl das Meer sei nicht sauber. Dafür war mir Campinas, etwa 100 km nördlich von São Paulo sympathischer. Nicht weit davon entfernt befand sich das wichtige Industriezentrum Sorocaba, wo sich auch eine schweizerische Zementfabrik befand. Durch einen Zufall traf ich auf Herrn Balzli, der dort eine führende Stelle hatte. Er und seine Frau waren erst vor kurzem in Brasilien angekommen und so trafen wir uns anschliessend abwechslungsweise um Erfahrungen auszutauschen, entweder in Sorocaba oder bei mir in São Paulo.

170 km nordöstlich der Stadt São Paulo, in den Bergen der Serra da Mantiqueira auf 1.628 Meter ü.M. liegt die höchstgelegene Gemeinde Brasiliens: Campos do Jordão. Der Ort mit seinen Wäldern war im brasilianischen Winter damals schon eine begehrte Feriendestination. Die Luft war rein und durch die Wälder in der Gegend würzig wie in den Schweizer Bergen. Mit der täglichen Luftverschmutzung in São Paulo schätzte ich es ausserordentlich wieder einmal so richtig durchatmen zu können. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass der Ort genau so abhängig von der Saison wie die Ferienorte in der Schweiz war. Während in der Hochsaison alle Hotels, Villen und Appartements total belegt waren, fand man den Ort während dem Rest des Jahres, ausser an Wochenenden, meistens menschenleer. Im Gegensatz zu Nova Friburgo hatte es hier einige im Schweizer Stil erbauten Fachwerkhäusern was den Ort sehr gemütlich und charmant machte. Auch konnte man hier hausgemachte Produkte wie Erdbeerenkonfitüre kaufen, die genau so gut wie die selbst gemachte war.


Durch Othoniel hatte ich von einem grossen, religiösen Fest in Salvador de Bahia gehört. Es handelte sich um das Fiesta do Bonfim“, das immer am zweiten Donnertag nach dem Dreikönigstag stattfand und das ich schliesslich unbedingt miterleben wollte. Da Othoniel aus Bahia stammte war er die richtige Person um mich dabei zu begleiten und mir gleichzeitig die Stadt sowie die Umgebung zu zeigen. Da wir frühzeitig in Salvador ankamen, fuhren wir zuerst zum berühmten Strand „Praia de Itapuã“, der mich vor allem wegen den vielen Kokospalmen beeindruckte. Dagegen erschien mir die Stadt Salvador sehr verwahrlost. Um den ursprünglichen Charme und Glanz zurück zu erhalten hätte es dringend eine Restaurierung gebraucht. Und dann kam der grosse Tag wo die religiösen Feierlichkeiten des „Lavagem do Bonfim“ stattfanden. In einer endlosen Prozession zogen die Einwohner von der Kirche Conceição da Praia bis zur Kirche Bonfim, die sich oben auf dem Heiligen Berg befand. Wir stellten uns an eine Strasse im Zentrum, wo ich andächtig betende Gläubige erwartete. Doch ich wurde bald total enttäuscht, denn anstelle von gottesfürchtigen Menschen zogen bald unablässig „Trio Elétricos“, farbig dekorierte Lastwagen vorbei. Alle hatten auf dem Dach unglaublich viele Lautsprecher installiert die plärrend und mit voller Lautstärke Samba Musik von sich gaben. Und auf all diesen Wagen wurde augelassen getanzt und getrunken wobei sich halbnackte Frauen und Männer alles andere als religiös und züchtig benahmen. Der ganze Klamauk glich der später aufkommenden Street Parade“. Erst ganz am Schluss des Umzuges erschien eine grössere Gruppe von „Baianas“ in ihrer pompösen, makellos weissen Tracht. Alle trugen auf ihren Köpfen weisse Krüge mit weissen Gladiolen und gefüllt mit Wasser um die Treppe der Kirche „Bonfim“ zu waschen. Dieses Ritual wollten wir nicht verpassen und so rannten wir der Prozession voraus. Aber auch der Platz vor der Kirche „Bonfim“ schien eher ein grosser Jahrmarkt als ein Wallfahrtsort zu sein. Zudem war die Kirche aus Angst vor Plünderungen vorsichtshalber geschlossen worden. Dafür konnte man überall farbige Bänder kaufen und sie an das Handgelenk binden lassen. Dies erlaubte einen Wunsch zu machen und vor Ungemach geschützt zu sein bis die Bänder von selbst vom Handgelenk fielen. Wegen dem starken Andrang von Leuten konnten wir das Ritual der Treppenwaschung leider nicht verfolgen. Das Fiesta do Bonfim“ war ein eindrucksvolles Spektakel, aber von inniger Gläubigkeit hatte ich leider weder etwas gesehen noch empfunden.


(2) Baianas na "Lavagem do Bonfim"

Baianas na "Lavagem do Bonfim"


Bahia ist der brasilianische Bundesstaat mit dem höchsten Anteil an schwarzer Bevölkerung und wo deren Lebensweise bis heute noch vom afrikanischen Einfluss stark geprägt ist. So gibt es neben der Katholischen Kirche unzählige Religionen afrikanischen Ursprungs. Die Wichtigste in Bahia ist neben Xangô, Batuque und Umbanda wohl Candomblé, bei der vor allem die Göttin des Meeres Yemojá verehrt wird. Die verschiedenen afro-brasilianischen Religionen haben viele Gemeinsamkeiten und werden oft unter dem Begriff Macumba verstanden. Die Rituale und Feiertage sind über die Jahre schliesslich ein wesentlicher Bestandteil der brasilianischen Folklore geworden. Da Othoniel Zugang zu einer spirituellen Gemeinschaft hatte, schlug er mir vor den Candomblé-Kult dort selbst zu erleben. Zuerst war ich gar nicht begeistert, denn ich hatte diesbezüglich erst vor Wochen eine unangenehme Erfahrung gemacht. Als wir eines Abends am Strand der Copacabana bummelten fröstelte es mich plötzlich und an meinen Armen standen mir die Haare zu Berge. Ich war verwirrt über das Phänomen wandte mich an Othoniel. Dieser zeigte auf den nächtlichen Strand wo verschiedene, weissgekleidete Gruppen an offenen Feuern sassen oder wo Kerzen brannten. Er erklärte mir, dass dies spirituelle Gemeinschaften seien die ihre Rituale durchführten und ich scheinbar auf deren Kräfte reagiere. Wir gingen daher sofort weiter um mich von ihren magischen Einflussnahmen wieder zu lösen.


(3) 31.12.1977 Umbandistas/Candomblé am Strand von Copacabana

31.12.1977 Umbandistas/Candomblé am Strand von Copacabana


Und genau so ein Erlebnis wollte ich nun vermeiden. Doch Othoniel versicherte mir, dass an diesem Abend nichts dergleichen passieren würde. Und tatsächlich passierte nichts Spektakuläres und es war eigentlich genau so wie bei einer Predigt in einer Kirche. Doch als wir uns nachher im Hotel zu Ruhe legen wollten konnte ich nicht schlafen. Es war Vollmond und mit einem Mal fühlte ich mich des Lebens überdrüssig. Wie von einem Geist besessen ging ich ständig auf den Balkon um den Mond und dann das Mosaikbild der Göttin des Meeres „Yemojá“ auf dem Boden des Schwimmbades zu sehen. Gleichzeitig hatte ich das Bedürfnis über das Geländer zu steigen und in das Schwimmbad hinunter zu springen. Zum Glück konnte mich Othoniel jedes Mal davon abhalten und mich im Zimmer beruhigen. Die unerklärliche Drangsal dauerte die ganze Nacht und ich wurde erst beim Aufgang der Sonne davon erlöst. Anschliessend sank ich total erschöpft, todmüde und ausgelaugt ins Bett. Dessen ungeachtet brachte mich Othoniel am nächsten Tag noch zu einer bekannten Wahrsagerin, einer Baiana die sich anfangs weigerte mich zu sehen. Doch sie schien mich durchs Fenster gemustert zu haben, denn plötzlich kam sie aus dem Haus und sagte sie erkenne in im mir ein interessantes Wesen. Nach einem kurzen, belanglosen Gespräch sagte sie ich würde bald das Land verlassen und später auf dem Gebiet der Gesundheit Arbeit finden, was ich lächelnd zur Kenntnis nahm, was aber später tatsächlich eintraf. Seiher habe ich von diesen Afro-Religionen einen grossen Respekt und meide sie, wenn immer möglich. Nach den mystischen Erlebnissen während meines Aufenthaltes in Salvador hatte ich auch nie mehr das Bedürfnis nach Bahia zurückzukehren, jedenfalls nicht mehr ins Hotel Meridien Bahia.


Bald danach begann überall im Land der Karneval, so auch in Rio, wo er offiziell immer schon am Freitagabend vor Aschermittwoch beginnt. Die farbenfrohe Parade der Sambaschulen war schon damals eine der Hauptattraktionen der Stadt. Othoniel hatte schon frühzeitig die Eintrittskarten für die mindestens 12-stündige Parade in der Nacht vom Sonntag auf Montag gekauft. Das im Jahre 1984 erbaute Sambódromo gab es damals noch nicht und so sass man auf einer temporären Rohrkonstruktion. Othoniel drängte mich schon am frühen Abend hinzugehen, doch ich weigerte mich schon um 18.00 Uhr auf einer Tribüne zu sitzen um erst nur kleine, unbedeutende „Escolas“ zu sehen. Leider hatte ich nicht auf ihn gehört, denn ich musste es dann schliesslich sehr bereuen. Als wir nämlich um ca. 20.00 Uhr ankamen war die Tribüne bereits mit Zuschauern voll besetzt. Selbstsicher zeigte ich die Eintrittskarten bei Eingang und später dem Platzanweiser auf der Tribüne, doch alle Plätze waren besetzt. Störrisch zwängte ich mich durch die Reihen um an unsere Plätze zu kommen, doch da sassen Leute. Als ich die Betroffenen aufforderte ihre Eintrittskarten zu zeigen und die Sitze frei zu geben, wurden wir mit „Gringos kommt frühzeitig!“ beschimpft und äusserst unsanft weggejagt. Ich beklagte mich beim Platzanweiser und bat um Hilfe, doch er schien die Autorität dazu nicht zu haben. Also blieb uns nichts anderes übrig als in den billigen, obersten Reihen nach zwei freien Plätzen zu suchen, also dort wo die ganze Metall-Struktur ständig Angst erregend schwankte. Obwohl wir die verschiedenen Sambaschulen auch von weit oben sehen konnten, war mir die Freude inzwischen total vergangen und ein richtiges Vergnügen mochte nicht mehr aufkommen. Ich konnte einfach nicht ertragen, dass man in diesem Land als Konsument keine Rechte hatte. Solche Situationen hatte ich nämlich in anderen Fällen bereits schon mehrmals erlebt. Gleichzeitig war es aber ein brasilianisches Erlebnis mehr das mich ermahnte in Zukunft besser auf die Erfahrung von Einheimischen zu hören und den möglichen Frust genau so leicht wegzustecken wie sie. Ich wusste, dass man damit Probleme mit der Gesundheit vermeiden konnte, doch Prinzipien die man in der Kindheit erlernt hatte waren halt einfach sehr schwierig zu überwinden.


Die berufliche Veränderung

Im Sommer 1978 erhielt ich eine Nachricht aus den Philippinen. Ciba-Geigy war dort im Begriff einen lokalen Pharma Betriebes zu erstellen und suchte einen Ersatz für ihren „Projekt- und Betriebstechniker“. Es hiess, dass dieser aus familiären Gründen wieder in die Schweiz zurückkehre. Da man normalerweise, so wie ich in Jakarta, für die Dauer eines Projektes angestellt wurde, fand ich seine plötzliche Rückkehr etwas seltsam. Da ich aber wusste, dass Martin Poschung, mit dem ich schon in Indonesien gearbeitet hatte, in diesem Projekt für die Produktion verantwortlich war, entschloss ich mir die Sache zu überlegen. Ich musste nämlich annehmen, dass es Martin gewesen war, der mich als Ersatz vorgeschlagen hatte. Es wurde auch erwähnt, dass ich dort in der Eigenschaft eines internationalen Mitarbeiters bei Ciba-Geigy (Philippines) Inc. arbeiten werde. Dieser Vorteil täuschte mich aber diesmal nicht über die Tatsache, dass ich wieder für eine Tochterfirma mit ihren eigenen Verordnungen arbeiten würde. Und so haderte ich wochenlang mit der definitiven Entscheidung. Auf der einen Seite war dies die Erlösung aus dem unbefriedigenden Arbeitsalltag in São Paulo. Doch dann stellte ich auch fest, dass ich mich trotz all der Probleme eigentlich ganz gut in Brasilien eingelebt hatte. Ich wurde mir bewusst, dass ein neuer Anfang wieder viel Energie von mir verlangte und dass viele Details der neuen Anstellung auch diesmal noch unklar waren. Trotz den Bedenken erneut in eine Falle zu geraten entschied ich mich dann doch nach Manila umzuziehen.

Nach diesem Entscheid überkam mich plötzlich der dringende Wunsch während den verbleibenden Wochen noch so viel als möglich vom Lande und dem Kontinent zu sehen. Nachdem ich gelesen hatte, dass ein Reisbüro Ausflüge in den Bundesstaat Santa Catarina im Süden des Landes machte, meldete ich mich zusammen mit Othoniel sofort an. Mit einem Autobus fuhren wir am ersten Tag von São Paulo über Curitiba und Joinville nach Blumenau. Diese charmante Stadt wurde von deutschen Einwanderern gegründet und ist mit ihren schönen Fachwerkhäusern bei Touristen sehr beliebt. Mir gefielen besonders die wunderbar renovierten Häuser Moellmann und Casa Husadel, denn bei ihrem Anblick glaubte man sich tatsächlich in Deutschland. Zudem sprach damals noch über 80% dieser Bevölkerung Deutsch. Die Stadt fiel mir auch wegen dem vielfältigen Angebot an deutscher Gastronomie, Kultur und Handwerk auf. Hier erstand ich mir die ersten, echten Kristallgläser und Badetücher mit tropischen Mustern. Nach zwei Tagen ging die Reise weiter nach Florianopolis an der Atlantikküste. Dort besuchten wir auch die Grossstadt Itajaí, wo sich der zweitgrösste Hafen Brasiliens befindet. Es war eine interessante Reise gewesen und zeigte wie vielfältig das Land ist.


Am 9. September 1978 starb mein Vater und so reiste ich, so wie jeder lokale Mitarbeiter der Firma mit einem Ausreise-Visa und einem selbst bezahlten Flugticket sowie Ausreisedepot, nach Hause zu seiner Beerdigung. Auf diesem Flug hatte ich Zeit über meine Beziehung mit meinem Vater nachzudenken. Ausser über oberflächliche Sachen hatten wir nämlich nie ein tiefes Gespräch geführt und so immer aneinander vorbei gelebt. Dadurch hatte ich meinen Vater gar nie richtig kennen gelernt und dies machte mich nun traurig. Ich fragte mich wieso dies überhaupt passieren konnte? Er war wohl immer präsent, aber gleichzeitig auch immer beschäftigt mit seiner Arbeit oder mit seinen Verpflichtungen in den Vereinen. Und so hatte ich nie eine Ahnung wie er dachte oder was er fühlte. Aber eben, Gefühle offen zu zeigen war damals einfach tabu oder wenigstens nicht üblich für einen Mann. Schon ein weinender Bub war ja eine Schande für die Familie. Mein Vater zeigte seine Gefühle oder Frustrationen nur wenn diese zu einem emotionellen Wutausbruch führten.

Natürlich war mir bewusst, dass sich mein Vater immer gewünscht hatte mir seinen Betrieb einmal zu übergeben. Diesen Wunsch konnte ich ihm aber leider nicht erfüllen. Ich suchte nach den wirklichen Gründen und musste schliesslich eingestehen, dass ich mich in seiner Gegenwart nie wohl gefühlt hatte. Vor allem später im Betrieb wo ich mich immer eingeengt fühlte und ihm deshalb immer wieder davongelaufen war. Zudem zog es mich aus unerklärlichen Gründen immer wieder in die Fremde um Neues zu entdecken. Und was hatte mein Vater darüber gedacht und was hatte er während meiner ständigen Abwesenheit tief in seiner Seele empfunden? Hatte ich seine Illusionen zerstört? Ich hatte nämlich das Gefühl, dass er von meinen Auslandaufenthalten nie begeistert war. Im Gegensatz zu meiner Mutter hatte er mich auch nie im Ausland besucht. Vielleicht aber war dies eine neidische Reaktion auf die Tatsache, dass er seinem Vater auch gerne davongelaufen wäre, doch dies bei der damaligen familiären Konstellation einfach nicht möglich war? Oder bereute er vielleicht im Geheimen, dass er mir eine akademische Ausbildung verweigert hatte, so wie dies auch meine Mutter später gestanden hatte? Ich wusste es nicht. Gerne hätte ich ihn danach gefragt und plötzlich türmten sich Berge von Fragen vor mir auf. Ich bereute die Zeit nie genutzt zu haben um wirklich mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber nun war es zu spät um sich gegenseitig zu erklären und so konnte ich nur hoffen, dass er mir noch auf dieser Welt für alles Negative und die Enttäuschungen wegen mir, vergeben hatte. Ich selbst hatte ihm ja wegen der aufgezwungenen Spenglerlehre schon längst vergeben, es ihm aber nie gesagt. Zudem hätte ich auch gerne gewusst ob er trotz meiner Verweigerung das Geschäft zu übernehmen, meinen eigenen Weg respektierte, sich freute oder vielleicht sogar ein bisschen Stolz auf mich gewesen war? Mit diesem nachdenklichen Rückblick verabschiedete ich mich am Grabe von ihm und wünschte von Herzen, dass er in Frieden ruhen möge und wir wenigstens in Gedanken verbunden bleiben.


Im Oktober 1978 flog ich zusammen mit Othoniel nach Iguazú um dort die bekannten und eindrücklichen Wasserfälle im Nationalpark gleichen Namens zu besuchen. Dieser Park befindet sich auf Argentinischem sowie Brasilianischem Gebiet. Zuerst besuchten wir die brasilianische Seite wo wir im eindrücklichen Hotel das Cataratas übernachteten. Von dieser Seite hatte man nicht nur einen grandiosen Panoramablick auf die Fälle, sondern konnte über eine Treppe zu einer Plattform am Rande des Flusses hinuntersteigen. Dies erlaubte nicht nur die ungebändigte Kraft der Natur hautnah zu erleben, sondern sich auch vom Getöse der riesigen Wassermassen beeindrucken zu lassen. Da sich der grössere Teil der Fälle auf der Argentinischen Seite befindet, wurden wir am nächsten Tag auf die andere Seite gebracht um die vielen Fälle und die Inseln im Fluss von dort bewundern zu können. Im Jahre 1984, respektive 1986 wurden die Wasserfälle zum UNESCO-Welterbe ernannt.


(4) Luftaufnahme der Iguaçu-Fälle, links Argentinien, rechts Brasiien.

Luftaufnahme der Iguaçu-Fälle, links Argentinien, rechts Brasiien.


Kurz danach machte mich Othoniel auf eine Werbung der Chilenischen Fluggesellschaft LanChile aufmerksam. Darin wurden extrem billige Angebote gemacht, allerdings mit der Bedingung, dass man für eine Rundreise ausschliesslich LanChile buchte. Wir brauchten nicht lange zu überlegen um eine Reiseroute zusammenzustellen welche diesen Kriterien entsprach. Mitte November ging es zuerst nach Santiago de Chile wo wir die Stadt besuchten und anschliessend einen Ausflug zur Hafenstadt Valparaíso am Südpazifik machten. Hier fielen uns vor allem die vielen steilen Seilbahnen, die Hügel mit den farbenfrohen Häusern und die Rebberge auf. Da aber unser Hauptziel die Osterinsel war, hatten wir leider keine Zeit um länger hier zu verweilen. Schon am nächsten Tag landeten wir nach fast 6 langen Stunden Flug auf der dreieckigen Vulkaninsel im Südostpazifik. Diese wurde an Ostern im Jahre 1722 vom Holländer Jacob Roggenveen entdeckt und ist seither überall auf der Welt als Osterinsel bekannt. Von Einheimischen wird sie aber immer noch Rapa Nui genannt. Bei der Ankunft hielt ich auf dem Flugplatz vergebens Ausschau nach einer Empfangs- und Abflugshalle und der Hauptort Hanga Roa schien nichts weiter als ein verlassenes Dorf zu sein. Und obwohl die Insel ein subtropisches Klima mit einer durchschnittlichen Temperatur von 21° Celsius hatte, fehlte eine üppige Vegetation. Stattdessen schien die Landschaft hauptsächlich von ausgedehnten wilden Grasflächen und Vulkanen geprägt. Bis anhin hatte die Tourismusindustrie die Insel ignoriert und so waren die wenigen, vorhandenen Unterkünfte kaum für anspruchsvolle Gäste gedacht. Irgendwie hatte man das Gefühl, dass die isolierte, 3’526 km vom Festland entfernte Insel noch immer von der traurigen und tragischen Vergangenheit geprägt war und die ersten Eindrücke deshalb alles andere als überwältigend.

Vor vielen Jahren begannen Leute unbekannter Herkunft die damals bewaldete Insel zu besiedeln. Sie entwickelten religiösen Riten und sogar eine eigene Schrift. Aus bis anhin unerklärlichen Gründen erstellten sie für ihre Zeremonien über 800 Steinskulpturen (www.osterinsel.de/08-sinn-der-moai.htm">Moai´s). Um die teilweise monumentalen Skulpturen zu den Zeremonie-Plattformen zu transportieren wurde der üppige Baum- und Palmenbestand auf der Insel zwischen dem 11. bis 16. Jahrhundert dann sorglos abgeholzt. Dies führte nicht nur zu einer ökologischen Katastrophe, sondern unweigerlich auch zu einer Hungersnot. Dies wiederum löste erbitterte Stammesfehden aus wobei anscheinend die geistige Elite ausgelöscht wurde. Gleichzeitig brachten Fremde die Syphilis auf die Insel, verschleppten die wenigen Einwohner nach Peru und Tahiti, wobei diese bei ihrer Rückkehr vorher unbekannte Krankheiten auf der Insel wie Pocken, Lepra, etc. mitbrachten. All dies erzählte uns ein Einheimischer der dann anschliessend bereit war uns die Insel zu zeigen. Mich aber erinnerten seine traurigen Ausführungen an die Gegenwart. Ist es nicht so, dass wir heute nicht nur den Wald, sondern die Umwelt einem Gott opfern der GELD heisst und der uns genau so wie diese Insulaner das Überleben und die Zukunft ignorieren lässt?


Mit seinem Landrover brachte uns dieser Einheimische, der Juan Barahona hiess, zu den verschiedenen Fundstücken und Sehenswürdigkeiten die wie in einem Freilichtmuseum überall verstreut auf der Insel herumstanden oder herumlagen. Ursprünglich soll es rund 390 Zeremonie-Stätten und unendlich viele, die so genannten www.osterinsel.de/05-ahu.htm">Ahu’s, gegeben haben auf denen die Moai’s standen. Die Eindrucksvollste war für mich aber Tonariki, der grösste Zeremonienaltar mit seinen 15 stehenden Moai’s, die wir im mysteriösen Abendlicht bewundern durften. Am zweiten Tag fuhren wir zum erloschenen Vulkan www.osterinsel.de/03-rano-kau.htm">Rano Kao an der Südwestspitze der Insel wo sich auf dessen Kraterrand die bedeutendste Zeremoniestätte der gesamten Insel befand, der "Orongo". Schon die extreme Lage beeindruckte mich, denn auf der einen Seite fiel eine Steilwand 300 Meter hinunter zum Meer und auf der anderen Seite 200 Meter zum Kratersee. Von hier oben bot sich ein überwältigender Blick über den pazifischen Ozean und auf die aus dem Meer ragende die Felsspitze Moti Kao-Kao. Beide Orte standen einmal in enger Verbindung mit dem Vogelmannkult, wo sich jeweils im Frühjahr junge Männer von der Kultstätte Orongo zur Felseninsel Motu Nui aufmachten um ein frisch gelegtes Ei der dort nistenden Möven zu ergattern. Die Herausforderung des „hombre pájaro“ war beträchtlich, denn zuerst mussten die Anwärter den 300 Meter hohen, steilen Kraterrand hinunter klettern, über die Klippen steigen und dann mit Hilfe eines Baumstammes zur fast 1,5 Kilometer entfernten Insel Motu Nui schwimmen. Diese Insel war meistens bedeckt mit Hinterlassenschaften der Seevögel, dem Guano. Hier mussten die Vogelmänner manchmal tagelang geduldig auf das erste Ei warten. Diejenigen die ein Ei erhaschten, mussten den fragilen Schatz intakt zur Kultstätte Orongo hinaufbringen, eine Herausforderung die manchmal tödlich ausging. Wer als erster ein unbeschädigtes Ei zurückbrachte, wurde für ein Jahr zum Vogelmann erklärt, stand rituellen Opfern vor und erfreute sich besonderer Privilegien.


(5) Ahu Akivi, die sieben mysteriösen Moais

Ahu Akivi, die sieben mysteriösen Moais


Unser Guide sagte, dass ein Vogelmensch das "Mana" des Vogels verkörpere, was in der lokalen Sprache Aura oder Seele bedeutet. Dieser merkwürdige Glaube war auf dieser Insel nicht der Einzige, den die Geisterwelt schien für die Rapanui immer noch sehr wichtig zu sein. Sie glaubten, dass der Mensch aus drei Komponenten bestand, dem Körper, der Lebenskraft und dem Schattenbildwesen. Im materiellen Körper wohnte die Lebenskraft. Beim Tod erlosch die Lebenskraft und der Körper verging, das Schattenbildwesen aber blieb. Nach dem Glauben der Rapanui kann daraus ein Aku Aku entstehen, ein Wesen, das weder ganz der diesseitigen, noch ganz der jenseitigen Welt angehört. Sie waren auch überzeugt, dass ein immaterieller Teil eines Verstorbenen, der nach dem Tod die Insel nicht verlassen hatte, sich in Form eines Schattens oder Gespenstes materialisierte. Und genau dieses bedrückende Gefühl hatte mich schon bei der Ankunft auf der Insel überfallen und begleitete mich seither ständig. Zuerst hatte ich das Gefühl, dass dies wegen der extremen Abgeschiedenheit entstand und weil man wusste, dass man sich mitten im Südostpazifik befand, also im Notfall kein Rettungshelikopter zur Verfügung stand um uns auf das Festland zu bringen. Ausser LanChile bediente ja damals niemand diese Insel und es gab nur zwei Flüge pro Woche. Auch Schiffe schienen nur selten hier anzulegen. Aber dann musste ich annehmen, dass es einfach die mysteriöse und fast unheimliche Stimmung auf dieser äusserst einsamen Insel war. Ich fühlte mich meistens niedergeschlagen und deprimiert. Und genau so wie in Salvador de Bahia hatte ich einmal plötzlich erneut einen Anflug von Lebensmüdigkeit und wollte genauso wie ein „hombre pájaro“ von einer Felskante in die Tiefe springen. Zum Glück hatte Othoniel dies bemerkt und konnte mich rechtzeitig davon abhalten.

Unsere Verpflegung im Hotel und in den wenigen Restaurants war sehr einfach und beschränkte sich hauptsächlich auf Hamburger oder Sandwichs. Unser Guide kannte aber eine Frau die auf speziellen Wunsch gerne bereit war das Traditionsgericht Umu zubereitete. Dieses Gericht besteht aus Fleisch, Fisch und Gemüse, welches in Bananenblätter eingewickelt wird und dann im Erdofen (Grube) mit Hilfe von im Feuer erhitzten Steinen gegart wird. Die Frau war sehr gesprächig und erwähnte immer wieder, dass das Umu eigentlich ein Festgericht für Hochzeiten oder Beerdigungen sei und dass die Zubereitung sehr viel Zeit brauche. Allerdings schien mir dies eher eine lapidare Ausrede um den extrem hohen Preis der Mahlzeit zu rechtfertigen. Vielleicht hätte sie besser erwähnt, dass auf der Insel nichts angepflanzt wird und damit fast alle Lebensmittel per Schiff oder Flug „importiert“ werden mussten. Dies galt natürlich nicht nur für die Lebensmittel und war deshalb auch der Grund für die hohen Preise auf der Insel im Allgemeinen. Das Zubereiten von Speisen im Erdofen gehört zu den ältesten Kochtechniken der Welt und ist aus einer Epoche wo Zeit noch keine Rolle spielte. Mir schien die Zubereitung des Festtagsgerichtes aber trotzdem extrem aufwendig, denn wir harrten mit unsern knurrenden Magen unendlich lange in ihrem Garten auf das Essen. Aber schliesslich hatte sich das Warten gelohnt, denn wir waren überrascht wie gut die im Boden gegarte Speise schmeckte.


Nach den vier Tagen völliger Isolation kehrten wir mit einem Kopf voll von historischen Theorien, mysteriösen Sagen und nicht bewiesenen Ereignissen aufs Festland zurück. Dabei konnte ich nur hoffen, dass es keinem Aku Aku in den Sinn gekommen war mich auf der Weiterreise zu begleiten. Von Santiago flogen wir dann sofort weiter nach Port Montt, denn wir hatten entschieden mit einer begleiteten Reisegruppe von dort quer durch Patagonien bis nach Bariloche zu reisen. In Port Montt wurden wir zum Grand Hotel Puerto Varás gebracht und hatten nachher den Nachmittag frei für einen Bummel am Meer. Am nächsten Tag ging es mit einem Bus weiter nach Puerto Varás und entlang dem Lago llanquihue nach Petroué. Auf dieser Strecke fielen mir die alten Holzhäuser auf, die mich durch ihren Baustil an Einwanderer aus Deutschland erinnerten. Was mich aber speziell faszinierte waren die Berge, die im Gegensatz zur Schweiz durchmischt mit hohen Vulkanen waren. Vor allem der herrliche Blick auf den schneebedeckten Vulkan Osorno mit seinem 2'652 Meter hohen Gipfel war ein einmaliges Erlebnis. Vor dem Mittagessen in Petroué machten wir noch einen kurzen Marsch bis zu den bekannten Wasserfällen des Ortes. Danach gab es in einem Restaurant, wo man sich erneut in Deutschland fühlte, tatsächlich typische Hausmannskost und man konnte sich sogar auf Deutsch mit den Besitzern verständigen. Danach fuhren wir mit einem Schiff auf dem Lago Todos los Santos nach Peulla wo wir übernachteten. Während der Fahrt und nachher in Peulla beeindruckte mich der majestätischen Vulkan Tronador, der sich auf der Grenze zwischen Argentinien und Chile befindet. Mit seiner Höhe von 3,470 Meter überragt er alle nahegelegenen Berge der Gegend. Der Berg erhielt seinen Namen Tronador (was auf Spanisch Donner heisst) wegen dem Geräusch von herunterfallendem Gletschereis. Einheimische aber sagten wir sollten auf sein Schnarchen hören.


(6) Lago Todos Los Santos mit Vulka Osorno im Hintergrund

Lago Todos Los Santos mit Vulka Osorno im Hintergrund


Am anderen Tag ging es mit einem Bus über den Paso de Pérez Rosales nach Puerto Frías, an der Grenze zu Argentinien, und nach der Zollkontrolle weiter nach Puerto Blest. Nach dem Mittagessen bestiegen wir erneut ein Schiff, das uns auf dem Nahuel Huapi See nach Puerto Pañuelo bei Bariloche brachte. Leider zeigte sich an diesem Tag die Sonne nicht und so war es kalt auf dem Schiff. Ausserdem war die Fahrt auf dem von Bergen umringten schwarzen See etwas beklemmend. In Bariloche bemerkte ich sofort die alpenländische Architektur der Häuser und die vielen Geschäfte die Schokolade verkauften. Man sagte uns, dass Bariloche besonders für gute Schokolade bekannt sei. Die Stadt liegt auf 893 Meter ü.M. und ist deshalb ein beliebter Ferienort und im Winter ideal für den Skisport in den nahen Bergen. Wir blieben nur eine Nacht in Bariloche und kehrten dann über Buenos Aires nach São Paulo zurück. Es war eine interessante, aber sehr spezielle Reise gewesen. Besonders die Tage auf der einsamen und verlorenen Osterinsel im Pazifik hatten mich verwirrt und ich war froh später im urtümlichen Patagonien den nötigen Ausgleich wieder gefunden zu haben.


Kaum zurück in Sao Paul hatte ich bereits ein weiteres Reiseziel ausgemacht. Ich wollte Brasilien nicht verlassen ohne den Amazonas gesehen zu haben. Anfangs Dezember flog ich deshalb ganz alleine nach Manaus und logierte sogar im wunderbaren „Tropical Hotel Manaus“. Nachdem ich das berühmte Opernhaus gesehen hatte, entschied ich mich für einen achtstündigen Ausflug mit einem Schiff zum „Parque Ecologico Janauari“, der sich zwischen dem Rio Negro und dem Amanzonas Fluss befand. Die Exkursion war sehr gut organisiert, abwechslungsreich und interessant. Schon die Fahrt durch das Mündungsdelta des breiten Flusses bis zum Reservat war beeindruckend. Dann fuhren wir durch einen Wald der fast das ganze Jahr überflutet ist und durften schliesslich an Land gehen. Hier wurden uns die vielen verschiedenen Bäume und Pflanzen gezeigt, gleichzeitig aber auch vor gewissen, giftigen Pflanzen gewarnt. Es soll sogar eine Baumart geben die unter gewissen Umständen elektrostatisch geladen sein kann und deshalb nicht berührt werden soll. Leider hatte ich für die Reise nach Manaus nur drei Tage zur Verfügung und so musste ich schon am dritten Tag die äusserst feuchte und heisse Gegend wieder verlassen um nach São Paulo zurückzukehren.

Mit diesem letzten Ausflug endete meine oft mühsame sowie beruflich wenig befriedigende Zeit in Brasilien und ich kehrte in die Schweiz zurück. Ich wollte keine Farewell-Party und so verabschiedete ich mich ganz diskret und individuell von den Leuten die mir immer gut gesinnt waren. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge verliess ich das Land, wobei der Abschied von Othoniel wohl am schwierigsten war. Er war ja inzwischen wirklich ein guter Freund geworden und durch ihn hatte ich das vielfältige Land erst richtig kennen und entdecken dürfen. Obwohl wir manchmal stritten und nicht gleicher Meinung waren, versuchte er immer wieder durch Gespräche unsere Freundschaft zu retten und half mir mit meinen persönlichen Problemen fertig zu werden. Er hatte mir auch bewiesen, dass man mit ehrlichen, tiefen Gesprächen persönliche Konflikte entdecken und lösen konnte. Als mir die Stelle in Manila vorgeschlagen wurde, bat ich ihn natürlich um seine Meinung. Er aber überliess mir den Entscheid und sagte ich müsse selbst fühlen was für mich das Beste sei. Mit schweren Herzens entschied ich mich für die Philippinen.


Epilog.

Durch die Fusion von Ciba-Geigy und Sandoz entstand im Jahre 1996 das Unternehmen Novartis und so auch in Brasilien. Im Jahre 2014 wurde die Pharma-Produktionsanlage in Taboão da Serra an das nationale Pharmaunternehmen União Química, eine der zehn grössten Unternehmen der brasilianischen Pharmaindustrie, verkauft. Im Rahmen einer Vereinbarung zwischen den beiden Unternehmen übernahm União Química die Verantwortung für die Produktion und Lieferung der in diesem Werk hergestellten Novartis-Produkte, wobei Novartis für die Lagerung, den Vertrieb der Produkte und die Vermarktungsrechte in allen lateinamerikanischen Märkten verantwortlich blieb. Nachdem Novartis für eine globale Effizienzsteigerung die Abteilung „Novartis Technical Operations (NTO)“ in Basel geschaffen hatte, entschied União Química im Jahre 2015 für ihre „Taboão da Serra Unit“ eine neue Gesellschaft mit dem Namen ANOVIS zu gründen. Das Ziel war eine Einheit zu schaffen, welche die Herstellung von Arzneimittel neben NOVARTIS auch für andere Firmen erlaubte, also eine sogenannte „Outsourcing Unit“.

 

Philippines
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19.  Philippines


(1) Zurück in Südostasien

Zurück in Südostasien

 

 

Zurück in Südostasien
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19.1.  Philippines – Zurück in Südostasien.

Nach der Rückkehr aus Brasilien verbrachte ich erst ein paar ruhige Tage bei meinen Eltern in Lachen. Trotz Weihnachten und Neujahr hatte ich aber einen Termin im Ingenieurbüro in Basel, wo mir mein neuer Vertrag übergeben wurde. Dieser enthielt keine Stellenbeschreibung aber ich wusste, dass ich in Manila die freiwerdende Stelle des verantwortlichen Projektingenieurs zu übernehmen hatte. Auf den ersten Blick entsprach der Vertrag genau dem von meinem Einsatze in Indonesien, doch beim näher Hinsehen stellte ich fest, dass die jährliche Vergütung von CHF 27'000 auf CHF 20'000 geschrumpft war. Auch gab es keine Ausrüstungsentschädigung mehr. Eine Erklärung dafür blieb unbeantwortet. Etwas konsterniert flog ich dann am 4. Januar trotzdem nach Manila, aber nun wenigstens wieder als internationaler Mitarbeiter. Dort empfing mich, wie erwartet, mein ehemaliger Arbeitskollege Martin Poschung, den ich aus der Zeit in Indonesien kannte. Er brachte mich zu meiner Unterkunft in Parañaque, einer Stadt im Grossraum von Manila. Da ich an einem Freitag ankam hatte er am Wochenende Zeit um mir in Ruhe Manila zu zeigen. Der erste Endruck war verbluffend, denn die Stadt schien mir mit seinen Hochhäusern und internationalen Hotels viel moderner als Jakarta. Dabei war der Einfluss der USA aber offensichtlich. Besonders in Makati schien mir alles genau so steril und ausgestorben, sodass ich erst das Gefühl hatte gar nicht im Fernen Osten zu sein. Irgendwie fehlte mir das bunte Gewimmel auf den Strassen und der typische Geruch von Zigaretten mit gemahlenen Gewürznelken („Kretek“). Aber eben, ich war nicht mehr in Jakarta, sondern in Manila.


(1) Makati, am Wochenende wie ausgestorben.

Makati, am Wochenende wie ausgestorben.


In Parañaque hatte man für mich einen kleinen Bungalow gemietet, der sich mit weiteren Bungalows im Garten des Hotels „Tropical Palace“ befand. Leider musste ich aber schon in den ersten Tagen feststellen, dass ich mich hier überhaupt nicht wohl fühlte und dies obwohl ich Zugang zu einem grossen Schwimmbad gehabt hätte. Der Bungalow bestand eigentlich nur aus vier vorfabrizierten Kunststoff-Platten und hatte zwei Türen die direkt ins Freie führten. Ungeziefer und Mücken waren deshalb ständig Mitbewohner und von einem persönlichen Bereich konnte man auch nicht sprechen. Tagsüber war es in dieser Unterkunft, trotz laut ratterndem Klimagerät im Fensterrahmen, unerträglich heiss. Zudem fühlte ich mich hier von der Welt abgeschnitten und isoliert, denn Parañaque befand sich ziemlich weit von Manila entfernt. Schliesslich ging ich mit meinem Unbehagen zur Direktion der Firma und bat um eine andere Lösung. Zu meiner Überraschung hatte der CEO Verständnis für mein Anliegen und so konnte ich schon am 5. Mai in eine sehr schöne, möblierte Wohnung in Makati an der Amorsolo Street ziehen. Neben zwei Schlafzimmern mit je separatem Bad gab es in der Wohnung neben der Küche noch ein Zimmer für die Köchin mit Dusche und WC. Das Gebäude befand sich nahe bei einem Einkaufszentrum sowie unserem Stadtbüro und war ständig von einem Sicherheitsbeamten bewacht. Natürlich gab es auch hier fast täglich Stromausfälle und die Luftverschmutzung war damals schon beachtlich. Doch als dann im Juni mein Umzugsgut endlich aus Brasilien angekommen war, fühlte ich mich in meinem neuen Heim trotzdem total zu Hause. Durch die Besitzerin der Wohnung hatte ich auch bald eine Hausangestellte gefunden. Sie hiess Kresenzia, hielt die Wohnung sauber, besorgte die Wäsche und zauberte immer etwas Leckeres zum Abendessen auf den Tisch. Von meinem neuen Zuhause brauchte ich mit dem Auto nur wenige Minuten bis zum Highway auf dem ich dann jeden Tag zum Projekt in Calamba fuhr. Als Transportmittel wurde mir ein alter VW ohne A/C zur Verfügung gestellt. Das Auto war so alt, dass ich mich wegen den vielen Pannen kaum mehr auf die Strasse getraute und auf dem Pan-Philippine Highway nach Calamba immer auf sein definitives Ableben gefasst sein musste. Erst als ich im Juli den 5-türigen Familienwagen von meinem Vorgänger übernehmen musste, fühlte ich mich sicherer auf den Strassen. Aber das Auto war viel zu gross für mich und so konnte ich mich mit dem Fahrzeug nie identifizieren; es blieb einfach ein Transportmittel.

Das Projekt in Manila.
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19.2.  Philippines – Das Projekt in Manila..

Für den Pharma-Betrieb in Indonesien wurde das Projekt damals bis in alle Details im Stammhaus in Basel geplant und anschliessend an Ort begleitet. Um die Richtlinien zur Qualitätssicherung der Produktionsabläufe oder GMP (Good Manufacturing Practices) zu befolgen legte man zudem grossen Wert auf die Qualität der nötigen Infrastruktur wie Stromerzeugung, Klima-Anlage, Dampfkessel, Kläranlage und sogar auf ein einwandfreies Abwasserleitungs-System. Aus diesem Grund wurden diese Einrichtungen in der Schweiz oder anderen Länder in Europa eingekauft. Ein weiterer Grund diese zu importieren war aber auch die Tatsache, dass damals die lokale Industrie in Indonesien noch kaum in der Lage war unseren Qualitäts-Ansprüchen nachzukommen. In der Zwischenzeit hatte das Stammhaus die Verantwortung für solche Projekte weitgehend den Tochterfirmen überlassen. Es war die Zeit wo in grossen Unternehmen das Wort „Outsourcing“ bzw. Auslagerung populär wurde. Man begann Unternehmensaufgaben und -strukturen an externe Dienstleister abzugeben. Gleichzeitig versuchte man, wenn immer möglich, das nötige Material lokal einzukaufen. Da in den Philippinen die entsprechende Industrie bereits vorhanden war, schien dies gerechtfertigt und das Projekt deshalb unter diesen Voraussetzungen geplant und ausgeführt. Natürlich hatte dieser Entscheid auch einen finanziellen Hintergrund, denn damit erhoffte man vor allem kostengünstiger bauen zu können. Ausgenommen von der lokalen Beschaffung waren nur noch die Produktionsmaschinen die wie bis anhin vom Stammhaus in Basel spezifiziert, eingekauft und geliefert wurden.


(1) CIBA-GEIGY (PHILS.) INC. Manila

CIBA-GEIGY (PHILS.) INC. Manila


Bei meiner Ankunft im Silangang Industrial Park in Canlubang (Laguna) war der Rohbau bereits fertig gestellt und man begann mit dem Innenausbau. Sofort erstaunte mich die leichte Bauweise, denn sie war in grossem Kontrast zu der aufwendigen Konstruktion in Jakarta, wo die Gebäude mit Bruchstein-Mauern von bis zu 40 cm Dicke für Jahrhunderte gebaut worden waren. Hier waren die Mauern nicht dicker als die eines einfachen Lagerhauses und als ich beobachtete wie elektrische Leitungen ohne Schutzrohre in diese verlegt wurden, konnte ich mich mit einer bestürzten Bemerkung nicht zurückhalten. Doch mein Vorgänger meinte wir seinen nicht in der Schweiz und dass man sich hier an andere Arbeitsmethoden gewöhnen müsse. Als ich ihn fragte wie man bei einer möglichen Änderung die eingemauerten Kabel ohne Schutzrohre auswechseln konnte lachte er nur achselzuckend. Ich war entsetzt, dass so etwas überhaupt erlaubt und geduldet wurde. Aber eben, bis zu seiner Abreise in sechs Monaten war er für das Projekt verantwortlich und so hielt ich mich anfangs mit Einwänden zurück. Doch dieses Detail war erst der Anfang von all dem was ich anschliessend noch alles antreffen und vor allem in Ordnung bringen musste. Als ich nämlich in den Energieverteilraum über den Produktionsräumen stieg, wurde es mir beim Anblick der Installationen tatsächlich unbehaglich. Im Prinzip war ich ja einverstanden die nötige Infrastruktur, wenn immer möglich lokal einzukaufen, aber dann sollte sie wenigstens korrekt installiert sein und den minimalen Qualitäts-Anforderungen entsprechen. Doch dies war hier leider absolut nicht der Fall. Und genau in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich punkto Arbeit hier in den Philippinen vom Regen in die Taufe geraten war. Ich hatte keine andere Wahl als den Riesenpfusch von meinem Vorgänger zu übernehmen und alles zu unternehmen um die Produktion irgendwann aufnehmen zu können. Vielleicht war sich mein Vorgänger dieser widerwärtigen Aufgabe bewusst und verliess die Baustelle deshalb vorzeitig?

Was mich auf der Baustelle weiter erwartete.
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19.3.  Philippines – Was mich auf der Baustelle weiter erwartete..

Anfangs bereitete mir vor allem die Klima-Anlage das grösste Kopfzerbrechen. Zuerst wollten die Kühltürme hinter dem Gebäude nicht funktionieren, doch weder der Lieferant noch die Installationsfirma fühlten sich dafür verantwortlich. So hatte ich keine andere Wahl als mit meinen eigenen Leuten zu versuchen die Kühleinheiten funktionstüchtig zu machen. Als dann endlich kühle Luft in die Kanäle geblasen wurde, fingen die Lüftungsgeräte über den Produktionsräumen an zu „schwitzen“. Der Grund war die mangelhafte Isolation mit Styropor-Platten, die anstatt in den Geräten äusserst notdürftig aussen an die Wände geklebten waren. An den schlechten oder nicht isolierten Stellen entstand deshalb Kondenswasser das unkontrolliert in den Zwischenraum über der Produktion tropfte. Es gab keine andere Wahl als bei jedem Gerät die Isolation zu entfernen und eine dichte Ausführung im Innern der Geräte anzubringen. Auch in diesem Fall wollte weder der Lieferant noch die Installationsfirma die Verantwortung übernehmen. Schliesslich fand ich eine Drittfirma die bereit war diese schwierige und undankbare Aufgabe zu erledigen. Diese Tätigkeit war nämlich extrem mühsam und konnte nur von kleinwüchsigen Arbeitern ausgeführt werden. Da die Produktion inzwischen bereits in der Testphase war, mussten diese Reparaturen an Wochenenden ausgeführt werden. Bei diesen Arbeiten wurde auch sichtbar wie rudimentär die gelieferten Geräte tatsächlich gebaut waren. Viele Teile waren bereits rostig und mussten erst behandelt oder mit einer besseren Qualität ersetzt werden. Auch die Ventilatoren schienen von Dilettanten angefertigt denn sie machten einen riesigen Lärm. Man hatte der Lärmbelastung keine Aufmerksamkeit geschenkt und die technischen Vorkehrungen unterlassen um die Ventilatoren so leise als möglich zu bauen. Zudem fehlten koordinierte Installationspläne wo sämtliche Leitungen eingezeichnet waren. Deshalb entdeckte ich Löcher in Lüftungskanälen die man gebohrt hatte um Wasserleitungsrohre gradlinig mitten hindurch zu führen; für mich fachlich ein Horror und eine absolute Todsünde! Dies war der ultimative Beweis, dass die Installationsfirmen nicht nur pfuschten, sondern fachlich total inkompetent waren. Die Frage nach welchen Kriterien die verschiedenen Betriebe die Aufträge erhalten hatten blieb unbeantwortet. Natürlich meldete ich all diese gravierenden Mängel meinen Vorgesetzten in Basel, doch diese meinten nur lapidar ich leide wohl an Perfektionismus. Ihr Mangel an Verständnis und Unterstützung machte die Situation für mich schliesslich nur noch schlimmer, ja unhaltbar.


(1) Ein Detail der Pfuscharbeit

Ein Detail der Pfuscharbeit


Fast zur gleichen Zeit war F. Graf, ein Schweisser aus dem Werk Stein der Ciba-Geigy, in Manila angekommen. Seine Aufgabe war es einwandfrei geschweisste, rostfreie Rohre zu installieren. Diese Leitungen waren für die Verteilung von entsalztem Wasser zu den Produktionsräumen äusserst wichtig. Natürlich entlastete mich seine Gegenwart, doch wie vieles in diesem Projekt bereitete mir ausgerechnet die Aufbereitung dieses Wassers Sorgen. Es wurde nämlich nach der Aufbereitung anstatt mit starkem UV-Licht oder dem Zusatz von Chlor, mit Ozon desinfiziert. An einem Samstagmorgen versuchte ich in aller Ruhe und ganz alleine dem Problem auf den Grund zu kommen. Nach etwa zwei Stunden im Raum der Aufbereitungsanlage wurde mir plötzlich übel und ich glaubte in Ohnmacht zu fallen. Ganz per Zufall und wie ein Schutzengel kam in diesem Moment mein Arbeitskollege Martin, der Pharmazeut, in den Raum. Er hatte das Problem sofort erkannt und schleppte mich aus dem Raum an die frische Luft. Ich hatte nicht gewusst, dass Ozon eine toxische Wirkung auf die Lungen hat und deshalb gefährlich sein konnte. Nach dieser Lektion hatte ich grossen Respekt vor Ozon und liess die Türe des Raumes immer offen, wenn ich dort tätig war. Trotz diesem Zwischenfall konnte ich das Problem an der Anlage schliesslich lösen.

Schon seit langem war entschieden worden, dass am 28. November die Fabrik eingeweiht werden soll. Wegen den vielen Mängeln entstanden aber überall Verzögerungen und es wurde klar, dass dieses Datum nicht eingehalten werden konnte. Aus diesem Grund bat ich um eine Verschiebung der Einweihung. Doch es war schon zu spät, die Herren in Basel konnten ihre Termine nicht mehr verschieben. Also blieb mir nichts anderes übrig als die beteiligten Unternehmen anzuhalten mit Überstunden und an Wochenenden die nötigen Arbeiten so schnell als möglich zu erledigen. Das bedingte allerdings, dass auch ich immer präsent sein musste, sonst wären die Arbeiter bestimmt gleich wieder weggelaufen. Anstatt sich dem eigentlichen Projekt, den Einrichtungen und vor allem meinen Leuten in der Werkstatt anzunehmen, verschwendete ich meine ganze Zeit nun vor allem für die Instandsetzung und Reparatur von gelieferten Anlagen. Ausserdem beschäftigten mich nun auch noch unbefriedigende Bauarbeiten im Gebäude. So wollte, zum Beispiel, die Baufirma den schönen Marmorboden in der Eingangshalle mit grossen Kratzern offiziell übergeben. Wahrscheinlich war beim Abschleifen oder Polieren ein Stein aus der Halterung in der Maschine gefallen, die dann eben die Oberfläche zerkratzte. Doch diese Möglichkeit wurde vom Besitzer der Baufirma energisch abgewiesen. Er behauptete, dass die Marmorplatten schon zerkratzt auf die Baustelle geliefert worden seien. Doch dies war für mich kein Grund den Boden in diesen Zustand zu akzeptieren. Zudem war seine Ausrede überhaupt nicht möglich, denn die Platten waren vor dem Verlegen kontrolliert wurden. Zudem führten diese Kratzer kreisförmig von einer Platte zur anderen. Starrsinnig suchte der Firmenbesitzer nach weiteren Ausreden und er wurde erst einsichtig als ich ihm zu denken gab, dass ein zerkratzter Boden in der Eingangshalle keine gute Referenz für seine Firma wäre. Missmutig liess er die ganze Eingangshalle nochmals abschleifen und neu polieren. Wieder einmal musste ich mich durchsetzen, denn diese schlechte Arbeit war so offensichtlich, dass dies alle Gäste bei der Einweihung bemerkt hätten und ich zudem eine Bemerkung von meinem Chef in Basel riskierte.

Ich war arrogante Zankereien mit lokalen Unternehmen eigentlich nicht gewohnt, denn in Indonesien und Brasilien war so etwas nie vorgekommen. Bei ungleichen Meinungen suchte man immer eine friedliche Lösung. Dies wurde in den Philippinen oft nicht verstanden, denn sie glaubten die Besten in Ostasien zu sein und benahmen sich deshalb oft dreist und arrogant. Ich erwähnte dazu oft das folgende Beispiel: wenn in Jakarta das Telefon wieder einmal nicht funktionierte und man persönlich zum Telefonamt fahren musste um das Problem zu melden (telefonieren konnte man ja nicht), entschuldigte sich eine nette Dame am Schalter. Anschliessend bat sie um Verständnis für das marode System und versicherte, dass in ein paar Jahren auch in Jakarta ein verlässliches Telefonnetz wie in Europa zur Verfügung stehen werde. Andererseits in Manila, wo das Telefonnetz kaum besser funktionierte als in Jakarta, entschuldigte sich niemand. Im Gegenteil, ich musste mir anhören wie sich die Person am Schalter über mein fehlendes Vertrauen in die Telefongesellschaft beklagte und mir empfahl das Land zu verlassen, wenn mir der gelieferte Service nicht passe. Aber ich hatte mich, wie im Fall der verkratzten Bodenplatten, schon auf der Baustelle an solche Ratschläge gewöhnt. Und wenn ich dann noch provokativ Indonesien für bessere Qualität erwähnte, schlug man mir vor doch gleich nach Jakarta zurückzukehren. Und so blieb mir nichts anderes übrig als diese Mentalität zu akzeptieren und zu lernen wie man damit umgeht.

Am 28. November 1979 wurde die Fabrik dann wie von "Basel" erwünscht eingeweiht, allerdings weniger pompös als in Jakarta. Obwohl aus Basel wichtige Persönlichkeiten angereist waren, eröffnete nicht so wie in Jakarta der Staatspräsidenten die Fabrik, sondern der Gesundheitsminister Dr. Enrique Garcia. Bei dieser Gelegenheit beglückwünschte mich mein Chef aus Basel für die Tatsache, dass wir es trotz Rückschlägen geschafft hatten das Projekt termingerecht fertig zu stellen. Doch die Beglückwünschung widerte mich an und so entgegnete ich ihm etwas gereizt, dass dies nur Dank Arbeit während vielen Wochenenden und schliesslich Verzicht auf mein Privatleben möglich gewesen war. Darauf wollte mein Chef scheinbar gar nicht eingehen und erwiderte äusserst schnippisch, es sei mein Problem, wenn ich nicht delegieren könne! Nach diesem Satz und seiner Unfähigkeit lokale Verhältnisse zu verstehen, entschloss ich mich ganz im Geheimen die Firma nach Ende des Vertrages zu verlassen.

Nach der Einweihung der Fabrik waren natürlich noch bei weitem nicht alle Maschinen für die Produktion bereit und die Installationsarbeiten noch lange nicht beendet. Sogar der Dampfkessel streikte ständig und die Produktion musste ständig unterbrochen werden. Im Gegensatz zu Indonesien mussten wir auch die gesamte Laboreinrichtung lokal beschaffen, was sich problematisch, ja fast unmöglich herausstellte. Zu Glück hatte ich mir in Basel die nötigen Unterlagen und Zeichnungen von den speziellen Möbeln besorgt, sodass wir den grössten Teil der Einrichtungen mit unseren eigenen Leuten anfertigen konnten. Aber auch in der Produktion, der Druckerei und im Krankenzimmer brauchte es Möbel und vor allem spezielle, massgeschneiderte Schubladen und Schränke um all die verschiedenen Werkzeuge übersichtlich zu versorgen. Obwohl dies für mich eine zusätzliche Belastung bedeutete, genoss ich sie echt als kreative Abwechslung. Für einmal handelte es sich nicht um Flickarbeiten und Instandstellen von Installationen, sondern um etwas Neues und Befriedigendes zu entwickeln.

Bei der Inbetriebnahme der verschiedenen Produktionsmaschinen stellten wir fest, dass die Kapselfüllmaschine überdurchschnittlich viele leere Kapseln ausstiess, was natürlich nicht tolerierbar war. Da wir den Grund nicht sofort herausfanden, konstruierte ich mit Abwasserrohren und einem Staubsauger ein Gerät das erlaubte die leeren Kapseln abzusaugen. Obwohl mit dem improvisierten Gerät das Problem notdürftig gelöst war, funktionierte die Maschine aber immer noch nicht zur vollen Zufriedenheit. Schliesslich stellten wir fest, dass die Klimaanlage dafür verantwortlich war. Sie war nicht in der Lage die Feuchtigkeit in diesem Produktionsraum auf die nötigen 40% zu reduzieren. Da ich mir bewusst war, dass mit der installierten Anlage keine Verbesserung möglich war, schlug ich der Direktion vor für diesen Raum eine neue, separate Kühleinheit ausserhalb des Gebäudes zu installieren, und zwar von einer fachlich erfahrenen Firma. Dies wurde dann zähneknirschend erlaubt und siehe da, der vorgeschriebene Feuchtigkeitsgrad wurde erreicht und die Maschine lief nachher störungsfrei. 


(2) Eine improvisierte Kapsel-Sortier-Anlage

Eine improvisierte Kapsel-Sortier-Anlage


Im grossen Lager musste nachträglich noch ein Kühlraum erstellt werden. Um unangenehme Überraschungen wie mit den Klimageräten zu erleben, nahm ich mich dieser Arbeit ganz speziell an. Ich wollte sicherstellen, dass diesmal die Isolation im Kühlraum selbst angebracht wurde und mit professioneller, sauberer Arbeit später Verbesserungen vermieden werden konnten. Neben diesen Arbeiten war da zusätzlich noch die Abwasserkläranlage die mich ärgern wollte; ebenfalls ein 100% lokales Fabrikat. Aber in diesem Fall liess ich nicht locker bis der Lieferant die Anlage funktionstüchtig übergab. Um ein Gleichgewicht in den aufreibenden und frustrierenden Alltag zu bringen, begann ich wenn möglich jeden Tag erst einen Moment im Freien zu verbringen und mich gleichzeitig den Umgebungsarbeiten anzunehmen. Wie in Jakarta fing ich bald an alles Mögliche zu pflanzen und liess Löcher für organische Abfälle in die harte, rote Erde graben, sodass man später darauf Bananenstauden pflanzen konnte. Später erweiterte sich dieser Ausgleich sogar in die Gartengestaltung der ganzen Anlage, eine Beschäftigung die mir schliesslich sehr viel Freude bereitete und auf die ich nachher auch stolz sein konnte. Eine Annerkennung für meine Mühe blieb allerdings aus.

Nach einer gewissen Zeit musste man auch feststellen, dass der Aufenthaltsraum neben dem Labor viel zu klein war. Zudem durften aus hygienischen Gründen keine Lebensmittel mehr von zu Hause mit in die Fabrik genommen werden. Also musste rasch noch eine Kantine mit eigener Küche neben der Fabrik erstellt werden. Nach den bisher mühsamen und zermürbenden Monaten mit der Infrastruktur, sah ich die Gelegenheit endlich gekommen um mich etwas Konstruktivem anzunehmen und schlug der Direktion vor dieses Gebäude in eigener Regie zu erstellen. Und zu meiner Überraschung wurde dies bewilligt und so wurde mein Kinderwunsch Architekt zu sein unverhofft erfüllt. Ich fand einen idealen Standort für den Bau der Kantine, machte die Pläne und holte die Bauwilligung ein. Für die Ausführung wählte ich nur qualifizierte Unternehmen. Ich liess mich architektonisch von den einfachen Häusern auf dem Lande inspirieren und plante eine einfache Holzkonstruktion mit einer Reihe von Türen auf beiden Seiten die ins Freie führten, was eine Klimaanlage unnötig machte. Dafür war die Küche modern und effizient eingerichtet, ebenfalls mit natürlichem Licht und Lüftung. An der einzigen fensterlosen Wand montierte ich bunte Swissair Plakate, die den Raum farbenfroh und fröhlich gestalteten. Auf der Seite zum grossen Parkplatz entstand unter einem grossen Vordach eine wunderschöne, bepflanzte  Terrasse wo man sich nach dem Essen auch bei Regen auf Sofas ausruhen konnte. Rund um die Kantine wurden Büsche und Bäume gepflanzt. Das schmucke Gebäude wurde am 12. November 1979, also noch kurz vor der Einweihung der Fabrik, eröffnet. Alle schienen an ihrer Kantine Freude zu haben, ganz speziell aber ich. Doch für einige Arbeiter war der offerierte Komfort, oder eher Luxus, nicht genug. Sie meinten Philippinos seien sehr musikalisch begabt und dass Musik aus einem Lautsprecher nicht behaglich sei. Sie verlangten ein Klavier um die Belegschaft während den Mittagessen mit „Life-Musik“ zu verwöhnen. Zudem gab es Stimmen die nach dem Essen von ….Karaoke träumten! Diesen exklusiven Wunsch wollte und konnte ich aber nicht erfüllen.


(3) Die schmucke Kantine neben der Fabrik.

Die schmucke Kantine neben der Fabrik.

 

 

 

Meine Mitarbeiter
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19.4.  Philippines – Meine Mitarbeiter.

Mit all diesen zusätzlichen Aufgaben fehlte mir vor allem die nötige Zeit um mich meinen eigenen Leuten gebührend anzunehmen und die technische Abteilung (Werkstatt, Ersatzteillager, Unterhalt, etc.) zu organisieren. Ich war mir aber auch bewusst, dass ich mit der Übernahme der Belegschaft in der Werkstatt ein Problem geerbt hatte. Mein Vorgänger war nämlich punkto Arbeitsdisziplin sehr tolerant gewesen. So hatten sie sich daran gewöhnt morgens bei der Arbeit zu erscheinen wann es ihnen passte und viel zu lange die „Merienda“ oder Z’Nüni-Pausen“ sowie das Mittagessen genossen. Der Mangel an Disziplin konnte ich nicht dulden, doch mein Vorgänger meinte ich soll doch nicht so streng sei und mir mal überlegen wie wenig die Leute verdienten. Doch ich wusste, dass die Leute korrekt und nach nationalem Standard sogar sehr gut entlöhnt wurden. Also musste ich warten bis mein Vorgänger abgereist war um neue Gewohnheiten einzuführen.

So hatte einer der Mechaniker die Gewohnheit morgens oft zu spät zur Arbeit zu kommen. Als ich nach dem Grund fragte, sagte er einfach er hätte keine Lust gehabt aufzustehen. Mit viel Verständnis erwiderte ich ihm, dass mir das genau Gleiche passiert sei, dass ich aber dabei meine Verpflichtungen nicht ignoriert habe. Beim zweiten Mal warnte ich ihn ausdrücklich und sagte beim dritten Mal würde er seinen Posten verlieren. Und er kam ein drittes Mal zu spät, worauf ich gar nicht mehr mit ihm diskutierte, sondern ihn direkt ins Personalbüro zur Entlassung schickte.

Auch mit dem Schweisser hatte ich ein Problem. Er kam oft betrunken zur Arbeit, was ich natürlich auch nicht dulden konnte. Ich warnte ein Mal, zwei Mal und verabschiedete mich von ihm beim dritten Mal. An diesem Feierabend stand dann die ganze Belegschaft vor meinem Büro und schrie Kapitalist und dass ich die Menschenrechte nicht respektiere. Dieser Aufmarsch machte mir ehrlich Angst, denn man wusste nie wie eine solche Auseinadersetzung in den Philippinen enden würde. So etwas hatte ich in Indonesien nie erlebt. Also schaute ich gegen den Himmel, machte ein Stossgebet und bat um die richtigen Worte. Danach öffnete ich energisch die Türe. Respektvoll fragte ich nach den Gründen des Aufstandes. Erregt erzählten sie mir, dass der Schweisser wegen mir nun keine Arbeit mehr habe und er nicht wisse wie er seine vierköpfige Familie ernähren soll. Zudem sei seine Frau schwanger und erwarte ein weiteres Kind. Dies gab mir den Schlüssel zu meiner Antwort. Zuerst machte ich aber klar, dass der Mann wie alle anderen Arbeiter 5 Tage mit je 8 Stunden, also nur 40 Stunden pro Woche für die Firma arbeitete. Während dieser begrenzten Zeit sei es unverantwortlich und gefährlich, besonders für einen Schweisser, betrunken zur Arbeit zu erscheinen. Dann erklärte ich ihm, dass er während der restlichen Zeit, also am Feierabend oder am Wochenende, genug Zeit habe um seine persönlichen Bedürfnisse zu erfüllen, dass ich aber während den bezahlten 40 Stunden Arbeit Abstinenz und volle Disziplin erwarte. Dann fragte ich die Runde ob es wohl für einen guten und verantwortlichen Ehemann und Vater normal sei den ganzen Lohn für Alkohol zu verschwenden anstatt für die Familie und die Kinder zu sorgen. Das wirkte, all nickten und verschwanden. Aus Erfahrung wusste ich, dass ich hart sein musste um respektiert zu werden, auch wenn es mir im Innersten oft weh tat.


(1) Die Mannschaft der technischen Abteilung.

Die Mannschaft der technischen Abteilung.


In der Schreinerei arbeitete Akino, ein gewissenhafter, hagerer Mann japanischer Abstammung. Allerdings rauchte er eine Zigarette nach der andern. Eigentlich war dies nicht erlaubt, doch da die Schreinerei nur so etwas wie ein Unterstand neben der Fabrik war und er ja praktisch im Freien arbeitete, drückte ich ein Auge zu. Unbewusst machte ich aber scheinbar jedes Mal beim Vorbeigehen eine Bemerkung. Ich fragte ihn jedes Mal wieso er seinen Lohn in Rauch auflöse anstatt an die Ausbildung seiner Kinder zu denken. Doch dies schien ihn nicht zu beeindrucken, denn als Belohnung bekam ich jedes Mal ein herzliches Lächeln geschenkt. Doch als ich Jahre später einmal nach Manila zurückkam und er bereits pensioniert war, wollte er mich unbedingt sehen. Ich war gespannt was er mir zu sagen hatte. So fuhr ich zu seinem Haus wo er mich strahlend erwartete. Zusammen mit seiner Frau führten sie einen kleinen Laden, ein „groceries-store”. Dann zeigte er mir mit grossem Stolz hinter dem Haus ein grosses Stück Land. Er hatte es gepachtet und pflanzte darauf Zwiebeln und Knoblauch die er dann in der Stadt verkaufte. Überglücklich sagte er, dass er all dies mir zu verdanken habe. Erst als ich die Firma bereits längst verlassen hatte hörte er in seinen Ohren ständig meine Bemerkung wegen dem Rauchen und dass das Geld besser in die Ausbildung der Kinder investiert wäre. Schliesslich entschloss er sich das Rauchen aufzugeben und stattdessen das Geld für die Ausbildung der Kinder auszugeben. Dies erlaubte seiner Tochter später eine Anstellung als Direktions-Sekretärin bei der Bierfabrik „San Miguel“ zu bekommen. Die Geschichte machte auch mich glücklich und bewies erneut, dass mit ehrlichem Dialog so etwas auch ohne finanzielle Hilfe möglich ist. Übrigens hatte er sich über meinen Besuch so sehr gefreut, dass er mich nachher mit seinem eigenen Jeepney ins Hotel nach Manila zurück brachte.

Jedes Mal, wenn ich ein Werkzeug im Lager holte, war es defekt oder einfach unbrauchbar. Da jeder die Schuld weitergab, entschloss ich das Problem zusammen mit den Arbeitern zu lösen. Nach langem Palaver wurde entschlossen, dass jeder die Verantwortung für mindestens eine Maschine oder ein Werkzeug übernehmen müsse. Zum Beispiel gab es nun einen Verantwortlichen für die elektrische Metallsäge. Diese konnte weiterhin von allen benutzt werden, doch für den Unterhalt war nur ein einziger Mann verantwortlich. Und so funktionierte das System auch für die anderen Geräte. Wie ein Vater für ein Kind hatte nun jeder seine Verantwortung für ein Gerät und dessen Unterhalt. Und wenn einmal einer etwas nicht selbst repariert werden konnte, dann musste mir dies gemeldet werden. Das System funktionierte überraschend gut und es war erstaunlich zu beobachten wie in freien Minuten jeder sein Gerät reinigte und pflegte ohne, dass ich sie dazu motivieren musste. Und auch im Lager war das Werkzeug danach immer in perfektem Zustand.


(2) Beim Firmenfest waren immer alle guter Laune

Beim Firmenfest waren immer alle guter Laune


Einmal im Jahr wurde ein Firmenfest organisiert und jede Abteilung angehalten etwas vorzutragen. In den Philippinen ging mit der Stationierung von US-Truppen einiges and lokaler Kultur vergessen und man imitierte einfach Amerikanische Bräuche, so zum Beispiel Paraden wo College-Bands, Folklore-Gruppen und Blaskapellen mitmachen. Ich konnte die kitschige Parade nicht vermeiden, aber ich konnte meine Leute überzeugen wenigstens mit etwas Echtem, authentischen und lustigem aufzutreten. Zusammen wurde beschlossen die amerikanische Disco-Band „Village People“ zu imitieren. Meine „Männer“ klebten sich riesige, schwarze Schnäuze an und verkleideten sich in die maskulinen Stereotypen wie Polizist, Indianer, Bauarbeiter, Rocker, Cowboy und Soldat. Dabei wurde natürlich der dritt-erfolgreichsten Titel der Band Y.M.C.A. durch Lautsprecher allen zu Gehör gebracht. Ihre Darbietung war ein riesiger Erfolg und so erntete die Gruppe einen riesigen Applaus. Die ganze Belegschaft tanzte im Takt der temperamentvollen Musik und sogar der Direktor war begeistert.


(3) „Village People“

„Village People“


Natürlich führte ich wie in Jakarta auch das Recycling ein, sodass wir mit dem Erlös von Alteisen, etc. einmal im Jahr einen gemeinsamen Ausflug machen konnten, zum Beispiel nach Pagsanjan, den berühmtesten Wasserfällen des Landes in der Provinz Laguna. Solch gemeinsame Stunden stärkten die Bande unter den Leuten. Zudem hatten sie beobachtet wie ich überall Sträucher und Fruchtbäume pflanzte. Hinter der Fabrik hatte ich eine Art Gärtnerei wo ich aus Stecklingen Büsche und andere Pflanzen aufzog. Aus Brasilien hatte ich Samen von Baby-Papayas mitgebracht, die ich als Setzlinge entlang des Hages hinter der Fabrik einsetzte. Bald wurde diese Aktivität beim Personal ein Gesprächsthema und ich wurde gefragt wieso ich dies wohltue, ich würde ja die Früchte von den kleinen Bäumen nie geniessen können. Worauf ich sie fragte wer wohl die Bäume gepflanzt habe von denen ich jetzt die Früchte geniessen dürfe? Ich versuchte ihnen zu erklären, dass wenn niemand Bäume pflanzt, die kommende Generation wohl keine Früchte mehr essen würde. Das leuchtete ihnen ein und bald wollten viele zu Hause auch Sträucher und Bäume pflanzen. Dabei erfuhr ich, dass viele Arbeiter auf dem Geländer des Grossgrundbesitzers Julo wohnten und es ihnen verboten war rund um ihr Haus etwas zu pflanzen. Diese unverständliche Anordnung machte mich neugierig und so suchte ich einen Vorwand einen Arbeiter zu besuchen. Und tatsächlich standen die Häuser ohne jegliche Begrünung in der Gegend. Ich fand, dass man in einem tropischen Land eine farbenfrohe Bepflanzung rund um die Häuser tolerieren sollte und dass dies die Lebensqualität damit bedeutend verbessert würde. Zudem fand ich es unerträglich zu sehen wie kultivierbares Land ungenutzt blieb und die Bewohner sämtliches Gemüse auf dem Markt erwerben mussten. Ich schlug den Arbeitern vor mit dem Landbesitzer zu sprechen und ihn mit blühenden Pflanzen vor den Häusern davon zu überzeugen. Ich war mir aber bewusst, dass sich ein direkter Kontakt mit einem Grossgrundbesitzer äusserst schwierig gestaltete, schliesslich gehörte ja der grösste Teil des Landes einigen wenigen Leuten im Lande. Aber als dann aber immer wieder Arbeiter um meine selbst gezogenen Stecklinge baten, musste ich annehmen, dass mein Anstoss etwas ausgelöst hatte. Leider erfuhr ich nie ob sich die Bewohner beim Landbesitzer tatsächlich durchsetzen konnten und ob sich der riesige Gegensatz zwischen einer kleinen, reichen Oberschicht und der breiten Bevölkerungsmehrheit in diesem Fall mit meinen Arbeitern etwas gelockert hatte.

Meine Freizeit und Veränderungen
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19.5.  Philippines – Meine Freizeit und Veränderungen.

Mit den vielen Mängeln in der Fabrik war ich im ersten Jahr extrem mit Arbeit überlastet und hatte deshalb kaum Zeit und Möglichkeit andere Leute kennen zu lernen. Nur selten gelang es mir an einem Wochenende die nähere Umgebung kennen zu lernen, zum Beispiel das Hidden Valley, den Mount Makiling, den Ausflugsort Tagaytay oder den Pagsanjan-Wasserfall. Auch Konzerte und Theatervorführungen im modernen Cultural Center of the Philippines (CCP) waren mir nur selten vergönnt. Bald musste ich feststellen, dass mich der Mangel an Abwechslung aggressiv machte. Zudem schien meine Gesundheit dabei zu leiden, denn ich spürte wie sich meine Schultern immer mehr verspannten. Per Zufall entdeckte ich einen Masseur, Pedro, dem es gelang das Genick und die Schultern zu lockern. Also versuchte ich so regelmässig als möglich eine Behandlung zu bekommen. Eines Tages schien er mir auffällig abwesend, doch er wollte mir nicht sagen was ihn bedrückte. Als ich insistierte gestand er, dass sein Vater im Krankenhaus auf eine Bluttransfusion warte. Da die Familie das Geld für das Blut nicht aufbrachte, warte seine Mutter vor dem Spital auf sein Tageseinkommen. Bestürzt über diese tragische Aussage bat ich ihn die Behandlung sofort zu unterbrechen. Natürlich zweifelte ich an seiner Aussage und wollte im Geheimen wissen ob er mir die Wahrheit sagte. Ich schlug vor sofort mit meinem Auto zum Krankenhaus zu fahren, worauf er kleinlaut zusagte. Und tatsächlich, da stand seine Mutter und wartete auf das nötige Geld, das ich ihm hastig in die Hände drückte. Ich konnte nicht glauben, dass so etwas in den Philippinen möglich war.

Nach ein paar Tagen erfuhr ich, dass man den Vater retten konnte und dass er bald wieder nach Hause durfte. Das motivierte mich die Familie später einmal zu besuchen. Sie wohnten in einem äusserst armen Viertel der Stadt und man musste von der Strasse noch ein Stück weit zu Fuss gehen. Auch hier war ich erneut fassungslos zu sehen in was für einfachen Verhältnissen seine Eltern, sowie Bruder und Schwester wohnten. Aber niemand von der Familie beklagte sich über ihr Schicksal. Vor Weihnachten erhielt ich von Lieferanten und Firmen jeweils Geschenke, unter anderem einen grossen Geschenkkorb mit vielen Köstlichkeiten und einen grossen Schinken. Da ich Schweinefleisch nicht besonders mochte, brachte ich Beides dieser Familie. Ich war anschliessend überzeugt sie glücklich gemacht zu haben, doch als ich ein paar Wochen später wieder bei ihnen vorbei kam, fand ich die Konserven wie ein kostbares Gut fein ausgerichtet auf einem Gestell unter der Decke und den Schinken noch unangetastet. Als ich fragte wieso dieser noch nicht gegessen sei, schienen sie verwirrt und gestanden, dass sie nicht wussten was das „Ding“ war; sie hatten bis anhin noch nie einen Schinken gesehen! Da sie auch keinen Kühlschrank hatten, empfahl ich ihnen den Schinken zu essen so lange er noch essbar war. Und wieder erschütterte mich die Tatsache, dass so etwas überhaupt möglich war. Konfrontiert mit solcher Armut konnte ich nicht anders als die Leute nachher von Zeit zu Zeit zu besuchen und jedes Mal etwas Nützliches mitzubringen.

Pedro, mein Masseur, hatte angefangen Journalismus zu studieren, doch als Ältester in der Familie musste er das Studium bald aufgeben und versuchen als Masseur die Familie über die Runden zu bringen. Dabei bedauerte er das aufgegebene Studium. Da ich keine Kinder hatte entschloss ich mich spontan sein Studium zu finanzieren und seiner Familie beizustehen. Nachdem er das Diplom mit Erfolg bestanden hatte heiratete er Lucia, die in der Administration der Gemeinde arbeitete. Etwas später fand Pedro eine Stelle in Saudi-Arabien. Während dieser Zeit konnte er endlich Geld sparen und sich bei seiner Rückkehr sogar ein kleines Haus bauen. Als sein Sohn auf die Welt kam wollte er aus Dankbarkeit, dass dieser meinen Namen bekam. Zurück in den Philippinen arbeitete er wieder als Journalist und schrieb vor allem über Korruption und Vetternwirtschaft im Lande. Das wurde von den betroffenen Leuten gar nicht geschätzt und es dauerte nicht lange bis er Todesdrohungen erhielt und in die USA fliehen musste. Dort arbeitete er jahrelang illegal in Altersheimen, wo er von seinen eigenen Landsleuten ausgebeutet wurde. Ich konnte dieser modernen Sklaverei nicht länger zusehen und empfahl ihm immer wieder nach Hause zurückzukehren, was er dann schliesslich auch tat. Währenddessen hatte sein Sohn die Grundschulen hinter sich und wollte Krankenpfleger werden. Mittlerweile hatte es im Land politische Änderungen gegeben und dabei hatte seine Frau ihre Stelle verloren. Also wurde es für die Beiden schwierig das Studium von ihrem Sohn zu finanzieren. Also engagierte ich mich nun auch für die dritte Generation. Nachdem er sein Studium mit Bravour absolviert hatte, suchte der Sohn bald darauf sein Glück ebenfalls in den USA, anfangs illegal wie sein Vater. Ich konnte nicht anders als ihn immer wieder anzuspornen sein Aufenthalt zu legalisieren und offiziell als Krankenpfleger zu arbeiten, was er dann schliesslich auch getan hat. Bald darauf lernte er Martina, eine Krankenschwester aus Manila kennen und heiratete sie. Sie bekamen einen Sohn den sie Gabriel nannten.

Wenn es die Arbeit erlaubte fuhr ich anfangs manchmal früh am Sonntagmorgen zum Roxas Boulevard um mit Joggen etwas für meine Gesundheit zu tun. Doch schon bald meldeten sich Schmerzen in den Knien. Entweder war es die schlechte Qualität der Turnschuhe oder der harte Grund entlang des Boulevards. Ich hatte keine andere Wahl als das Joggen wieder aufzugeben. Den einzigen Kontakt mit einem Freund den ich im ersten Jahr pflegte war der mit Othoniel in Rio. In einem Moment der Einsamkeit schlug ich ihm deshalb in einem Brief vor, seine Ferien in den Philippinen zu verbringen. Und zu meiner Überraschung sagte er sofort zu und besuchte mich zu meinem Geburtstag im August. Natürlich freute ich mich auf den Besuch und die Abwechslung, doch gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich mit der Arbeitslast wohl kaum viel Zeit mit ihm verbringen konnte. Also musste ich irgendwie seinen spontanen Besuch mit meiner Arbeit in Einklang bringen, was nicht einfach war. Aber schliesslich konnte ich an drei Tagen frei machen und ihm zwei die bedeutenden Sehenswürdigkeiten der Philippinen zu zeigen: den Erholungsort Baguio auf 1500 Meter über Meer und die berühmten Reisterrassen von Banaue. An einem verlängerten Wochenende konnte ich ihn dann auf seiner Heimreise ein Stück weit zu begleiteten. Wir flogen zusammen nach Hong Kong wo wir die eindrückliche Stadt besuchten und sogar einen Abstecher nach Macao machten. Dann trennten sich unsere Wege erneut und er flog zurück nach Rio und ich nach Manila.


(1) Die berühmten Reisterrassen von Banaue.

Die berühmten Reisterrassen von Banaue.

 

(2) Die Einwohner in der Gegend von Banaue.

Die Einwohner in der Gegend von Banaue.


Als es die Zeit erlaubte versuchte ich später im Schweizerclub Kontakte zu anderen Landsleuten zu finden. Zu meiner Verwunderung trafen sich hier aber fast ausschliesslich nur junge Köche die in den grossen Hotels arbeiteten, die Meisten in Begleitung eines einheimischen Mädchens. Während sich die Männer in einer Ecke unterhielten, langweilten sich die Mädchen in der Ecke gegenüber. Ihre Englisch Kenntnisse waren eben meist sehr bescheiden und sogar einfache Gespräche deshalb schwierig. Aus diesem Grunde kamen sie mir vor wie niedliche Haustiere, die eigentlich nur für das Eine dienten. Ich fühlte mich in dieser Gesellschaft ausgeschlossen und ging später nicht mehr hin. Dabei musste ich erneut feststellen, dass ich nun Manila nicht mehr in Indonesien war. Während man in Jakarta auf Kontakte mit Schweizern und anderen Ausländer unbedingt angewiesen war, brauchte man hier niemand um sich zurechtzufinden. Es gab ja riesige, anonyme Einkaufszentren wo man alles finden konnte was man brauchte. Zudem konnte man sich überall auf Englisch verständigen und brauchte nicht erst eine neue Sprache zu lernen. Auch punkto Religion gab es keine Hürden, denn in den Philippinen waren ja die meisten Leute Christen. Trotzdem blieb es für mich eine anonyme, kalte Stadt so wie es sie in den USA gibt. Ich fühlte ich mich einsam und konnte mir nicht vorstellen die kommenden Feiertage, Weihnachten und Neujahr, alleine in dieser Stadt zu verbringen. Also entschied ich mich über diese Tage via Honolulu nach Rio zu fliegen und die Feiertage mit Othoniel zu verbringen. Es war eine verrückte Idee, aber ich konnte nicht anders als aus der sterilen Umgebung auszubrechen, was ich dann auch nicht bereute. Die kurze Zeit in einer mir bekannten Umgebung tat mir gut und ich entdeckte Orte in Rio die ich bis anhin ignoriert hatte, zum Beispiel die kleine Halbinsel Arpoador zwischen den Stränden Ipanema und Copacabana. Auch der Bummel am Strand der Copacabana in der Neujahrsnacht war phänomenal und erlaubte neue Kraft zu tanken.

Dann begann mein zweites Jahr in Manila. Die Arbeitslast hatte etwas nachgelassen, was mir erlaubte mein Leben angenehmer zu gestalten. Doch schon nach ein paar Wochen nach meiner Rückkehr aus Brasilien hatte ich plötzlich heftige Bauchschmerzen. Martin, der Pharmazeut, meinte es wären nur Blähungen, so wie es bei den Kühen oft vorkäme, doch die Krankenschwester in der Fabrik war nicht der gleichen Meinung und brachte mich sofort ins Makati Medical Center. Dort wurde sofort die Diagnose Blinddarm bestätigt und ich wurde noch am Abend des 19.2.1980 operiert. Natürlich erwartete ich als Privatpatient vom Chefarzt persönlich operiert zu werden, doch als er dann am nächsten über den Verlauf der Operation kaum Bescheid wusste, wurde ich skeptisch. Ich fragte ihn wieso ich eine so riesige Wunde bis hinten zum Rücken habe. Etwas verlegen meinte er, man hätte den Blinddarm nicht dort gefunden wo er sich normalerweise befinde. Noch im Delirium der Anästhesie hatte ich plötzlich das Gefühl, dass der Blinddarm gar nicht entfernt worden war und man nur von einem gut bezahlenden Patienten profitiert habe. Sobald man mich aus dem Bett liess ging ich hinunter ins Labor um meinen Blinddarm zu finden. Und tatsächlich zeigte man mir da in einem Glas wohl so etwas wie ein Blinddarm, doch wie konnte ich sicher sein, dass er von mir stammte? Schliesslich verflog aber die Wahnvorstellung und ich hatte anschliessend keine Bauchschmerzen mehr. Also musste die Operation doch korrekt verlaufen sein, auch wenn es vielleicht nur sein Assistent war der die Arbeit gemacht hatte….!

Kaum wieder auf den Beinen entschloss ich mich im März meine Ferien in Jakarta zu verbringen. Ich hatte nämlich riesiges Heimweh nach Indonesien, meinen Freunden und meinen Angestellten und so verbrachte ich zwei intensive Wochen in Jakarta. Diese Zeit war voll ausgefüllt mit Verabredungen, Einladungen und Partys, die ich in vollen Zügen genoss. Erfüllt mit viel Freude und neuer Kraft kehrte ich nachher wieder nach Manila zurück. Bereits im April profitierte ich von einem verlängerten Wochenende und verbrachte diese Tage in Zamboanga. Der Name des Ortes hatte mich schon lange betört und so hoffte ich auf Spuren seiner historischen Vergangenheit zu treffen. Es waren ja Spanier die schon im Jahre 1635 das Gebiet eroberten und eine Bastion gegen Piraten und Sklavenhändler errichtet hatten. Aber sie mussten sich auch gegen Angriffe von Portugiesen, Holländer und Franzosen wehren. Ab 1899 folgte dann die amerikanische Kolonialzeit. Im Zweiten Weltkrieg errichteten japanische Truppen ihr Hauptquartier in der Stadt, diese wurde aber später wieder von amerikanischen Truppen eingenommen. Schon damals machten muslimische Rebellen von sich reden, denn durch die geographische Lage nahe muslimisch dominierten Gebieten ist die Gegend bis heute terroristischen Anschlägen von Extremisten ausgesetzt. Doch diese Gefahr hielt mich nicht ab diese geschichtsträchtige Stadt zu besuchen. Da es noch keinen Direktflug von Manila nach Zamboanga gab, musste ich zuerst nach Davao, der Hauptstadt der Insel Mindanao, fliegen. Obwohl ich mich nur kurz dort aufhielt, fand ich die Stadt sofort sympathisch. Vielleicht war es die betörende Lage am Fusse des Mount Apo, dem höchsten Gipfels des Inselstaates oder die unberührten Waldgebiete gegenüber diesem Vulkan. Aber Davao war ja nicht mein Reiseziel und so flog ich weiter nach Zamboanga.


(3) Der Sarimanok, ist ein legendärer Vogel und Fabelwesen aus der Mythologie der Maranao auf Mindanao, der zweitgrößten Insel der Philippinen

Der Sarimanok, ist ein legendärer Vogel und Fabelwesen aus der Mythologie der Maranao auf Mindanao, der zweitgrößten Insel der Philippinen


Doch leider war die Stadt gar nicht so wie ich sie mir vorgestellt hatte, es war ein unscheinbarer, vergessener Ort und ich fand kaum etwas, das mich an die legendäre Vergangenheit erinnert hätte. So verbrachte ich die kurze Zeit in einem einfachen Hotel oder spazierte am Meer. Dort bewunderte ich vor allem die Katamarane der Fischer mit ihren erfischend farbenfrohen Segeln, die ich aus den Werbeprospekten von Werbeagenturen kannte. Am Strand verkauften Einheimische schöne, seltene Muscheln die mich so betörten, dass ich in meiner Langeweile nicht anders konnte als einige davon zu kaufen. Sie bildeten danach schliesslich den Anfang einer kleinen Sammlung die ich in der Freizeit langsam erweiterte. Während diesen ruhigen Tagen wurde mir erst so richtig bewusst, dass sich die Philippinen über die vergangenen Jahrhunderte anders als der Rest von Südostasien entwickelt hatten. Das Land wurde ja hauptsächlich durch die Vermischung verschiedener indigener Zivilisationen, sowie den Einflüssen der Spanischen und Amerikanischen Kolonialzeit geprägt, besonders aber auch der römisch-katholische Kirche. Dies beweisen auch die Namen der Philippinos, die sich meistens aus drei Namen zusammensetzten. Zuerst einem lokaler Herkunft oder dem Tagalong, der Sprache die als Grundlage für die offizielle NationalspracheFilipino“ diente. Dann oft noch zwei weitere Namen, einen Christlichen und ein Amerikanisch geprägten. So meldete sich in der Fabrik einmal ein Gärtner mit dem Namen Maliksi Johnny Dela Cruz. Manchmal hatte ich deshalb das Gefühl, dass viele mit ihrer eigenen Identität nicht zu Recht kamen und auch kaum einen nationalen Stolz zeigten. So wurde in der Oberschicht neben Tagalong auch immer noch Spanisch gesprochen. Das war nicht nur elegant, sondern unterstrich den Unterschied zum gewöhnlichen Volk. Das Fehlen einer klaren Identität scheint neben der Armut auch zur massiven Auswanderung beizutragen. Es warteten ja jeden Tag hunderte von Philippinos vor der Amerikanischen Botschaft in Manila um ein Visa zu bekommen. Trotz den interessanten Betrachtungen war ich schliesslich froh wieder nach Manila zurückkehren.

Mitte Mai meldete sich Heinz, mein Freund aus der Zeit im Welschland, und teilte mir mit, dass er mich zusammen mit einem Bekannten besuchen werde. Leider musste ich ihm mitteilen, dass ich meine Ferien eben in Jakarta bezogen hatte und mit der grossen Arbeitslast auch für die Beiden kaum noch genügend Zeit haben werde um das Land zu zeigen. Ich bot ihnen aber an eine individuelle Rundreise durch ein Reisebüro zu organisieren. Diese wurde so geplant, dass ich trotzdem noch Zeit für sie zur Verfügung hatte. Eigentlich war ich ein bisschen neidisch, denn sie besuchten Gegenden und Orte die ich selbst noch nie besucht hatte und deshalb nicht kannte. Die restliche Zeit verbrachten wir dann zusammen in Manila oder in der näheren Umgebung. Der Besuch war eine willkommene Gelegenheit die Arbeit etwas zu vergessen und die Schönheit des Landes zu entdecken.

Im August erfuhr ich von meiner Schwester, dass am Gangynerweg in Lachen eine Überbauung geplant war und unsere Nachbarn bereit waren ihre Häuser deshalb zu verkaufen. Es wurde mir sofort klar, dass der Moment gekommen war um auch für unseren „Eckstein“ eine Lösung zu finden. Ich entschied mich sofort in die Schweiz zu fliegen und mit den Initianten des Projektes zu verhandeln. Mein Kurzbesuch hatte sich gelohnt, denn sie waren bereit unser Haus in ihrem Projekt zu integrieren und unser Haus zu kaufen. Natürlich benutzte ich den kurzen Besuch um auch nach Basel zu fahren und die Verantwortlichen in Basel zu treffen. Hier aber konnte ich ein Verständnis für meine Probleme in Manila kaum wahrnehmen. Und so flog ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurück nach Manila.

Bald darauf entdeckte ich ein Inserat das für eine Reise nach China warb. Bis anhin war es für Ausländer und Normalsterbliche unmöglich gewesen das grosse Reich zu besuchen. Doch nun konnte man in sogenannten Kontingenten China besuchen. Da das Kontingent der Philippinen nicht voll genutzt wurde, benutzte ich die Gelegenheit um mit dieser Gruppe zu reisen. Um nicht alleine unterwegs zu sein fragte ich Othoniel ob er für diese Reise Interesse hätte. Er antwortete sofort begeistert und so schlossen wir uns am 27. August der offiziellen Gruppe an. Die Reise begann in Hongkong, von wo wir erst mit der Bahn nach Guangzhou (bzw. Canton) fuhren. Von hier flogen wir zur südchinesische Stadt Guilin. Diese Region gehört wohl zu den malerischsten in ganz China und wird deshalb von Dichtern, Schriftstellern, Künstlern und Malern gelobt. Obwohl damals Einheimische mit Touristen nicht sprechen durften, gelang es einem jungen Maler mir sein Kunstwerk anzupreisen. Sein Werk war ein schwarz/weisses Landschaftsbild mit den typischen Karstbergen der Region. Da ich nicht wusste ob er ein Agent und damit eine Falle war, liess ich erst von einem Kauf ab. Doch der Maler verfolgte mich ohne Angst und das Bild war so schön, dass ich schliesslich nicht anders konnte als es ihm abzukaufen. Zu meiner Überraschung führte man uns am nächsten Tag aufs Land, wo wir die damals noch archaischen Methoden der Feldbestellung verfolgen konnten. Es war eine eindrückliche Reise zurück in die Vergangenheit. Am nächsten Tag ging es zum imposanten Elefantenberg und nachher durften wir durch Guilin bummeln, was für mich besonders interessant war.


(4) Die Zahnärzte entlang den Strassen machten mir besonderen Eindruck.

Die Zahnärzte entlang den Strassen machten mir besonderen Eindruck.


Allerdings liessen mich die Zahnärzte auf den Strassen des Marktes schaudern, denn ihre Einrichtung bestand aus kaum mehr als einem wackligen Hocker. Und dann kam der Höhepunkt des Aufenthaltes in Guilin, die ganztägige Bootsfahrt auf dem Li-Fluss der sich durch bizarre Karstkegel, vorbei an Dörfern mit grün leuchtenden Reisfeldern schlängelt. Auf der Fahrt begegnete man vielen traditionellen Bambusbooten oder Flossen die immer voll beladen mit Gütern waren. Da wir die ersten Touristen in dieser Gegend waren, wurden wir entweder etwas kritisch beobachtet oder mit einem freundlichen Winken gegrüsst.


(5) Die Bootsfahrt auf dem Li-Fluss bleibt ein eindrückliches Erlebnis.

Die Bootsfahrt auf dem Li-Fluss bleibt ein eindrückliches Erlebnis.


Auch im äusserst einfachen Hotel merkten wir, dass man noch kaum an internationale Touristen mit ihren Ansprüchen gewohnt war. Immer fehlte etwas, einmal das Toilettenpapier, dann die Glühlampen im Zimmer, etc. Aber genau dies liess uns wie Pioniere fühlen. Nach diesem unvergesslichen Erlebnis, flogen wir nach Peking wo wir Zugang zur „Verbotenen Stadt“ hatten und die Grosse Mauer, sowie die Ming Gräber besuchten. In dieser Stadt beeindruckte mich vor allem die riesige Anzahl von Fahrrädern. Man sah fast keine Autos, aber unglaublich viele Fahrräder, so viele dass man die mehrspurigen Strassen nur mit Geduld und viel Mut überquert werden konnten.

Dabei erstaunte mich, dass alle Menschen gleich gekleidet waren. Der staatliche Reisebegleiter erklärte uns, dass der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Mao Zedong, bei der Ausrufung der Volksrepublik China im Jahre 1949 einen solchen Anzug getragen habe und er seither „Mao-Anzug“ genannt werde. Den Anzug gab es in drei Farben. Während Grau für das Parteikader reserviert war, trugen die Bauern und Arbeiter Indigo-blau und die Soldaten der Volksbefreiungsarmee die Farbe Khaki. Natürlich gehörte auch eine Mütze in der gleichen Farbe zum Anzug, meistens vorne mit einem angesteckten, roten Stern. Zu Beginn der Kulturrevolution erschien Mao dann in einem grünem „Mao-Anzug“, der Farbe die nachher in eigener Regie von den Roten Garden übernommen wurde. Westliche oder individuelle Kleidung wurde schliesslich als „bürgerlich“ gebrandmarkt und verboten. Die vier Farben schienen mir aber paradox, denn trotz der gewollten Uniformität und einer klassenlosen Gesellschaft wurde mit ihnen eine gewisse Hierarchie unter der Bevölkerung geschaffen. Als Andenken erstand ich mir aber trotzdem eine grüne Mütze mit einem roten Stern.

Von Peking ging es dann weiter nach Shanghai, damals noch eine eher verschlafene Stadt. Auch hier wurden uns Vorzeigeprojekte der Errungenschaften des Sozialstaates gezeigt (eine neue Wohnung, eine Fabrik und ein Kindergarten, wo uns die Kinder herzlich empfingen und ihr Wissen zeigten). Am Abend besuchten wir dann noch die Oper, doch wir hielten die eintönigen Gesänge nicht lange aus. Am andern Tag machten wir zuerst einen obligaten Besuch im Friendship Store, ein staatliches Unternehmen das damals nur für Ausländer gedacht war. Es war ein riesiger Laden wo man vor allem Souvenirs kaufen konnte. Nachher ging es zum Flugplatz und zurück nach Guangzhou und Hongkong.

Von hier ging es dann mit kurzen Aufenthalten in Bangkok, Singapur, Jakarta, Yogyakarta nach Bali, wo wir noch einige ruhige Tage am Meer genossen. Dann trennten sich unserer Wege wieder und jeder kehrte nach Hause zurück. Auf der Rückreise erlebte ich dann in Jakarta noch eine unglaubliche Überraschung. Früh morgens klingelte im Hotel das Telefon und eine Person mit dem Namen David meldete sich. Als er behauptete, dass er mich kenne wollte ich schon aufhängen. Doch da wurde mir klar, dass es David Faux von der Johannisburg war, der David der mit mir in der Primarschule war. Er arbeitete nun bei der BBC in Jakarta und hatte am Vortag zu einer Party eingeladen, wo Gäste meinen Namen erwähnten. Damit erfuhr er, dass ich in Jakarta war und wollte deshalb gleich schon früh am nächsten Morgen mit mir sprechen. Zum Glück erlaubte mein Reiseplan seine Einladung zum Nachtessen, doch mit dem Erzählen der vielen Erlebnissen seit der Schule in Lachen verging die Zeit zu schnell. Darum versprachen wir einander nun in Kontakt zu bleiben, und dieses Versprechen hielten wir bis zu seinem Tod im Jahre 2018.

Schon vor dieser Reise hatte ich eine Nachricht von einem Bekannten aus Jakarta erhalten. Er war damals in Jakarta Sekretär auf der Mexikanischen Botschaft. Darin teilte er mit, dass bald ein neuer Botschafter in Manila angekommen werde und dass er ihm von mir erzählt habe. Er bat mich ihm bei eventuellen Anfangsproblemen beizustehen. Und dies machte ich gerne, denn ich lernte ihn als eine sehr angenehme, kultivierte und elegante Person kennen. Man konnte mit ihm unterhaltsame Gespräche führen und sich dabei köstlich zu amüsieren. Durch ihn entstand bald ein kleiner Bekanntenkreis und so fand ich das Leben in Manila unerwartet interessant und angenehm.

Jemand aus diesem neuen Bekanntenkreis der Oberschicht nahm mich einmal mit zu einer Party bei Leuten die ich nicht kannte. Überraschenderweise befand sich die Liegenschaft mitten in einem Armenviertel. Entlang der hohen Bambusumzäunung der Liegenschaft hatte es viele Verkäufer die Kleinigkeiten wie Zigaretten, Kaugummi, etc. verkauften. Es war ein wildes Durcheinander vor dem Eingangstor, das streng bewacht war. Nachdem wir uns ausgewiesen hatten wurde das Tor geöffnet und wir befanden uns unverhofft in einem riesigen Park. Im grossen, wunderschönen Haus hatte es viele elegant gekleidete Leute die sich scheinbar alle kannten. Unter diesen Leuten konnte ich auch Polizisten oder Militär ausmachen und so fühlte ich mich in Sicherheit. Aber da ich ausser meinem Begleiter niemand kannte, fühlte ich mich in dieser abgehobenen Gesellschaft eigentlich alles andere als wohl. Nach einer Weile entdeckte ich in der Mitte eines grossen Raumes einen runden Tisch auf dem es eine grosse Schale hatte und von der sich immer wieder Leute mit etwas bedienten. Ich hatte keine Ahnung was es war und so fragte ich meinen „Beschützer“ was in der Schale wohl sein könnte. Er lächelte nur verlegen und gab mir zu verstehen, dass es sich um eine verbotene Substanz, also um Drogen handelte. In diesem Moment hatte ich plötzlich die kleinen Buden beim Eingang am Bambushag vor den Augen, der Ort wo die Polizei brutal zugreift, wenn jemand eine einzige Zigarette entwendet und der Dieb sogar abführt wird. Ich aber befand mich auf der anderen Seite dieses Bambushages, da wo scheinbar ganz andere Gesetze galten und die Polizei Teil der illustren Gesellschaft war, also unter Leuten die sich nicht vor Verhaftungen bei Verfehlungen fürchten mussten. Bei dieser, für mich äusserst abstossenden Ungerechtigkeit bekam ich plötzlich einen starken Brechreiz, holte mein Fahrzeug und fuhr von der Verlogenheit dieser Gesellschaft angeekelt nach Hause.

Nach ein paar Monaten hatte sich der Botschafter voll eingelebt und teilte mit mir oft lustige Anekdoten aus seiner Arbeit als Diplomat, besonders aber Erlebisse mit dem Präsidentenpaar Ferdinand und Imelda Marcos. Natürlich war dies alles irgendwie geheim, doch einige Tage später wusste dann die Boulevard Presse trotzdem davon. Imelda Marcos war vor ihrer Heirat Schönheitskönigin gewesen und fiel dann als Gemahlin des Präsidenten vor allem wegen ihrer verschwenderischen Extravaganz und ihrer exorbitanten Schuhsammlung auf. Mit ungefähr 3000 Paar Schuhen besass sie wohl die grösste private Schuhsammlung der Welt. Sie stilisierte sich als „Mutter der Nation“, die eine Ideologie von „Liebe und Schönheit“ verbreitete. Sie wollte den Filipinos ein Vorbild sein und bemerkte in einem Interview „Ich bin der Star und Sklave der kleinen Leute“ Sie wiederholte auch immer wieder, dass das Volk auf eine schöne Präsidentenfrau stolz sein will und sie deswegen ein Kleid nie ein zweites Mal tragen würde. Auch kaufte sie ständig neuen Schmuck, vor allem seltene Diamanten. Es hiess, dass ihre gesamte Kollektion damals einen Wert von über 21 Millionen Dollar hatte und natürlich mit Staatsgeldern erworben war.

All dies war nur möglich, weil sie manchmal medienintensiv einiges für die armen Leute unternahm, zum Beispiel Unterkünfte für mittellose Leute bauen liess. Als ehemalige Schönheitskönigin und Sängerin interessierte sie aber vor allem ihr eigenes Prestige. So liess sie vor einem Teil des Roxas Boulevard das Meer auffüllen sodass neu ein grosses Stück Land zur Verfügung stand. Darauf liess sie mehrere übertrieben luxuriöse Gebäude wie das Philippine International Convention Center, das Cultural Center of the Philippines, sowie Luxushotels bauen. Schon im Jahre 1974 hatte sie den Miss-Universe-Wettbewerb nach Manila geholt um damit die Philippinen in der ganzen Welt bekannt zu machen. Damit wurde immer mehr klar, dass sie in der Marcos-Diktatur eine dominante Rolle spielte und in hohem Mass immer mehr repräsentative Aufgaben übernommen hatte. So wurde sie plötzlich ausserordentliche Botschafterin und traf dann fast jeden Regierungschef der Welt, meistens ohne den Präsidenten, der zu Hause blieb. Ich hatte oft das Gefühl, dass das Land nun einzig von ihr alleine regiert wurde. Als am 18. Dezember 1979 die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde, hatte Imelda das Privilege die Eröffnungsansprache zu halten und das Übereinkommen vorzustellen. Da die Philippinen diesbezüglich überhaupt kein Vorbild waren (Prostitution, etc.), kam dies dann allerdings in der internationalen Presse äusserst schlecht an und sie wurde danach heftig kritisiert. Doch dies schien sie nicht zu stören und sie ordnete diesbezüglich auch keine Verbesserungen im eigenen Lande an.

Nachträglich zirkulierte hartnäckig ein Gerücht, das aber nie jemand bestätigen konnte. Es hiess, dass Imelda bei ihrem Aufenthalt in New York die Gelegenheit benutzte um an einer Auktion einen Diamant-Ring von Elizabeth Taylor zu einem Höchstpreis zu ersteigern. Scheinbar war der Erlös des wertvollen Ringes für ein karitatives Werk vorgesehen. Als aber Elizabeth Taylor bemerkte, dass der von Imelda ausgestellte Check auf den Namen der Regierung der Philippinen lautete, war sie entrüstet. Sie entschloss sich inkognito nach Manila zu fliegen und den Erlös der Auktion dem Erzbischof Cardinal Sin persönlich als Spende für seine Kirche zu übergeben. Doch leider hatte sie nicht mit dem exzellenten Geheimdienst die Diktatur gerechnet. Nach der Abreise von Elizabeth Taylor erschien Imelda beim Cardinal Sin und verlangte die Rückgabe der „Spende“. Ob dieses Gerücht genau so verlaufen ist, weiss nur Imelda selbst, aber möglich könnte es durchaus sein. Es gab ja fast täglich ähnliche Gerüchte, so auch beim Besuch von Papst Johannes Paul II im Jahre 1981. Scheinbar ignorierte Imelda gewisse Wünsch des Papstes, so zum Beispiel den armen Leuten die Kommunion zu geben. Als er versuchte zu insistieren, drohte sie ihm keine Sicherheit während seines Aufenthaltes mehr zu gewähren. Die Personen die dann vom Papst die Kommunion erhielten waren alles Leute aus ihrer Familie oder engen Bekannten. Die Kinder waren zu diesem Anlass als Schweizer Gardisten gekleidet, was dann aber in den Zeitungen kritisiert wurde. Für diesen Besuch hatte Imelda den luxuriösen Coconut Palace am Meer bauen lassen. Doch der Papst weigerte sich dort zu übernachten, denn angesichts der grossen Armut in den Philippinen schien es ihm dort zu opulent.

Ein weiteres Gerücht verbreitete sich als scheinbar die Lieferungen von Erdöl nach den Philippinen erlahmten. Spontan entschied sich Imelda dem Präsidenten von Mexico einen offiziellen Besuch abzustatten, dies natürlich ohne ihren Mann, den Präsidenten und ohne Mexico frühzeitig davon zu informieren. Der Grund des unerwarteten „offiziellen Besuches“ war allen „Eingeweihten“ aber klar, die Lieferung von Erdöl. Um dies auch sicher zu erreichen nachte sie dem scheinbar „kulturell unterentwickelten Land“ ein Geschenk; 10 Pianos (Flügel), mit denen sie aber die gebildete mexikanische Oberschicht empfindlich vor den Kopf stiess. Trotzdem wurde ihr das benötigte Erdöl zugesagt. Vom offiziellen Manila wurde dies allerdings ganz anderes kommuniziert. Man konnte in den Zeitungen lesen, dass Imelda von der Armut in Mexiko so bestürzt war, dass sie mit tiefem Mitleid entschied dem Land etwas Erdöl abzukaufen und ihm so wirtschaftlich beizustehen. Leider hat der Grossteil der Bevölkerung diesen Schmarren geglaubt und ihre weltbekannte Imelda weiter bewundert. Ich hatte diesbezüglich noch eine ganz persönliche Erfahrung. Ein Unternehmer, der bei uns auf der Baustelle einen Auftrag ausführte, war scheinbar einer der vielen Beratern von Imelda. Er hatte ihr scheinbar von mir erzählt und gesagt, dass ich Schweizer sei. Darauf wollte sie mich kennen lernen um eventuell durch mich Geld in der Schweiz zu verstecken. Als ich erwiderte, dass dies wohl etwas kompliziert sei, sagte er, dass sie dafür sogar zu einer geheimen Heirat bereit wäre, natürlich nur sofern sich dies für sie lohnen würde. Nach all diesen Gerüchten wusste ich nicht mehr was eigentlich wahr war und was ich glauben konnte.

Natürlich hatte Imelda nicht nur Bewunderer und so war sie immer in Begleitung von Sicherheitsbeamten. Sie besuchte auch oft Gastspiele von internationalen Künstlern im Kulturzentrum, kam aber meistens bis zu einer Stunde zu spät. Aus Ehrerbietung mussten immer alle Zuschauer warten bis sie erschien und jedes Mal fragte ich mich wo ihr viel gepriesener Respekt gegenüber „ihrem geliebten Volk“ und den zahlenden Zuschauern blieb? Einmal sass ich neben einer Frau die Deutsch sprach und da man wieder einmal auf die First Lady warten musste, kamen wir ins Gespräch. Als Imelda dann schliesslich eintraf, meinte die Dame neben mir sarkastisch: „Hoffentlich sitzen wir heute nicht in ihrer Schusslinie!“ Ich lachte über ihre Worte, wurde mir aber bewusst, dass man in Manila tatsächlich immer irgendwo in einer Schusslinie lebte. Einmal als ich abends auf dem Wege zum Kulturzentrum unterwegs war, beschossen sich Leute vor meinem Fahrzeug über die Strasse. Ich hatte dies leider zu spät bemerkt und hatte deshalb keine andere Wahl als aufs Gaspedal zu drücken und mit gesenktem Kopf so schnell als möglich dieses Quartier zu verlassen. Ich hatte Glück gehabt, weder ich noch das Auto wurden beim Schusswechsel getroffen. Aber auch zu Hause war man nie sicher und aus diesem Grund bewachten Sicherheitsbeamte das Gebäude Tag und Nacht. Trotzdem bekämpften sich einmal Leute gegenüber meiner Wohnung und ein Schuss traf die grosse Scheibe des Balkons sodass sie ersetzte werden musste.


Seitdem ich mich entschlossen hatte die Firma nach Ende meines Vertrages zu verlassen, hatte ich mich unverbindlich bei der Firma Sandoz gemeldet. Zu meiner Überraschung meldete sich bald darauf ein Vertreter der Personalabteilung in Basel, der zufällig beruflich in Manila war. Ich erzählte ihm von den Jahren in Entwicklungsländern und dass ich mir immer mehr bewusste wurde, dass ich fachlich nicht mehr auf den neusten Stand war. Der Mann schaute mich erst nachdenklich an. Dann sagte er ganz ruhig, dass er wie beim Kauf von Gemüse auf einem Markt sich erst den Inhalt des dargebotenen Korb ansehe. Bei meinem Angebot interessiere ihn vor allem meine Erfahrung in Entwicklungsländern, die Sprachkenntnisse, die Fähigkeit zu improvisieren und natürlich Projekte zu leiten. Diese Kriterien waren für ihn entscheidend, weil er jemand für Einsätze in Entwicklungsländer suchte. Da ich aber nicht mehr bereit war in solchen Projekten zu arbeiten, fand das Gespräch danach leider rasch ein Ende. Ich musste mich also anderswo umsehen. Doch wegen den vielen technischen Problemen auf dem Bau änderte sich für mich die Situation ständig. So war die Firma plötzlich bereit meinen Vertrag bis Oktober 1980 zu verlängern, dann wurde es Dezember 1980 und schliesslich Mitte März, dem Verfalldatum der Arbeitserlaubnis in den Philippinen.

Trotz meiner Bereitschaft die Firma zu verlassen versuchte ich danach eine Stelle im Ciba-Geigy Stammhaus zu beikommen. Und tatsächlich wurde mir mitgeteilt, dass eine geeignete Persönlichkeit gesucht wird um kleinen Konzerngesellschaften in Drittländern bei technischen Problemen beizustehen. Ich erhielt sogar eine Vertragsofferte für die Zeit vom 1.03.1981 bis 31.12.1983. Da keine klare Beschreibung des Postens dabei war und es sich scheinbar erneut um Einsätze in Entwicklungsländern handelte, konnte sie mich nicht begeistern. Zudem lag die offerierte Vergütung weit unter meinen Erwartungen und so wollte ich kein weiteres Abenteuer mit dieser Firma eingehen. Einige Wochen später kam aus Basel plötzlich eine weitere Offerte und zwar für zwei Jahre in Jakarta, also wieder zurück in ein Entwicklungsland und wieder ohne klare Beschreibung der Anstellung. Inzwischen hatte sich ein ehemaliger Arbeitskollege gemeldet. Er war damals für die Pharmaproduktion in Indonesien verantwortlich und verliess die Firma nachdem auch bei ihm klare Versprechen nicht eingehalten worden waren. Er arbeitete seither bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf und hatte mir schon lange geraten die Firma ebenfalls zu verlassen und auch bei der WHO zu arbeiten. Aber ohne Matura und akademischer Ausbildung machte ich mir keine Illusionen eine Anstellung in einer UN-Organisation zu bekommen und unternahm deshalb nichts. Jetzt war der Fall aber anders, ich wollte eine Veränderung. Und genau zu dieser Zeit nahm er an einer Konferenz im Regionalbüro der WHO in Manila teil. Er wollte mich unbedingt sehen, denn bei der WHO musste ein Beamter ausgewechselt werden und so sah er mich als idealen Ersatz. Er sagte, dass er mir die offiziellen Unterlagen für die Bewerbung schicken würde, doch ich liess ihn weiterreden und machte mir weiter keine Hoffnungen. Doch nach ein paar Wochen erhielt ich tatsächlich die Unterlagen. Mit einem Funken von Hoffnung füllte ich sie schliesslich aus und schickte sie zurück nach Genf. Nach einiger Zeit erhielt ich einen Anruf von Dr. Dhiman Baru, eine der verantwortlichen Personen der Abteilung für Durchfallkrankheiten bei der WHO in Genf. Er war beruflich in Manila und bat mich zu einem Vorstellungsgespräch im Regionalbüro der Organisation. Natürlich war dies eine Überraschung, doch ich machte mir erneut keine grossen Hoffnungen, denn ich war überzeugt, dass ich ohne akademische Ausbildung keine Aussicht auf einen solchen Posten hatte. Nach dem Gespräch aber meinte er, dass dies keine Rolle spiele, denn man suche jemand mit meiner praktischen Erfahrung in Entwicklungsländern. Und tatsächlich bekam ich kurz nach seiner Abreise die Zusage für den Posten. 

Nun aber kam die Stunde der Wahrheit, ich musste die Firma offiziell über meine neusten Pläne informieren. Doch dann wurde ich unerwartet unsicher und begann an meinem spontanen Entscheid zu zweifeln. Obwohl ich mich für die Pensionskasse nie speziell interessierte hatte, fragte ich mich nun plötzlich was aus mir werden würde im Falle ich später keine Arbeit mehr fände? Wäre es vielleicht doch besser bis zur Pensionierung bei der Firma treu durchzuhalten? Während ein paar Wochen wurde ich mental zwischen den verschiedenen Möglichkeiten hin und her gerissen und war unfähig eine Entscheidung zu treffen. Da mich die Erfahrung in einer UN-Organisation reizte, ich aber bei der Firma bleiben wollte, schlug ich meinem Chef in Basel einen Kompromiss vor: eine Auszeit von ein bis zwei Jahren. Ich stelle mir vor, dass dabei später beide, die Firma und ich, von einer UNO Erfahrung profitieren könnten. Doch mein Chef wollte davon nichts wissen und schrieb in einem äusserst kurzen Telex: „Entweder Sie akzeptieren unseren Vorschlag oder entscheiden sich für die WHO“. Nach diesem unflexiblen Satz wusste ich aber endlich für was ich mich entscheiden musste: Ich musste den Mut haben etwas Neues zu wagen!


Doch mit diesem Entscheid waren die Hürden noch lange nicht weggeräumt. Denn kurz nachdem ich offiziell gekündigt hatte und von der WHO die offizielle Zusage hatte, erhielt ich von dieser einen neuen Telex in dem mit mitgeteilt wurde, dass das Kontingent für Schweizer bei der WHO in Genf ausgeschöpft sei und für mich deshalb kein Vertrag gemacht werden kann. Da die eingehenden Telex im Büro nicht privat behandelt wurden und unverschlossen mit der internen Post auf den Bau geschickt wurden, wussten sofort alle davon. Der Direktor meldete sich sofort und fragte was ich nun machen würde und ob ich nun doch nicht lieber in Manila bleiben würde? Dabei versprach er mir einen dreizehnten Monatslohn und als dies nichts nützte einen vierzehnten und sogar einen fünfzehnten Lohn. Doch nun hatte ich endgültig genug von dieser Feilscherei und blieb hart. Natürlich wollten alle wissen was ich nun ohne Anstellung in Sicht zu tun gedenke. Aber ich wusste es ja auch nicht und liess die folgenden Tage einfach verstreichen. Eines wusste ich aber jetzt ganz sicher, ich wollte die Firma verlassen und an diesem Entscheid konnte mich niemand mehr beeinflussen.

Und dann kam schliesslich die Antwort und Erlösung. Willem, mein indonesischer Freund in Genf hatte einen Ausweg gefunden um mich nach Genf zu holen. Bei der WHO war vor kurzem eine Abteilung für Durchfallskrankheiten geschaffen worden. Diese hiess Programme for Control of Diarrhoeal Diseases” (CDD). Da besonders Kinder an Durchfällen leiden, war UNICEF ein integraler Partner dieses Programms. UNICEF hatte deshalb bereits schon lokale Pharma Betriebe in Entwicklungsländern mit nötigen Einrichtungen unterstützt und war deshalb auch an der neu geschaffenen Stelle interessiert. Aus diesem Grunde wurde nun alles unternommen um für mich eine entsprechende Vereinbarung zu treffen. Schliesslich wurde entschieden, dass ich im Büro des CDD Programms in Genf als Programme Officer CDD” arbeiten werde, der Vertrag aber von der UNICEF ausgestellt wird. Das hiess, dass ich in meiner Funktion zu 50% die WHO und zu 50% die UNICEF vertrat, aber zu 100% Angestellter der UNO war. Dies war für mich die beste Lösung, denn sie war später bei Besuchen in den verschiedenen Entwicklungsländern von grossem Vorteil. Und so endete schliesslich alles zum Besten und ich war ausserordentlich stolz mit einer Ausbildung als Spengler in einer UNO Organisation arbeiten zu dürfen. Ich hatte es geschafft und zwar ohne Matura! Schade nur, dass mein Vater dies nicht mehr erleben durfte. Ich hätte ihm gerne bewiesen, dass man mit festem Willen, Ausdauer und ein bisschen Abenteuerlust weiterkommen kann als man selbst glaubt.


Zwei Monate vor meiner Abreise besuchte mich meine Mutter. Obwohl ich wie immer mit Arbeit voll beschäftigt war, versuchte ich ihr während ihres zweiwöchigen Aufenthaltes etwas vom Land zu zeigen, allerdings ohne ihr gleichzeitig von meinen Zukunftsplänen zu verraten. Ich versuchte mich und meine Mutter an freien Tagen mit Ausflügen nach Pagsanjan, dem Taal Lake und ins Hidden Valley von meinen täglichen Problemen abzulenken. Ich hatte für sie bewusst kein Programm gemacht, denn damit hatte ich in Jakarta eine sehr schlechte Erfahrung gemacht. So nahmen wir jeden Tag wie er sich präsentierte und das funktionierte bestens. Ich war überrascht, dass sie mich an einem Abend sogar zu einem Jazzkonzert ins Kulturzentrum begleitete. Die gemeinsame Zeit verging schnell und ich war froh, dass es trotz meinen damaligen Schwierigkeiten gelang schöne Stunden mit ihr verbringen.

Nach ihrer Abreise ergab sich die Möglichkeit eine ganz und gar ungewöhnliche Reise nach Bagio zu machen. Der Ort war schon damals der wegen der Geistchirurgie und Geistheilung in der ganzen Welt bekannt. Ich wollte unbedingt mehr über diese Praktiken erfahren, die christlich-spiritistische Tradition und altes philippinischen Heilwesen verbinden. Da ich wusste, dass es in Bagio viele Scharlatane gab, wollte ich nur Mr. Placido Palitayan vom „Christian Spiritual Regeneration Movement“ treffen. Er hatte den Ruf ehrlich und vertrauenswürdig zu sein. Er verlangte auch kein horrendes Honorar, sondern erwartete nur eine Dotation für den Bau eines neuen Zentrums der religiösen Gruppe. Auf dieser speziellen Reise begleitete mich der Mexikanischen Botschafter. Bei unserer Ankunft hatte es bereits sehr viele Patienten die ihn sehen wollten. Ich hatte eigentlich keinen triftigen Grund zu einer Behandlung und sagte am Empfang ganz ehrlich, dass mich einzig die Geistchirurgie interessiere. Dann fragte ich ganz scheu ob ich eventuell bei einer Operation dabei sein dürfte. Die Dame meinte, dass dies nicht Mr. Placido, sondern der zu behandelnde Patient entscheide. Ich musste lange warten, aber es hatte sich gelohnt. Eine ältere Frau erlaubte mir bei der Operation dabei zu sein. Ich hatte keine mysteriösen Riten erwartet und so war es auch. An was die Dame litt wurde mir allerdings nicht verraten. Sie lag auf dem Rücken im Bett und Mr. Placido sprach sein Gebet. Dann untersuchte er den Bauch und durchdrang mit seinen Fingern die Bauchdecke. Es blutete leicht und bald entfernte er irgendetwas weisses Undefinierbares. Wie Abfall warf er es in einen Kübel. Anschliessend holte er noch viel mehr von dieser seltsamen Substanz aus dem Bauch. Dann wischte er das Blut von der Wunde und der Bauch war bereits wieder wie unberührt. Die Dame schien erleichtert und ich bedankte mich bei ihr. Dann war die Reihe an mir. Ich gestand Mr. Placido, dass ich aus purer Neugier nach Bagio gekommen sei, aber eine kurze Untersuchung des rechten Knies, des rechten Auges und des Magens nicht verweigern würde. Also bat er mich aufs Bett zu liegen. Nach einem kurzen Gebet bewegten sich seine Hände analysierend über meinen Körper. Dann bestätigte er, dass ich keine schwerwiegenden Gesundheitsprobleme habe. Doch zu meiner Überraschung bestätigte er mir, dass ich Arthrose in meinen Knien und meinen Schultern habe, etwas das ich schon lange vermutet hatte. Er entfernte an diesen drei Orten, wie vorher bei der Frau, eine weisse Masse, die er in einen Kübel warf. Dann war die Behandlung beendet und ich fühlte mich genau so wie vorher. Ob seine Behandlung mir geholfen hatte wusste ich erst nicht, doch in den kommenden Wochen und Jahren hatte ich tatsächlich weniger Schmerzen in den Achseln und den Knien. Und dabei konnte ich nicht behaupten, dass ich überzeugt von seiner Behandlung gewesen war. Es gibt halt doch Dinge die man nicht erklären kann.

Die Abschiedsparty und zurück in der Schweiz
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19.6.  Philippines – Die Abschiedsparty und zurück in der Schweiz.

Am letzten Tag im Betrieb fiel mir auf, dass die ganze Belegschaft anders als sonst miteinander sprach. Ich hatte das Gefühl, dass mir alle etwas verschweigen wollten, gleichzeitig aber Normalität vorspielten. Als ich kurz vor Mittag in die Kantine wollte, liess man mich nicht rein und alle kicherten vor sich hin. So langsam wurde mir klar, dass irgendetwas Spezielles in Vorbereitung war. Und tatsächlich erwartete mich am Mittag eine riesige Überraschung. Der ganze Saal war hübsch dekoriert und die Tische waren mit Bananenblättern gedeckt. Man führte mich zu meinem Platz und erwähnte, dass ich während meines ganzen Aufenthaltes in den Philippinen immer bedauerte, dass sie ihre eigene Kultur vernachlässigten und nicht genügend schätzten. An diesem Tag wollten sie mir nun das Gegenteil beweisen und mir ein echtes Philippino Abschiedsfest offerieren. Darum hatte es an diesem Tag keine Teller und Besteck auf dem Tisch. Man ass mit den Fingern auf den Bananenblättern. Für mich gab es allerdings einen Teller, Gabel und Messer. Zu meinen Ehren hatten einige für diesen Tag Gedichte in der einheimischen Sprache, Tagalong, geschrieben. In den Texten handelte es ich natürlich oft um mich und um gewisse Ereignisse die wir zusammen erlebt hatten.


(1) Mit selbst komponierten Liedern entstand eine mitreißende Stimmung

Mit selbst komponierten Liedern entstand eine mitreißende Stimmung


Auch selbst komponierte Musik wurde vorgetragen und plötzlich entstand eine Stimmung im Raum wie ich sie vorher in den Philippinen noch nie erlebt hatte. Alle schienen sich äusserst wohl zu fühlen, denn für einmal musste nichts vorgespielt werden, man war unter sich. Sie konnten sein wie sie waren; echte Philippinos. Dieser Moment berührte mein Herz ausserordentlich und ich war glücklich zu sehen wie auch sie den Anlass genossen. Dies hatte scheinbar auch unser CEO Mr. Lucas bemerkt und eine so erfischende Stimmung auch noch nie erlebt. Offenbar auch emotional ergriffen, verkündigte er spontan einen freien Nachmittag für alle an. Der Applaus hätte grösser nicht sein können und so blieben die meisten Arbeiter bis es dunkel wurde in der Kantine und genossen das unerwartete Fest. Für mich war es eines der schönsten und vor allem authentischsten Abschiedspartys die ich je erleben durfte. Es war ein wunderbarer Abschluss meines nicht immer einfachen Aufenthaltes in den Philippinen gewesen.

Am 13. März verliess ich Manila in Richtung Hong Kong, denn ich wollte dort noch Möbel kaufen. Da mein lokaler Lohn in Pesos ausbezahlt wurde und die Ausfuhr dieser Devise verboten war, hatte ich in Manila damit schon vorher allerlei Antiquitäten gekauft. Trotzdem blieben mir dann einige Pesos die ich nach Hong Kong schmuggelte und dort auch problemlos wechseln konnte. Mit diesem Geld kaufte ich mir ein schönes, chinesisches Möbel aus Rosenholz und einige weitere Kleinigkeiten, welches ich meinem Umzugsgut beipacken liess. Nach diesem Einkauf flog ich dann direkt nach Bali wo ich mich erst einmal im Hotel HYATT von dem Stress der letzten Tage erholte. Am 20. März war es dann endgültig, via Jakarta-Singapur verliess ich Asien mit sehr gemischten Gefühlen und kehrte in die Schweiz zurück um am 1. Mai meine Arbeit bei der WHO aufzunehmen.

Bei meiner Ankunft in Lachen entdeckte ich in der Stube meiner Eltern ein neues Bild über dem Sofa. Mein Vater hatte es von Onkel Heiri malen lassen. Es war eine Kopie des Bildes das damals die Zigarrenholzkiste "Siesta Romantica“ zierte, welche die ehemaligen Zigarren- und Stumpenfabrik Burger auf den Markt gebracht hatte. Das Bild zeigt eine Stube mit einer Landkarte an der Wand, einen grossen Globus am Boden und das Modell eines Segelschiffes auf einem Möbel. Zwei Burschen in einer Art Militärausrüstung sitzen auf einer Bank und scheinen einer älteren Person zuzuhören; vielleicht sogar dem Vater der beiden Burschen? Das Bild gibt den Eindruck einer bevorstehenden Weltreise oder dass der Vater den Jungen von den Erlebnissen einer Reise erzählt. Jedenfalls scheint hier das Interesse am Reisen und dem Entdecken der Welt im Vordergrund.


(2) Eine Kopie des Bildes das damals die Zigarrenholzkiste "Siesta Romantica" zierte.

Eine Kopie des Bildes das damals die Zigarrenholzkiste "Siesta Romantica" zierte.


Ich war erstaunt ein Bild mit einem solchen Motiv zu Hause anzutreffen und hatte sofort das Gefühl, dass es irgendwie etwas mit mir zu tun hatte. Mein Vater hatte sich ja während all meiner Jahre im Ausland mit Fragen zurückgehalten und so hatte ich immer das Gefühl, dass er sich kaum dafür interessierte. Ich war mir aber bewusst, dass er manchmal mithörte wenn ich jemandem von meinen Erlebnissen erzählte, denn später hörte ich wie er diese seinen Kollegen weiter erzählte. Aber eben, wir hatten ja nie einen entspannten Dialog zusammen und so musste ich nun annehmen, dass er im Geheimen vielleicht trotzdem stolz auf mich war. Ihm selbst war ein „Ausreissen“ aus der familiären und traditionellen Pflicht ja immer versagt gewesen und so hatte er vielleicht im Geheimen mein Leben im Ausland sogar mit berechtigtem Neid verfolgt? Die Wahl des Bildes schien dies zu bestätigen, doch den wahren Grund dafür werde ich wohl nie erfahren.



Epilog.

Wie in Indonesien oder in Brasilien wurde die sogenannte Global NTO Strategie von NOVARTIS auch in den Philippinen angewendet. Das Fabrikationsgebäude wurde an Interphil Laboratories, Inc. und das Gelände an Sandoz Reality Corporation vermietet. Im Fabrikationsgebäude werden nun die Arzneimittel von Novartis, sowie von weiteren multinationale Pharmabetrieben, durch Interphil hergestellt. Die Fabrik dient jetzt so wie in Brasilien als eine sogenannte „Outsourcing Unit“. Alle loyalen und gut ausgebildeten Angestellten von NOVARTIS wurden entlassen.



 

Zurück in meiner Heimat, oder wenigstens fast.
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20.1.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Zurück in meiner Heimat, oder wenigstens fast..

Schon im April 1981, also kaum zurück in der Schweiz, kaufte ich mir ein Auto, einen braunen MITSUBISHI Lancer GSRX. Nach all den Jahren schien es mir normal auch in der Schweiz punkto Mobilität unabhängig und frei zu bleiben. Das erleichterte mir nicht nur den Umzug meiner Habseligkeiten von Lachen nach Genf, sondern machte mich auch unabhängig vom Auto meiner Eltern. Von meinem neuen Arbeitgeber hatte ich erfahren, dass für den ersten Monat ein Studio mitten in der Stadt Genf für mich reserviert worden war. Allerdings musste ich dann feststellen, dass es sich nur um ein winzig kleines Zimmer handelte, das aber eine Kochnische hatte und somit als Studio vermietet werden konnte. Zudem befand es sich an der Rue de Bern, direkt neben dem Hotel Ramada, also mitten im „Red Light District“. Diagonal vis-à-vis war das berühmte „Palais Mascotte“, ein Nachtclub dessen Gäste bis in die frühen Morgenstunden meinen Schlaf mit schrillem Geschrei unterbrachen. Aber auch mit den vielen Restaurants und Bars in diesem Quartier konnte man nachts nur von Ruhe träumen. Erst fragte ich mich warum man für mich eine solche Unterkunft ausgewählt hatte. Aber wie ich später selbst erfahren musste, herrschte schon damals ein extremer Wohnungsmangel und man musste dankbar sein überhaupt eine vorübergehende Unterkunft zu ergattern. Überdies war das Studio zentral gelegen, sodass ich den Bahnhof sowie den öffentlichen Verkehr sehr leicht erreichen konnte. Aber ich war mir bald bewusst, dass ich hier nicht bleiben konnte und so bald als möglich eine andere Unterkunft, oder noch besser eine Wohnung suchen musste.

Bis es soweit war und ich mich permanent installieren konnte brauchte ich aber sehr viel Geduld und Zeit. Unterdessen wohnte ich immer kurzfristig in Hotels und einmal längere Zeit bei einer „Schlummermutter“ an der Avenue Wendt. Ihr Mann lebte nicht mehr und so vermietete sie ihre drei Zimmer. Leider gab es in ihrer Wohnung nur ein einziges Badezimmer, dessen Benutzung frühmorgens nicht unproblematisch war. Aus diesem Grunde fuhr ich jedes Wochenende zu meinen Eltern nach Lachen, wo ich ohne Hast duschen und meine schmutzige Wäsche erledigen konnte. Die „Schlummermutter“ hatte dies bemerkt und schlug mir immer wieder vor, meine schmutzige Wäsche doch ihr zu überlassen. Ich wollte ihr den kleinen Zusatzverdienst schliesslich nicht weiter verweigern und liess mich überreden. Doch leider blieb es bei einem einzigen Versuch, denn als ich am Sonntagabend zurückkam und meine total verfärbte Wäsche auf meinem Bett fand, entschied ich meine Wäsche wieder bei meinen Eltern zu waschen. Natürlich meldete ich das Desaster der guten Frau, doch ihre Ausrede liess mich noch konsternierter: sie sagte sie sei farbenblind!

Bei der Wohnungssuche erwähnte ich immer wieder, dass ich Auslandschweizer sei und nun zurück in meiner Heimat dringend wieder ein Dach über dem Kopf brauche. Doch auf dieses Argument reagierten die verschiedenen Wohnungs-Verwalter und Sozialämtern nur mit einem müden Lächeln. Auch die Wohnungsvermittlung der UNO konnte mir nicht helfen. Nur durch einen Zufall erfuhr ich von einem Russen der die Schweiz verliess und für seine Wohnung einen Ersatzmieter suchte. Sofort meldete ich mich bei ihm und war erfreut als ich seine Wohnung gleich besichtigen durfte. Sie entsprach genau meinen Vorstellungen, was bei mir aber noch kein Grund zur Freude war. Schliesslich musste ich sicher sein, dass er mich seinem Vermieter, der „BALOISE“, als Nachfolger tatsächlich vorschlägt und diese mich auch als neuer Mieter akzeptiert. Aber ich hatte Glück: ab 1. September 1981 hatte ich endlich eine dauernde Bleibe und konnte mein Umzugsgut aus dem Lager holen lassen. Die schöne und helle 4-Zimmerwohnung befand sich im 9. Stock eines Mehrfamilienhauses in Grand-Saconnex, also nicht weit von meinem Arbeitsort entfernt. Ich war froh, dass das lange Warten auf eine Wohnung endlich ein Ende gefunden hatte. Das Ganze war für mich aber auch vorteilhaft gewesen, denn erst im Nachhinein wurde mir bewusst, dass ich ja schon nach zwei Wochen in Genf bereits beruflich in Deutschland unterwegs war und anschliessend mehr als sechs Wochen in Südamerika herumreiste. Also hätte ich während dieser Zeit für eine unbenutzte Wohnung Miete bezahlt. Dann fand ich heraus, dass meine Nachbarin ursprünglich aus meinem Nachbardorf Siebnen kam, also auch eine Märchlerin war. Das gab mir ein gutes Gefühl, aber mit der Überzahl von Ausländern im Gebäude fühlte ich mich trotzdem kaum je zurück in „meiner“ Heimat. Zudem hatte ich mit meinen zahlreichen beruflichen Einsätzen im Ausland kaum die Möglichkeit gehabt mich irgendwie in Genf zu integrieren, in Vereinen mitzumachen und Freundschaften aufzubauen. Ich hatte keine andere Wahl als die Situation zu akzeptieren so wie sie war und das Beste daraus zu machen. Zum Glück hatte ich mich wenigstens an meinem neuen Arbeitsplatz sehr rasch eingelebt.

Der Start in eine neue Arbeitswelt.
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20.2.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Der Start in eine neue Arbeitswelt..

Ich war überzeugt, dass auch die Büros der UN-Organisationen am 1. Mai geschlossen waren und so erschien ich an meiner neuen Stelle erst am 2. Mai. Aber diese Verspätung schien niemand zu stören und ich wurde sofort diskussionslos allen meinen zukünftigen Arbeitskollegen vorgestellt. Sofort fühlte ich mich in dieser neuen Welt wohl, denn es waren aufgeschlossene Leute. Wie ich es mir vorgestellt hatte, arbeiteten hier Leute aus der ganzen Welt und Englisch war deshalb die Umgangssprache. Obwohl ich die nachfolgende Stellenbeschreibung für den Posten als Projektleiter gelesen hatte, wusste ich eigentlich gar nicht um was es sich hier genau handelte:

  1. Förderung und Unterstützung der Produktion von oralen Rehydrationssalzen (ORS) auf nationaler, regionaler und globaler Ebene in Berücksichtigung der Aktivitäten von UNICEF.
  1. Aufbau einer Gruppe von Ingenieuren mit dem erforderlichen Fachwissen um auf zu erwartende Anfragen von nationalen oder regionalen Fabrikanten von ORS zu reagieren, dies in enger Zusammenarbeit mit UNICEF und UNIDO. Erstellung einer Liste mit spezifischen Fragen zur Produktion, Überprüfung die Machbarkeit und Erstellung von Spezifikationen für die nötigen Geräte und Rohstoffe.
  1. Beratung von lokalen Behörden für die Herstellung von ORS, der Wahl von Maschinen, deren Installation sowie Wartung und Reparatur
  1. Erwägung und Entwicklung von alternativen Methoden für die Produktion, Verpackung und Verteilung von ORS.

Ich war deshalb froh als sich der Vorsteher der Abteilung, Dr. M. Merson, Zeit nahm um mir zu erklären in was für einem Zusammenhang und mit was für einem Ziel in seiner Abteilung gearbeitet wird. Besonders die folgenden Sachverhalte zu verstehen waren für meine zukünftige Arbeit massgebend und fundamental:

a) „The Oral Rehydration Therapy (ORT) “
Seit Jahrhunderten hatte man erkannt, dass bei akutem Durchfall der Körpers Wasser verliert und dass dies für den Patienten lebensgefährlich sein kann, besonders für Säuglinge. Allerhand verschiedene Trinklösungen wurden daher zur Vorbeugung und Behandlung angewendet. Eine wissenschaftliche Grundlage dafür wurde aber erst in den 1960er Jahren geschaffen. Sie wird seither „The Oral Rehydration Therapy“ oder einfach ORT genannt. Nachdem die ersten Artikel über den Erfolg von ORT veröffentlicht worden waren, begann die Weltgesundheitsorganisation (WHO) anfangs 1969 diese Behandlung offiziell in ihren Leitlinien und Ausbildungskursen aufzunehmen. Die Mediziner zögerten jedoch eine so einfache und unspektakuläre Therapie zu übernehmen und anzuwenden. Der eigentliche Durchbruch kam erst im Jahre 1971 während dem Unabhängigkeitskrieg in Bangladesch, als Ausbrüche von Cholera durch die Flüchtlingslager fegten und die nötige Menge Infusionslösungen fehlte. Die Ärzte hatten damals nur eine Alternative: die orale Behandlung, wobei die Zusammensetzung der Trinklösungen ungefähr derjenigen der Infusionslösung entsprach. Die Ergebnisse waren unerwartet erfolgreich und bewiesen, dass eine orale Behandlung nicht nur gleichwertig sein kann, sondern vor allem einfacher in der Zubereitung sowie der Anwendung und zudem viel billiger war. Im Jahre 1989 wurde diese Erkenntnis in der bekannten Ärzte-Zeitschrift “The Lancet“ als "möglicherweise der wichtigste medizinische Fortschritt dieses Jahrhunderts" beschrieben. Erst jetzt wurde ORT nach und nach weltweit akzeptiert. Anfangs 1994 wurde der 25. Jahrestag ihrer Entdeckung am ICDDR, B in Dhaka, Bangladesch und in Washington gefeiert.


b) Das Programm zur Bekämpfung von Durchfallerkrankungen (CDD)
Im Jahre 1975 haben zwei WHO-Feldversuche auf den Philippinen und in der Türkei zum ersten Mal gezeigt, dass das Gesundheitspersonal nach einer gewissen Schulung Durchfallfälle auch zu Hause mit ORT erfolgreich behandeln konnte und dort durch Durchfall verursachte Todesfälle und Unterernährung verhindert wurden. Diese Beobachtungen, die später wiederholt durch andere Studien bestätigt wurden, dienten dazu, die öffentlichen Gesundheitsbehörden, insbesondere in Entwicklungsländern, davon zu überzeugen, dass ORT sicher und effektiv über ihre Krankenhäuser und Gesundheitszentren hinaus zu angemessenen Kosten angewendet werden kann.

Nach diesen Beweisen und nachdem bekannt wurde, dass in den späten 1970er Jahren jedes Jahr rund 5 Millionen Kinder an akutem Durchfall starben, verabschiedete die Generalversammlung der WHO im Jahre 1978 eine Resolution (Nr. 3144), in der die Zusammenarbeit mit UNICEF und mit anderen internationalen und bilateralen Organisationen gefordert wurde. Nach diesem Entscheid wurde dann das Programm zur Bekämpfung von Durchfallerkrankungen geschaffen, das "Programme for Control of Diarrhoeal Diseases", oder kurz "CDD Programme" genannt wurde.

Man war sich bewusst, dass eine kurative Medizin ohne fundamentale Massnahmen wie Vorhandensein von sauberem Wasser, Hygiene und risikoloser Abfall- und Abwasserentsorgung hoffnungslos überfordert war. Da die nötigen Verhaltensänderungen in allen Kulturen Zeit brauchen und die nötigen finanziellen Mittel nicht vorhanden waren, wurde entschieden sich vorerst auf die Behandlung von akutem Durchfall bei Kindern und Erwachsenen zu konzentrieren. Diese Aktivität sollte aber wenn möglich mit Massnahmen zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit begleitet werden. Während sich die WHO vor allem den nötigen Richtlinien und dem Schulungsmaterial für medizinische Fachleute annahm, integrierte UNICEF das "CDD Programme" in ihre bestehenden Aktivitäten.


c) Die Entwicklung und der Konsens für eine einheitliche Zusammensetzung der oralen Rehydrationssalze (ORS)
Die in den 1960er Jahren verwendeten ORS Trinklösungen wurden fast ausschließlich in Krankenhausapotheken hergestellt, normalerweise auf ärztliche Verschreibung. Die Zusammensetzung der Inhaltsstoffe war deshalb je nach Ansicht des Arztes von einem Krankenhaus zu andern unterschiedlich, bestand aber meistens aus Traubenzucker, Kochsalz und anderen Elektrolyten. Mit der wachsenden Nachfrage nach ORS wurde diese Inkonsistenz ein potenzielles Risiko und sorgte für Verwirrung. Um einen Konsens über die Zusammensetzung der zu verabreichenden Lösung zu erzielen, lud die WHO in Jahre 1972 eine Gruppe von führenden Wissenschaftlern zu einem Seminar in Genf ein. Das Ziel war die Einigung über eine Zusammensetzung der Inhaltsstoffe die offiziell empfohlen werden könnte. Unter Berücksichtigung der Gesundheitszustände in Entwicklungsländern und der praktischen Anwendung stimmte die Gruppe zu, nur eine einzige Formel zu empfehlen. Diese sollte für die Vorbeugung und Behandlung von Austrocknung/Entwässerung bei allen Arten von Durchfall (einschließlich Cholera) und bei allen Altersgruppen angewendet werden können. Diese Zusammensetzung wurde "Universalformel" bezeichnet und bestand ausfolgenden Zutaten zum Auflösen in einem Liter sauberen Wasser:

Natriumchlorid 3,5 g
Natriumbicarbonat 2,5 g
Kaliumchlorid 1,5 g
Glucose wasserfrei 20,0 g

d) Die Herstellung der empfohlenen Rezeptur und dessen Name.
Die wenigen kommerziellen Produkte, die zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Markt waren, reichten nicht aus, um die Nachfrage nach ORS zu befriedigen die durch die Schulung von Gesundheitspersonal entstanden war. Darüber hinaus waren die meisten langjährigen Hersteller nicht bereit, ihr Produkt an die von der WHO empfohlene Formel anzupassen. Die WHO begann deshalb im Jahre 1969 mit einem Genfer Pharmaunternehmen (VIFOR) Verhandlungen für die industrielle Herstellung der "Universalformel". Die erste Charge dieser Mischung wurde im Jahre 1970 unter dem Handelsnamen "Choloral" produziert. Mit der Absicht die Verabreichung von teuren, intravenösen Flüssigkeiten  zur oralen Behandlung zu reduzieren, wurde dieses Produkt für die Herstellung von drei Liter der ORS Lösung auf den Markt gebracht, also in erster Linie für den Gebrauch in Krankenhäusern. Um gleichzeitig die Ärzte zur Akzeptanz von ORS zu stimulieren, wurde diese Packung bei Cholera-Ausbrüchen anfangs zusammen mit den bestellten Infusionslösungen geliefert. Später wurde die Dosis für die lokale Zubereitung auf nur einen Liter Lösung reduziert und das Produkt in "BUCOHYDRAL" umbenannt. 1975 entschied UNICEF, dieses Produkt unter dem Namen "ORALYTE" bei anderen Pharmabetrieben herstellen zu lassen. Ursprünglich enthielt "ORALYTE" Geschmacksstoffe, aber die Vielfalt der Vorlieben machte es unmöglich, diese Praxis fortzusetzen. Da "ORALYTE" bereits von einem Pharmaunternehmen im Vereinigten Königreich (BEECHAM) als Handelsname eingetragen worden war, musste UNICEF die Verwendung dieses Namens aber bald wieder aufgeben. Seither ist die "Universalformel" unter dem Namen "Oral Rehydration Salts" oder einfach "ORS" bekannt.


e) Die lokale Produktion von ORS
ORS ist eines der Arzneimittel dessen Verfügbarkeit in vielen Ländern seit 1979 hauptsächlich durch UNICEF sichergestellt wurde. Die Anzahl der von UNICEF weltweit gelieferten Beutel stieg im Jahre 1985 auf 83,4 Millionen Einheiten. Um die grosse finanzielle Belastung zu reduzieren und gleichzeitig die nötige Nachhaltigkeit sicherzustellen, begannen UNICEF und WHO ab dem Jahre 1979 die lokale Herstellung von ORS zu fördern. Die lokale Beschaffung von ORS wurde auch als Weg angesehen, um lokale pharmazeutische Betriebe zur Herstellung von ORS zu motivieren. Einer Reihe von Ländern (Afghanistan, Bangladesch, Kolumbien, Ägypten, Indonesien, Marokko, Myanmar, Nepal, Pakistan, Sri Lanka und Syrien) wurden daher die nötige Produktionsausrüstung und die Laborinstrumente zur Verfügung gestellt. Leider wurden die ersten Projekte nicht immer wie erwartet abgewickelt und so die UNICEF-Aussenstellen häufig mit Problemen konfrontiert die weit über die Lieferung und Installation von Geräten hinausgingen. Typische Schwierigkeiten waren: unzureichendes Engagement der lokalen Behörden, Fabrikationsanlagen die den GMP Standards nicht entsprachen („Good Manufacturing Practice“ oder „Gute Herstellungspraxis für Arzneimittel“), mangelnde Qualitätssicherung sowie Kontrolle, fragwürdige Qualität und Ursprung der Rohstoffe, usw. Verschiedene Berater wurden daher zu Rate gezogen und in diese Länder geschickt. Angesichts der großen Nachfrage nach technischer Hilfe vereinbarten WHO und UNICEF schliesslich eine gemeinsame Stelle für einen ständigen Berater zu schaffen, eine die in das CDD-Programm am Hauptsitz der WHO in Genf integriert sein musste. Diese Stelle wurde vor mir von Herrn Mya Thaung besetzt, der die Organisation Anfang 1981 aus ungekannten Gründen verliess. Als ich am 1. Mai 1981 meine Stelle antrat, gab es deshalb für mich keine ordentliche Übergabe seiner Tätigkeiten und ich musste mich erst durch die wenig vorhandenen Unterlagen arbeiten.

 

Die ersten Schritte in eine neue Aufgabe.
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20.3.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Die ersten Schritte in eine neue Aufgabe..

Mein Chef fand zwingend die bisher unterstützten Projekte kennen zu lernen, die lokalen Produktionsstätten zu besuchen und gleichzeitig zu erfahren wie und ob die lokalen CDD Programme mit der Produktion von ORS abgestimmt waren. Allerdings wollte er, dass ich mich vorher mit den gelieferten Maschinen vertraut machte und schickte mich deshalb zuerst zu den entsprechenden Fabrikanten in Düsseldorf und Köln. Erst dann ging es mit Besuchen in Nord- und Südamerika los. Zuerst aber ging es nach New York um mich den Verantwortlichen von UNICEF vorzustellen und dasselbe ebenfalls bei der „Pan American Health Organization“ (PAHO) in Washington. Diese spezialisierte Gesundheitsbehörde des Interamerikanischen Systems wurde bereits im Jahre 1902 gegründet und dient heute gleichzeitig auch als Regionalbüro der WHO, welche ihrerseits erst im Jahre 1948 gegründet wurde. Es war dieses Büro das schon seit einiger Zeit um Unterstützung der Regierungen in Mexico, Guatemala, Honduras, Panama, Venezuela, Trinidad und Tobago, Peru und Argentinien in Bezug auf ORS gebeten hatte. Vor und nach diesen Besuchen musste ich jeweils bei der PAHO in Washington und bei der UNICEF in New York Bericht erstatten. Es war eine sehr lange und anstrengende Reise gewesen, vor allem auch verbunden mit viel administrativer Arbeit und dem Schreiben von Berichten über jeden Besuch. Das Letztere war ich nicht gewohnt, besonders nicht in Englisch und Spanisch. An Ort und Stelle war es tatsächlich so gewesen wie man mir vor der Reise gesagt hatte: selten technische Probleme, sondern eher administrative Mängel sowie Fehlen von Kommunikation und Zusammenarbeit. Erst in den darauffolgenden Jahren wurde mir bewusst wie wichtig diese ersten Erfahrungen gewesen waren und wie mir die gewonnen Erkenntnisse in den kommenden Jahren meine Arbeit erleichterten.

Während dieser Reise hatte ich plötzlich Schmerzen am linken Schienbein. Zuerst nahm ich den Schmerz nicht ernst, denn die Arbeitsbelastung war so gross, dass ich mich nicht auch noch um mich selbst kümmern konnte. Ich dachte einfach an einen Schlag durch meinen Koffer während dem Aufenthalt auf einem der Flugplätze. Aber ich konnte nirgends ein Hämatom oder sonst einen blauen Fleck feststellen und so nahm ich an, dass es eine Venenentzündung sein könnte. Zum Glück hatte ich in meiner Reiseapotheke einige Pillen Tanderil, ein entzündungshemmendes Mittel von Geigy, und so liessen wenigstens die Schmerzen nach. Doch zurück in Genf, es war an einem Samstag, meldete ich mich sofort in einer Klinik. Schliesslich war ich kein Arzt und ich wusste, dass Selbstmedikation nicht unbedingt harmlos ist. Der Arzt fragte mich wo ich mich in den letzten Wochen aufgehalten habe. Als ich ihm all die besuchten Länder aufzählte, war seine Diagnose ohne jegliche Blutprobe klar: ich hatte Syphilis! Er schrieb ein Rezept für die nötigen Medikamente und verordnete drei Wochen Ruhe zu Hause, die von ihm verschriebenen Pillen zu nehmen und das rechte Bein mit einer Alkoholkompresse ständig horizontal zu halten. Ich rannte zur nächsten Apotheke und war überrascht, dass das benötigte Medikament nicht am Lager war; man musste es express kommen lassen um noch am gleichen Tag mit der Behandlung beginnen zu können! Dabei fragte mich der Apotheker ob ich wirklich ein so extrem starkes Mittel brauche?


Nach einem langweiligen Wochenende mit einem Bein in der Horizontale, hatte ich am Montagmorgen absolut keine Lust mehr zu Hause zu bleiben. Schliesslich war ich sieben Wochen unterwegs gewesen und wollte meinem Chef nun Bericht erstatten. Entgegen den Anweisungen des Arztes fuhr ich zur Arbeit und erzählte meinem Chef nicht nur von meiner Arbeit, sondern auch von meinem Schmerz im Bein, sowie der Diagnose des Arztes. Bald hatten sich einige Arbeitskollegen um mich versammelt, alles Mediziner, welche meinen Fall diagnostizierten. Zu meiner Beruhigung waren sich alle einig, dass es unmöglich Syphilis sein konnte, eine Beurteilung die ich mit absoluter Sicherheit mit ihnen teilte. Dann aber erlebte ich etwas das ich nie erwartet hätte: Jeder präsentierte mir eine andere Diagnose! Mit zehn verschiedenen Diagnosen war ich ziemlich überfordert und total verwirrt. Zudem waren sich diese Ärzte nicht einig was nun zu tun sei. Während einige überzeugt waren, dass ich das verschriebene Medikament unbedingt noch weiter einnehmen müsste, meinten andere ich sollte es sofort absetzen und ein weiterer Arzt war überzeugt, dass die Einnahme stufenweise reduziert werden sollte. Als ich wieder alleine war stellte ich fest, dass mir der ganze Rummel ausser Beklommenheit nichts gebracht hatte. In diesem Moment kam noch ein Arzt in mein Büro, einer der vorhin bei der „Untersuchung“ nicht dabei war. Es war der Inder, der mich in Manila für meinen Posten rekrutiert hatte. Etwas erregt erzählte ich ihm von meiner Verwirrtheit und meinem Eindruck, dass Ärzte scheinbar nur mit Vermutungen Geld verdienen. Er versuchte mich zu beruhigen und erklärte, dass während ein Mensch immer mit seinem Körper zusammen sei, ein Arzt meistens nur ein paar Minuten Zeit habe um sich mit der Gesundheit eines Menschen intensiv zu befassen. So wie in fernöstlichen Religionen unterwiesen, sollte jeder Mensch seinen Körper in erster Linie selbst unter Kontrolle haben und versuchen mit ihm ganz bewusst in konstantem Einklang zu sein. Dann fügte er bei, dass ich mit meiner eigenen Analyse wohl richtig gewesen sei und ich die erhaltenen Medikamente nun entsorgen könne. Mit diesem Erlebnis wurde mir erstmals bewusst, dass die Mediziner eben auch nur Menschen und keine Götter sind. Natürlich versuchen sie meist alles um kranken Menschen zu helfen und ich respektiere deshalb ihre Arbeit. Aber seit dieser Erfahrung bin ich im Umgang mit Ärzten sehr differenziert und brauche Zeit für volles Vertrauen. Aber ich fühle mich seither frei Unzulänglichkeiten zu beanstanden und einen Dialog auf gleichem Niveau zu führen. Ich hatte nämlich erfahren, dass selbst Ärzte zögern bevor sie sich zu einem Arztbesuch entscheiden, was wohl bestimmt auf ein gegenseitiges Misstrauen hindeutet. Und so versuche ich seither in erster Linie auf meinen eigenen Körper zu hören, vernünftig mit ihm umzugehen und ihm die nötige Ruhe zu gönnen.

Die Stabilität der empfohlenen Zusammensetzung von ORS
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20.4.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Die Stabilität der empfohlenen Zusammensetzung von ORS.

Schon bald nach der weltweiten Verwendung der "Universalformel" stellte man fest, dass sich das Produkt in Ländern mit tropischem Klima verändert. Das Pulver wurde braun und karamellisierte bei grosser Wärme. Wie vorgängig erwähnt, wurde das Produkt ursprünglich ausschliesslich durch Mediziner entwickelt, also ohne Zusammenarbeit mit Pharmazeuten und schliesslich ohne Beurteilung einer möglichen Wechselwirkung zwischen den Inhalt-Stoffen. Die Reklamationen häuften sich und WHO sowie UNICEF hatten weder eine klare Antwort zum Problem, noch einen Rat um es zu lösen. Und genau in diesem Dilemma begann ich meine Arbeit in Genf. Da die Stabilität von ORS zur Priorität wurde, hatte dies auch einen Einfluss auf meine Arbeit, denn ohne ein stabiles Produkt hatten all die erwähnten Aktivitäten in der Stellenbeschreibung keinen Sinn.



(1) Wegen unstabiler Rezeptur häuften sich die Reklamationen.

Wegen unstabiler Rezeptur häuften sich die Reklamationen.


Nach der Rückkehr der langen Reise in Südamerika nahm ich mich deshalb sofort dem Problem der Stabilität von ORS an und suchte dabei Hilfe bei unserer Pharma Abteilung. Es wurde mir gesagt, dass dort zwei Deutschschweizerinnen arbeiteten, welche mich fachlich bestimmt unterstützen würden. Und so war es dann auch, wobei ich ihre wertvolle Zusammenarbeit schliesslich während all meiner Jahre in diesem Programm schätzen durfte. Sie empfahlen mir die Stabilität von ORS mit dem Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker in Eschborn zu besprechen, ein Labor mit dem sie regelmässig in Kontakt waren. Dieses Labor antwortete mir umgehend und bot sich sofort an das Problem in Eschborn mit mir zu besprechen. Schon beim ersten Treffen waren sich die Pharmazeuten einig, dass das Natriumbicarbonat die Ursache der Karamellisierung des Produktes sei und dass ein Ersatzprodukt dafür gefunden werden musste, eines das die gleiche klinische Wirkung garantiert. Schon bald schlug uns das Labor mögliche Alternativen vor, wobei tri-Natriumcitrat-Dihydrat die beste Möglichkeit zur Verbesserung der Haltbarkeit des Produkts bot. Nach umfangreichen Stabilitätsstudien bestätigte dies das Zentrallaboratorium im Jahre 1982.


(2) Veränderungen der ORS-Rezepturen nach dreimonatiger Lagerung

Veränderungen der ORS-Rezepturen nach dreimonatiger Lagerung


Nach Abschluss dieser Stabilitätsstudien begann das CDD-Programm sofort die klinische Wirksamkeit dieser alternativen Formel mit der ursprünglich empfohlenen zu vergleichen. Die acht Doppelblind Studien bestätigten, dass die neue Formulierung die gleiche klinische Wirkung hatte. Infolgedessen beschlossen WHO und UNICEF im Jahre 1984, ihre ursprüngliche Empfehlung zu überarbeiten. Es wurde entschieden, dass die Verwendung von ORS mit Natriumbicarbonat in Fällen, in denen das Produkt zur sofortigen Verwendung bestimmt ist, weiterhin akzeptabel bleibt; wo aber eine lange Haltbarkeit erforderlich ist, diese Zusammensetzung nicht mehr empfohlen wird. Deshalb verwenden und liefern beide Organisationen seit 1985 ausschliesslich ORS mit tri-Natriumcitrat-Dihydrat. Die Details der seither empfohlenen Formulierung waren wie folgt:

Natriumchlorid 3,5 g
Trinatriumcitrat, Dihydrat 2,9 g
Kaliumchlorid 1,5 g
Glucose wasserfrei 20,0 g

Um diese Rezeptur offiziell als Medikament zu klassifizieren, war es wichtig die entsprechende Monografie dafür zu erstellen. Eine Monografie definiert die Identität, Reinheit, Gehalt und die entsprechenden analytischen Methoden für alle pharmazeutischen Präparate. Jeder klinisch eingesetzte Stoff hat den Anforderungen dieser Arzneibuchmonografie zu entsprechen. Monografien dienen den Apothekern sowie vor allem der industriellen Heilmittelherstellung und können gesetzgeberisch verbindlich erklärt werden. Obwohl die oben empfohlene Formulierung von ORS als Arzneimittel von der WHO genehmigt und in deren Liste der wichtigsten Medikamente („essential drugs list“) aufgenommen worden war, gab es damals dafür nur eine einzige Monographie, die in der British Pharmacopoea 1980 (B.P), genannt “Compound Sodium Chloride and Dextrose Oral Powder". Die angegebene Zusammensetzung in dieser Monographie entsprach jedoch nicht der von WHO/UNICEF vereinbarten und empfohlenen Formel. Das erweckte Befürchtungen, dass in Ländern in denen bis anhin die B.P. als offizielles Arzneibuch verwendet wurde, dies zu Verwirrungen führen könnte. In Zusammenarbeit mit unserer Pharma-Abteilung wurde die Kommission des britischen Arzneibuchs (BP) gebeten die von WHO/UNICEF empfohlene Formulierung zu übernehmen, was dann in ihrer Ausgabe von 1988 auch geschah. Aber leider hatte B.P. ihre ursprüngliche Monographie neben der von der WHO empfohlenen beibehalten. Dies war erneut ein Grund zur Verwirrung in Entwicklungsländern, doch schliesslich war BP bereit die notwendigen Änderungen in ihrer folgenden Ausgabe vorzunehmen (BP 1993). In der Zwischenzeit wurde eine entsprechende Monografie für ORS auch im offiziellen Arzneibuch der Weltgesundheitsorganisation „The International Pharmacopoeia (Ph. Int.)“ eingefügt. Fast gleichzeitig geschah diese auch in der „United States Pharmacopeia“. Damit wurde ORS zum ersten Mal ein für die Humanmedizin empfohlenes und offiziell anerkanntes pharmazeutisches Präparat. Das motivierte bald sämtliche WHO Mitglied-Staaten ORS auch in ihre nationalen Arzneibücher aufzunehmen oder ORS wenigstens offiziell als Medikament zu erklären. Bei diesen Tätigkeiten lernte ich ein absolut neues Gebiet kennen und erwarb eine Erfahrung die sich schliesslich für meine Arbeit als unentbehrlich erwies.


(3) Eine Auswahl Verpackungen von ORS aus der ganzen Welt.

Eine Auswahl Verpackungen von ORS aus der ganzen Welt.

 

 

Die bestehenden Projekte für die lokale Produktion von ORS
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20.5.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Die bestehenden Projekte für die lokale Produktion von ORS.

Am Anfang der lokalen Produktion von ORS glaubten besonders internationale Organisationen, dass mit der Lieferung von entsprechenden Maschinen die lokale Produktion gesichert sei. Leider war dies meistens nicht der Fall. Mit den fragilen politischen Verhältnissen in Entwicklungsländern musste man immer mit Personalwechsel in der Regierung rechnen. So gab es Fälle wo nach einem Regierungswechsel die neuen Mitarbeiter keine Ahnung hatten, dass ein „Geschenk“ unterwegs war oder bereits angekommen war. Aber auch in UN-Organisationen wechselten die Verantwortlichen ständig, sodass oft weder eine Überwachung noch eine permanente Begleitung eines Projektes gewährleistet war. Diese oft harten Erkenntnisse halfen mir später bei neuen Projekten ganz anders vorzugehen. Erstens wollte ich kein Land zur lokalen Produktion von ORS drängen, sondern versuchte nur die zu unterstützen die einen überzeugten Willen dafür zeigten. Zweitens wollte ich isolierte Projekte vermeiden und versuchte ORS, wenn immer möglich in eine bestehende Struktur einzugliedern. Da war fachliches Wissen sowie Erfahrung meistens schon vorhanden und zudem konnte man Kosten für den Aufbau von Infrastruktur, Administration und Unterhalt sparen. Und drittens, nach meinen mühsamen und negativen Erfahrungen mit staatlichen Betrieben, versuchte ich auch die Privatindustrie für die Produktion von ORS zu gewinnen. Natürlich entsprach dies nicht dem Prinzip der WHO/UNICEF, bei der sich die Zusammenarbeit normalerweise strikt auf die Mitgliedstaaten beschränkte. Doch wo immer möglich versuchte ich es trotzdem, denn es erlaubte die Verfügbarkeit von ORS, ausser im öffentlichen Gesundheitssystem, in einer kommerziellen Version auch im Privatsektor (Apotheken) erhältlich zu machen. Bei den ersten Besuchen erwarteten mich deshalb neben viel Interessantem auch unglaubliche Überraschungen, Enttäuschungen und unwahrscheinlich Absurdes. Zur Illustration nachfolgend ein paar von den ersten Erfahrungen und Erlebnissen:


a) Die Fertigmischung
Wegen akutem Durchfall und Dehydration starben damals auch in Kolumbien extrem viele Kinder unter 5 Jahren. Das „Instituto Nacional de Salud (INS)“ in Bogota begann deshalb schon früh dies zu bekämpfen und startete schon im Jahre 1980 mit der Unterstützung von WHO/UNICEF ORS zu produzieren. INS wurde im Jahre 1917 als privates Forschungszentrum gegründet. Inzwischen war es eine wissenschaftlich-technische Einrichtung im Bereich der öffentlichen Gesundheit geworden, die auch Impfstoffe herstellte. Um jegliche Kreuzkontamination zu vermeiden, wurde für die Produktion von ORS deshalb ein eigenes, kleines Gebäude hinter dem Hauptgebäude errichtet. Der Grundriss war der eines Kreuzes, also eigentlich nicht ideal für den Materialfluss im engen Gebäude. Um Kosten zu sparen hatten die damaligen Verantwortlichen entschieden ORS in Deutschland produzieren zu lassen und die fertige Mischung in 200 Liter MAUSER - Fässern per Schiff nach Bogota zu transportieren. Eine solche Lösung kann wohl nützlich sein, wenn alle vier Zutaten der Mischung die gleiche Korngrösse und dasselbe spezifische spezifisches Gewicht haben. Leider war dies aber nicht der Fall und so entstand durch die Vibrationen auf dem Schiff und anschliessend auf dem Landweg eine Segregation. Bald fand man heraus, dass die Mischung bei der Ankunft nicht mehr homogen war. Grosse, schwere Kristalle befanden sich auf dem Boden des Fasses und die feinen Teile an der Oberfläche. Es kam auch vor, dass man beim Empfang in Bogota unerklärliche Verunreinigungen an der Oberfläche feststellte. Doch da die Fässer trotz Plombierung leicht zu öffnen waren, war es schwierig die Ursache zu klären.


(1) Lager in Bogota. Am Boden die blauen MAUSER-Fässer mit der Fertigmischung von ORS.

Lager in Bogota. Am Boden die blauen MAUSER-Fässer mit der Fertigmischung von ORS.


Ich wusste, dass bereits schon vorher Experten um Hilfe gerufen wurden. Eigentlich lag die Antwort auf der Hand: kein Import von Fertigmischungen und Kauf der nötigen Maschinen die den Mischvorgang lokal erlaubten. Dafür waren die bestehenden Räumlichkeiten aber zu klein und so musste das Gebäude erweitert werden. Obwohl ein fachlich ausgezeichneter Mechaniker immer da war, zeigten sich zudem an der automatischen Füll- und Siegelmaschine bereits Ermüdungserscheinungen. So wurde die Zeit während des Umbaus benutzt um sich dieser wichtigen Maschine anzunehmen. Da bei der Erst-Installation der Maschine die lokalen Arbeiter keine professionelle Anleitung des Fabrikanten hatten, bat ich BOSCH in Deutschland einen Spezialisten für die Revision dieser Maschine zu entsenden. Die Bedingung war, dass der Unterhalt zusammen mit den Arbeitern geschah und diese gleichzeitig eine Art Weiterbildung erhielten. 



(2) Das engagierte Team der Produkton von ORS in Bogota

Das engagierte Team der Produkton von ORS in Bogota


Für die Umstellung der Produktion von der Fertigmischung zum lokalen Mischprozess brauchte es zusätzliche Geräte wie Siebmaschine, Bodenwaagen, Tischwaagen, Laborgeräte, etc. Nebst diesen Geräten benötigte man auch einen Paletthubwagen um die schweren Säcke und Fässer zu transportieren. Als ich in Brasilien arbeitete, nannte man dieses Gerät „carriño“ oder auf Deutsch „kleiner Wagen“. Doch in Kolumbien lachte man jedes Mal, wenn ich dieses Wort sagte, denn hier bedeutete das Wort „cariño““ (mit nur einem r) „Schätzchen“. Als dann der Paletthubwagen oder „carriño“ angekommen war, nannten ihn die Arbeiter liebevoll „EL CARIÑOSO“  und hatten dies sogar in grossen Buchstaben darauf gemalt. Das berührte mich sehr und bewies mir wie nett, aufmerksam und feinfühlig die Leute in diesem Land sind. Die Chefin offeriert mir immer wieder einen „Aromatico“, was ich anfangs nicht verstand. Es handelte sich um einen Kräutertee.


(3) „EL CARIÑOSO“, der Name des Pallethubwagens

„EL CARIÑOSO“, der Name des Pallethubwagens

 
b) Die schwache
Betriebsleitung
In Marokko wurde ich während meinem Besuch zu einer Halle geführt die abgesondert in einem Wohngebiet stand. Sie bestand eigentlich nur aus einem Raum in dem die gelieferten und meist noch teilweise verpackten Maschinen herumstanden. Es war als warte man auf eine räumliche Unterteilung um mit der Produktion beginnen zu können. Von diesem Raum führte eine Türe direkt in den Gemüsegarten wo ein Übersee-Container mit den Rohmaterialien wie Glukose, etc. standen. Beide Container standen offen und es war nicht zu übersehen, dass nachts Hunde, Katzen und andere Tiere dort hausten. Ein solides Lagergebäude, direkt verbunden mit der Produktion, gab es nicht. Im Garten diente ein Wasserhahn für die Bewässerung der Bepflanzung, der in Zukunft auch der Produktion und der persönlichen Hygiene dienen sollte. Der Zugang zu den Containern war nur auf einem Fussweg durch den Garten möglich, was den Gebrauch eines Handhubwagens für den Transport der schweren Rohmaterialen unmöglich machte. Gleichzeitig kam es mir vor als gäbe es für dieses Projekt keine wirklich verantwortliche Person. Mit dieser desolaten Situation empfahl ich das Projekt aufzugeben und die ORS Produktion in einem bereits vorhandenen, staatlichen oder privaten Pharmabetrieb zu integrieren. Doch aus unerklärlichen Gründen wurde dieser Vorschlag energisch abgelehnt. So blieb mir nichts anderes übrig als die trostlose Situation in meinem Rapport zu dokumentieren. Meine freimütige und ehrliche Art die Situation zu beschreiben wurde aber von den für das Projekt verantwortlichen Personen überhaupt nicht geschätzt und ich wurde sogar mit dem Argument beschimpft, dass man die gegebenen Arbeitsbedingungen nicht mit denen in der Schweiz vergleichen dürfe. Dies wiederum irritierte mich aufs äusserste, denn für mich gab es keinen Unterschied zwischen einer Produktion von Medikamenten in einem Entwicklungsland und der Schweiz. An beiden Orten galt es die GMP Normen, sowie die Vorschriften in Bezug auf Sicherheit und Hygiene einzuhalten.



(4) Rohmaterial, so wie Glukose, in Containern im Freien gelagert.

Rohmaterial, so wie Glukose, in Containern im Freien gelagert.


Wie erwartet wurde mein Rapport ignoriert und die Produktion trotz all den Mängel aufgenommen, allerdings mit vielen Schwierigkeiten. Als ich nach ein paar Jahren nochmals um eine Konsultation gebeten wurde, hätte ich meinen früheren Rapport einfach kopieren können. Ausser dass tatsächlich ORS produziert wurde, war die Situation identisch geblieben und die entsprechenden Normen weiterhin ignoriert. Bald aber wurde mir klar warum man um eine Konsultation gebeten hatte: man wollte die schlecht unterhaltenen Maschinen ersetzt haben. Erneut schlug ich Alarm, forderte die Einheit zu schliessen und sie in einen bestehenden, fachlich erfahrenen Betrieb zu integrieren. Danach wurde ich nie mehr um Hilfe gebeten und so ist mir nicht bekannt ob irgendwann in meinem Sinne gehandelt wurde.


c) Gelieferte Maschinen die nie empfangen wurden.
In einem anderen Projekt (diesmal in Sri Lanka), wollte ich bei meinem ersten Besuch erst wissen was mit der gelieferten Einrichtung geschehen war. Den Hinweis für ein „Geschenk“ hatte ich in den Unterlagen meines Vorgängers gefunden. An Ort und Stelle wollte erst niemand etwas davon wissen, doch dann bestätigte die Zollverwaltung, dass die Ware tatsächlich angekommen sei. Da sie aber nie abgeholt wurde, entschied man sich die Geräte als „herrenlos“ zu versteigern. Wie oben erwähnt waren die Gründe dieser Situation politische Änderungen, Personalwechsel beim Empfänger sowie beim Absender und den Projektleitern, sowie mangelnde Koordination.

 
Inzwischen hatte sich in diesem armen, vom Bürgerkrieg geschüttelten Land eine neue Regierung etabliert. Diese wollte unbedingt, dass ORS lokal produziert wird. Ein etwas überheblicher Gesundheitsminister stellte unverschämte Forderungen und verlangte unter anderem eine moderne, automatische Füll- und Verpackungsmaschine. Als ich ihm als Alternative eine einfachere, halb-automatische Variante vorschlug, sagte er forsch, dass er dies niemals akzeptieren würde. Dabei erwähnte er, dass er erst kürzlich ein neues Krankenhaus (ein schwedisches Projekt) abgewiesen habe, weil die Aufzüge mit Scherengittern ausgerüstet waren. Auf diese übertriebenen Ansprüche erwiderte ich mit der Frage wie modernste Maschinen, vollgepackt mit Elektronik, in einem Land mit ständigen Stromschwankungen und Stromunterbrüchen, sowie der hohen Temperatur und extremer Luftfeuchtigkeit wohl überleben würden? Unbeeindruckt von seinem Gebaren fuhr ich fort und fragte ihn ob überhaupt qualifiziertes Personal für den Unterhalt solcher Geräte im Land vorhanden sei. Etwas verblüfft und entwaffnet schaute mich der imposante Mann an und meinte kleinlaut, dass mein Vorschlag im Moment wohl vernünftiger sei.


Aber eben, damit hatte ich die Maschinen noch nicht bestellt. Ich wollte nämlich erst wissen ob überhaupt ein nationales CDD bestand und ob man den Bedarf an ORS für geplante Aktivitäten in den kommenden Jahren kalkuliert hatte? Ein weiterer Punkt war der Gebrauch von ORS. Es war wichtig zu wissen ob ORS nur in Spitälern für akute Fälle gebraucht wurde oder ob ORS auch an die Bevölkerung für die Anwendung zu Hause abgegeben werden sollte. Als klar wurde, dass man ORS in beiden Sektoren wünschte, musste unbedingt geklärt werden wie man eine korrekte Elektrolyt-Konzentration nach dem Auflösen in Wasser auch in den Haushalten garantieren konnte. So wie der Standard Beutel von UNICEF sollte nämlich auch der Inhalt des lokalen Produktes die Zubereitung von einem Liter ORS Trinklösung erlauben, was die Verfügbarkeit eines entsprechenden Messgerätes unentbehrlich machte. Da in diesem Land aber eine Unmenge von verschiedenen Masseinheiten gebraucht werden, musste eine gefunden werden die im ganzen Land bekannt war. Nach Auswertungen von Beobachtungen im ganzen Land wurde der „Seer“ gewählt, ein traditionelles und allgemein bekanntes Mass, das ungefähr 1,024 Liter fasst. Mit den vielen Analphabeten im Land war es zudem unerlässlich, dass die Gebrauchsanweisung nicht nur auf einfache, verständliche Art in drei Sprachen geschrieben ist, sondern auch entsprechend illustriert wird. Während den obigen Auswertungen wurde auch klar, dass der Name „ORS“ für die Bevölkerung nichtssagend war und ein verständlicherer Name gesuchte werden musste. Nach erneuten Umfragen fiel der Entscheid auf „Jeevanee“, was übersetzt so etwas wie „Wasser des Lebens bedeutet“. Dieser Name kommt ursprünglich aus Nepal, wo ORS schon seit einiger Zeit mit diesem Namen bekannt ist. Es hatte sich gezeigt, dass das Wort von allen ethnischen Gruppen im Land verstanden und akzeptiert wird. Und schliesslich wurde auch die Farbe des Beutels ein Thema, denn Farben können je nach Land eine andere kulturelle Bedeutung haben und verkörpern zudem bestimmte politische oder religiöse Ausrichtungen. Sie kann zudem für die Akzeptanz der Verpackung von ORS entscheidend sein. Doch bei dieser Frage war man sich bald einig, denn in einem immer grünen Land bot „Grün“ kein Grund zu Diskussionen. Dank der engagierten Beteiligung der Regierung und UNICEF am Entwicklungsprozess, entstand ein umfassendes Projekt, das genau auf die Verhältnisse im Land abgestimmt war.


(5) JEEVANEE, das ORS in Sri Lanka, verpackt in Klarsicht-Kunststoff-Beutel

JEEVANEE, das ORS in Sri Lanka, verpackt in Klarsicht-Kunststoff-Beutel

 


(6) Packzettel von JEEVANEE aus Sri Lanka mit drei Idiomen.

Ein Packzettel mit illustrierten Anweisungen der Zubereitung und Gebrauch von ORS (JEEVANEE), angepasst an die lokalen Verhältnisse.


Gleichzeitig entwickelte sich das Vorhaben zu einem „Pilot Projekt“ mit halb-automatischer Herstellung von ORS. In Zusammenarbeit mit ROVEMA, einer Spezialfirma für Dosier- und Füllmaschinen in Deutschland, entstand eine Model-Einheit, bestehend aus einem Tisch, darauf fest montiert eine Dosier- und Füllmaschine, daneben die Siegelstation (Schweissmaschine für Polyethylen), sowie eine Präzisionswaage und auf der schmalen Seite ein Elektroschrank für alle Geräte auf dem Tisch. Während dem Entwicklungsprozess hatte man auch entschieden, dass anstelle von Beuteln aus teurer, importierter Aluminium-Folie, lokal erhältliche Polyethylen-Beutel verwenden werden sollen. Da dies noch vor der Änderung der Zusammensetzung von ORS geschah, wurde das Natriumbicarbonat in einen separaten Beutel abgefüllt. Dieser Beutel wurde dann zusammen mit dem zweiten Beutel (Natriumchlorid, Kaliumchlorid und Glucose) und der Gebrauchsanleitung in einen grossen Beutel verpackt und verschlossen. Eine solche Verpackung erlaubte eine sichere Stabilität auch in einem feuchten Klima.



(7) Prototyp-Einheit für das halbautomatische Dosieren und Versiegeln der Polyäthylen Beutel

Prototyp-Einheit für das halbautomatische Dosieren und Versiegeln der Polyäthylen Beutel


Damals gab es in diesem Land kein Pharmabetrieb wo man die ORS Produktion hätte integrieren und unterbringen können. Also blieb keine andere Wahl als eine eigene, unabhängige Produktionsstätte zu errichten. Die State Pharmaceutical Corporation (SPC) des Gesundheitsministeriums schlug eine entsprechende Fläche in ihrem Hauptlager vor. Dies hatte den Vorteil, dass man die Rohmaterialen dort lagern konnte und einen direkten Zugang zur Produktion hatte. Ich notierte mir die Masse der zur Verfügung stehenden Fläche und erstellte einen detaillierten Grundriss der einen Produktionsablauf nach GMP Richtlinien erlaubte. Mit den schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit wollte ich mich absichern und machte klar, dass die nötigen Maschinen erst geliefert würden, wenn die nötigen Räumlichkeiten zur Verfügung standen. Nach einem halben Jahr bekam ich die Nachricht, dass alles bereit sei und die Maschinen bestellt werden konnten. Da mir diese Nachricht nicht genügte, verlangte ich eine Kopie des Aufführungsplanes. Bald darauf bekam ich eine Kopie meiner eigenen Skizze, was mich natürlich irritierte. Da ich den Leuten nicht glaubte, verband ich eine Reise nach Thailand mit einem Zwischenhalt in Colombo. Und tatsächlich war seit meinem letzten Besuch die vorgesehen Fläche leer geblieben. Erneut erinnerte ich die Verantwortlichen an die „herrenlos“ versteigerten Maschinen in der Vergangenheit und drohte mit dem Abbruch unserer Unterstützung am Projekt. Diese Drohung zeigte Wirkung, denn schon bald bekam ich die Nachricht, dass die Arbeiten begonnen hätten. Bevor ich die Maschinen aber definitiv bestellte, vergewisserte ich mich nochmals an Ort und Stelle. Die Bauarbeiten waren fortgeschritten und ab diesem Moment machte mir das Projekt nur noch Freude. Es wurden bald kompetente, arbeitsfreudige Leute eingestellt, die mir bei der Installation der Maschinen beistanden. Ja, und dann begann eine Erfolgsgeschichte die sich sehen lassen konnte, denn das Projekt wurde bald zum Vorbild für andere Entwicklungsländer.



(8) Das Dosieren von ORS in Polyäthylen Beutel

Das Dosieren von ORS in Polyäthylen Beutel


Doch plötzlich musste ich befürchten, dass eine amerikanische Hilfsorganisation das gründlich durchdachte Projekt gefährden könnte. Diese empfahl nämlich der Regierung in Sri Lanka die Beutelgrösse zu ändern und kleinere Beutel mit Dosen für ein Glas Wasser herzustellen, so wie es diese Organisation bereits in Ägypten eingeführt hatte. Entgegen den Empfehlungen der WHO/UNICEF, die gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium ein nationales CDD Programme aufgebaut hatten und die lokale Produktion von ORS Beuteln mit einem Inhalt für einen Liter Wasser unterstützten, tauchten in Ägypten plötzlich und unkoordiniert kleinere Beuteln für ein Glas Wasser auf. Dabei entstand nicht nur Verwirrung unter der Bevölkerung, sondern auch die Gefahr, dass der Inhalt des 1-Liter Beutels in zu wenig Wasser aufgelöst wurde. In einem solchen Fall konnte die Salz-Konzentration in der Lösung für Kleinkinder lebensgefährlich werden. Und genau dies wollte ich in Sri Lanka unbedingt vermeiden. Und tatsächlich wurde Dr Gladys Jayewardene, die erste weibliche Direktorin des Medical Research Institute und Vorsitzende der State Pharmaceutical Corporation (SPC) von dieser Organisation nach Kairo eingeladen um dort ihr Vorzeige-Projekt zu besuchen. Da ich bis anhin mit dieser Dame immer offene und ehrliche Gespräche geführt hatte, empfahl ich ihr bei diesem Besuch vorsichtig zu sein und sich nicht unüberlegt auf eine Änderung der Beutelgrösse einzulassen. Bei ihrer Rückkehr bestätigt sie mir, dass man sie, ohne auf die Konsequenzen hinzuweisen, von kleinen Beuteln überzeugen wollte. Da sie aber selbst bei der Planung der ORS Produktion in Sri Lanka beteiligt gewesen war, konnte man sie glücklicherweise nicht zu einer Änderung überreden. Sie war überzeugt, dass ihr Land bereits die bestmöglichste und nachhaltigste Lösung gefunden hatte. Zu meinem grossen Bedauern wurde sie von der „Janatha Vimukthi Peramuna“ (JVP), einer national-marxistischen und Anti-Indian Partei, am 12. September 1989 ermordet, weil sie indische Medikamente importiert hatte. Dabei verlor das Land eine sehr kompetente sowie äusserst engagierte Frau und ich eine wertvolle Projekt-Partnerin.


Nach ein paar Jahren entstand auf dem gleichen Grundstück ein staatlicher Pharmabetrieb, der nicht nur äusserst modern gebaut war, sondern wo auch die GMP Normen strikte eingehalten wurden. Der Betrieb wurde von der „Japan International Corporation Agency (JICA)“ finanziert und fast ausschliesslich von deren Landsleuten errichtet. Als das eindrückliche Projekt beendet war, zogen die Arbeiter wieder ab und übergaben das „Geschenk“ den Einheimischen. Da ich das ORS Projekt seit Jahren weiter begleitet hatte, fand ich den Moment gekommen um vorzuschlagen, ORS nun in diesen neuen Räumlichkeiten herzustellen. Doch die Verantwortlichen der ORS Einheit wollten davon nichts wissen. Zu meiner Überraschung sagten sie mir, dass die aktuelle Produktion von ORS finanziell erfolgreich sei und sie deshalb nicht in ein defizitäres Projekt integriert werden wollten. Tatsächlich erfuhr ich ein paar Tage später von Verantwortlichen dieser neuen Fabrik, dass Schwierigkeiten mit dem Unterhalt von Maschinen bestanden. Niemand auf der Botschaft des verantwortlichen Staates Japan konnte helfen oder wenigstens den Kontakt zu den entsprechenden Lieferanten vermitteln. Konfrontiert mit sprachlichen Problemen kam man auf die Idee, die „kranken“ Maschinen mit „neuen“ aus Deutschland zu ersetzen. Man war überzeugt, dass auf diese Weise die nötigen Ersatzteile immer verfügbar wären und dass man auch aufnötige, technische Unterstützung zählen könnte. Die technischen Probleme wurden inzwischen in Zusammenarbeit mit JICA gelöst, trotzdem zeigte mir dieses Beispiel erneut, dass „Geschenke“ wohl gut gemeint sind, aber ohne grundlegende Vorbereitung, Zusammenarbeit und Begleitung des Projektes, nicht nachhaltig sein können.


d) Der Unterhalt der gelieferten Produktionsmaschinen.
Während meinen ersten Besuchen in den verschiedenen Ländern die mit Produktionsmaschinen unterstützt worden waren konnte ich feststellen, dass diese (ausser in Indonesien, sowie oben beschrieben in Marokko) für die Herstellung von ORS benützt wurden. Leider entsprachen aber die Räumlichkeiten meistens kaum den entsprechenden Normen und die Maschinen waren ohne Ausnahme schlecht unterhalten. Der Grund war, wie zum Beispiel in Nepal, das Fehlen von einem kompetenten und fachkundigen Management. ORS wurde hier in einem von UNIDO unterstützten Pharmabetrieb hergestellt. Während die vorhandenen Räume sich für Produktion von ORS theoretisch eigneten, überraschten mich die überall herumstehenden, teilweise offenen Fässer mit verschiedenen Pillen, Dragées, etc. Im Qualitätslabor sträubten sich dann meine Haare als ich sah wie die Kontroll-Instrumente auf wackligen Tischen installiert waren und die Füsse der Präzisionswaagen auf Coca-Cola Deckel standen. Während der Kontrolle all der gelieferten Produktions-Maschinen öffnete ich die Türe eines Stromregulators; dabei sprang mir eine riesige Ratte entgegen. In diesem Moment hatte ich genug gesehen und schrie entsetzt: „In so einem Sauladen kann ich nicht arbeiten“ und fuhr ins Hotel zurück.



(9) Das analytische Labor des Betriebes in Kathmandu.

Das analytische Labor des Betriebes in Kathmandu.


Erst jetzt wurde mir klar, dass ich mir als UNO Berater solche Emotionen nicht leisten konnte. Um mich in Genf bei einer allfälligen Reklamation oder sogar einem Landesverweis als „Persona non grata“, also unerwünschten Person, zu rechtfertigen, fuhr ich am nächsten Morgen zurück in den Betrieb. Ich wollte die Gründe meiner Unkontrolliertheit dokumentieren und fotografierte alles was nicht den GMP Normen entsprach. Plötzlich stand ein Mann neben mir und bat mich ihm zum Direktor des Betriebes zu folgen. Ich war mir bewusst, dass meine Ahnung sich nun bewahrheiten könnte. Doch es kam ganz anders. Der Direktor des Pharmabetriebes teilte mir zuvorkommend mit, dass er von meiner Unzufriedenheit gehört habe und er gerne mehr über meine Motive wissen möchte. Offen und ehrlich schilderte ich meine Eindrücke des Betriebes. Er hörte mir aufmerksam und interessiert zu. Zu meiner grossen Überraschung gratulierte er mir am Schluss für meine Ehrlichkeit und meinte, dass er immer wieder von Experten besucht werde und immer würden alle sagen: „It is amazing in what condition you produce drugs“, oder “Es ist erstaunlich unter was für Bedingungen Sie Medikamente produzieren“. Bis anhin hätte er dies immer als Kompliment verstanden, doch nun war ihm klar geworden, dass mit diesem Satz das Gegenteil gemeint war. Fast beschämt gestand er mir, dass ihm sein Posten von der Regierung zugeteilt worden war und er eigentlich keine Ahnung von Pharmaproduktion habe. Er war sich bewusst, dass er dringend einen fachlich ausgewiesenen Assistenten im Betrieb brauchte und fragte mich deshalb, ob ich ihm für zwei Jahre zur Seite stehen könnte. Leider musste ich ihm erklären, dass ich kein freischaffender Berater sei und mit UNICEF/WHO in einem Vertragsverhältnis stand. Im Nachhinein tat mir der Mann irgendwie leid. Solche Geständnisse hörte ich später noch in anderen Ländern, was mich immer mehr empörte. Ich hatte Mühe zu akzeptieren, dass bei solch politischen Entscheidungen die Qualität und Sicherheit von Medikamenten ignoriert oder vernachlässigt wurde.


In Bezug auf die gelieferten Maschinen versuchte ich bei meinen Besuchen vor allem die teuren automatischen Füll- und Siegelmaschinen wieder fit zu machen. So veranlasste ich, dass BOSCH und Rovema ihre Maschinen in Nepal, Pakistan, Afghanistan, etc. überholen und reparieren konnten. Manchmal versuchte ich meine Reise so zu organisieren, sodass ich den Mechanikern an Ort persönlich behilflich sein konnte. So auch in Afghanistan und obwohl das Land im Kriegszustand war. Zum Glück hatte ich die Reise gemeinsam mit dem Mann aus Deutschland geplant, denn wegen verspäteter Ankunft in Delhi verpassten wir beide den Anschlussflug nach Kabul. Da der nächste Flug erst in zwei Tagen auf dem Flugplan stand, wollten wir diese Zeit in einem Hotel in der Nähe des Flugplatzes von Dehli verbringen. Doch mein Kollege aus Deutschland hatte kein Visum für Indien und so durften wir das Gebäude nicht verlassen. Die erste Nacht verbrachten wir deshalb im Transit des Flughafens. Die ganze Nacht versuchte ich für den Mann immer wieder ein temporäres Visum zu bekommen, doch die Immigration blieb stur. Erst als ich am nächsten Morgen das UNICEF Büro in Delhi informierte und den lokalen Behörden mit einem Skandal drohte, gelang das Unmögliche plötzlich. Wir durften den Flughafen verlassen und in ein Hotel ziehen. Am dritten Tag flogen wir dann endlich und ohne erneute Verspätung nach Kabul. Bei der Ankunft überraschten mich die vielen Raketen die ständig über der Stadt abgeschossen wurden. Erst dachte ich das Feuerwerk am helllichten Tag würde zu unseren Ehren abgehalten! Doch wie es sich dann herausstellte, wurden diese Raketen zum Schutz vor Bombenangriffen abgefeuert. Es wurde uns gesagt, dass die Wärme der Feuerwerke die feindlichen Bomben anziehe und so ungefährlich über der Stadt explodieren lasse. Das Leben in Kabul schien sich an diese Gefahr gewöhnt zu haben und so merkte man auf der Strasse kaum etwas von Bürgerkrieg.



(10) Eine schlecht unterhaltene, automatische Füll-und Siegelmaschine.

Eine schlecht unterhaltene, automatische Füll-und Siegelmaschine.


UNICEF hatte schon im Jahre 1979 entschlossen den staatlichen Pharmabetrieb „Avicenna“ mit einer automatischen Dosier- und Siegelmaschine zu unterstützen. Eine Machbarkeitsstudie fand aus unerklärlichen Gründen nicht statt. Die eigentliche Produktion begann aber erst 1982 und blieb seither ernüchternd niedrig. Die Gründe waren allen bekannt: mangelnde Produktionsplanung, äusserst schlechte Lager- und Produktionsbedingungen, sowie kriegsbedingte Ausfälle von Personal. Die automatische Dosier- und Siegelmaschine befand sich in einem üblen Zustand, was vor allem auf den schlechten Unterhalt sowie mangelnde Reinigung zurückzuführen war. Trotzdem konnte der Mechaniker aus Deutschland seine Arbeit problemlos ausführen. Ursprünglich hatte die Regierung die Lieferung von zwei neuen Maschinen verlangt, was nun mit der Reparatur und dem fachgerechten Unterhalt vermieden werden konnte. Leider konnte damit aber eine gut funktionierende ORS Produktion noch lange nicht garantiert werden Dafür wären ein entsprechendes Gebäude, ein Lager mit der entsprechenden Kapazität, die entsprechenden Produktionsmaschinen und Laborinstrumente nötig gewesen, etwas das im kriegsgeschüttelten Land illusorisch war.


Auf dem Weg von unserer Unterkunft zur Fabrik waren wir jeden Tag erneut bestürzt über die vielen Kriegsopfer die man auf den Strassen sehen konnte. Meistens waren Männer ohne Prothesen mit nur rudimentären Krücken unterwegs. Es machte uns auf eine schreckliche Art klar, dass in diesem Land Krieg war. Bei diesem Anblick und der rauen Natur im Hintergrund fragte ich einmal unseren ständigen Begleiter wieso man sich in einem so armen, kargen und felsigen Land überhaupt bekämpfte? Etwas erbost schaute mich der stolze Afghane an und meinte wir hätten doch auch Berge und Felsen in der Schweiz und würden es trotzdem lieben. So sei es auch in seinem Land, er sei Afghane und hätte keine andere Wahl als sein Land so zu akzeptieren wie es eben sei. Es sei seine Heimat so wie die Schweiz für mich und er würde sie niemals verlassen. Ich war verblüfft, dass ein Mann im gebirgigen Zentralasien die Schweiz kannte und über mein Land Bescheid wusste. Solche Begegnungen hatte ich oft auf meinen Reisen und war immer wieder erstaunt wie gut die Leute ausgebildet waren. Leider waren gerade solche Leute in den Regierungen meistens Mangelware.


An einem Nachmittag war wieder einmal Bombenalarm. Wir waren im Büro von UNICEF, als alle Angestellten ihren Arbeitsplatz plötzlich fluchtartig verliessen und nach Hause rannten. Den Mechaniker und mich brachte man sofort zurück ins Hotel, oder besser gesagt ins UN-Guesthouse. Wir gingen in unsere Zimmer und ruhten uns aus. Doch bald wurde mir langweilig und so ging ich in den Garten. Ich stellte mir vor, dass ich bei einem Bombenangriff nicht unter einem zerstörten Haus sterben möchte, sondern lieber im Garten an der frischen Luft. Nach einer Weile kam auch mein Kollege in den Garten und machte mir wegen meiner Sorglosigkeit Vorwürfe. Doch als ich auf die Strasse zeigte, wo die Einheimischen wie gewohnt ihrer Arbeit nachgingen, war er sogar einverstanden mit mir einen Entdeckungs-Spaziergang in der Umgebung zu machen. Dabei war viel Interessantes zu sehen, so zum Beispiel ein Bäcker der auf traditionelle Weise Fladenbrote herstellte. Sie rochen so herrlich, dass wir nicht anders konnten als zwei solcher Brote zu kaufen und sofort daran zu knabbern. Nach unserer Rückkehr im Guesthouse wurde uns gesagt, dass während unserer Abwesenheit tatsächlich nebenan eine Bombe eingeschlagen war, allerdings ohne grossen Schaden anzurichten. Wieder einmal war ein Schutzengel mit uns gewesen. Die Rückkehr nach Europa war weniger spektakulär, was den prägenden Eindrücken während unserem Aufenthalt in Kabul aber nichts abtat.


e) Der Geburtsort von ORS
Das “International Centre for Diarrhoeal Disease Research, Bangladesh” (ICDDR, B) wurde im Jahre 1960 als Cholera-Forschungslabor der Südostasien-Vertragsorganisation (SEATO) in Dhaka, Bangladesh gegründet. Zu seinen bemerkenswerten frühen Errungenschaften gehörte seine Schlüsselrolle bei der Entwicklung, Erprobung und Implementierung einer oralen Rehydration Lösung (ORS). Das ICDDR, B war auch die treibende Kraft bei der Entwicklung des staatlichen „National Oral Rehydration Programme“ (NORP) im Jahre 1979. NORP startete bald mit vier ORS Produktionseinheiten, deren Zahl sich später erhöhte. Obwohl bei NORP die Produktion von ORS ausschliesslich auf Heimindustrie basiert war, zählte diese zu den Pionieren der Herstellung von ORS.



(11) Das Dosieren der Rezeptur mit Kunststoffzylinder

Das Dosieren der Rezeptur mit Kunststoffzylinder

 

(12) Das Versiegeln (schweissen) der Plastikbeutel an einem heissen Stück Eisen.

Das Versiegeln (schweissen) der Plastikbeutel an einem heissen Stück Eisen.


Beim NORP gab es keine Maschinen und so wurden die vier Komponenten in Plastik- oder Aluminium-Becken von Hand gemischt. Für die volumetrische Dosierung brauchte man Kunststoff Zylinder die auf die gewünschte Dosis zugeschnitten waren. Für die Versiegelung der PVC-Beutel erhitzte man ein Stück Eisen oder benutzte eine heisse Kochplatte. Es waren äusserst rudimentäre Produktions-Methoden, aber das Produkt erlaubte viele Kinder und Erwachse mit Durchfall zu behandeln und wahrscheinlich ihr Leben zu retten. ORS wurde gleichzeitig auch im staatlichen „Government Pharmaceutical Laboratory“ in Tejgaon in Dhaka hergestellt. UNICEF hatte diesen Betrieb für die industrielle Produktion von ORS mit den nötigen Maschinen unterstützt. Auch hier waren die gelieferten Maschinen in einem etwa gleich üblen Zustand wie die in den anderen besuchten Ländern. Auch hier fehlte es an regelmässigem Unterhalt und der Pflege der Maschinen sowie eines kompetenten Managements. Und auch hier schien die Regierung einer modernen Entwicklung selbst im Wege zu stehen. Bei einem Besuch im Gesundheitsministerium bekam ich zudem den Eindruck, dass die Bevölkerung fast ausschliesslich von Nichtregierungsorganisation (NGOs) versorgt wurde. In einem Wartesaal im Gesundheitsministerium fiel nämlich meine Aufmerksamkeit auf eine grosse Landkarte von Bangladesh. Da diese voll mit farbigen Stecknadeln bedeckt war, fragte ich meinen Begleiter was diese wohl bedeuteten. Etwas verlegen erwiderte er mir, dass dies Orte seien wo NGOs tätig seien. Da es extrem viele Nadeln waren, wollte ich wissen wo denn auf dieser Karte der Staat tätig sei. Diese Frage schien ihm aber sichtlich zu provokativ und so bekam ich darauf keine Antwort. Irgendwie schien mir diese Situation merkwürdig und ich war erstaunt, dass mich niemand darüber informiert hatte. Erst danach hörte ich sagen, dass die Regierung vor den NGOs kapituliert hätte, aber gleichzeitig schamlos vom jährlichen Unwill der Natur (Stürme, Überschwemmungen, Taifunen, etc.) profitiere und nach jedem Unwetter übertriebene Solidaritäts-Forderungen an die Weltbevölkerung richte. Tatsächlich hatte auch ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte und das gespendete Geld, so wie an manchen Orten in der Welt, die Entwicklung des Landes eher hinderte anstatt sie zu fördern. Aber zu solchen Gedankengängen war ich ja weder kompetent noch berechtigt.


Der erste Tag in Bangladesh war extrem mühsam gewesen. Ich wusste, dass die Müllers, Freunde aus der Zeit in Kigali, nun in Dhaka wohnten. Horst hatte hier den Posten als Küchenchef im nagelneuen Hotel Sonargaon übernommen. Aus diesem Grund hatte ich entschieden während meines Aufenthaltes in diesem Hotel zu übernachten, was mir gleichzeitig erlaubte meine Freunde zu sehen. Dies passte aber dem WHO Vertreter in Dhaka überhaupt nicht. Beim Begrüssungsgespräch sagte er mir, dass es mir nicht erlaubt sei dort zu übernachten. Es war damals das schönste und beste Hotel im Land und hatte somit auch seinen Preis. Also musste ich während mehr als einer Stunde anhören, dass der Preis einer Übernachtung die von der WHO erstattete Tagespauschale übersteige und ich daher in ein billigeres Hotel oder eine Herberge umziehen müsse. Daraufhin machte ich ihm meinerseits klar, dass ich über die Preise informiert sei und die Mehrkosten selbst übernehmen werde. Doch auch dieses Argument liess er nicht gelten und insistierte, dass ich nicht von WHO Richtlinien abweichen dürfe. Da mich diese lächerliche und sterile Diskussion äusserst irritierte erwiderte ich ihm, dass ich nach Bangladesh gekommen sei um zu arbeiten und nicht über die Hotelunterkunft zu diskutieren. Ohne über meine Aufgabe sprechen zu können verliess ich sein Büro und fuhr zur Vertretung der UNICEF um mich dort ebenfalls vorzustellen. Als ich dem Repräsentanten von meiner Auseinandersetzung im WHO Büro erzählte wurde er wütend, nahm sein Auto und brachte mich zurück zur WHO. Dort entlud sich zwischen den Beiden ein noch grösserer und sinnloser Streit, sodass ich erst gegen Mittag beim Gebäude eintraf wo ORS maschinell produziert wurde. Doch der Betrieb hatte die Tore bereits geschlossen. Das heisst die Scherengitter waren bereits gezogen und ein Wächter war mit der Installation der Vorhängeschlösser beschäftigt. Es war interessant die merkwürdige Prozedur, die an das Mittelalter erinnerte, zu verfolgen. Einmal verschlossen, wurden die Vorhängeschlösser mit einem Stück Stoff umwickelt, mit einer Schnur gesichert und schliesslich mit Siegelwachs übergossen, das vorher mit einer Kerze erwärmt worden war. Dieses tägliche Ritual schien mir in der heutigen Zeit vollkommen absurd und unverständlich. Aber eben, ich bekam nicht immer eine Antwort auf meine Fragen.



(13) Versiegeltes Vorhängeschloss beim Haupteingang zur Fabrik

Versiegeltes Vorhängeschloss beim Haupteingang zur Fabrik

 

 



Ein Handbuch für die lokale Produktion von ORS
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20.6.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Ein Handbuch für die lokale Produktion von ORS.

Die Erfahrungen in den oben erwähnten Ländern machten mir bewusst wie wichtig ein Handbuch für die lokale Produktion von ORS wäre. Wann immer ich konnte sammelte ich deshalb entsprechende Unterlagen bis dann im Jahre 1985 das Dokument „Oral Rehydration Salts, Planning, establishment and operation of facilities“ (WHO/CDD/SER/85.8) für den Druck bereit war. Während das erste Kapitel des Handbuches der Anwendung und der Zusammensetzung von ORS gewidmet ist, gibt das zweite Anleitung für die Planung der Produktion (Schätzung der Nachfrage, Nationale Standard Dosis, Darreichungsform, etc.) Dann folgen Kapitel mit Spezifikationen für die benötigten Rohstoffe (inkl. Qualitätssicherung und Testmethoden), Informationen über die nötigen Räumlichkeiten für Lager, Produktion, Personaleinrichtungen, Klimaanlage, etc. Dann folgt das Herz des Dokumentes, das den ganzen Produktionsvorgang und die erforderlichen Maschinen beschreibt. Es gibt auch Auskunft zur Qualitätskontrolle des Fertigproduktes, inklusive der Testmethoden. Im Anhang folgen Formulare und weitere Spezifikationen sowie die Richtlinien zur Qualitätssicherung der Produktionsabläufe von Arzneimitteln und den geforderten Einrichtungen „Good Manufacturing Practice“, abgekürzt GMP.


(1) Das Handbuch für die Herstellung von ORS

Das Handbuch für die Herstellung von ORS


Die Informationen wurden bewusst illustriert, sodass sie den einfachsten Produktionseinheiten sowie der industriellen Herstellung von ORS dienen. Die Empfehlungen basieren auf der praktischen Erfahrung in den besuchten Ländern und wurden, wenn möglich so angepasst, dass sie einfach zu befolgen sind. Das Projekt in Sri Lanka bot dabei die Möglichkeit den ganzen Produktionsablauf praktisch zu testen und gleichzeitig die halb-automatische Füll- und Siegelstation zu erproben. Und tatsächlich stellte sich heraus, dass gewisse elektronische Teile in den Maschinen dem feuchten Klima nicht standhielten und mit tropensicheren Elementen ersetzt werden mussten. Ein spezieller Fall war die Analytik. Um Gewissheit zu haben, dass die vorgegebenen Methoden für die Qualitätskontrolle von Rohmaterial sowie das Fertigprodukt auch in weniger gut eingerichteten Labors möglich waren, wurde entschieden das „Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker (ZDA)“ in Eschborn erneut um Mithilfe zu bitten. Bald waren wir uns einig, dass es am sinnvollsten war die vorgesehenen analytischen Methoden erst durch Herrn M. Siewert (ZDA) vor Ort im Projekt in Sri Lanka durchzuführen. Und tatsächlich zeigte sich auch hier, dass Anpassungen bei den Methoden gemacht werden mussten. Einer der Gründe war zum Beispiel die hohe Temperatur des Leitungswassers. Aber auch die Laboreinrichtungen mussten teilweise verändert oder verbessert werden. Diese Erfahrungen halfen ein Handbuch zu schaffen, das vor allem auch in einem Drittweltland nützlich und brauchbar war.


Damals hatten wir in unserer Einheit nur einen einzigen Computer, einen „WANG“, der isoliert in einem kleinen Raum installiert war. Die 136 Seiten des Dokumentes, meist handgeschriebenen, mussten deshalb von einer Sekretärin mühsam in diesen PC eingegeben werden. Da dieser mit allen Sekretärinnen geteilt werden musste, konnte man diesen nur auf Reservation während einer Stunde pro Tag benutzen, oder wenn es „Notfälle“ gab, überhaupt nicht. Das Erstellen des Dokumentes bedingte deshalb sehr viele Stunden Arbeit. Aber die Ausdauer hatte sich gelohnt, denn nun hatten wir ein Dokument das wir den Behörden sowie vielen interessierten Pharma Betrieben zustellen konnten und zudem einen Besuch an den Ort des Projektes vermied.


Während der Vorbereitung des obigen Dokumentes wurde ich plötzlich mit einer Tatsache konfrontiert, die mich zuerst ziemlich durcheinanderbrachte. Ich bekam einen Anruf der UNIDO, der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung in Wien. Man teilte mir mit, dass man mit Besorgnis beobachte wie sich die WHO und UNICEF zunehmend an der lokalen Herstellung von Arzneimittel beteilige und sich damit in das Mandat der UNIDO mische. In der Tat hatte ich nicht gewusst, dass sich die UNIDO schon im September 1980 bereit erklärt hatte die Regierung von Mosambik beim Aufbau einer lokalen Produktion von ORS (in Beira) zu unterstützen. Die Ausführung des Projekts wurde damals an TESCO Consulting Engineering, Budapest, Ungarn, vergeben. Im Jahre 1982 wurde dann sogar ein eigenes Programm zur Förderung der lokalen Produktion von ORS in Entwicklungsländern gestartet welches den Bau separater Produktionseinheiten in Kap Verde, der Zentralafrikanischen Republik, dem Tschad, Äthiopien, Ruanda, Sudan, Tansania und Uganda vorsah. Die Projektdokumente wurden von Baldo & C. s.r.l, Consulting Engineers, Mailand, Italien, erstellt. Also hatten wir plötzlich prominente Konkurrenz. Auf Ersuchen von Frau A. Tcheknavorian-Asenbauer, der Vorsteherin der Abteilung für Pharmazeutische Industrie, trafen sich die Vertreter der beiden Organisationen am 4. Oktober 1982 in Genf. Das Treffen war erst ziemlich angespannt, doch schliesslich einigte man sich auf eine enge Zusammenarbeit. Projekte sollten auf HQ Ebene und vor Ort koordiniert sowie ergänzt werden. Obwohl der gute Wille auf beiden Seiten vorhanden war und die nötigen Anstrengungen unternommen wurden um die etablierten Kontakte zu pflegen, wurde es schwierig, die Aktivitäten von UNIDO tatsächlich zu verfolgen. Einer der Hauptgründe war die häufige Rotation des Personals, die Umstrukturierung innerhalb der UNIDO und die unklare Aufteilung der Zuständigkeiten. Im Unterschied zu unseren Projekten die wir selbst verfolgten, wurde zudem die Ausführung von Projekten bei UNIDO an Privatfirmen übergeben. Gesuche für Beratung aus Ländern anzunehmen wo UNIDO ein Projekt plante oder bereits in Arbeit hatte, wurden deshalb für uns immer heikler und so verlor man sich allmählich wieder aus den Augen.

Die weltweite Empfehlung von ORS
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20.7.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Die weltweite Empfehlung von ORS.


(1) Das WHO Dokument für die korrekte Behandlung von Durchfall und Vermeidung von Entwässerung ausserhalb des Krankenhauses.

Das WHO Dokument für die korrekte Behandlung von Durchfall und Vermeidung von Entwässerung ausserhalb des Krankenhauses.


Wie anfangs erwähnt, wurde ORS ursprünglich vor allem in Krankenhäusern und Gesundheitszentren bei Mangel oder als Ersatz von parenteralen Flüssigkeiten angewendet. Die Förderung von ORT und ORS war daher anfangs hauptsächlich auf Angehörige der Gesundheitsberufe fokussiert. Dazu wurde eine Broschüre geschaffen, welche das Personal im Gesundheitssektor auf die verschiedenen Aspekte des Problems aufmerksam machen sollte und in verschiedenen Sprachen erhältlich war. Diese wurde auch im Sinne der WHO Strategie „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000“ („Health for all by the year 2000“) geschaffen. Gleichzeitig begannen die WHO sowie die UNICEF die örtlichen Gesundheitsbehörden davon zu überzeugen, dass ORS auch ausserhalb von Krankenhäusern und Gesundheitszentren sicher und effektiv eingesetzt werden konnte. Dies ebnete den Weg für die Förderung von ORS im gesamten öffentlichen Gesundheitssystem sowie im privaten Sektor. Mütter wurden ermutigt, einem Kind bei Durchfall ORS zu geben oder eine gleichwertige Trinklösung zu Hause selbst herzustellen. Leider wurde ORS aber oft vom Gesundheitspersonal ohne weitere Information einfach für die „Behandlung von Durchfall“ und an Mütter abgegeben. Da ORS den Durchfall aber nicht stoppt, wurden die Erwartungen vieler Mütter nicht erfüllt und sie verlangten deshalb bald „wirksamere Medikamente" oder sogar Antibiotikum, was in Apotheken aus profitorientiertem Interesse oft sogar unterstützt wurde. Ausserdem hatten sich Mütter traditionsgemäss fast ausschliesslich an Tabletten, Kapseln oder Injektionen gewohnt und hatten deshalb Mühe zu glauben, dass eine transparente Lösung ein Arzneimittel sein soll. Bald wurde man sich auch bewusst, dass die Vorteile von ORS im Privatsektor anders vermittelt werden mussten als für Angehörige im öffentlichen Gesundheitsbereich. Um die Glaubwürdigkeit von ORS wiederherzustellen und zu wissen wie man länderspezifische Werbung gestalten muss, sammelten die lokalen WHO und UNICEF Niederlassungen Erfahrungen beim Kontakt mit Patienten (vor allem bei Müttern). Dabei ging es auch um die Art der Verpackung von ORS, dessen Erscheinung sowie den Text auf dem Beipackzettel und die eventuell nötige Illustration des Textes. Die Verpackung von ORS musste unbedingt länderspezifisch erscheinen um die korrekte Anwendung zu garantieren (siehe Projekt in Sri Lanka). Die erhaltenen Erkenntnisse standen dann später bei der Entwicklung von Informations- und Schulungsmaterial und auch für die kommerzielle Werbung zur Verfügung. Und da fand man heraus (so absurd es klingen mag), dass eine länderspezifische Erscheinung von ORS der Glaubwürdigkeit von ORS auch schaden kann. Mit der Überzeugung, dass importierte ORS Beutel von viel besserer Qualität seien, ignorierten Mütter oft bewusst die lokalen Produkte. Auch der Preis schien eine Rolle zu spielen, denn was nichts kostet, so wie die Gratisabgabe von ORS, kann nichts wert sein! Die Empfehlung von ORS blieb deshalb eine harte und schwierige Aufgabe für alle Beteiligen im Gesundheitssektor.


(2) Standard Ausführung der Verpackung von ORS Beutel für die weltweite Verteilung.  
(3) ORS Beutel so wie sie weltweit verteilt wurden.

Standard Ausführung der Verpackung von ORS Beutel für die weltweite Verteilung.



(4) Ein ansprechende Verpackung von ORS aus Bolivien.

Ein ansprechende Verpackung von ORS aus Bolivien.



(5) Sympathische Gestaltung der Verpackung von ORS eines privaten Pharmabetriebes in Mexiko.

Sympathische Gestaltung der Verpackung von ORS eines privaten Pharmabetriebes in Mexiko.


Für die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz von ORS engagierte sich dann aber ganz unerwartet auch die Pharmaindustrie. In enger Zusammenarbeit mit unserem Programme (CDD) entwickelte die CIBA-GEIGY (heute NOVARTIS) eine ausführliche Publikation über das Thema Durchfall. Sehr kreatives Informationsmaterial überraschte uns aus Lateinamerika. Neben dem Empfehlen von ORS, wurde mit einfachen Illustrationen erklärt wie man Durchfall vermeiden und behandeln kann. Mit teilweise humorvollen Zeichnungen wurde auch die Wichtigkeit von sauberem Wasser, Hygiene, das Stillen, korrekte Ernährung, usw. hervorgehoben. In Bangladesch hatte sich sogar eine Pfadfinderorganisation an der Informationskampagne beteiligt.



(6) Comic eines privaten Pharmabetriebes in Costa Rica der auch eine Gesundheitsbotschaft überbringt.

Comic eines privaten Pharmabetriebes in Costa Rica der auch eine Gesundheitsbotschaft überbringt.



Und in Nicaragua hatten Krankenschwestern in einem Gesundheitszentrum sogar ein Fernsehgerät aus Karton gebastelt, auf dem ihr eigenes „Diarrhöe-Programm“ für die Patienten im abgespielt werden konnte. Die bebilderten Ratschläge waren auf einer Papierrolle, die von innen beleuchtet wurde und von Hand vor oder rückwärts bewegt werden konnte. Für die Ausbildung des Personals brauchte man jedoch den modernen Flipchart. Solche individuellen Initiativen zu entdecken waren jedes Mal sehr motivierend und eine Bestätigung, dass unser Einsatz sich lohnt.



(7) Ein handgefertigtes Fernsehgerät für Informationen über ORS und ORT.

Ein handgefertigtes Fernsehgerät für Informationen über ORS und ORT.



(8) Ein Würfel der das Messen der Zutaten für die Zubereitung einer ORS Lösung je nach vorhandenem Gefäss im Haushalt erlaubt.

Ein Würfel der das Messen der Zutaten für die Zubereitung einer ORS Lösung je nach vorhandenem Gefäss im Haushalt erlaubt.



International Pharmaceutical Federation (FIP)

Nur zu oft wurde beobachtet, dass in Apotheken an Stelle vom äusserst günstigen ORS lieber teure Medikamente wie Antibiotika den Patienten angepriesen wurden. Ich testete persönlich an verschiedenen Orten der Welt was mir im Falle von Durchfall empfohlen wurde. Und tatsächlich wurden zuerst meistens hoch profitable Produkte vorgeschlagen. Dies geschah oft mit der arglosen Begründung an dem günstigen ORS nichts zu verdienen. Da in vielen Ländern der Apotheker eine wichtige Rolle in der Versorgung von Medikamenten spielt, kam uns die Idee diese über die „International Pharmaceutical Federation“ (FIP) für ORT und ORS zu sensibilisieren. Die FIP ist ein internationaler Verband mit der Aufgabe, Pharmazeuten und die pharmazeutischen Wissenschaften über den gesamten Globus zu repräsentieren und zu betreuen. Mit mehr als 4 Millionen Apotheker und Pharmawissenschaftlern arbeitete FIP schon seit 1948 mit der WHO zusammen und versuchte die gesundheitlichen Bedürfnisse der Welt zu verbessern. Schon nach den ersten Kontakten war man sich einig ein Handbuch für Pharmazeuten zu schaffen. Dieses sollte auf einfache Weise das Problem des Durchfalls, die Art der Infektion, die Behandlung von Durchfall, die Details von ORS, die Verhütung von Durchfall und die eventuelle, medikamentöse Behandlung erklären. Und schon in kurzer Zeit konnte die hübsche, kleine Broschüre „The Treatment of Acute Diarrhoea“ all den FIP Mitgliedern zugestellt werden. Sie war sofort ein grosser Erfolg und wurde anschliessend von den lokalen Mitgliedern bald in verschiedene Sprachen übersetzt, sogar auf Arabisch. Das Handbuch war allerdings auch geschaffen worden um die Apotheker an die Ethik ihres Berufes zu erinnern. Die Zusammenarbeit mit der FIP war sehr interessant und bereichernd gewesen. Der Erfolg der Broschüre machte mir viel Freude und bewies, dass man durch Zusammenarbeit mit anderen Organisationen rasch zu einem Ziel kommen kann.



(9) Das Handbuch für Apotheker der FIP

Das Handbuch für Apotheker der FIP

 

Die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz von ORS war natürlich auch ein Thema im Juni 1983 an der „International Conference on Oral Rehydration Therapy (ICORT)“ in Washington USA. Diese Konferenz, finanziell unterstützt durch die Agentur für internationale Entwicklung (USAID), fand im riesigen Hotel Shoreham statt, wo mehr als tausend Besucher teilnahmen. WHO präsentierte sich visuell auf grossen, mobilen Ausstellungs-Stellwänden, eine Aufgabe die mir unverhofft neben meiner normalen Arbeit noch zugeteilt wurde. Zudem bat man mich während der Konferenz als Panelmitglied meine bis anhin gemachte Erfahrungen in der Herstellung von ORS zu präsentieren. Vor der Abreise wurden die Ausstellungs-Stellwände erst in der grossen Halle der WHO in Genf aufgestellt und die Informationen darauf montiert. Dann wurden die grossen und schweren Wände nach Washington geflogen. Um diese dort wieder aufzustellen, reiste ich einen Tag vorher schon in die USA. Mein Chef, ein Amerikaner, hatte mir geraten alles Hilfsmaterial wie Nägel, Hammer, Beisszange, etc. mitzunehmen. Erst glaubte ich er würde spassen, denn ich war überzeugt, dass all das Hilfsmaterial im Hotel vorhanden war. Doch er belehrte mich des Besseren und bat mich alles mitzunehmen so wie wenn ich in einem Entwicklungsland arbeiten müsste. Und so war es auch, und zwar schon bei der Registrierung im Hotel. Es war spät abends als ich ankam, ich war müde und hatte viel Gepäck bei mir als man mir dort mitteilte, es gäbe keine Reservation für mich und am nächsten Tag sei auch kein ICORT- Meeting. Als man mir dann empfahl ein anderes Hotel zu wählen, kam mir mein Chef in den Sinn und ich fragte mich wie ich in einer solchen Situation in einem Entwicklungsland reagieren würde. Also fragte ich sanft ob vielleicht noch ein Zimmer im Hotel frei wäre. Und tatsächlich konnte ich mich bald darauf in einem schönen Zimmer einrichten. Als ich mich am nächsten Tag am „Guest-Relation desk“ meldete, bestätigte man mir nicht nur meine Reservation, sondern auch das grosse Meeting. Als ich wissen wollte wieso die Leute am Empfang dies am Vortag nicht wussten, sagte mir die Dame mit einem süssen Lächeln, dass man die Angestellten nie über alles im Voraus informieren würde. Und in diesem Stil ging es dann auch bei der Installation von den Ausstellungswänden weiter. Immer wieder dankte ich meinem Chef, dass ich das nötige Material und Werkzeug bei mir hatte, denn lokal etwas zu bekommen war aussichtslos. Doch wie immer überstand ich auch dieses Erlebnis und freute mich wieder neue, interessante Erfahrungen gemacht zu haben.



(10) Der Stand und die Ausstellung des CDD Programms am ICORT Meeting in Washington.

Der Stand und die Ausstellung des CDD Programms am ICORT Meeting in Washington.



USAID, PATH, PSI

Die USAID begann bereits anfangs 1980 mit der aktiven Förderung von ORT und der Unterstützung der lokalen Herstellung von ORS durch das „Program for Appropriate Technology in Health“ (PATH) und später „Population Service International“ (PSI). Diese Konferenz war deshalb eine willkommene Gelegenheit um Kontakte mit den Mitarbeitern dieser Organisationen in Washington und auf Länderebene aufzubauen. Die Glaubwürdigkeit von ORS wurde dann leider im Jahre 1986 nach einem negativen Ereignis in einem Kinderspital in Peru getrübt. Das Produkt, das in der Geburtsklinik zur Herstellung der ORS Lösung verwendet wurde, hatte eine viel zu hohe Konzentration von Kalium und so starben in der Folge fünf Kleinkinder. Da das verwendete ORS aus einer Lieferung von Hilfsgütern der USAID stammte, witterte die linksgerichtete Opposition sofort ein Angriff aus den USA und behauptete, dass diese für den Kindermord verantwortlich seien. Die peruanische Regierung forderte deshalb von den USA einen Schadensersatz in der Höhe von 20 Mio. USD. Kurz darauf wurde dann auch Ecuador mit Qualitätsproblemen des erhaltenen ORS aus den USA konfrontiert. Damit wurden diese Fälle auf der ganzen Welt bekannt wobei die Glaubwürdigkeit und die Sicherheit von ORS in Frage gestellt wurden.

 

Angesichts dieser Probleme bat uns der Chef Apotheker der Regierung in Peru um Rat. Mein Chef bat mich diese Aufgabe zu übernehmen und die Situation an Ort und Stelle zu klären. Dabei stand bald fest, dass die betreffende Menge ORS tatsächlich von der USAID gespendet worden war, aber von einem Betrieb in New York (US-Material) stammte der keine Lizenz zur Fabrikation von Pharmazeutika hatte. Das war möglich, weil im Gegensatz zum Rest der Welt ORS in den USA kein Arzneimittel, sondern ein „medizinisches Lebensmittel“ ist. Damit hatte man den wahren Grund der Todesfälle gefunden und man hätte eigentlich nun in den USA ORS sofort als Medikament klassifizieren müssen. Das hatte ich später auch dem Chef der U. S. Food and Drug Administration empfohlen als er, aufgeschreckt vom Dilemma in Peru, nach Genf kam um mit dem CDD Programm die Situation zu besprechen. Leider schien er dafür kein Gehör zu haben und so erwähnte ich, dass bereits alle WHO Mitgliedländer ORS offiziell als Medikament erklärt hatten, ausser den USA. Darauf meinte der Beamte pointiert arrogant, dass es den USA egal sei was der „Rest der Welt“ entscheide. Nach dieser Bemerkung endete für mich die Lust das Gespräch mit ihm weiter zu führen. Die USAID hatte das Problem allerdings verstanden und setzte ein viel stärkerer Schwerpunkt auf die Qualitätskontrolle von ORS und Medikamenten im Allgemeinen, doch ORS blieb für die USA bis zu meiner Pensionierung leider offiziell ein „medizinisches Lebensmittel“.

 

In Peru war ORS schon längst ein Medikament und der lokale Pharmabetrieb LUSA produzierte schon im Jahre 1981 fast 1,5 Millionen Beutel ORS unter dem lokalen Namen „Salvadora“. Aus diesem Grunde fragte ich den verantwortlichen Chefapotheker des Landes wieso so etwas passieren konnte und warum man den Import eines Produktes erlaubt hatte, das den Qualitätsanforderungen nicht entsprach? Der Hauptgrund war klar: die Unziemlichkeit die Qualität geschenkter Medikamente in Frage zu stellen und Stichproben vorzunehmen. Zudem war es undenkbar Ware von schlechter Qualität oder unerwünschter Hilfslieferungen zurückzuweisen, es galt „Geschenke gibt man nicht zurück“! Aus Sicherheitsgründen gegenüber der Bevölkerung riet ich ihm deshalb solche Lieferungen in Zukunft so strikte wie bei kommerziellen Importen zu behandeln. Der zweite Grund war der Preis des lokalen Produktes. Im Gegensatz zu unseren Bemühungen die lokale Produktion zu unterstützen, fanden Hilfsorganisationen den Preis für „Salvadora“ von LUSA zu hoch und entschieden seit 1983 ORS aus dem Ausland zu importieren. Nach deren massiven Importen sank die lokale Produktion nämlich auf nur etwa 100’000 Beutel pro Jahr.

 

Zu dieser Zeit wütete wieder einmal eine Cholera Epidemie im Land und wir konnten beobachten wie ständig Flugzeuge mit Hilfsgütern landeten. Der Chef Apotheker erzählte, dass Hilfsorganisationen oft ohne Absprache mit den Gesundheitsbehörden Ware schickten die im Land unerlaubt, unerwünscht oder mit abgelaufenem Verfalldatum waren. Er hatte so den Eindruck bekommen, das Peru zur Entsorgung solcher Ware diente. Dann zeigte er auf ein Flugzeug aus dem Chlor zur Verwendung gegen Cholera geliefert wurde. Da die gelieferte Qualität von Chlor aber zur Behandlung von Wasser in Schwimmbädern diente und deshalb unbrauchbar im Kampf gegen Cholera war, schlug ich ihm vor die Ladung nicht anzunehmen und einen Rücktransport anzuordnen. Natürlich konnte er dies nicht tun, aber ermuntert durch meine Unterstützung während meinem Besuch begann er dann mit importierten Gütern selektiver und strenger vorzugehen. Leider hatte er dann aber sofort Probleme mit gewissen Leuten der Regierung und so musste er nach Morddrohungen sogar seinen Posten verlassen. Er tat mir ausserordentlich leid, denn ich selbst hatte ihn ja zu einer strengeren Kontrolle motiviert. Erneut musste ich erleben wie ein ehrlicher, kompetenter Mann Opfer seines Mutes wird, wenn er sich für die Sicherheit der Bevölkerung einsetzt und gegen Unfug und Korruption vorgeht. Zudem musste ich nach ein paar Jahren feststellen, dass das Land wegen Misswirtschaft weiterhin von ORS Hilfslieferungen aus dem Ausland abhängig geblieben war.

 

Neue Aufgaben
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20.8.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Neue Aufgaben.

Mit all den neuen, unvorhergesehenen und zusätzlichen Arbeiten und Aufträgen hatte ich oft den Eindruck der riesigen Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Doch brachte ich solche Zweifel bei meinem Chef vor, sagte er immer nur lachend, dass ich die Hürden ganz bestimmt schaffen werde. Und interessanterweise verliess ich sein Büro nachher immer äussert motiviert und spürte plötzlich unsägliche Energie in mir aufkommen. Glücklicherweise war mir bewusst, dass ich nicht alles selbst machen konnte und dass ich frei war allenfalls die nötige Information und Unterstützung dort zu holen wo sie vorhanden war. Es war auch ein Glück, dass wir eine ausgesprochen gute Stimmung im Büro hatten. Jeder arbeitete auf seinem spezifisch begrenzten Gebiet und so bestand kein Neid zwischen den verschiedenen Kollegen. Jeder liess die Türe seines Büros immer offen, was einen entspannten Kontakt erlaubte. Und wenn eine Frage in einem bestimmten Fachgebiet auftauchte, dann meldete man sich direkt bei dem entsprechenden Kollegen. Auch bei unserem Chef war man immer willkommen. Ich fühlte mich wirklich sehr wohl und unterstützt in dieser Abteilung. Wir organisierten gemeinsame Essen und jeden Winter sogar ein Ski-Wochenende in Zermatt. Und mit dieser gewonnenen Kraft machte ich mich auch an die neuen Aufgaben.


(1) Ein wohl verdientes Wochenende an der frischen Luft in Zermatt.

Ein wohl verdientes Wochenende an der frischen Luft in Zermatt.


a) Die Suche nach Formulierungen mit zusätzlichen Vorteilen und anderen Präsentationen von ORS.
In den folgenden Jahren versuchte man die Formulierung immer wieder zu optimieren und begann Studien mit Präparaten die Aminosäure- und / oder Maltodextrin enthielten, sowie Zusammensetzungen auf Reisbasis. Meine Rolle bei diesen Forschungsaktivitäten war die Herstellung und das doppelblinde Verpacken der verschiedenen Testformulierungen. Anfangs wurden sie mit Haushaltsutensilien in meinem Büro hergestellt. Später, als die Mengen zunahmen, wurde beschlossen, diese von lokalen Pharmaunternehmen (NEOLAB SA, VIFOR SA und Laboratoires Plan SA) industriell herstellen zu lassen. Da diese Unternehmen nicht über die zum Dosieren/Abfüllen/Verpacken von Produkten in Pulverform erforderliche Ausrüstung verfügten, entschied das CDD Programm selbst ein solches Modell anzuschaffen und es den Firmen zur Verfügung zu stellen. Es war die gleiche Einheit wie die im Einsatz für UNICEF in dessen unterstützten Projekten.

b) Das Aroma und die Färbung von ORS
Der theoretische Vorteil von aromatisiertem und gefärbtem ORS ist eine grössere Akzeptanz und folglich eine erhöhte Verwendung. Aufgrund des Risikos eines Überkonsums und infolgedessen einer Hypernatriämie führte das CDD-Programm daher eine Sicherheits/Wirksamkeitsstudie in Ägypten und eine Akzeptanzstudie auf den Philippinen durch. Die Analyse der Ergebnisse zeigte im Vergleich zur Standard ORS Zusammensetzung weder einen Vorteil noch einen Nachteil hinsichtlich Sicherheit, Akzeptanz und korrekter Verwendung. Aus diesem Grund und mit dem Ziel, ein essentielles Medikament im öffentlichen Gesundheitssystem zu einem niedrigen Preis verfügbar zu machen, hielten WHO und UNICEF an ihrer Empfehlung fest, dass die Regierungen die empfohlene Zusammensetzung von ORS verwenden sollten.

c) ORS auf Reisbasis
Angesichts positiver Berichte über klinische Bewertungen mit ORS auf Reisbasis am ICDDR, B und anderen Krankenhäusern in Bangladesch sowie in Indien hat die WHO eine solche Alternative ebenfalls in ihr Forschungsprogramm aufgenommen. Die in Bangladesch und Indien verwendeten Testlösungen wurden mit lokalem Reismehl hergestellt, mussten gekocht und täglich frisch hergestellt werden. Da eine solche Praxis für systematische klinische Studien nicht durchführbar war, wurde beschlossen, ein Produkt zu entwickeln, das nicht gekocht werden musste und in Beuteln wie dem Standard ORS haltbar gemacht werden kann. Eine enge Zusammenarbeit mit einem Schweizer Unternehmen (GALACTINA), das auf Babynahrung spezialisiert ist, ermöglichte bis Ende 1989 die Entwicklung eines sofort löslichen Produktes auf Reisbasis. Es konnte in kaltem Wasser aufgelöst werden und blieb fast 24 Stunden in Suspension; das heisst, ohne Sedimentation von Reispartikeln. Die Ergebnisse der ersten 13 klinischen Studien mit ORS auf Reisbasis zeigten, dass der Nutzen bei Patienten mit Cholera ausreichend gross war, um seine Anwendung zu rechtfertigen, wenn dies angezeigt ist. Der Nutzen war jedoch bei Kindern mit akutem Nicht-Cholera-Durchfall signifikant geringer. Weitere Studien haben bestätigt, dass ORS Lösungen auf Reisbasis keinen Vorteil gegenüber Standard ORS Lösungen bieten.

d) ORS mit Aminosäure- und / oder Maltodextrin
Seit mehr als einem Jahrzehnt unterstützte das CDD-Programm die Forschung zur Entwicklung einer verbesserten ORS Zusammensetzung, welche die Stuhlproduktion reduzieren könnte, wenn sie zur Vorbeugung oder Behandlung von Dehydration aufgrund von Durchfall verwendet wird. Ein Ansatz bestand darin, einen Teil oder die gesamte Menge Glucose in ORS durch verschiedene Formen von Aminosäuren (Glycin, Glycylglycin, L-Alanin, L-Glutamin) zu ersetzen. Von Mais abgeleitete Maltodextrine wurden ebenfalls bewertet. Leider erwies sich keine der verschiedenen getesteten Formulierungen bei Kindern mit Nicht-Cholera-Durchfall als überlegen gegenüber Standard-ORS. Darüber hinaus wurde auch beobachtet, dass einige der Testmischungen während der Lagerung instabil wurden und dass viele getestete Produkte während des Herstellungsprozesses sehr schwer zu handhaben waren. Für einige war Split-Packing der einzige Weg, um die Produktstabilität während der klinischen Bewertung sicherzustellen. Also wurde auch diese Option aufgegeben.

e) ORS mit reduzierter Osmolarität
Nach mehreren klinischen Studien, aus denen hervorging, dass bei einer Reduzierung der Osmolarität das Stuhlvolumen bei Kindern mit Durchfall um etwa fünfundzwanzig Prozent reduziert werden konnte, empfahl die WHO und UNICEF im Jahre 2003 den Gehalt von Glukose in der ORS Formel von 20.0 g auf 13,5 g zu reduzieren.


(2) Seit 2003 ORS mit reduzierter Osmolarität.

Seit 2003 ORS mit reduzierter Osmolarität.

 

f) ORS in Tablettenform
Im Auftrag der WHO / CDD begann bereits im Januar 1981 das Programm für angemessene Technologie im Gesundheitswesen (PATH) mit der Entwicklung einer ORS – Tablette. Bald wurde klar, dass es nicht möglich war eine Tablette herzustellen, die sich in weniger als drei Minuten auflösen würde. Darüber hinaus war die Tablette unter Verwendung der Formulierung, die Natriumbicarbonat enthielt, instabil. In einer zweiten Phase experimentierte PATH mit der ORS Citrat-Zusammensetzung. Es gab dann noch eine Phase III, doch auch diese blieb erfolglos. Da inzwischen die Privatindustrie wie Ciba-Geigy, Fresenius, Rorer Pharmaceuticals usw. bereits mit der Herstellung von ORS in Tablettenform begonnen hatte, war die Weiterführung dieser Studie nicht mehr gerechtfertigt. Zudem hatte unsere Gruppe Bedenken mit der Anwendung von Tabletten, besonders bei Brausetabletten in Entwicklungsländern, wo solche Produkte nicht herkömmlich sind und gesundheitliche Probleme verursachen könnten. Es war ja vorgekommen, dass Kindern Brausetabletten ohne sie aufzulösen verabreicht wurden. Zudem war die Grösse der Tabletten schon für die Auflösung in 200 ml extrem gross.

g) ORS in flüssiger Form
Da sauberes Wasser für die Herstellung einer ORS Lösung möglicherweise nicht immer in der erforderlichen Menge und Qualität verfügbar ist, beispielsweise nach einer Naturkatastrophe, während des Krieges usw., stimmte das CDD-Programm 1979 einem Vorschlag von Tetra Pak International zu, ORS in einer trinkfertigen Form zu studieren. Die Rechtfertigung für die Prüfung der Machbarkeit der Herstellung von ORS in flüssiger Form wurde durch die Tatsache gestützt, dass die erforderlichen Geräte für die Verarbeitung und Verpackung von Flüssigkeiten (Milch, Fruchtsäfte usw.) in Entwicklungsländern (Milch- und Lebensmittelindustrie, usw.) häufig vorhanden sind und somit für die Herstellung von ORS in kritischen Situationen verfügbar wären. Das Projekt war erfolgreich und so sandte Tetra Pak International bei einem Notfall in Rwanda gratis eine Lieferung ORS in Flüssigform in Tetra Brik- Verpackungen und aufgedruckter Gebrauchsanweisung (auf Ruandisch) nach Kigali. Aber auch diese Möglichkeit blieb ein Versuch.


Die lokale Produktion von ORS etabliert sich weltweit.
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20.9.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Die lokale Produktion von ORS etabliert sich weltweit..

Am 01.01.1981 wurde James P. Grant Exekutivdirektor von UNICEF (Executive Director). Seit seinem ersten Tag in der Organisation beschäftigten ihn vor allem die sehr hohen Kindersterblichkeitsraten. Er war ein grosser Visionär, hatte aber anfangs Mühe seine manchmal unkonventionellen Ideen umzusetzen. Doch nach zwei Jahren gelang es ihm endlich eine Sensibilisierungskampagne unter dem Namen „The Child Survival and Development Revolution“ ins Leben zu rufen, wobei ORT und die Immunisierung der Kinder Priorität hatte. Danach brachte UNICEF eine prägende Nachricht in die Welt, nämlich, dass jedes Jahr 3 Millionen Kinder unter fünf Jahren an Durchfall und Dehydration starben. In den folgenden Jahren bereiste James Grant die ganze Welt wobei er die grosse Mehrheit der politischen Führer in den Entwicklungsländern persönlich traf. Dabei scheute er auch Kontakte mit korrupten sowie unmenschlichen Regimen nicht und riskierte dabei den guten Namen von UNICEF. Seinen Kritikern antwortete er immer dasselbe, nämlich "Sollen wir mit dem Start der Kampagne warten, bis alle Regierungen respektabel sind?" Überall halfen die nationalen UNICEF-Komitees beim Sammeln von Spenden und mit Lobbying sodass die Regierungen auf die Kampagne schliesslich aufmerksam wurden. Bald beteiligten sich auch hunderte von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Schauspieler am Projekt. Und diese Einsätze hatten sich gelohnt, denn so wurde ORS bald in den meisten Entwicklungsländern bekannt und auch angewendet. Während seinen vielen Reisen hatte James Grant immer einige Beutel ORS bei sich die er vor seiner Zuhörerschaft sichtbar in der Luft schwenkte. Dies war bestimmt eine überzeugende Werbung für ORS gewesen, eine die einen bleibenden Eindruck hinterliess. Nach seinen Besuchen begannen sich Regierungen oft sofort für die lokale Herstellung von ORS zu interessieren und so war ich bald ständig in den Fussstapfen von James Grant unterwegs. Meistens ging es erst um eine Abklärung ob dies überhaupt möglich war oder was es für Alternativen gab. Es begann eine sehr hektische Zeit, während der ich meist auf Reisen war und wieder allerhand Lustiges sowie Überraschendes erleben durfte. Zur Illustration nachfolgend einige ganz spezielle und prägende Anekdoten:


a)…Kuba
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Auch der kommunistisch regierte Inselstaat Kuba plante ORS lokal herzustellen und bat deshalb die WHO um einen Beratungsbesuch. Ich wusste, dass die kubanischen Ärzte sowie die Gesundheitsversorgung des Landes weltweit einen ausgezeichneten Ruf hatten. Für bestimmte Behandlungen, insbesondere für die Schönheitschirurgie, kamen damals viele Ausländer/innen nach Havanna. Ich war deshalb etwas erstaunt zu hören, dass das Land plötzlich ORS brauchte. Bei meiner Ankunft im Gesundheitsministerium, wurde mir erst ausführlich über die Errungenschaften der Regierung und den Vorteilen einer kommunistischen Führung erzählt. Neben dem vorbildlichen Gesundheitssystem wurden auch die Schulen gelobt und unterstrichen, dass es keine Analphabeten im Land gebe (was aber nicht der Realität entsprach). Zudem würden alle Kinder nach der Matura mit einer Universitätsausbildung ins tägliche Leben entlassen. Bei so viel unglaubwürdigem Eigenlob konnte ich nicht anders und fragte etwas provokativ wer denn die harte Arbeit auf den vielen Zuckerrohr- und Tabakplantagen noch ausführe, wenn nun alle in Universitäten sitzen? Die Antwort war einfach: „Unsere Studenten entwickeln Maschinen um die Handarbeit auf dem Felde zu erleichtern“. Da Durchfall in Kuba überhaupt kein Thema war, wollte ich danach wissen wieso die Regierung eigentlich ORS herstellen wollte? Gewandt erklärte mein Gesprächspartner, dass es im Land tatsächlich keine Nachfrage für ORS gebe. Doch sein Land sehe sich verpflichtet seine politischen Brüder und Gesinnungsgenossen in Ländern wie Mozambique, Angola, etc. mit ORS zu unterstützen. Diese Begründung kam bei mir aber gar nicht gut an, denn UN-Organisationen für die eigene politische Propaganda zu benützen ging eindeutig zu weit und so trennten wir uns mit widersprüchlichen Ansichten.


(1) Die herrliche Aussicht vom Restaurant im obersten Stock des Hotel "Habana Libre".

Die herrliche Aussicht vom Restaurant im obersten Stock des Hotel "Habana Libre".


Die lokalen Behörden hatten mich im Hotel „Habana Libre“ untergebracht, dem geschichtsträchtigen und ehemaligen „Havana Hilton“. Es wurde im Oktober 1960 durch die Regierung unter Fidel Castro verstaatlicht und nach der Revolution auch als Hauptquartier genutzt. Es war ein eigenartiges Hotel, einerseits pompös kapitalistisch gebaut und anderseits kommunistisch geführt. Schon beim „Einchecken im Hotel“ spürte man die schwerfällige Art des Systems und sofort fühlte ich mich beschattet. Dieses Gefühl verstärkte sich dann noch mehr im Aufzug wo immer eine Dame auf einem Stuhl sass und auf Anweisung des Gastes den Knopf für das verlangte Stockwerk drückte. Man bekam den Endruck, dass sie gleichzeitig die Aufgabe hatte jeden Gast im Aufzug zusätzlich zu begutachten. Einmal im Zimmer angekommen stieg daher sofort die Vermutung von versteckten Abhörwanzen und Spionagekameras umgeben zu sein. Überraschenderweise machte mir dies aber keinen Eindruck, denn ich hatte nichts zu verbergen und so genoss ich das schöne Zimmer mit der wunderbaren Aussicht auf das Meer. Nur die harten Betten waren gewöhnungsbedürftig und nichts für Leute mit Rückenproblemen. Auch das Restaurant im Dachgeschoss war spektakulär, doch der Service schnippisch. Zudem liessen mich die Gerichte der Nachbarn auf dem Tisch nebenan den Mund nicht wässerig werden. Mit dem Blick auf das Meer bekam ich indessen Lust auf einen Fisch. Die äusserst limitierte Speisekarte enthielt leider nur eine einzige Art die mir nicht bekannt war. Als der Fisch serviert wurde stellte ich fest, dass er sehr stark nach Reinigungsmitteln roch. Doch ich wollte nicht als Nörgler auffallen und so nahm ich beherzt ein Stück davon. Doch der Gaumen und die Speiseröhre rebellierten sofort und so rief ich eine der Servierdamen. Diese trugen scheinbar seit der Revolution noch immer die gleiche Uniform (die ehemals grosszügigen Röcke waren seither zu engen Miniröcken geschrumpft, was die älteren Damen nicht attraktiver machte). Offensichtlich eingeschnappt und missmutig sagte man mir, dass der Fisch absolut in Ordnung sei und dies der typische Geruch für diese Art Fisch sei. Darauf erklärte ich, dass er mir Brechreiz verursache und ich gerne etwas anderes essen möchte. Auf der mageren Speisekarte entdeckte ich „Cannelloni“, eine etwas phantasielose Alternative bei dem herrlichen Blick auf das nächtliche Meer, aber so hoffte ich wenigstes den Hunger zu stillen. Doch auch dieses Gericht konnte mich nicht berauschen, denn es wurden mir kommentarlos drei „Mini-Cannelloni“ ohne Beilage oder Salat vor die Nase geknallt. Trotz ein bisschen Tomatensauce hatten sie absolut keinen Geschmack und mein Magen knurrte weiter. Aber so litt ich während der Nacht wenigstens nicht an Völlegefühl und hatte auch keine Verdauungsprobleme. Am nächsten Morgen nahm ich das Frühstück im grossen Speisesaal im Erdgeschoss ein. Der erste Eindruck war verblüffend und man war von der Vielfalt der Farben und Früchte auf dem Buffet überwältigt. Doch beim genauen Hinschauen handelte es sich immer nur um die gleichen Früchte, die aber in kurzen Abständen so wiederholend präsentiert waren, dass man sich im Schlaraffenland glaubte.



(2) Der berühmte Strand von Varadero, leider von einem Sturm ziemlich verwüsted damals.

Der berühmte Strand von Varadero, leider von einem Sturm ziemlich verwüsted damals.


An diesem Tag entschied ich mich an den weltbekannten Strand von Varadero zu fahren. Vorher musste ich aber noch lokales Geld besorgen. In Kuba gibt es zwei Währungen: den Peso Cubano (CUP) für die Einheimischen und den Peso Cubano Convertible (CUC) für die Touristen. Und so stand ich im Hotel in einer langen Warteschlange vor der Rezeption wo Geld gewechselt wurde. Nach einer Weile fiel mir ein kleiner Bursche auf, der immer wieder die ganze Schlange hinauf und hinab lief. Dabei sagte er ganz diskret: „uno a cinco, uno a cinco!“ Ich scherte aus der Warteschlange und fragte ihn was er damit meinte? Er offerierte mir fünfmal mehr Pesos als am Empfang des Hotels für einen Dollar gewechselt wurde. Ich wusste, dass eine solche Transaktion für mich riskant war, konnte aber dem Angebot nicht widerstehen. Und plötzlich hatte ich so viele Geldscheine, dass sie in meinem Hosensack kaum Platz fanden. Was ich aber in diesem Moment noch nicht wusste war die Tatsache, dass der Peso Cubano (CUP) nur für Einheimische bestimmt war und von Ausländern nicht akzeptiert wurde. Diese mussten mit Pesos Cubano Convertible bezahlen, aber dies erfuhr ich erst später. Als ich nun einheimisches Geld im Überfluss hatte, machte ich mich frohen Mutes auf zum 20 km langen Strand von Varadero an der Atlantikküste. Es war wirklich ein unglaublich schöner Strand mit schneeweissem Sand und Palmen wie im Bilderbuch. Es war nur schade, dass der Strand erst vor kurzem während einem heftigen Hurrikan sehr stark gelitten hatte und so lagen überall ausgerissene Palmen und Sträucher herum. Doch langsam schien sich der Strand wieder zu erholen. Als ich einem Fischer begegnete der frischen Hummer grillierte, bekam ich plötzlich Lust auf diese Delikatesse. Doch noch bevor ein Handel zu Stande kam machte dieser mir klar, dass er nur Dollars akzeptieren würde. In einem Land wo überall Plakate gegen den Kapitalismus und die USA die Strassen zierten, war eine solche Bedingung für mich äusserst widersprüchlich. Also fragte ich ihn, ob tatsächlich der lokal gefischte Hummer exklusiv für Ausländer, also Kapitalisten, reserviert sei. Als er dies bejahte kam Ekel bei mir auf, denn ich konnte diese paradoxe und widersprüchliche Art von Kommunismus nicht ertragen und verliess wortlos seinen Stand am Meer. Inzwischen hatte ich aber trotzdem Hunger und entschied in einem der vielen Restaurants etwas zu essen. Doch schon beim Eingang informierte mich ein Kellner, dass hier nur mit Dollars bezahlt werden konnte. Da ich nur Pesos Cubano bei mir hatte wurde mir klar, dass ich hier keine Mahlzeit bekommen würde. Erst ganz freundlich erklärte ich dem Burschen, dass ich kein Amerikaner sei und deshalb keine Dollar bei mir habe. Doch er blieb stur und so schrie ich plötzlich mit voller Kehle meine angestaute Frustration über diesen hypokritischen Kommunismus in den Raum, was sofort seine Wirkung hatte. Offensichtlich wollte man keinen Aufruhr im Lokal und so wurde ich sofort an einen weiss gedeckten Einzeltisch geführt, wo man sich gebührlich entschuldigte. Dann wurde ich mit einem feinen Essen verwöhnt und am Schluss beglich ich die Rechnung sogar problemlos mit Pesos Cubano. Mit dem Rest dieser Währung hatte ich aber Mühe, nicht einmal auf der Post wollte man dieses Geld als ich Wertzeichen für meine Postkarten kaufen wollte. Und dabei glaubte ich nach dem Tausch so unglaublich reich zu sein…! Schliesslich kam ich die Geldscheine aber in Form von Trinkgeldern los.


Bereits nach einem Jahr wurde ich erneut nach Havanna gebeten. Diesmal flog ich mit der „Cubana“, der staatlichen Fluggesellschaft Kubas. In einer alten, schlecht unterhaltenen Russischen Maschine führte der lange und mühsame Flug über Madrid und Montreal nach Havanna. Das Flugzeug war nur zur Hälfte besetzt und alle Passagiere rauchten während dem ganzen Flug scheussliche Zigaretten. Da der hintere Teil der Kabine leer war, bat ich hustend um einen Platzwechsel. Doch damit war die gehässige Flugbegleiterin überhaupt nicht einverstanden. Sie belehrte mich, dass es kein Nichtraucher Abteil gebe. Und so blieb mir keine andere Wahl als im Raucher-Nebel des vorderen Teils auszuharren. Nach einer gewissen Zeit wurde mir aber so übel, dass ich aufstand und mich ohne Bewilligung an der schlafenden Flugbegleiterin vorbei in den hinteren Teil der Kabine verzog. Da man bei den Notausgängen normalerweise mehr Fussraum hatte, setzte ich mich auf einen dieser Sitze. Hier hatte es weniger Rauch und man konnte einigermassen atmen, dafür war es sehr kalt. Erst nach einer gewissen Zeit bemerkte ich die mangelhafte und defekte Isolation der Wände und dass es an den Türen der Notausgänge fast 10 Zentimeter dicke Eisschichten hatte. Nicht einmal das magere Essen konnte mich erwärmen und so zog ich mich bald wieder in die wärmere, rauchige Höhle im vorderen Teil der Kabine zurück. Nach diesem trostlosen Flug ohne jeglichen Komfort, entschied ich mich nie mehr auf ein Abenteuer mit der „Cubana“ einzulassen.


Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Diarrhöe nun scheinbar auch in Kuba zu einem Problem geworden war und dass man ORS brauchte. Diesmal hatte ich es mit einer Gruppe von Frauen zu tun. Im Gesundheitsministerium rauchten alle wie Bürstenbinder einen abscheulichen Tabak, wahrscheinlich waren es Abfälle der Zigarren die sie nicht exportieren konnten. Meine Bemerkung, dass das Rauchen nicht gesund sei und dass ich deswegen Hustenreize hatte, ignorierten sie total. Doch die Diskussion verlief positiv und wir verstanden uns trotzdem bestens. Dann wurde ich in einen staatlichen Pharmabetrieb geführt, ein Betrieb der im Gegensatz zur fortschrittlichen Gesundheitsversorgung, eher veraltet war. Hier wurde ich von der Direktorin zum Mittagessen in der Kantine eingeladen. Zu meiner Überraschung hatte es auf dem verbeulten Aluminiumtablett mit Vertiefungen unter anderem ein Stück Fleisch, etwas das für Einheimische selten auf den Tisch kam. Ich fühlte mich deshalb entsprechend bevorzugt und geehrt. Doch dann fehlte mir ein Messer um das Fleisch zu schneiden. Leider konnte mir die Dame nicht helfen, denn es fehlten alle Messer in der Kantine und so bat sie mich das Fleisch halt einfach mit der Gabel und dem Löffel so zu bearbeiten bis es mundgerecht war. Dabei betonte sie, dass die Einheimischen nicht anspruchsvoll seien und wenn zum Beispiel kein Glas mehr vorhanden war, man auch aus einer leeren Konservenbüchse Wasser trinken könne. Ich war mir den gegebenen Umständen nur zu gut bewusst und hatte mit der netten Dame eigentlich Bedauern, aber gleichzeitig war ich ja in einem Pharmazeutischen Betrieb wo man minimale Standards hätte erwarten können. Wir sprachen erstaunlich offen über gewisse Missstände im Betrieb und der fehlenden Disziplin der Arbeiter. Dazu meinte sie jedes Mal, dass sie eben wie alle nur eine „compañera“ sei. Alle waren so etwas wie Fronarbeiter und ein Anspornen oder eine Zurechtweisung deshalb nicht üblich. Man arbeitete einzig für das Land und „Fidel“, also sicher nicht für eine Chefin oder eine Direktorin. Aber scheinbar schätzte sie meine Kommentare trotzdem, denn sie meinte von mir würden die Arbeiter vielleicht Ratschläge annehmen. Doch darauf verzichtete ich schliesslich. Ich war ja gekommen um eine ORS Produktionseinheit auf die Beine zu stellen und es war diese, die dann allfälligen Besuchern einmal einen besseren Eindruck geben sollte.


Zusammen mit der Projektgruppe wurden alle Aspekte der Produktion besprochen. Bald war man sich einig, dass ein Model so wie in Sri Lanka für Kuba wohl das Zweckmässigste war. Dieses bestand aus einem vorhandenen Mischer, einer neuen Siebmaschine und aus zwei halb-automatischen Dosier- und Siegeleinheiten, die dem feuchten Klima standhielten und einfach zu unterhalten waren. Auch die Verpackung sollte den lokalen Umständen entsprechend sein, also ein Polyäthylen Beutel in den man das Produkt in einem kleineren Polyäthylen Beutel zusammen mit dem Packzettel einsiegelte. Doch diese Entscheidung wurde am letzten Abend um ein Haar über den Haufen geworfen. Vor meiner Abreise erschien unverhofft der Gesundheitsminister im Hotel. Er war von den vorgeschlagenen, einfachen Geräten nie begeistert gewesen und machte dies auch immer deutlich, doch schliesslich hatte sich die Mehrheit der Projektgruppe ganz demokratisch für meinen Vorschlag durchgesetzt. Mit einem grossen Lächeln im Gesicht teilte er mir mit, dass er eine Änderung verkündigen möchte. Er habe eingesehen, dass Beutel mit einer Dosis für eine 1-Liter Lösung nicht ideal für Kuba seien und er an dessen Stelle kleine Beutel für eine 200 ml Lösung vorziehe. Dies würde die benötigte Anzahl Beutel verfünffachen und damit eine manuelle Dosierung ineffizient machen. Also bat er mich anstatt zwei halbautomatischen Einheiten, zwei vollautomatische Maschinen anzuschaffen. Diese Neuigkeit kam für mich so unerwartet, dass ich erst gar nicht wusste was ich erwidern sollte. Doch dann sagte ich ihm, dass für mich nur die Entscheidung der Projektgruppe gelte und dass man diese ohne deren Einwilligung kurz vor Mitternacht nicht mehr ändern könne. Zudem brauche es ja für die Verpackung auf diesen Maschinen Aluminiumfolie die gezwungenermassen aus einem kapitalistischen Land mit Devisen eingeführt werden müsste, etwas das sicher nicht der Politik des kommunistischen Regimes entspräche. Auf diese Antwort fand er schliesslich keinen Einwand und verliess mein Zimmer sichtlich frustriert. Doch damit war das Kapitel Produktionseinrichtung noch nicht beendet, denn nach ein paar Monaten vernahm jemand in den USA, dass die UNICEF die ORS Produktion im kommunistischen Kuba unterstützte. Sofort wurde dieser mit dem Ende der finanziellen Unterstützung gedroht im Falle, dass das Projekt nicht gestoppt würde. Natürlich war dies nicht mehr möglich, denn die Maschinen waren bereits bestellt. Schliesslich fand man dann aber eine bilaterale Lösung für das Projekt und UNICEF wurde von finanziellen Verpflichtungen befreit.


Die neue Produktionseinheit war im Erdgeschoss eines anderen Gebäudes vorgesehen, welches sich ein paar Kilometer vom Hauptbetrieb entfernt befand. Im Stockwerk darüber wurden Mittel zur Empfängnisverhütung hergestellt, ein Umstand den ich mir nicht gewünscht hatte, den ich aber auch nicht ändern konnte. So versuchte ich bei der Planung der Produktionsräume mit geschlossenen Fenstern und dem Einbau einer Klimaanlage eine mögliche Querkontamination zu vermeiden. Bis zur Fertigstellung überwachte ich dieses Projekt regelmässig an Ort und Stelle, was gewisse Vorgesetzte in New York als übertrieben kritisierten. Aber ich war überzeugt, dass ich nur so eine Produktionseinheit schaffen konnte, die den GMP Normen entsprach und die auch tatsächlich fertig gestellt wurde. Die Handwerker waren sich nämlich den hohen Massstäben des Schweizers nicht gewohnt und dies musste ich auch immer wieder hören; so zum Beispiel von einem Schreiner. Für die Präzisionswaagen (Mettler aus der Schweiz), war ein vibrationsfreier Tisch unentbehrlich. So machte ich für diesen Tisch, der an die Wand montiert werden sollte, eine Skizze und bat den Schreiner diesen aus Holz herzustellen. Nach ein paar Tagen stand er strahlend vor mir und präsentierte sein Werk. Der Tisch war einwandfrei gefertigt, doch an der Wand montiert war die Tischplatte auf keiner Seite waagrecht. Also bat ich ihn den Tisch der Wand anzupassen sodass die Oberfläche horizontal war. Doch da kam eben die bekannte Antwort, dass man nicht in der Schweiz sei und ich doch ein Auge zudrücken soll. Aber in diesem Fall ging das wirklich nicht und so suchte ich Argumente um den Schreiner mit seinen herkömmlichen Ansichten umzustimmen. Er konnte nicht einsehen, warum Schweizer Waagen auf unebenen Flächen nicht präzise wägen konnten. Zudem gab er den Fehler der Wand, die nicht gerade gemauert sei. Also fragte ich ihn was wohl einfacher sei: die Mauer korrigieren oder das Anpassen des Holztisches an die unebene Mauer durch abhobeln. Natürlich war die zweite Alternative einfacher und so machte er sich schliesslich an die Arbeit. Und schon nach kurzer Zeit präsentierte er mit Stolz den perfekten Wagentisch. Die Direktorin hatte mich während der ganzen Zeit beobachtet und mich immer wieder angespornt nicht nachzugeben.



(3) Blick in den Vorbereitungsraum, wo Rohmaterialien gemahlen, gesiebt und gewogen wurden.

Blick in den Vorbereitungsraum, wo Rohmaterialien gemahlen, gesiebt und gewogen wurden.


Während der Zeit des Projektes war zwischen uns ein „kameradschaftliches“ Verhältnis entstanden das vor allem aus Respekt und Vertrauen bestand. Immer wieder war ich erstaunt was ich von ihr erfahren durfte, Dinge die wohl nicht unbedingt in meine Ohren gehörten. So klagte sie mir einmal, dass das Land grosse Mengen an Devisen für den Import von Vitaminen (aus kapitalistischen Ländern) verschwende. Es würden Vitamine bereits an schwangere Mütter verabreicht, dann weiter nach der Geburt und zudem bereits dem Kleinkind. All dies könnte vermieden werden, wenn man die traditionelle Ernährung der Bevölkerung anpassen würde. Es war nämlich so, dass Früchte und Gemüse selten auf den Tisch kamen und die Auswahl auf den Märkten sehr beschränkt war. Bananen gab man zum Beispiel nur den Kleinkindern und einmal erwachsen liess man davon ab. Sogar im Hotel hatte ich bemerkt, dass es nur selten Gemüse gab und wenn, dann oft aus Büchsen importiert aus den USA. Der Direktorin machte dies grosse Sorge und so sagte sie immer wieder, dass Kuba die Importe von Vitaminen vermeiden könnte, wenn mehr lokale Früchte und Gemüse angepflanzt und verzehrt würden. Der Boden sei ja so fruchtbar und die klimatischen Bedingungen ideal. Die Situation hat sich seither nicht viel verändert, aber eben, solange das Regime dies nicht einsieht und bei den Essgewohnheiten nichts unternimmt wird sich wohl nichts ändern.

Ich hatte auch die Gelegenheit das Qualitätslabor eines Pharmabetriebes zu besuchen und die nötigen Analysen für ORS zu besprechen. Das Labor befand sich über dem Erdgeschoss eines Produktionsgebäudes wo riesige Geräte standen und in den Wänden grosse Ventilatoren installiert waren. Nach dem Besuch fragte mich die Dame ob sie mich ins Hotel fahren dürfe, was ich gerne bejahte. Ich war dann allerdings erstaunt als sie ihr Auto ziemlich weit vom Betrieb stationiert hatte. Also fragte ich sie ob der lange Weg etwas mit Körperertüchtigung zu tun habe. Sie verneinte und sagte, dass man ein Auto nicht an der Aussenwand der Fabrik parkieren kann ohne es abends mit einem weissen Staub überzogen vorzufinden. Die Tatsache, dass offensichtlich Inhaltsstoffe von Präparaten ins Freie gelangten beunruhigte mich und so fragte ich sie um was es sich bei der weissen Verunreinigung handle und ob der Staub analysiert wurde. Sie verneinte die Frage und sagte das Labor sei nicht für die Produktion, sondern nur für die Analytik der Roh- und Fertigprodukte zuständig. Offensichtlich hatte sie wohl die Verantwortung für das Labor, ignorierte aber was aus dem Betrieb entwich. Ich wollte ihr helfen und erwiderte, dass vielleicht mit den Maschinen etwas nicht in Ordnung sei oder dass Staubfilter defektiv seien. Doch das Problem schien sie nicht zu interessieren, denn dafür waren ja andere Leute zuständig. Diese Sorglosigkeit und der Mangel an allgemeinem Verantwortungsgefühl beschäftigten mich sehr, doch auch hier musste ich einsehen, dass ich die Denkweise der Leute nicht ändern konnte. Nur die Regierung könnte so etwas vielleicht fördern.



(4) Der Besuch des Exekutivdirektors von UNICEF, James P. Grant, in der ORS Produktionstätte.

Der Besuch des Exekutivdirektors von UNICEF, James P. Grant, in der ORS Produktionstätte.

Vor der Einweihung der Produktionsstätte durch Fidel Castro, dem kubanischen Revolutionär, Diktator und Staatspräsidenten und dem Besuch des Exekutivdirektors von UNICEF, James P. Grant, war ich noch kurz in Havanna. Die Direktorin hatte mich gebeten den Betrieb vorher zu inspizieren um bei den hohen Besuchen nur den besten Eindruck zu hinterlassen. Und tatsächlich war ausser einer Überraschung alles bereit für die Produktion. Jemand hatte nämlich die Idee die Räume weiss zu streichen. Der Maler benützte dabei eine Spritzpistole und vergass die Maschinen, die Elektroschalter an den Wänden, etc. vorher abzudecken. Somit empfingen mich wunderbare weisse Räume und Maschinen! Es hatte keinen Wert sich aufzuregen, denn die Leute waren ja so liebenswürdig und das Putzen mussten sie ja selbst erledigen. Und so merkten die geladenen Gäste nichts davon und alle waren beeindruckt vom schmucken Betrieb. Da man auch hier die Produktionseinheit nur mit sauberen Schuhen betreten durfte, hatte ich aus der Schweiz eine Kokos-Türvorlage mitgebracht. Diese sollte die Leute nicht nur dazu animieren ihre Schuhe darauf zu reinigen, sondern auch mit den lokal erhältlichen Kokosfasern eigene Türvorlagen selbst herzustellen. Ob dies je gelang, ist nicht bekannt. Als für die Einweihung schliesslich alles bereit war fragte mich die Direktorin ob ich nun zufrieden sei. Mit einem Lächeln bestätigte ich meine Zufriedenheit. Doch sie war damit nicht zufrieden und meinte ich solle ehrlich sein, so wie ich es die ganze Zeit gewesen war. Da sagte ich JA, es ist alles in Ordnung und bereit. Dieses Vertrauen berührte mich sehr. Leider konnte ich an der Zeremonie nicht teilnehmen. Nachher sagte man mir ich hätte nichts verpasst, denn wie üblich sprach Fidel während Stunden und anstatt zu arbeiten langweilten sich die Arbeiter.

 

Vor der Abreise luden mich die Direktorin und einige Mitarbeiter ins „Tropicana“ ein, das weltbekannte Freiluft-Revuetheater mit seinen farbenfrohen Darbietungen und seinen temperamentvollen Tänzerinnen. Die Conga- und Salsa-Tänze liessen mich die Probleme der Produktionseinheit vergessen und so fühlte ich mich für einmal so richtig in Südamerika angekommen. Einige Tage später nahm ich noch an einem Symposium der WHO statt, dass im Hotel „Habana Libre“ stattfand. Am Schlussabend trafen sich alle Teilnehmer in der Bar und tanzten zu einer unglaublich rassigen Samba Band. Fast alle kamen aus Ländern in der Karibik oder aus Südamerika. Diese schafften bald eine Stimmung wie ich sie vorher noch nie erlebt hatte. Alle vergnügten sich total entspannt und so authentisch auf der Tanzfläche, dass ich nicht anders konnte als zu versuchen das Gleiche zu tun. Ich liess meine Hemmungen fallen und versuchte so wie die Latino’s zu tanzen, was mir offensichtlich gelang, denn ich bekam Komplimente. Ich glaube ich habe seither nie mehr so viel und lange getanzt wie an diesem unvergesslichen Abend. Und zum Schluss meiner Aufenthalte auf Kuba wollte ich nochmals in die historische Altstadt, die Dank der Revolution so geblieben ist wie sie ursprünglich war. Kein Spekulant hatte die wunderschönen, alten Häuser abreissen können und an dessen Stelle für renditengierige Investoren sterile Glaspaläste erstellen lassen. Ich konnte nur hoffen, dass man sich in Zukunft für die Erhaltung des einmaligen Stadtbildes einsetzt und die Stadt Bern dabei vielleicht als Beispiel dienen mag. Natürlich besuchte ich auch die bekannte Mojito Bar von Ernest Hemingway. Es ist eine urchige Altstadtkneipe mit Sprüchen und Kritzeleien an den Wänden, leider aber bereits von Touristen überlaufen. Etwas weiter unten im Habana Vieja fand ich ein renoviertes Café mit Terrasse, das mich zur Einkehr animierte. Ich bestellte ein „Café con leche“, einen Milchkaffee. Was mir serviert wurde sah wohl so wie ein Milchkaffee aus, schmeckte aber nach etwas undefinierbarem. Ich nahm die Tasse und ging an die Bar. Schon als mich die Dame kommen sah wusste sie was ich wollte. Sehr zuvorkommend und ohne Skrupel erklärte sie mir, dass man dies wohl Milchkaffee nenne, doch anstatt Kaffee geröstete Zichorie und anstatt Milch Maismehl enthalte. Sie verstehe meine Abneigung und bat mich doch für etwas anderes zu entscheiden. So bestellte ich einen Schwarztee, aber ohne Milch! Auch Jahre später war es nicht besser geworden.

 

Ein Kubaner der bei der UNO in Genf arbeitete hatte gehört, dass ich beruflich nach Kuba reisen werde. Er bat mich etwas Geld für seine Familie mitzunehmen und es nach meiner Ankunft einem Freund zu übergeben. Doch den armen Kerl, ein Architekt, liess man nicht ins Hotel. Also traf ich ihn draussen vor dem Hotel wo er sein Auto parkiert hatte. Er sagte er würde mich gerne zu einem Drink einladen und fragte auf was ich Lust hätte. Spontan erwiderte ich einen „Cuba Libre“. Also fuhren wir in die Stadt und versuchten in unzähligen Bars erfolglos einen „Cuba Libre“ zu bekommen. Entweder war kein „lokales“ Cola erhältlich oder dann fehlte der Ruhm. Kleinlaut fuhr er mich ins Hotel zurück wo ich dann ein Glas Wasser trank. Er tat mir leid denn ich wusste, dass er nur das Beste für mich wollte und sich nun gegenüber seinen Freunden in der Schweiz beschämt fühlte. Doch das schien mir kein Problem, denn alle wussten ja, dass es weder ein freies Kuba noch ein „Cuba Libre“ gab. Durch meinen Einsatz im Land wurde mir aber bewusst, dass sich dies nur mit eigener Kraft und Überzeugung ändern kann.

 

b)…Burundi
Auch von der Regierung in Burundi wurde ich zu einer Beratung eingeladen und dies obwohl ORS bereits von dem kleinen Pharmabetrieb „ONAPHA“ in 1 kg - Beuteln hergestellt wurde. Ich dachte deshalb an eine Modernisierung und an eine einfache Aufgabe. Doch ich hatte mich geirrt, denn der Gesundheitsminister hatte andere Pläne. Dies machte er mir bereits in den ersten Minuten der Zusammenkunft klar. Zudem musterte er mich erst kritisch und erklärte dann anmassend, dass er normalerweise nicht mit Beratern verhandle die an einer körperlichen Behinderung litten, also „handicapé“ seien. Ich hatte keine Zeit ihn zu fragen wen er wohl damit meinte, denn er redete weiter und fragte ob ich als Brillenträger etwa nicht behindert sei? So eine Frage wurde mir bis anhin noch nie gestellt und so war ich nicht sicher ob er mich beleidigen oder mit mir scherzen wollte. Doch für Spässe kannten wir uns ja zu kurz und so war ich nicht sicher ob er mich als Brillenträger gleich wieder nach Genf zurückschicken würde. Doch auf einmal schien er seine Meinung geändert zu haben und war bereit das Projekt mit einem „Behinderten“ zu diskutieren. In solchen Situationen durfte man die Nerven nicht verlieren, was nicht immer einfach war.


Dann präsentierte der launische Mann seinen Plan: er wollte auf dem Gelände des Ministeriums eine unabhängige ORS Produktion erstellen, also genau das was ich vermeiden wollte. So erwähnte ich den bestehenden Betrieb der bereits ORS produzierte, doch davon wollte er nichts wissen. Die Rechtfertigung seines eigensinnigen Beschlusses erfuhr ich nie, doch ich musste annehmen, dass er die Produktionseinheit auf dem Gelände des Gesundheitsministeriums wollte, weil sich da das grosse Lagerhaus befand. Als ich das Lager das erste Mal besuchte war ich aber über die Lagerbedingungen entsetzt. Es gab keine Regale und es tat mir weh zu sehen wie respektlos die Angestellten mit diesen teils sehr teuren Arzneimittel umgingen. Die meisten Medikamente, die ja grösstenteils von Hilfsorganisationen zur Verfügung gestellt wurden, lagen in einem riesigen Durcheinander am Boden. Es war sofort klar, dass es hier an einer effizienten Lagerbewirtschaftung fehlte. Da die lokale Produktion von ORS ohne ein funktionierendes Lager nicht denkbar war, verlangte ich dieses erst in Ordnung zu bringen. In Übereinkunft mit UNICEF wurde entschieden erst ein gesamtflächiges Palettenlager zu erstellen und die nötigen Paletten sowie einen Paletthubwagen zu beschaffen.


Als ich erfuhr, dass dieses Material geliefert und angekommen war flog ich sofort nach Bujumbura um es zu kontrollieren und wenn nötig Anleitungen für die Installation zu erteilen. Als ob hier niemand Bescheid über die Regale gewusst hätte, lagen bei meiner Ankunft die Kisten noch unberührt vor dem Lager im Regen. Zusammen mit Angestellten des Lagers wurde die Lieferung nach Packliste geprüft und dann als Beispiel eine ganze Lagerlänge Gestelle montiert. Um dies auszuführen musste alle am Boden gelagerte Ware temporär umdisponiert werden, was die Leiterin des Lagers gar nicht schätzte. Sie schien an den nötigen Gestellen überhaupt nicht interessiert zu sein. In der Überzeugung, dass die angelernten Arbeiter den Rest der Installation selbstständig erledigen würden, kehrte ich wieder in die Schweiz zurück. Inzwischen wollte der Direktor natürlich die neue ORS Einheit vorantreiben, doch ich hielt mit der Lieferung von Produktions-Maschinen weiterhin zurück. Ich wollte, so wie in Colombo, mich erst selbst von den Fortschritten im Lager überzeugen. Doch als ich nach weiteren 6 Monaten in Bujumbura ankam, fand ich das Lager noch im genau gleichen Zustand vor. Kein einziges, zusätzliches Gestell war aufgestellt worden. Als ich die Chefin des Lagers fragte wieso während dieser Zeit nichts geschah, meinte sie äusserst uninteressiert: „Die Installation der Gestelle stört mich bei meiner Arbeit“. Also erstellte ich zusammen mit den Arbeitern nochmals zwei Reihen der Gestelle. Nun hätte man mit einem geordneten Lagerinventar beginnen können. Zudem wies ich die Chefin an, schwere Produkte auf dem Boden und leichtere nun in den oberen Gestellen zu lagern und nicht umgekehrt so wie bis anhin. Und wieder kehrte ich mit der Hoffnung zurück, dass die Arbeit auch ohne mich fertig gemacht wird. Doch als ich nach 6 Monaten erneut zurückkehrte, waren die Gestelle immer noch nicht fertig montiert. Diesmal blieb ich an Ort und Stelle bis die ganze Lieferung ausgepackt und montiert war. Auch diesmal wurde ich für meine regelmässigen Besuche von UNICEF Verantwortlichen am Hauptsitz in New York kritisiert. Für mich aber galt das Prinzip eine Arbeit verantwortlich zu beenden oder dann gar nicht anzunehmen. Zudem wollte ich die gelieferten Gestelle auch wirklich gebraucht sehen.



(5) Produktionseinheit für ORS in Bujumbura

Produktionseinheit für ORS in Bujumbura


In dieser Phase traf ich im Hotel einen Berater der Schweizer Botschaft, der Gestelle lokal eingekauft und in einem Nebenraum des Hauptlagers installiert hatte. Niemand hatte mir erzählt, dass die Schweiz ebenfalls Gestelle installierte. Also teilten wir unsere Erfahrungen und so erfuhr ich auch von seinen eigenen Überraschungen. Um sein Projekt zu besprechen wurde er gebeten um 08.00 Uhr auf dem Gesundheitsministerium vorzusprechen. Doch er musste sich bis fast 09.00 gedulden bis der etwas anspruchsvolle Herr eintraf. Kaum mit der Sitzung begonnen hatte dieser vergessen seine Frau mit seinem Auto ins Krankenhaus zu fahren. Der Schweizer Delegierte nickte und sagte er hätte noch genug Arbeit bis zu seiner Rückkehr. Was dieser aber nicht wusste war, dass die Abwesenheit des Direktors bis nach 12.00 Uhr dauern konnte, also den ganzen Morgen. Als dieser dann endlich wieder zurück war, äusserte er sich sehr beeindruckt über die Geduld des Schweizers. Unverhohlen gab er zu, dass er beim Vorbeifahren des Fussballstadions eine lange Fussgängerschlange gesehen habe. Dies erinnerte ihn an den wichtigen Fussballmatch am kommenden Sonntag und so musste er halt auch anstehen um die nötigen Eintrittskarten zu bekommen. Das war für ihn scheinbar viel wichtiger als über ein Entwicklungsprojekt und dessen Finanzierung zu diskutieren. Ja, man muss sich oft vieles gefallen lassen, wenn man helfen will! Übrigens machte mich dieses Beispiel hell hörig. Es wurde mir nämlich klar, dass eine Regierung für die Lieferung, zum Beispiel von Impfstoffen, Gesuche an alle Botschaften im Land schicken kann. Sofern dann keine Koordination zwischen diesen, den UNO Organisationen und NGOs besteht, ist es möglich, dass schlussendlich mehr als nötig gespendet wird.


(6) Fertig erstelltes Lager in Bujumbura, Burundi

Fertig erstelltes Lager in Bujumbura, Burundi

Nachdem alle Gestelle montiert waren, konnte man auch die Produktionseinheit in Angriff nehmen. Es war kein schwieriger Bau und die Einrichtung eine Kopie von Sri Lanka. Nur an das Einhalten von Hygiene waren sich die Leute nicht gewohnt. In der Regenzeit hatten alle Zentimeter dicke Erdklötze an den Schuhen. Also organisierte ich einen Holzrost, sodass man die Schuhe reinigen (die Sohle abkratzen) konnte. Doch ich hatte nicht mit den Springfähigkeiten der zwei Meter grossen Mädchen gerechnet. Sie sprangen elegant wie Gazellen über den Rost in den Raum hinein. Als ich fragte wieso der Rost gemieden werde meinten sie scheu, dass doch beim Abkratzen die Schuhe kaputt gehen würden.



(7) Dosieren und Siegeln von ORS in Bujumbura

Dosieren und Siegeln von ORS in Bujumbura


Nach einigen Jahren wurde eine Gruppe Parlamentarier von der Basler Pharmaindustrie zu einer Studienreise in die Schweiz eingeladen. Zu meiner Überraschung war auch ein Besuch bei der WHO in Genf und bei mir in meinem Büro auf ihrem Programm. Eigentlich wollte ich sie genau so nachlässig behandeln wie ich es in Burundi erlebt hatte. Doch da meine Zeit beschränkt war entschied ich mich für eine andere Art von Betreuung. Nach der Begrüssung sagte ich der etwas 8-köpfigen Gruppe mit einem süssen Lächeln, dass ich sie eigentlich gerne eine Stunde hätte warten lassen, so wie mir dies in Bujumbura immer wieder passiert war. Doch meine Arbeit würde mir dies in Genf nicht erlauben und so möchte ich einfach möglichst effizient von der vorhandenen Zeit Gebrauch machen. Dann zeigte ich auf die Weltkarte hinter mir und deutete auf Burundi, einen kleinen Punkt in Afrika. Freundlich fuhr ich fort, dass ich für das Projekt der lokalen ORS Produktion fast alle sechs Monate im Land war und dabei die vielen anderen Länder auf der Welt vernachlässigt hatte. Und jedes Mal wurde ich von Beamten der WHO oder UNICEF am Flugplatz abgeholt und ins Hotel geführt. Auch der Transport während meinem Aufenthalt vom Hotel zum Gesundheitsministerium etc. wurde von diesen beiden Organisationen bereitgestellt. Dabei arbeitete ich ja in erster Linie für ein Projekt des Staates, also für Burundi. Doch von den Verantwortlichen des Landes wurde dies scheinbar nicht so wahrgenommen und so war meist niemand zu sehen, ausser man hatte Geduld um zu warten. Ich beschwerte mich nicht, aber ich wollte meine Enttäuschung und Frustration direkt und authentisch bei den Leuten aus dem Gesundheitsministerium anbringen. Es war auch die Gelegenheit zu fragen wieso nach all den Jahren internationaler Hilfe die ORS Einheit immer noch nicht eigenständig war und weiterhin von Hilfsorganisationen abhängig blieb. Ich leerte meine Seelen offenherzig und meinte dann zum Schluss, dass ich dies nur tue um sie aufzuwecken und aufzufordern sich endlich der ORS Einheit anzunehmen und vor allem die Unternehmensführung zu stärken, denn nur so könne eine echte Identität und nachhaltige Verantwortung zu diesem Projekt entstehen. Sie schienen von meinen Worten ziemlich verwirrt und verliessen mein Büro lautlos. Nachdem die Leute wieder in Burundi waren rief mich die Repräsentantin von UNICEF an und fragte was ich mit diesen Leuten wohl gemacht hätte? Sie waren scheinbar sehr nachdenklich zurückgekehrt und gaben schliesslich zu, dass ich ihnen Dinge dargelegt habe an die sie vorher noch gar nie gedacht hätten und auf die sie noch niemand aufmerksam gemacht hätte.

 

c)…Madagaskar
Bei meinem ersten Besuch in diesem Land traf ich ungefähr die gleiche Situation an wie in Burundi. Das durch Chinesen erstellte « Centre de production pharmaceutique » in Tanjombato war noch im Bau, aber trotzdem wollte der Gesundheitsminister ORS unabhängig in der „Pharmacie Centrale“ in Antananarivo produziert haben. Diese befand sich im Erdgeschoss des Gesundheitsministeriums. Hier wurden bis anhin kleine Mengen von intravenösen Lösungen hergestellt. Obwohl die ORS Produktion baulich getrennt von den intravenösen Lösungen sein musste, war deren Planung nicht schwierig, denn die nötigen Räumlichkeiten waren vorhanden. Vor allem genügend Lagerfläche war vorhanden, was für die Unterbringung der Glukose, den Salzen und dem Packmaterial sehr wichtig war.



(8) Perfekte Lagerhaltung von Rohmaterial für ORS in Madagaskar

Perfekte Lagerhaltung von Rohmaterial für ORS in Madagaskar


Doch um den GMP Normen zu entsprechen mussten die nötigen sanitären Anlagen wie Duschen, WC und Handwaschbecken erstellt werden. Im Labor gab es wohl ein WC, doch es war meistens in einem desolaten unbenutzbaren Zustand! Auf dem Trottoir an der Aussenwand des Gebäudes war die Situation nicht besser. Dort befand sich ein öffentliches Pissoir dessen Ablauf immer verstopft war, sodass der gelöste Harn der Hausmauer entlang, vorbei an der Treppe des Haupteinganges, in den Strassengraben floss. Die üblen Zustände dieser Orte schienen ausser mir niemandem aufzufallen und zu stören. Indessen sah der Gesundheitsminister überhaupt nicht ein, weshalb man für die ORS Produktion separate sanitäre Anlagen brauchte. Immer wieder erklärte er, dass man hier nicht in Genf sei und deshalb nichts übertrieben werden sollte. Immer wieder versuchte ich ihm zu erklären, dass es sich hier um die Produktion von einem Medikament handle und Mindestanforderungen einfach eingehalten werden müssten. Es sei auch Vorschrift, dass Arbeiter vor Arbeitsbeginn die Hände waschen und die dazu nötige Installation vorhanden sei. Doch die Diskussion schien kein Ende zu nehmen. Plötzlich konnte ich nicht anders als ihm die unappetitliche Situation des WC im eigenen Haus zu schildern und ihn zu fragen ob so etwas wohl für ein Gesundheitsministerium würdig sei. Und dann fügte ich gleich nach, dass dies nichts mit dem Fortschritt in industriellen Ländern zu tun habe, denn dieses WC rein zu halten sei auch ohne Entwicklungshilfe möglich. Zudem könnte man den Raum abschliessen und den Schlüssel jeweils nur bei Gebrauch abgeben. Mein UNICEF Kollege gab mir einen Stoss ans Bein unter dem Tisch und sagte ich soll mich zurückhalten. Doch daran dachte ich nicht, denn ich wollte gleich noch das scheussliche Pissoir an der Aussenwand des Gesundheitsministeriums erwähnen. Und so fragte ich ihn ob ihm bewusst sei, dass alle Besucher des Ministeriums, und so auch er, nach jedem Betreten des Gebäudes Urin an den Schuhen hätten? Darauf wusste er nichts zu sagen und die Sitzung war zu Ende! Sechs Monate später, als ich für die Projektüberwachung im Land war, durfte ich feststellen, dass das Pissoir verschwunden war und das WC im Labor sich peinlich sauber unter Verschluss befand. Zu meiner Überraschung wurde meine „Frechheit“ nie erwähnt, ja vielleicht im Geheimen sogar geschätzt. Es ist ja so, dass man oft blind wird für Sachen die man jeden Tag sieht und an die man sich gewohnt hat. Jedenfalls freute mich die positive Initiative ausserordentlich.



(9) Handwaschbecken in der ORS Produktion in Madagaskar

Handwaschbecken in der ORS Produktion in Madagaskar


Etwas weniger glücklich war ich mit meinem neuen Arbeitskollegen in New York. Er war verantwortlich für den Einkauf und die Verschiffung der Produktions-Einrichtung. Da ich mir der Bedingungen in Madagaskar bewusst war, bat ich ihn alle Bestellungen ins UNICEF Warenlager nach Kopenhagen zu adressieren, um so alle Lieferungen gemeinsam in einem Container nach Madagaskar zu verschiffen. Doch er war eigensinnig und ignorierte meine Anweisungen. Sorglos liess er jede Firma ihre Lieferung direkt nach Antananarivo senden. Und so kam es wie ich es vermutete: der grösste Teil der Ware ging irgendwo verloren oder wurde gestohlen, sodass fast die ganze Bestellung wiederholt werden musste. Zudem hatte er die Spezifikationen der Artikel ignoriert und die Ware irgendwo in den USA eingekauft. Oft waren es untaugliche Artikel und so ging viel Geld verloren. Aber wenigstens gab er sich bei der zweiten Bestellung Mühe. Leider hatte dies eine Verspätung des Produktionsbeginns von über einem Jahr zur Folge. Während dieser Zeit konnten aber die nötigen Duschen, WC und Lavabos für Männer und Frauen gebaut und installiert werden. Man hatte auch Zeit um das grosse Warenlager mit den nötigen Gestellen auszustatten, sodass es als ein sehr befriedigendes und ansprechendes Projekt abgeschlossen werden konnte.



(10) Typische Häuser auf dem Lande in Madagascar.

Typische Häuser auf dem Lande in Madagascar.


d)…Thailand
In diesem Land gestaltete sich das Projekt für die lokale Produktion von ORS einfacher als in anderen Ländern, denn all die elementaren Bedingungen waren dafür gegeben. Es existierte ein gut funktionierendes CDD-Programm, das übrigens vorgeschlagen hatte die benötigte Menge von ORS im staatlichen Pharmabetrieb lokal zu produzieren. Somit musste ich mich nur um die technischen Details kümmern. Im obersten Stock eines bestehenden Fabrikgebäudes gab es ausreichend Platz für die zukünftige Produktion. Meine Besorgnis war nur die Abhängigkeit von einem Aufzug, doch wie es sich herausstellte, war auch dies unbegründet. Zusammen mit vorhandenen Ingenieuren des Betriebes wurde der Produktionsvorgang diskutiert und die Aufteilung der vorhandenen Fläche entsprechend ausgeführt. Entscheidend bei diesen Vorbereitungen war das Einverständnis des Betriebes eine neuartige Füll- und Dosiermaschine auszuprobieren. Da Hitze und Feuchtigkeit auf ORS reagieren kann, hatte ich schon lange nach einer entsprechenden Lösung für einen geschlossenen Produktionsverlauf gesucht. Zusammen mit einer Firma in Deutschland (MERZ) suchten wir nach einer Lösung um die fertige Mischung auf einfache Art von der Mischmaschine (Rhönradmischer) auf die Dosiermaschine zu heben und mit ihr zu verbinden. Das Ziel war auch das mühsame Nachfüllen von Hand zu vermeiden und vor allem das Produkt (ORS) vor möglichen externen Einflüssen zu schützen. Der beteiligte Fabrikant in Deutschland investierte selbst sehr viel Zeit in das pionierträchtige Objekt: ein Prototyp aus dem sich schliesslich das neuartige Füllsystem für Stickpacks entwickelte. Für die Inbetriebnahme kam er persönlich nach Bangkok und nahm sich der Installation sowie der üblichen „Kinderkrankheiten“ der Maschine an. Zu meiner Erleichterung funktionierte der Prototyp zur vollen Befriedigung aller Beteiligten. Er funktionierte sogar so gut, dass der staatliche Betrieb ein paar Jahre später sogar eine zweite Maschine dieses Prototyps auf eigene Rechnung installierte.



(11) Der Prototype für das automatische Dosieren und Siegeln von ORS in Thailand.

Der Prototype für das automatische Dosieren und Siegeln von ORS in Thailand.


e)…Argentinien

Bereits im Jahre 1982 wurde ich nach Argentinien gerufen. Auch hier wollte man ORS lokal produzieren und vom Import unabhängig werden. Damals gab es noch kein Internet wo ich mich vorher über bestehende Betriebe hätte informieren können. Nach den Vorbesprechungen im Gesundheitsministerium in Buenos Aires führte man mich zu potentiellen, staatlichen Betrieben (sogar der Armee), die für die Herstellung von ORS in Frage kamen. Doch keine entsprach meinen Vorstellungen. Da Glukose der grösste Gewicht- und Volumenanteil von ORS ist, fragte ich ob diese vielleicht lokal hergestellt wird. Und tatsächlich gab eine solche Fabrik, allerdings keine staatliche Firma. Trotzdem entschloss man Kontakt mit dieser Firma aufzunehmen und um einen Termin zu bitten, was kurzfristig möglich war. Es empfing uns ein älterer Herr der offensichtlich der Besitzer der Fabrik war und der sich erst nach den Gründen meines Besuches erkundigte. Er hatte ein altmodisches Hörgerät am Ohr das man nicht übersehen konnte. Zusammen mit der Dame aus dem Gesundheitsministerium, die mich während meines Besuches begleitete, erklärten wir dem Herrn, dass wir auf der Suche nach einem Betrieb sind, der den lokalen Bedarf von ORS produzieren und garantieren kann. Da er sichtlich Interesse zeigte, erklärte ich ihm in allen Details um was es sich handelte. Er schien von der Idee nicht abgeneigt und betonte, dass alle benötigten Rohmaterialen lokal zur Verfügung ständen und dass auch die Produktion kein Problem sei. Nur als ich die hohen Preise im Land erwähnte wurde der Herr energisch und meinte man dürfe den lokalen Preis nicht mit Importpreisen in US-Doller vergleichen (der Wechselkurs änderte damals fast stündlich). Er argumentierte, dass alles benötigte Material im Land erhältlich sei und dadurch keine Devisen verloren gingen; der erwähnte Vergleich sei deshalb unfair. Dann sah ich, dass er das Hörgerät aus dem Ohr nahm und auf den Tisch legte. Das bedeutete, dass das Gespräch beendet war. Bei der Rückkehr ins Hotel wusste ich deshalb nicht ob mein Besuch nun erfolgreich oder nutzlos war. Die Überraschung war deshalb umso grösser, als ich nach etwa sechs Monaten in meinem Büro in Genf ein paar Beutel ORS, produziert in Argentinien und in den nationalen Farben, vorfand. Es bereitete mir eine riesige Freude, war aber gleichzeitig erneut der Beweis, dass auch ohne „Geschenke“ und mit wenig Mühe im Privatsektor ein ausgezeichnetes Resultat erreicht werden kann.



(12) ORS aus Argentinien

ORS aus Argentinien



f)…Nordkorea DPRK

Das Gesundheitsministerium von Nordkorea suchte ab 1988 nach Wegen um die Produktion von ORS zu steigern und bat im selben Jahr die WHO um technischen Rat sowie die erforderliche technische Ausrüstung. Dabei kamen drei Fabriken in Frage: Deasong Pharmaceutical Plant in Deasong, die Uiju Pharmaceutical Factory in der Provinz Nordpyongan und die Pyongyang Pharmaceutical Company in Pjongjang. Die Letztere hatte nach einer Testphase Ende der 80er Jahre die Herstellung von ORS eingestellt. Die Nachfrage nach ORS wurde daher seit 1984 vollständig von der Uiju Pharmaceutical Factory abgedeckt. Wie in diesem Betrieb ORS produziert wurde ist nicht bekannt und auch Muster von diesem Produkt waren nicht erhältlich. Leider wurde diese Fabrik im Jahre 1995 während der grossen Flut, die das Land verwüstete, vollständig zerstört. Um die Verfügbarkeit von ausreichend ORS sicherzustellen, brachten UNICEF, WHO, die „Internationale Föderation des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds (IFRC)“, Médecins sans Frontières (MSF) und andere internationale Organisationen seither die nötigen Mengen von ORS auf dem Luftweg ins Land. Nun sollte aber ein neuer Ort für die lokale Produktion gefunden werden.

 

Meine drei Besuche in diesem Land (Oktober 1988, März 1996 und Juni 1998) waren jedes Mal äusserst beklemmend. Zudem war die Reise mit einer obligaten Übernachtung in Peking immer überaus zeitraubend, so auch beim ersten Besuch. Es gab pro Woche nur zwei Flüge von Peking nach Pjongjang und zurück; verpasste man einen Flug sass man drei Tage fest. Einmal in Pyongyang angekommen, der Hauptstadt der Demokratischen Volksrepublik Korea, wurde ich von einem Vertreter des Staates abgeholt, der mich dann während des Aufenthaltes begleitete (beschattete). Jedes Mal hatte ich bei der Ankunft das Gefühl auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. Neben leeren Strassen, waren es vor allem die Leute die mich im Bann hielten, denn sie bewegten sich wie Roboter oder Menschen denen man das Hirn amputiert hatte. Alle waren gleich gekleidet und die Gesichter waren ausdruckslos, ausser auf riesigen farbigen Bildern wo sie überglücklich singend und mit einem künstlichen Lächeln dargestellt wurden. Jeden Tag sah ich schon früh am Morgen viele Menschen auf dem riesigen Platz vor dem Hotel. Sie übten scheinbar für einen Massenauftritt oder eine Parade vor dem „Grossen Führer“ und „Ewigen Präsidenten“ Kim IL Sung. Ihre Bewegungen erinnerten mich an Puppen die auf eine Fernbedienung reagierten und sich perfekt synchron bewegten. Dann verschwanden alle wieder irgendwohin. Ich konnte nicht feststellen ob sie zu Fuss gekommen waren, denn auf den Fusssteigen sah man kaum Leute. Es war alles so fremd, rätselhaft und undurchschaubar.

 

(13) Riesige Neubauen, breite Strassen und alles wie ausgestorben.

Riesige Neubauen, breite Strassen und alles wie ausgestorben.

 

Das Hotel in dem ich einquartiert wurde, war genau so pompös gebaut wie die meisten offiziellen Gebäude. Schon beim Betreten des Hotels empfing mich an der Wand der Lobby ein Riesenportrait des Präsidenten Kim IL Sung. Unter dem Gemälde war eine lange Bank aus Marmor die für mich unter Umständen hätte verhängnisvoll werden können. Als ich nämlich am zweiten Morgen in der Lobby auf meinen Betreuer warten musste, setzte ich mich arglos auf diese Bank. Doch kaum hatte ich mich hingesetzt hörte ich Schreie in der Lobby und eine Reihe von Angestellten kamen hysterisch schreiend auf mich zu und rissen mich von der Bank. Gestikulierend deuteten sie auf das Gemälde, doch ich konnte ihren Aufruhr nicht begreifen. Erst als mein Betreuer eintraf löste sich das Rätsel. Er erklärte mir, dass ich mich äusserst respektlos gegenüber dem Präsidenten benommen hätte: man dürfe dem Grossen Führer niemals den Rücken zuwenden und ihm zudem sitzend das Gesäss zeigen. Obwohl ich mir keiner verbotenen Tat bewusst war, erschreckte mich der ganze Aufruhr dann trotzdem zünftig. Es brauchte eine gewisse Zeit bis ich verstand, was passiert war und war schliesslich froh, dass man mich nicht gleich einsperrte. Von diesem an Moment ging ich mit grossem Abstand und Respekt an dieser Bank und weiteren Bildern sowie Statuen des „Grossen Führers“ vorbei.

 

Das Zimmer war spartanisch aber komfortabel eingerichtet. Natürlich war ich mir bewusst, dass es in den Wänden Abhörgeräte hatte und dass ich immer überwacht wurde, aber irgendwie liess mich dies unbeeindruckt. Aber dann stellte ich fest, dass es im Hotel keinen „Coffee shop“, keinen Kiosk oder sonstige Geschäfte gab. Das Hotel machte deshalb einen äusserst sterilen Eindruck und ausser im riesigen Speisesaal konnte man nirgends Mahlzeiten einnehmen oder eben einen Kaffe trinken. Es gab keine westlichen Zeitungen, dafür einen Fernsehapparat in der Lounge, der fast ausschliesslich Errungenschaften des grossen Führers verkündete, natürlich in Koreanisch und immer untermalt mit schwerer, dumpfer Militärmusik. Ich fühlte mich vom Rest der Welt abgeschnitten und total isoliert. Im riesigen Speisesaal wurde man nach Herkunft oder nach einer undefinierbaren Einordnung an einen grossen runden Tisch gewiesen. Damals hatten die UN-Organisationen noch keine eigenen Vertretungen und so sass ich ganz alleine und verlassen an einem dieser grossen Tische. Während man auf das Essen wartete, konnte man die riesigen Gemälde an den Wänden bewundern. Es waren alles Motive aus dem täglichen Leben, aber übertrieben positiv dargestellt. Da sah man singende, glückliche Bauern beim Pflügen auf dem Felde oder beim Ernten von Reis, begeisterte Minenarbeiter, fröhliche Fabrikarbeiterinnen mit glänzenden Augen, etc. Im Kontrast zu diesen „wunderbaren“ Bildern an den Wänden wurde auch hier äusserst dumpfe Militärmusik abgespielt, was mir selbst leider kein begeistertes Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Es war einfach zu surrealistisch in diesem riesigen Raum. Zudem durfte man den zugeteilten Tisch nicht wechseln um zum Beispiel sich zu einem Journalisten aus der Schweiz, am „Schweizer Tisch“, zu setzen. Solche Zustände waren für mich, an Freiheit gewöhnter Schweizer, schwer verständlich und schwer zu ertragen. Zudem sprach im Hotel niemand eine andere Sprache als Koreanisch. Zum Glück half mir mein Begleiter oder „Schatten“ bei der Verständigung mit dem Personal.




(14) Triumphbogen, gebaut 1982

Triumphbogen, gebaut 1982


Am ersten Morgen nach der Ankunft war eine Stadtrundfahrt auf dem „Pflichtprogramm“. Zuerst brachten mich vier Begleiter (Leibwächter) nach Mankeidai, dem Geburtsort des grossen Führers, dann an den Ort wo er seine Kindheit verbrachte, zum Triumpfbogen, zum May Day Stadium, zum Hamhung Grand Theatre und weiteren Sehenswürdigkeiten die im Zusammenhang mit dem „Great Leader Präsident Kim IL Sung“ waren. Vor dem Mittag brachte mich ein unerwarteter Besuch in einem riesigen Vergnügungspark aus dem Gleichmut. Da gab es ausser zwei Riesenrädern eine Unzahl von Karussells, Spielbuden etc. Meine Betreuer schlugen mir vor, die Sicht auf die Stadt aus einer Kabine des grossen Riesenrades zu geniessen. Auf dem Weg dorthin überholten wir eine lange Warteschlange. Beim Eingangstor angekommen rebellierte ich das erste Mal, denn man bat mich sofort in eine Kabine zu steigen. Obwohl man mich als Gast eingeladen hatte, konnte ich nicht akzeptieren, dass es in einem erzkommunistischen Land solch augenfällige Privilegien gab und so weigerte ich mich die wartenden Leute zu ignorieren. Ich war wohl einverstanden dem Protokoll zu folgen, aber nur wenn man mir erlaubte - genauso wie das Volk- anzustehen. Damit brachte ich meine Begleiter in arge Verwirrung, denn scheinbar hatte sich noch nie ein Gast gewagt sich gegen ein Programm des Regimes quer zu stellen. Nach ein paar Minuten wurde entschieden, zum zweiten Riesenrad zu gehen, das allerdings ein bisschen weniger imposant war. Dort angekommen stellte man jedoch fest, dass wir dort keinen Zugang hatten, denn dieses Rad war einer eleganten Elite in wunderschönen traditionellen Kleidern vorbehalten! Also wieder Privilegien und wieder musste eine andere Lösung gefunden werden. Schliesslich entschlossen meine „Schatten“ mich zu einer elektronischen Schiessbude zu führen. Zuerst war ich erstaunt, dass es hier so etwas überhaupt gab und schoss dann zum ersten Mal in meinem Leben elektronisch auf eine Zielscheibe. Dann ging es weiter zu einem Karussell, einer zweistöckigen „Rössliritti“. Zuerst glaubte ich es sei ein Spass, als man mich bat auf ein weisses „Rössli“ zu steigen, doch schliesslich wollte ich nicht weiter rebellieren und folgte getreu ihren Anordnungen. Als ich dann aber an diesem Morgen, während normale Menschen arbeiteten, auf einem Holzpferd sass, das sich im Kreise drehte, glaubte ich zu halluzinieren. Von dieser tragisch-komischen Tatsache brauchte ich unbedingt einen Beweis für meinen Chef in Genf. Ich holte meinen Fotoapparat hervor und bat meine Begleiter davon eine Aufnahme zu machen, was diese mit scheinbar grosser Ehrerbietung ausführten.



(15) Das zweistöckige Karussell im Vergnügungspark in Pjongjang

Das zweistöckige Karussell im Vergnügungspark in Pjongjang

 


(16) Auf einer zweistöckigen „Rössliritti“, die sich ganz alleine für mich drehte!

Auf einer zweistöckigen „Rössliritti“, die sich ganz alleine für mich drehte!


Am Nachmittag waren ein Besuch des Staudamms am Taedong River und weiterer Errungenschaften des grossen Führers vorgesehen. Und da rebellierte ich ein zweites Mal. Ich erklärte den Begleitern, dass ich keinen Staudamm sehen möchte, aber Vorschläge für weitere Besichtigungen gerne am Wochenende annehmen würde. Zudem betonte ich, dass ich nicht als Tourist, sondern als Berater gekommen sei und nun endlich arbeiten möchte, was ja in Genf von mir erwartet wurde. Ich drohte sogar in die Schweiz zurück zu fliegen, sollte das Programm nicht geändert werden. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht, dass dies unmöglich gewesen wäre. Und erneut wurde mein Widerstand nicht verstanden und meine Beschützer schauten verwirrt in der Gegend herum. Aber schliesslich lenkten sie ein und führten mich etwas ausserhalb der Stadt zu einem der potentiellen Objekte, der Teejong Factory, für die Produktion von ORS. Was man mir hier aber zeigte verwirrte mich erneut, denn es war kein Pharmabetrieb, sondern nach meinem Verständnis ein einfaches 2-stöckiges Wohnhaus, in dem sichtlich Tinkturen hergestellt wurden. Erst glaubte ich es wäre ein Scherz oder ein Missverständnis, doch dann musste ich einsehen, dass es den Begleitern ernst war. Für koreanische Verständnisse war es ein Gebäude, indem nach uralten Methoden Heilmittel auf pflanzlicher Basis hergestellt wurden. Natürlich hatte dieser Betrieb mit einem modernen Pharmabetrieb absolut nichts gemein. Die Herstellung von ORS konnte ich mir selbst nach einem aufwendigen Umbau nicht vorstellen. Das Haus war aus vorfabrizierten Betonelementen gebaut und jede Türe hatte, so wie es bei koreanischen Gebäuden üblich ist, hohe Türschwellen. Dies machte es unmöglich, Geräte oder Gefässe auf Rädern von einem Raum zum anderen zu transportieren. Zudem war auch der Zugang zum Gebäude über eine lange Treppe für einen Pharmabetrieb nicht geeignet. Auch ein Lagerhaus für Roh- und Packmaterialien war nirgends zu sehen. Aber wie sollte ich dies den Verantwortlichen erklären? Sie hatten ja ausser ihrem Betrieb noch nie etwas anderes gesehen und konnten deshalb nicht wissen wovon ich redete! Das Ganze war für mich eine Reise in die Vergangenheit, und so machte ich meine Notizen bevor wir ins Hotel zurückfuhren.

 

(17) Die Teejong Factory, vorgeschlagen für die Produktion von ORS.

Die Teejong Factory, vorgeschlagen für die Produktion von ORS.


Auf dem Rückweg zum Hotel fragte ich meine Begleiter ob es denn im Land keinen Betrieb gebe, der moderne Arzneimittel herstellte, so wie zum Beispiel Infusionslösungen. Und tatsächlich führte man mich am nächsten Tag zu einem Betrieb der solche Lösungen herstellte. Erst schien dies tatsächlich ein üblicher Pharmabetrieb zu sein, doch dann musste ich feststellen, dass auch hier alles auf pflanzlicher Basis hergestellt wurde. Mit dem Fabrikationsteil verbunden war ein riesiges Lager in dem die verschiedenen getrockneten Pflanzen gelagert wurden. Hier kam ich mir vor wie auf dem Heuboden eines Bauernhofes. In diesem Betrieb wurde auch das Allheilmittel Ginseng verarbeitet. Man erhielt es als getrocknete Wurzel (Natural Hongsam), als Tonic Sirup (Koryo Insamjomgaek), als eine Art Schnaps und natürlich in der Form von Globuli. Aber eben, auch dieser Betrieb eignete sich nicht für die Herstellung von ORS.

 

Die Feststellung, dass es in diesem Land scheinbar keine modernen Pharmabetriebe gab liess mich nicht los. Ich begann zu vermuten, dass man mir etwas verschwiegen hatte und entschied deshalb herauszufinden was in Apotheken an Heilmitteln erhältlich war. Dazu musste ich einen sechs- oder siebenbahnigen Boulevard überqueren, auf dem selten ein Auto zu sehen war. In der Mitte der Fahrbahn war eine Spur exklusive für das Fahrzeug des „Grossen Führers“ reserviert. Dieses Detail brachte mich beinahe von meinem Vorhaben ab, denn diese abgesonderte Spur war für mich nicht nur abstossend, sondern auch absurd für ein kommunistisches Land, in dem doch im Prinzip alle Menschen gleich waren. Natürlich sah ich, dass Fussgängerunterführungen auf die andere Seite führten, aber da man auf diesem Boulevard nie ein Fahrzeug sah, entschied ich mich sorglos direkt über die Fahrbahn zu schreiten. Aber kaum war ich auf der ersten Spur angekommen, pfiff es von allen Seiten und wie aus dem Nichts waren Agenten da um mich zu „retten“. Dies bewies mir erneut, dass man immer beobachtet wurde. Reumütig erwartete ich eine Bestrafung, doch die Agenten waren nachsichtig und begleiteten mich durch die Unterführung sicher auf die andere Seite. Und hier fand ich bald eine Apotheke, in der ich mit Händen und Füssen kommunizierend nach Aspirin fragte. Doch niemand schien diesen schmerzstillenden Arzneistoff zu kennen. Man empfahl mir Koreanische Alternativen, doch dafür fehlten mir die Kenntnisse und den Mut sie auszuprobieren. Doch Aspirin war nicht das einzige Präparat das fehlte, denn ich fand tatsächlich kein einziges, neuzeitliches Erzeugnis. Alle erhältlichen Präparate bestanden ausschliesslich aus traditionellen, pflanzlichen Extrakten, eine Erkenntnis die mich sehr erstaunte aber meine Feststellung vom Morgen bestätigte.

 

Nach diesen Erkenntnissen schien es mir wichtig, relevante Personen erst mit modernen pharmazeutischen Produktionspraktiken bekannt zu machen, bevor ein detailliertes Projekt ausgearbeitet wurde. Zudem stimmte die Zusammensetzung und die Dosierung des bisher produzierten ORS (für eine Lösung von 500 ml) nicht mit dem empfohlenen WHO/UNICEF Standard überein. Aus diesem Grund verlangte ich erst ein detailliertes, offizielles Dokument für einen revidierten, nationalen Standard für ORS zu erstellen. Wegen Mangel an ausreichenden finanziellen Mitteln und andere Einschränkungen gelang es später aber nicht, diese Anforderungen zu erfüllen und die Produktion von ORS in einem der vorgeschlagenen Gebäude aufzunehmen.                        

 

Vor dem Rückflug überraschte mich der Beamte am Schalter der Immigration mit der Forderung eines „Exit-Visums“. Da ich mich mit dem Beamten nicht verständigen konnte, rief ich meinen Begleiter zu Hilfe, der sich glücklicherweise noch in der Abfertigungshalle aufhielt. Als er von meinem Problem hörte, fragte er mich äusserst gereizt wieso ich kein Ausreise Visum hätte. Die Frage erboste mich, denn ich hatte ja erst vor ein paar Minuten meinen Pass aus seinen Händen zurückbekommen. Aber ich konnte mir keine Kontroverse leisten und versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren, denn schliesslich lag mein Schicksal in den Händen der lokalen Autorität. Trotzdem war ich mir bewusst, dass ich jetzt wirklich ein Problem hatte, das ich selbst nicht lösen konnte. Der nächste Flug nach Peking war erst in drei Tagen, und da es in Pjongjang kein Reisebüro gab, konnte ich meinen Rückflug mit der Swissair erst in Peking neu buchen. Zuerst hatte ich noch auf das Einlenken des Beamten gehofft oder dass mein Begleiter das Problem lösen könnte, aber dann sah ich wie mein Gepäck tatsächlich aus dem Flugzeug geholt wurde. Mit äusserst übler Laune kehrte ich zum Auto zurück und ärgerte mich meinen Reiseplan nicht einhalten zu können. Aber dann bemerkte ich auf der Rückfahrt ins Hotel, dass mein Begleiter neben mir zitterte und immer wieder sagte „Das war ein grosser Fehler“. Er schien eine unheimliche Angst, ja eine Todesangst vor dem zu haben was ihn erwartete. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass für das perfekt organisierte Regime dieses Geschehnis eine grosse Blamage, ja sogar eine Schande war und dass jemand dafür bestraft werden musste. Dabei bekam ich Bedauern mit dem Burschen und vergass dabei meine eigenen Probleme, die mir plötzlich irrelevant erschienen. Nach einer Weile fragte ich ihn, ob mein konfiszierter Pass während meines Aufenthaltes bei ihm verwahrt war und ob er wusste, dass man ein Ausreise Visum braucht. Er verneinte Beides. Also überzeugte ich ihn, dass man ihm in diesem Fall gar keine Schuld zuweisen konnte und dass im Gegenteil, er sich bei seinen Vorgesetzten für den Mangel an Information beschweren sollte. Bis zur Ankunft im Hotel hatte er sich sichtlich erholt und nahm sich nun der Registrierung der drei zusätzlichen Nächte an. Am Abend wurde ich dann von höheren Beamten zu einem formellen Essen im Hotel eingeladen und man entschuldigte sich gebührlich wegen dem Missgeschick. Man versprach, dass so etwas nie mehr vorkommen werde und bot mir dann während den folgenden drei Tagen erneut ein Programm, das mir erlaubte die Stadt besser kennen zu lernen. Man begleitete mich zum Monument der Chuch’e-Ideologie, zum Grossmonument auf dem Mansu Hügel mit der Statue von Kim Il-sung, zum Mansudae-Brunnenpark und sogar zum Friedhof der Revolutionshelden. Dieser befindet sich auf einem Hügel, den man über 530 Stufen aus Granit erreichen kann. Die mehreren hundert Gräber waren alle mit einer bronzenen Büste in Naturgrösse versehen, was bei mir einen ziemlich absurden Eindruck hinterliess.



(18) Der Friedhof der Revolutionshelden auf den Hügeln von Taesong.

Der Friedhof der Revolutionshelden auf den Hügeln von Taesong.


Gegenüber dem Hotel befand sich der „Changgwang-won Health Complex“, ein eindrückliches Gebäude das ich äusserst gerne besucht hätte. An einem der zusätzlichen Tage in Pyongyang entschied ich mich dies dann schliesslich zu tun. Ich hatte nämlich in einer Broschüre gesehen, dass es dort ein riesiges Schwimmbad gab. Erst hatte ich Bedenken, dass man mich als Ausländer und alleine gar nicht in das Gebäude lassen würde. Doch dies war nicht der Fall und zuvorkommende Angestellte zeigten mir in diesem riesigen Gebäude den Weg zum Schwimmbad. Schliesslich musste ich aber feststellen, dass ich dort ganz alleine war, was mir aber erlaubte den Nachmittag ungestört und entspannt zu schwimmen. Ob diese Einsamkeit zufällig oder gewollt war, konnte ich nicht herausfinden.



(19) Der Changgwang-won Health Complex.

Der Changgwang-won Health Complex.


Beim zweiten Versuch auszureisen verlief alles bestens, dafür wurde ich dann in Peking wie erwartet mit Problemen konfrontiert. Da ich nachts ankam, waren die Büros der Swissair geschlossen und da ich mich im Flughafengebäude nicht auskannte versuchte ich bei Passanten die nötige Information zu bekommen. Wie durch ein Wunder stiess ich dabei auf eine Burmesin, die in Peking bei einer UNO Organisation arbeitete. Sie verstand meine missliche Situation sofort und empfahl mir in der Nähe des Flugplatzes zu übernachten. Da sie in dieser Gegend eine leerstehende Wohnung besass, schlug sie mir vor, die kommende Nacht dort zu verbringen. Ich ahnte, dass dies wohl keine komfortable Nacht würde, hatte aber keine andere Wahl als einzuwilligen. Und so fuhr sie mich spät nachts zu dieser Unterkunft und holte mich früh am anderen Morgen wieder ab, um mich vor ihrem Arbeitsbeginn wieder zurück zum Flugplatz zu bringen. Die Wohnung war total leer und so legte ich mich auf den harten Boden und benutzte meine Aktentasche als Kopfkissen. Wenigstens war ich hier geschützt und an der Wärme, denn es war Oktober und schon sehr kalt in der Nacht. Ich war viel zu früh auf den Flugplatz und so musste ich mich, in Begleitung meines Koffers und Gepäckes, sehr lange gedulden bis die Schalter von Swissair wieder öffneten. Aber ich hatte Glück, es war noch ein Sitz nach Zürich frei. Nach der spartanischen Nacht auf dem harten Boden, genoss ich den komfortablen Sitz im Flugzeug, wo ich mich wenigstens von der fast schlaflosen Nacht einigermassen erholen konnte.

 

Während meinem zweiten Besuch im Jahre 1996 hatte man mich in dem grossen und modernen Pyongyang Koryo Hotel untergebracht. Es befand sich mitten in der Stadt und erlaubte deshalb kurze Spaziergänge in der Gegend. Dieses Mal hatte das MOPH (Ministry of Public Health) vorgeschlagen, ein freistehendes Gebäude auf dem Grundstück des „Deasong Pharmaceutical Plant“ erneut für die Produktion von ORS zu überdenken. Es war ein Betrieb der bereits 1988 vorgesehen war und für den man von der WHO die erforderlichen Produktions-Maschinen und Analysen-Instrumente angefordert hatte. Angesichts der Tatsache, dass für die Aufnahme der Produktion von ORS relativ wenige Änderungen vorgenommen werden mussten, wurde beschlossen, diese Option beizubehalten. Aber um den von der WHO empfohlenen Standard für die Herstellung von Arzneimitteln (GMP) einzuhalten, wurde vom Staat gefordert, die Aufteilung des Gebäudes so zu ändern, dass das Personal einen getrennten Zugang zum Produktionsbereich hatte und ein Garderobe/Toilettenbereich geschaffen wurde. Auch eine neue komplette Liste der nötigen Maschinen und Instrumente wurde erstellt.



(20) Eindrucksvolle Pagode, ein Ausflugsziel der Stadtbevölkerung am Sonntag.

Eindrucksvolle Pagode, ein Ausflugsziel der Stadtbevölkerung am Sonntag.


Von vielen obligaten Besuchen wichtiger Sehenswürdigkeiten wurde diesmal abgesehen, ausser auf den Fernsehturm und an einem Abend zu einer Vorstellung im Zirkus eingeladen wurde. Zu meiner Überraschung befand sich dieser nicht in einem Zelt, sondern in einem soliden Bauwerk das einem Theater glich. Die Darbietungen waren sehr beeindruckend und aufgelockert mit amüsanten Zwischenakten. Am Sonntag, wo auch hier nicht gearbeitet wurde, war auf dem Programm ein Ausflug auf einen Hügel. Diesmal begleiteten mich vier Personen, die schon bald in einem Geschäft Zutaten für ein Picknick einkauften. Auf dem Hügel hatte es eine kleine Pagode, wo wir uns niederliessen und die Gegend bewundern konnten. Die vier hatten ausser Lebensmittel auch genügend Bier mitgenommen und so wurden sie schon bald übermütig. Dabei warfen sie die Abfälle einfach aus der Pagode in die freie Natur. Erneut rebellierte ich und fragte ob das hier üblich sei? Sie meinten, der Fahrer würde sich dem Abfall schon annehmen. Das irritierte mich noch mehr, denn ein Chauffeur der als Diener die Abfälle einer gewissen Elite einsammeln sollte, war für mich mit extremem Kommunismus nicht vereinbar. Kommentarlos erhob ich mich und sammelte die Bierflaschen zusammen welche meine Begleiter sorglos das Bord hinuntergeworfen hatten. Mit meinem demonstrativen Missfallen schockierte ich diese Burschen sichtlich. Dann konnte ich nicht anders als ihnen eine Lektion über Umweltschutz zu geben, ein Thema von dem hier scheinbar noch nie jemand gehört hatte. So konnte ich nur hoffen, dass meine Aktion meinen Begleitern wenigstens die Augen ein bisschen öffnete und sie in Zukunft mehr Respekt für die Natur aufbrachten.



(21) Ein Teil der aus Stein gefertigten Figurengruppe des Mansudae-Brunnenparks.

Ein Teil der aus Stein gefertigten Figurengruppe des Mansudae-Brunnenparks.


Während meinem dritten Besuch im Juni 1998 war der Umbau des Gebäudes soweit fortgeschritten, dass man die von UNICEF gelieferten Produktionsmaschinen installieren konnte. Auch das Qualitätskontrolllabor im ersten Stock war bereit für die Installation der Geräte. Während diesem Aufenthalt beschränkten sich meine Kontakte leider fast ausschliesslich auf den Dolmetscher und den Chefingenieur. Mehrmals versuchte ich den zukünftigen Produktionsleiter in die Besprechungen und den Erklärungen der Maschinen einzuschliessen, doch aus unerklärlichen Gründen wurde dies nicht akzeptiert. Wahrscheinlich erlaubte die herrschende Hierarchie dies nicht, etwas das ich sehr bedauerte. Aufgrund verschiedener Mängel war es leider nicht möglich die Produktion in Betrieb zu nehmen, die erforderlichen Standardarbeitsanweisungen (SOP) festzulegen und eine Validierungsstudie durchzuführen. So war zum Beispiel eine konstante Verfügbarkeit von Elektrizität und Wasser nicht gewährleistet und im Labor fehlte das benötigte Gas. Nach eindringlichem Drängen gelang es mir aber schliesslich noch vor der Abreise allen Arbeitern wenigstens wichtige technische Informationen direkt zu übermitteln und einige Produktionsabläufe an den Maschinen vorzuführen (Dosierung und Versiegelung). Ich hatte nämlich beobachtet, dass gewisse Arbeiter dazu neigten, die Geräte zu benutzen ohne die Bedienungsanleitung sorgfältig gelesen zu haben. Um das ordnungsgemässe Funktionieren aller gelieferten Geräte/Instrumente sicherzustellen und die Arbeitnehmer vor möglichen Gefahren zu schützen, bekräftigte ich die Wichtigkeit die gesamte technische Literatur ins Koreanische zu übersetzen. Damit war meine Aufgabe erfüllt, allerdings nicht so perfekt wie ich es mir gewünscht hätte.


(22) Beeindruckende Aussicht vom Fernsehturm auf die Stadt Pjongjang.

Beeindruckende Aussicht vom Fernsehturm auf die Stadt Pjongjang.


Eines Morgens brachte man mich auf den Fernsehturm um von dort die Stadt zu bestaunen. Auf dem Weg dorthin waren schon extrem viele Leute unterwegs, was ich bis anhin noch nie gesehen hatte. Erst auf dem Fernsehturm, als plötzlich aus allen Lautsprechern der Stadt dumpfe Militärmusik über der Stadt erschallte, wurde mir bewusst, dass eine Massenparade vor dem Great Leader Präsident Kim IL Sung in Vorbereitung war. Ich weiss nicht warum mich dumpfe Musik an Krieg erinnert und bei mir Gänsehaut verursacht. Ich konnte diese aufwühlende Sirenenmusik nicht ertragen und hatte das Gefühl als ob nächstens ein Gefecht los gehen müsste. Und so war ich froh als wir den Fernsehturm wieder verlassen konnten. Gleichzeitig war mir bewusst, dass die ganze Bevölkerung wegen diesem Anlass irgendwo in der Stadt sein musste und ich fragte mich, weshalb man mich auf den Turm, aber nicht zur Massenparade eingeladen hatte. War es vielleicht nur eine Übung für eine spätere offizielle Parade gewesen? All diese Fragen konnte ich meinem Begleiter stellen, jedoch jeweils ohne eine präzise Antwort zu bekommen. Am Sonntag gab es auch diesmal einen Ausflug auf einen Hügel, nur wurde diesmal die Rechnung für das Picknick undiplomatisch mir übergeben. Es hatte sich in der Tat seit meinem Besuch im Jahre 1988 einiges geändert. Ich fand meine Begleiter aggressiver und die Leute auf der Strasse individueller gekleidet. Bei der Arbeit bat man mich immer wieder um einen Job bei der UNO oder fragte ob ich ihnen dabei helfen könnte.

 

Auch in Bezug zu internationalen Organisationen hatte sich einiges geändert. Im Jahre 1988 hatten diese noch keine eigenen Vertretungen und alle Organisationen wurden vom Staat selbst vertreten. Erst im Jahre 1998 wurde der UNICEF erlaubt eine Vertretung mit ein paar wenigen internationalen Funktionären einzurichten. Doch die ganze Kommunikation wie FAX etc. funktionierte weiterhin nur über die offiziellen Kanäle und so war man sich bewusst, dass weiterhin alles überwacht wurde. Für mich war die neue Situation eine Erleichterung, denn nun war ich als UN-Funktionär nicht mehr alleine im Land. Das UNICEF Büro machte mir vieles einfacher, besonders auch die Verständigung mit den lokalen Behörden. Bei diesem dritten Besuch war ich bereits pensioniert und deshalb kein offizieller UNICEF Funktionär mehr, sondern überwachte das Projekt als UNICEF Berater (consultant). Während diesem dritten Aufenthalt erhielt das UNICEF Büro ein Fax vom Hauptsitz in New York, in dem eine Änderung der Kurzzeitverträge mit Beratern übermittelt wurde: ab sofort wurden nur noch die effektiven Arbeitstage im Land vergütet! Dies bedeutete, dass von meiner 11-tägigen Reise die zwei Tage Hinflug und zwei Tage Rückflug sowie zwei Wochenende, also 8 Tage, nicht mehr bezahlt wurden. Als Berater investierte ich selbst 11 Tage, wurde neu aber nur noch für drei Tage bezahlt. Mit der Begründung, dass in meinem Vertrag eine andere Vereinbarung galt, verlangte ich die übliche Vergütung. Doch UNICEF blieb uneinsichtig. Nach dieser Enttäuschung war ich trotz mehreren Anfragen später nicht mehr bereit als Berater für UNICEF zu arbeiten.

 

(23) Akupunktur im Krankenhaus mit einer riesigen Nadel.

Akupunktur im Krankenhaus mit einer riesigen Nadel.


Während diesem dritten Besuch hatte ich plötzlich Magenbeschwerden. Ich wusste nicht ob es diese überraschende Mitteilung oder der tägliche Verzehr von „Kimchi“ war, der mein Verdauungssystem durcheinander brachte („Kimchi“ ist eine Art Sauerkraut, ein Gemüse das mit Chinakohl und Rettich durch Milchsäuregärung zubereitet wird). Mein Betreuer brachte mich in ein Krankenhaus von dem er sagte, dass man hier vor allem mit traditionellen Methoden arbeitete. Es sah alles neu und sauber aus. Nachdem man mich untersucht hatte, bat man mich in einem Einzelzimmer auf ein weiss bezogenes Bett zu liegen. Menschen in weissen Schürzen lösten sich ab ohne dass ich verstand was vor sich ging. Dann kam ein Arzt der mir zu erklären versuchte, dass er es mit Akupunktur versuchen werde. Aber als ich sah, wie er eine etwa 50 cm lange Nadel desinfizierte wurde mir bange. Obwohl ich mich in Jakarta schon mit Akupunktur behandeln liess, hatte ich noch nie eine so riesige Nadel gesehen. Dann nahm er die Nadel und liess sie langsam in meiner Bauchgegend verschwinden. Anschliessend klemmte der Arzt einen Kupferdraht an die Nadel welcher er mit einem elektrischen Gerät verband. Dann schaltete er das Gerät ein und liess die Nadel ungefähr 20 Minuten leicht vibrieren. Das Ganze sah ziemlich abenteuerlich aus und ich fragte mich was er mit dieser Nadel wohl alles durchstochen hatte und ob diese Methode vertrauenswürdig sei. Nach dem Ende der Behandlung zog der Arzt, mit dem ich mich nicht verständigen konnte, die Nadel wieder aus dem Bauch. Während der ganzen Prozedur hatte ich nie Schmerzen und konnte nachher sofort ins Hotel zurückkehren. Und tatsächlich hatte ich schon Stunden später keine Probleme mehr mit dem Magen und fühlte mich für lange Zeit über den Aufenthalt in Nordkorea hinaus sehr wohl. Wie das Ganze funktionierte blieb ein Rätsel und niemand konnte oder wollte mir einen Kommentar oder eine Erklärung geben.

 

g)…Vietnam

Im März 1994 wurde ich erneut nach Vietnam gerufen um zusammen mit den Verantwortlichen des Gesundheitsministeriums, UNICEF und WHO die lokale Herstellung von ORS im Privatsektor neu zu beurteilen. Ich war schon im Juli 1982 und dann im Oktober 1988 in Vietnam. Zu jener Zeit wurde ORS in drei Betrieben hergestellt: in der Fabrik Nr. 1 in Hanoi, in der Fabrik Nr. 23 und in der Fabrik 2 September in Ho-Chi-Minh-Ville/Saigon. Leider entsprach das lokal hergestellte ORS nicht unbedingt den Vorgaben der WHO und wurden hauptsächlich auf manuelle Art hergestellt. Ausserdem waren aufgrund verschiedener Schwierigkeiten, zum Beispiel die komplizierte Beschaffung der benötigten Rohstoffe, die lokalen Hersteller nie in der Lage gewesen, den lokalen Bedarf an ORS zu garantieren. Im Jahre 1990 beschloss UNICEF deshalb, die lokale Beschaffung von ORS aufzugeben. Seither war das Land wieder völlig vom Import von ORS abhängig und somit weiterhin von der externen Unterstützung durch UNICEF. Bei diesem dritten Besuch sollte nun die Produktion von ORS durch lokale Unternehmen innerhalb kürzester Zeit wieder aufgenommen werden und zwar mit minimaler Unterstützung durch externe Hilfsorganisationen. Drei Betriebe waren von den lokalen Behörden in Hanoi als potentielle Kandidaten zur Beurteilung vorgeschlagen worden: BIOPHAR Co Ltd. in Nha Trang, die pharmazeutische Fabrik Nr. 23 in Ho-Chi-Minh-Ville und PHAMACO in Hanoi.

 

(24) Dosieren und Abfüllen in mühsamer Handarbeit.

Dosieren und Abfüllen in mühsamer Handarbeit.


Aus unbekannten Gründen bevorzugte eine Person der Medizinischen Fakultät in Hanoi den Pharmabetrieb BIOPHAR Co Ltd. in der Touristenstadt Nha Trang und so brachte man mich erst an diesen Ort. Die Firma wurde Anfang 1993 mit dem Ziel gegründet Arzneimittel für den menschlichen und veterinärmedizinischen Gebrauch, vor allem von injizierbaren Substanzen herzustellen. Bis anhin benutzte dieser Betrieb deshalb die freie Produktionskapazität des Nationalen Instituts für Impfstoffe (IVAC). Das junge und sehr enthusiastische Management präsentierte deshalb Pläne für den Bau eines neuen, dreistöckigen Produktionsgebäudes, wo auch ORS produziert werden sollte. Leider entsprach ihr Entwurf nicht dem Prinzip Präparate für die Veterinärmedizin strikte von der Humanmedizin zu trennen. Auch war kein Lagerhaus vorgesehen wo man das Roh- und Packmaterial für ORS hätte lagern können. Zur grossen Enttäuschung der lokalen Funktionäre musste ich ihnen bald klar machen, dass die geplante Anlage leider den Anforderungen einer modernen und sofortigen Herstellung von ORS nicht entsprach. Mein Aufenthalt war extrem kurz und die Besprechungen dementsprechend intensiv und mühsam. Aus diesem Grund blieb mir keine Zeit einen Spaziergang am bekannten Strand zu machen oder wenigstens die Stadt und ihre Umgebung kennen zu lernen. Die Reise ging anschliessend sofort weiter zum nächsten Betrieb.

 

Schon kurz nach meiner Ankunft im Land spürte ich Meinungsverschiedenheiten zwischen der alten und der neuen Generation. Während die junge Generation bereit war sich neuen Herausforderungen zu stellen bekam ich den Eindruck, dass teils sehr alten Damen und Herren keinesfalls bereit waren ihre Ansichten zu ändern oder ihre Posten zu räumen. Einige schienen noch unter französischer Kolonialherrschaft zu leben, unterhielten sich eigenwillig auf Französisch und waren teilweise noch traditionell gekleidet. Der überraschende Beweis für diese latente Spannung lieferte aber dann eine junge Dolmetscherin, die während einer Besprechung nicht bereit war, die Aussagen einer betagten Funktionärin zu übersetzen. Sie meinte die Dame sei wirr und was sie vor sich hinplappere irrelevant. Ich war überrascht, dass in einem Land wo ältere Leute seit jeher Hochachtung genossen, so etwas nun möglich war. Aber auch in anderen Situationen spürte ich den Willen der jungen, gut ausgebildeten Generation, die Zukunft in ihre eigenen Hände zu nehmen und mit alten Tabus zu brechen. Besonders bei meinem dritten Besuch wurden mir dieser Drang zur Veränderung und auch das Entstehen eines Grabens zwischen dem Norden und Süden vor Augen geführt. Während man in Hanoi die kommunistische Vergangenheit noch überall spürte, schien der Süden (vor allem in Ho-Chi-Minh-Ville/Saigon) bereits voll auf die westliche Welt ausgerichtet. Einmal traf ich auf der Strasse eine Gruppe junger Leute die alle mit T-Shirts bekleidet unterwegs waren, T-Shirts die mit ihren Motiven offensichtlich den amerikanischen Traum reflektierten. Mit dem Wissen vom unerträglichen Leiden ihrer Eltern während dem Indochina- und später Vietnamkrieg und den entstandenen Umweltschäden, erstaunte mich ihr widersprüchliches Auftreten. Ich konnte nicht anders als sie um eine Erklärung zu bitten, dies natürlich der Zeit angepasst auf Englisch. Die Antwort kam für mich überraschend. Es gab kein Kriegstrauma wie dies in Europa teilweise noch während Jahrzehnten zelebriert wird. Sie sagten der Krieg sei vorbei und das Geschehene schon lange vergessen. Schuldzuweisungen seien dumm und würden nichts an der Vergangenheit ändern. Man habe keine andere Wahl und lebe jetzt und nicht in der Vergangenheit! Ihre unbelastete Einstellung beschäftigte mich noch eine ganze Weile, denn sie schien mir doch etwas zu fatalistisch und unglaubwürdig.

 

(25) Das Mädchen (rechts) mit den Erdnüssen, auf der Suche nach seinem Vater.

Das Mädchen (rechts) mit den Erdnüssen, auf der Suche nach seinem Vater.


Auch die vielen, durch Armeeangehörige der USA und den französischen Fremdenlegionären (viele aus Deutschland) gezeugten Kinder, schienen sie zu ignorieren. Ich hatte nämlich diesbezüglich ein sehr ergreifendes Erlebnis in Ho-Chi-Minh-Ville/Saigon. An einem freien Nachmittag stand ich geduldig an der Theke einer Bäckerei um eine Süssigkeit zu kaufen. Plötzlich hörte ich eine sehr feine Stimme die immer wieder „cacahuètes“ sagte. Als ich mich umsah, bemerkte ich neben mir ein etwa 10-jähriges Mädchen das Erdnüsse verkaufte. Es war ein auffallend hübsches Mädchen mit einem für Südamerika typischen Gesicht und dunkelbraunen Haaren. Als ich dem Mädchen sagte, dass ich keine Erdnüsse kaufen möchte, fragte es mich mit erwartungsvollen Augen ob ich vielleicht sein Vater sei? Diese Frage bestürzte mich so sehr, dass ich mehr über das Mädchen wissen wollte und es zu einem Glas Milch und einer Süssigkeit einlud. Dabei erfuhr ich, dass seine Mutter während dem Vietnamkrieg einen amerikanischen Soldaten kennenlernte, dieser aber seit dem Abzug der Armee verschwunden sei. Wollte diese Mutter schon damals, so wie die Jugend von heute, nichts anderes als die Gräuel des Krieges vergessen und ihr Glück in der Gegenwart finden? Die Mutter schien wohl eine Arbeit zu haben, wobei aber offensichtlich keine Zeit für das Mädchen übrigblieb. Dieses teilte sein Schicksal deshalb mit vielen Kindern, die in der gleichen Situation aufwuchsen, lebte meistens auf der Strasse und dies immer in der Hoffnung seinen Vater zu finden. Obwohl ich ihm erklärte, dass ich wegen meines Alters und meiner Nationalität nicht sein Vater sein könne, wartete es jeden Morgen vor der Türe des Hotels auf mich, jetzt zusammen mit anderen Strassenkindern. Diese waren eine sehr auffällige Mischung von Nachkommen verschiedener Herkunft, für deren Dasein sich offensichtlich niemand kümmerte und für die auch niemand die Verantwortung übernehmen wollte. Man sah sie meist bis nach Mitternacht im Zentrum der Stadt oder spätestens bis sie von der Polizei brutal verjagt wurden und blitzschnell wie erschreckte Ratten in der Dunkelheit verschwanden. Die Geschichte dieses Mädchens und all der anderen Kinder bewegte mich ausserordentlich und machte mich traurig. Sie taten mir leid, denn unter diesen Umständen blieb eine gute Ausbildung und ein normales Leben für sie wohl eine Illusion. Nur zu gerne hätte ich etwas für diese unschuldigen Wesen getan und ich fragte mich, ob und warum die leiblichen Väter nie an ihren Nachwuchs in Vietnam dachten! Die Kinder hatten nach amerikanischem Recht die Staatsangehörigkeit der USA und wie ich später vernahm, wurden einige tatsächlich in die USA gebracht und dort adoptiert. So konnte ich nur hoffen, dass wenigstens einige davon ein menschwürdigeres Leben erfahren durften.

 

Schliesslich gelang es mir noch weitere vier Betriebe zu besuchen. Für mich war aber bald klar, dass nur im Süden die nötigen Produktionskapazitäten vorhanden waren. Die Fabrik Nr. 23, die im Jahre 1992 ein Joint Venture mit SANOFI Ltd. unterzeichnete und nun SANOFI PHARMA VIETNAM heisst, hatte in den letzten Jahren erhebliche Investitionen getätigt, um ORS zu produzieren. Besonderes Augenmerk wurde auf die Qualitätskontrolle (QC) gelegt und ein Flammenphotometer angeschafft. Nachdem die Firma 500 000 Beutel an das Pasteur-Institut in Ho-Chi-Minh-Stadt geliefert hatte, stellte sie aber die Produktion von ORS leider ein. Die Hauptgründe waren: a) zu viel Aufwand, b) wenig Profit und c) die geringe Nachfrage. Das Letztere war hauptsächlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass die von UNICEF bereitgestellten ORS Beutel kaum den Patienten im öffentlichen Gesundheitssystem zur Verfügung standen und grösstenteils den Weg in den privaten Markt fanden und dort verkauft wurden. Mit einer solchen Situation konnte ein Privatunternehmer eine kommerzielle Version von ORS niemals konkurrenzfähig anbieten. Aus diesem Grund hatten ja auch die drei ehemaligen Betriebe die Produktion aufgegeben. Und so zeigten nun auch die besuchten Betriebe, ausser BIOPHAR, kein Interesse für eine lokale Produktion von ORS. Um diese fundamentalen Probleme zu lösen hätte es politische Interventionen, sowie die Sicherstellung der finanziellen Mittel für die kommenden Jahre gebraucht. Die Situation schien mir absurd, denn während man in anderen Entwicklungsländern für die lokale Produktion von ORS erst alles erkämpfen musste, gab es hier perfekt eingerichtete Betriebe, die eigentlich bereit wären, die Produktion von ORS sofort aufzunehmen. Schliesslich musste ich einsehen, dass die aktuelle Situation für eine schnelle Lösung leider zu komplex und kompliziert war. Es wurde mir auch bewusst, dass ich trotz meines Einsatzes wohl auch bei diesem dritten Besuch keine substantiellen Änderungen oder Fortschritte erwarten durfte. Deshalb verliess ich das Land mit gemischten Gefühlen, ja sogar traurig und enttäuscht. Mir blieb nur die Hoffnung, dass das Gerangel zwischen den verschiedenen Interessen und den Generationen bald ein Ende findet und dann endlich eine harmonische Entwicklung erlauben würde.

 

Bei meiner Abreise gingen meine Gedanken zurück ins Jahr 1982, als ich das erste Mal nach Vietnam kam. Von Bangkok flog ich damals erst nach Saigon (heute Ho-Chi-Minh-Ville), wo ich dann mit der lokalen Fluggesellschaft zur Hauptstadt Hanoi weiterfliegen wollte. Der Flug hatte grosse Verspätung und so hatte ich genügend Zeit die Kabine genau zu betrachten. Es war eine russische Maschine und beim ersten Eindruck sehr einfach eingerichtet, jedenfalls für die „normalen“ Passagiere. Verblüfft stellte ich nämlich bald fest, dass sich im vorderen Teil der Kabine ein feudaler Salon befand, der abgeschirmt von anderen Passagieren, für hohe Militärs und Autoritäten reserviert war. Solche Privilegien in einem kommunistischen System anzutreffen irritierten mich jedes Mal extrem. Die Sitze, oder eher Fauteuils, standen zusammen mit kleinen Seitentischchen wie in einem Salon frei im Raum, ohne am Boden fixiert zu sein. So fragte ich mich in welche Richtung sich diese bei Start und Landung wohl verschieben würden? Als ich mich zu langweilen begann, sah ich plötzlich eine Maschine der Air France landen. Ich nahm an, dass der Luftraum nun frei für den Start unserer Maschine war. Doch ich hatte mich getäuscht: unsere Maschine hatte auf die Ankunft der Transitpassagiere aus Paris gewartet. Diese Passagiere drängten sich nun in unsere bereits voll besetzte Maschine und suchten einen Platz. Alle hatten nicht nur ihr persönliches Gepäck und sogar ihre Koffer bei sich! Der Mittelgang wurde deshalb Abstellplatz für all dieses Reisegut auf das sich die meisten Transitpassagiere schliesslich setzten. Andere hatten keine andere Wahl als wie in einem Autobus zu stehen. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, denn ich hatte noch nie eine so vollgestopfte Kabine gesehen und erwartete, dass das Kabinenpersonal Ordnung schaffen würde. Doch ich hatte mich getäuscht, denn niemand schien sich an dieser Situation zu stören. Endlich wurden die Türen geschlossen, die Motoren der Turbomaschine begannen zu dröhnen und man war bereit für den Start. Ich schickte ein Stossgebet zum Himmel, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine so extrem überfüllte Maschine überhaupt abheben konnte. Ich sah uns schon als Bruchlandung in einem der Reisfelder der Umgebung. Doch das Flugzeug hob tatsächlich ganz langsam ab, blieb aber sehr lange nur wenige Meter über den bewässerten Reisfeldern, bis es dann endlich an Höhe gewann. Wie ein Wunder gelang der Abflug und zu meinem Erstaunen war das Flugzeug mit seiner Last nicht auseinandergebrochen. Es wurde ein sehr mühsamer Flug: der Mittelgang war unpassierbar und die Flugbegleitung sah keine Möglichkeit den Passagieren etwas Kühles zu servieren. Auch der Gang zur Toilette war unmöglich. Alle überlebten den Flug, aber mir blieb er in extrem unbehaglicher Erinnerung.

 

(26) Die Oper von Hanoi.

Die Oper von Hanoi.


Es war Nacht, als wir in Hanoi landeten und ich am Flugplatz von den staatlichen Beamten ganz offiziell abgeholt wurde. Damals gab es noch keine grossen Hotels und so brachte man mich in eine äusserst einfache Unterkunft. Die Stadt erstaunte mich, denn sie war nicht so ansprechend und lebendig wie ich es von anderen Städten im Fernen Osten gewohnt war. Die Strassen waren leer und Autos selten anzutreffen. Dafür waren die Menschen fast lautlos und irgendwie gespenstisch mit ihren Fahrrädern unterwegs oder dann mit einem uralten, klapperigen Tram. Da ich von der Reise extrem müde war, legte ich mich ohne den Koffer auszupacken sofort ins Bett. Nach einer Weile weckte mich ein akuter Schmerz im Rücken. Als ich nach der Ursache suchte stellte ich fest, dass die Matratze auf nur drei Querpfosten auflag. Ich hatte wie ein Vogel auf einer Holzstange geschlafen! Sofort legte ich die Matratze auf den Boden und versuchte wenigstens so während den kommenden Nächten einigermassen schlafen zu können. Da ich schon wach war, wollte ich gleichzeitig meine Blase leeren. Erst jetzt stellte ich fest, dass es kein eigentliches Badezimmer gab und das WC dominant wie der Thron eines Monarchen auf einem Podest aus Marmor in einer Ecke des Zimmers stand. Um es zu benützen musste man voll wach und keinesfalls betrunken sein, denn man konnte es nur über ein paar Stufen ohne Geländer oder Handlauf erreichen. Erst im Nachhinein musste ich über die absurde WC-Installation den Kopf schütteln.  



(27) Ausschliesslich Fahrräder im Zentrum von Hanoi.

Ausschliesslich Fahrräder im Zentrum von Hanoi.


Am nächsten Morgen wurde in einem grossen Raum ein einfaches Frühstück serviert. Erst jetzt bemerkte ich, dass in diesem Hotel fast ausschliesslich Russen untergebracht waren. Trotz den vielen Leuten fühlte ich mich aber alleine, denn ein Kontakt mit ihnen und dem Personal schien kaum möglich. Ich konnte nicht herausfinden, ob dies angeordnet war oder ob es die Überwachung durch die Regierung so verlangte. Manchmal versuchte ich ein verklemmtes „Hello“ über die Lippen zu bringen, aber mehr schien nicht akzeptabel. Am Abend während dem Nachtessen wurde ein uraltes Fernsehgerät eingeschaltet. So wie in Nordkorea wurden Filme über staatliche Pioniertaten gezeigt, alle untermalt mit dumpfer Militärmusik. Wegen den starken Stromschwankungen sass ein „Operator“ neben dem Gerät, der ständig an einem Spannungs-Transformator herumdrehte um eine annähernd befriedigende Übertragung zu garantieren. Es war für mich äusserst zermürbend einsame Abende zu verbringen, ohne mit jemandem sprechen zu können. Am Wochenende hätte ich gerne die Stadt entdeckt, doch ich wusste nicht ob mir dies überhaupt erlaubt war. Per Zufall entdeckte ich im Hauseingang des Hotels ein Fahrrad und versuchte herauszufinden, ob ich es kurz benutzen dürfte. Es gehörte einem jungen, schüchtern Mädchen, das sofort bereit war mir das Fahrrad einen Moment zu überlassen. Zufrieden und glücklich radelte ich ohne Zeit zu verlieren in der für mich fremden Gegend herum. Dabei entdeckte ich eine sehr ruhige, verschlafene Stadt, die mich kaum stimulieren konnte. Wie ich waren die meisten Leute mit ihrem Fahrrad unterwegs. Natürlich hatte die Stadt schöne Seiten, aber auch solche die mich nachdenklich machten und die ich offiziell wahrscheinlich nicht hätte sehen dürfen. Aber ich hatte ja niemand, der mir als „Tourist Guide“ behilflich war und mir das nötige Wissen übermittelt hätte. So fühlte ich mich extrem unsicher, alleine und verlassen in dieser Stadt. Natürlich hätte ich auch gerne das riesige Marmormausoleum des berühmten kommunistischen Führer Ho Chi Minh besucht, aber dazu musste ich dann schliesslich bis zum dritten Besuch Geduld aufbringen. Als ich ins Hotel zurückkam schien das Mädchen total verstört. Sofort kam mir der Gedanke, dass man es wegen dem Ausborgen des Fahrrades vielleicht beschimpft hatte. Ich hatte nicht daran gedacht, dass dies für das Mädchen eventuell Folgen haben könnte. Es tat mir leid, doch ich konnte mich mit ihm nicht verständigen und wusste nicht wie die Sache wieder in Ordnung bringen. Es waren schwierige und mühsame Tage in Hanoi, auch beruflich. Das Leben in der Stadt deprimierte mich und ich konnte mir nicht vorstellen je in einem Kommunisten Land leben zu müssen. In der Zwischenzeit hat sich das Land natürlich verändert und die Narbe zwischen dem Norden und dem Süden des Landes scheint einigermassen zugeheilt. Doch die bedrückenden Tage in diesem Land sind mir in Erinnerungen geblieben!



(28) Ambulante Verpflegung in Ho-Chi-Minh-Ville.

Ambulante Verpflegung in Ho-Chi-Minh-Ville.

 

h)...Iran.

Auch das Gesundheitsministerium der Islamischen Republik Iran hatte um eine technische Unterstützung der lokalen Produktion von ORS gebeten. Erst war ich begeistert, eine Reise in das sagenumwobene, ehemalige Persien zu machen. Allerdings war ich mir bewusst, dass seit Ende 1980 zwischen Irak und Iran Krieg herrschte und eine Reise dorthin nicht ungefährlich war. Aus diesem Grund mussten die Fluggesellschaften mit Destinationen im Fernen Osten den Luftraum über Iran und Irak weiträumig umfliegen. Doch die ehemalige Swissair behielt Teheran auf ihrem Flugplan und so buchte ich den Flug erst sorgenlos. Erst kurz vor der Abreise erfuhr ich aber, dass der Flug mit Swissair in Bandar Abbas endete und man von dort mit einem Inlandkurs der Iran Air nach Teheran gelangte. Als ich dann auf der Landkarte diesen Ort suchte, musste ich verblüfft feststellen, dass sich Bandar Abbas ganz im Süden des Landes, 1'280 Kilometer von Teheran entfernt am Persischen Golf befand. Trotzdem hielt ich an meiner Reise fest, denn schliesslich war der Flug bis ans Endziel Teheran von Swissair organisiert.

 

Während dem Flug nach Bandar Abbas sah ich wie die Maschine bis weit in den Osten mitten über dem Persischen Golf flog um so das Gebiet über dem Iran zu meiden. Erst kurz vor Bandar Abbas änderte der Kurs Richtung Festland. Mit der Landung in der wüstenartigen Gegend wurde sofort klar, dass hier Krieg herrschte. Ausser Stellungen des Militärs gab es hier nichts zu sehen, auch kein Terminal des Flugplatzes. Das bewirkte bei mir ganz langsam eine unangenehme Beklommenheit. Ohne Informationen aus dem Cockpit fragte ich mich plötzlich, ob wir auch wirklich am richtigen Ort gelandet waren oder ob wir in Tat und Wahrheit Opfer von Hijackern geworden waren. Erst als dann wie aus dem Nichts lokale Beamte erschienen um das Flugzeug und die Passagiere zu kontrollieren wusste ich, dass wir tatsächlich im Iran gelandet waren. Nach dieser Kontrolle wurden wir gebeten auszusteigen und uns am Rand des Flugfeldes mit all unserem Gepäck aufzustellen. Nach einer Weile ungewissem Warten mitten in der Wüste und ohne eine Anschluss-Maschine zu sehen, fühlte ich mich erneut irgendwie dem Schicksal ausgeliefert. Was würde passieren, wenn die erwartete Maschine nicht eintraf oder in der Zwischenzeit sogar abgeschossen wurde? Doch das Zaudern war sinnlos, denn bald darauf landete eine Maschine der Iran Air, die uns dann sicher nach Teheran brachte.

 

Vor meiner Abreise musste ich mir sehr viele negative Kommentare über den Iran anhören. Das war wohl auch der Grund für mein Hadern nach der Landung. Man hatte mich vor den extremen und brutalen „Islamisten“ gewarnt und konnte nicht verstehen, weshalb ich mich wagte in ein solch verrufenes Land zu reisen. Ziemlich verunsichert betrat ich deshalb den Terminal des Flughafens und war bedacht, ja keine Fehler zu machen. Doch scheinbar hatte ich keine Kontrolle über meine Nervosität und machte einen Fehler beim Ausfüllen des Formulars für die Deklaration der mitgebrachten Devisen. Als der Beamte meine Devisen nachzählte und die Abweichung entdeckte, sah ich mich bereits im Gefängnis. Doch es kam anders, denn er lächelte und korrigierte in aller Ruhe das Formular. Dann wünschte er mir einen schönen Aufenthalt und liess mich ziehen. Überrascht über die Freundlichkeit machte ich einen tiefen Atemzug und begab mich erleichtert zum Ausgang.

 

Hier wurde ich von einem staatlichen Beamten in Empfang genommen, der mich dann fast während des ganzen Besuches betreute. Es war ein sehr kultivierter Mann der mich jeweils zu den vorgegebenen Terminen begleitete. Dabei entstanden Gespräche die mich sehr erstaunten, denn der Mann war sehr offen und äusserte sich ausgesprochen ehrlich über sein Land. Er lud mich sogar zum Nachtessen in sein Haus ein und präsentierte mir seine Gemahlin und seine Kinder. Seine Frau arbeitete in der Stadt und als sie nach Hause kam trug sie wie alle Frauen den traditionellen schwarzen Tschador. Sobald sie aber in der Wohnung war, entledigte sie sich der schwarzen Haut und verwandelte sich wie eine Metamorphose in eine moderne und elegant gekleidete Frau. Ich war so verblüfft, dass ich erst meinen Augen nicht traute und glaubte ein Mannequin aus Paris vor mir zu haben. Auch sie schien sehr gebildet zu sein und in ihrer klassisch eingerichteten Wohnung kam ich mir bald wie ein einfacher Bauer aus den Bergen vor. Es entwickelten sich sofort interessante Gespräche, und ich musste bald beschämt einsehen, wie wenig ich eigentlich über ihr Land und ihre Kultur wusste. Erneut hatte ich mich zu wenig auf diese Reise vorbereitet. Sie erzählten mir, dass - nachdem der Schah Mohammad Reza Pahlavi ab 1963 umfangreiche wirtschaftliche, politische und soziale Reformen eingeleitet hatte - es zu Spannungen mit den konservativen Teilen der schiitischen Geistlichkeit kam. Zudem entwickelte sich eine Linke Guerillabewegung, die das Land mit „bewaffnetem Kampf“ verändern wollte. Es kam zu gewaltsamen Demonstrationen, Mord- und Brandanschlägen, die das Land in seinen Grundfesten erschütterten. Aus Angst, dass Russland wegen den Erdölreserven das Land besetzen könnte, entschieden im Januar 1979 die Vereinigten Staaten zusammen mit England und Deutschland, den Schah nicht mehr zu unterstützen und Ajatollah Ruhollah Chomeini aus Paris zu holen und diesen an seiner Stelle einzusetzen. Meine Gastgeber waren deshalb überzeugt, dass man damit das Land, nach ihren Worten „mit dem „Tilt Mechanismus“, wie bei Flipperautomaten strafen wollte oder in anderen Worten: das Land für andere Mächte blockieren. Man brauchte dazu eindeutig die Religion. Und so kam es dann auch, nur dass seither das Land auch für die USA blockiert ist!

 

Ich weiss nicht ob dies alles genau so passiert war, jedenfalls spürte ich bei den Beiden eine riesige Enttäuschung über die USA. Sie waren über die neue Situation im Lande unzufrieden und erwähnten dies immer wieder. Sie sagten mir auch, dass nachdem der Schah gestürzt und ins Exil verjagt war, die USA alle wichtigen Posten in der Regierung mit Leuten ersetzten, die in Amerika studiert hatten. Alle trügen nun nach religiöser Vorschrift einen Bart, seien aber an ihrem amerikanischen Akzent leicht erkennbar. Bei einer Audienz mit dem Gesundheitsminister erfolgte dann die Bestätigung. Dabei übergab mir ein äusserst zuvorkommender Mann nach der Unterredung ein Geschenk. Mein Begleiter meinte danach etwas sarkastisch, dass ich nun bestimmt der glückliche Besitzer eines Bildes des Ajatollah Chomeini sei. Doch diesmal hatte er sich getäuscht, denn es war eine wunderbare persische Miniaturmalerei in einem ebenso fein gefertigten Mosaikrahmen. Das erstaunte ihn scheinbar sehr, denn er meinte ich hätte grosse Ehre erfahren.

 

Bei den Besuchen in den verschiedenen Pharmabetrieben war ich erstaunt, wie modern diese eingerichtet und ausgerüstet waren. Die Maschinen stammten meistens aus Deutschland und das Personal war sehr kompetent sowie bestens ausgebildet. Anfangs befremdeten mich allerdings gewisse, durch die Religion bestimmte Einschränkungen. Das war für mich etwas gewöhnungsbedürftig, denn ein Berührungsverbot untersagte es dem weiblichen Personal zur Begrüssung oder Abschied die Hand zu geben. Während den Sitzungen unterhielt man sich dann aber mit Frauen genau so wie mit Männern über technische Angelegenheiten. Doch am Schluss gab es nur ein kurzes, scheues „By by“. Auch bei der Bekleidung gab es Anordnungen. Während die Frauen schwarz gekleidet sein mussten und ihr Kopf sowie das Gesicht teilweise verdeckt sein sollte, durften die Männer keine kurzen Hosen und nur Hemden mit langen Ärmeln tragen. Zudem mussten diese einen Bart haben um akzeptiert zu sein und den Kleidervorschriften genau so Folge leisten wie die Frauen. Zum Glück hatte man mich vor der Reise über diese Anordnungen informiert und so riskierte ich keine Fehler zu machen. Doch ein Japaner schien diese nicht zu kennen und rannte früh morgens mit einem T-Shirt und Shorts gekleidet aus dem Hotel um zu joggen. Es dauerte nicht lange bis ihn die Polizei anhielt und wieder zurückbrachte. Allerdings gab es aber selbst für die liebenswürdigen Leute etwas das sie nicht ertragen konnten, nämlich wenn man sie für Araber hielt. Immer wieder erwähnten sie, dass sie wohl Muslime seien, aber kein arabisch sprachen. Der Ursprung ihrer Amtssprache (Persisch) finde man in den indogermanischen Idiomen und hätte deshalb nichts gemeinsam mit der arabischen Sprache. Noch heute gehören die meisten Iraner zu dieser ethnischen Gruppe und kamen ursprünglich vom Norden in das iranische Gebiet. Da wir Europäer auch indogermanischen Ursprungs sind, seien wir ebenfalls Arier und deshalb mit den Iranern ethnisch verwandt. Das war neu für mich, erleichterte mir aber die Arbeit und den Umgang mit den Leuten offenbar sehr. Vielleicht aus diesem Grund und trotz all der verschiedenen Restriktionen, genoss ich während diesem Besuch eine ausserordentliche Gastfreundschaft. Jeden Abend wurde ich von meinem Begleiter oder einem anderen Repräsentanten des Gesundheitsministeriums nach Hause eingeladen. Dadurch fühlte ich mich nicht nur sehr gut aufgehoben, sondern auch sicher und wohl in diesen Land. Ich war auch erstaunt und gleichzeitig amüsiert wie mir im abendlichen Stossverkehr einige Frauen durchs Autofenster zuwinkten. Es freute mich zu sehen, dass ihre Lebensfreude trotz all der religiösen Einschränkungen ganz spontan weiter existiert.

 

Beim Abschied wurde ich grosszügig beschenkt, vor allem mit Pistazien dessen Qualität in der ganzen Welt geschätzt ist. Mit grosser Dankbarkeit habe ich diese mit nach Hause genommen um sie dort gebührend und mit schönen Erinnerungen zu geniessen. Dann aber begann erneut die etwas mühselige Heimreise über Bandar Abbas, aber diesmal ohne ein mulmiges Gefühl im Bauch und ohne Schwierigkeiten bei der Ausreise. Die USA-feindlichen Schlagwörter an den Hauswänden konnten mir keinen Eindruck mehr machen. Dagegen blieb mir die Erinnerung an ein Volk das keinen Krieg will und punkto Zuvorkommenheit und Gastfreundschaft vielen ein Beispiel sein könnte.

 

Besonders prägende Erinnerungen
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20.10.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Besonders prägende Erinnerungen.

Eines Tages erschien unerwartet ein Arbeitskollege in meinem Büro und fragte, ob mir die vielen Einsätze im Ausland mental und körperlich zusetzten. Da ich in diesem Moment in eine Arbeit vertieft war, versprach ich ihm später auf seine Frage zurückzukommen. Ich hatte mir diese Frage nämlich selbst noch nie gestellt und so begann ich zu überlegen was ich ihm wohl antworten könnte. Nach ein paar Tagen musste ich ihm gestehen, dass mein Befinden nach einem Besuch je nach Land und Leuten verschieden war. Aus Asien und dem Mittleren Osten kehrte ich nach getaner Arbeit jeweils zufrieden und mit neuer Energie in die Schweiz zurück. In diesen Ländern wurde ich immer zuvorkommend, aber auch fordernd aufgenommen. Zum Beispiel in Thailand wo ich einmal nach einem 12-stündigen Nachtflug frühmorgens von staatlichen Mitarbeitern abgeholt und direkt in die Fabrik geführt wurde und dort dann den ganzen Tag im Einsatz war. Erst nach Feierabend brachte man mich samt Koffer und Handgepäck todmüde ins Hotel. Ich wurde gefordert, aber interessanterweise war dies für mich nie eine Belastung, denn ich fühlte mich nützlich und erwünscht. Zudem wurde das Mittagessen immer zusammen mit der Direktorin und Verantwortlichen der Abteilung eingenommen, dies jeden Tag in einem anderen Restaurant in der Stadt, was eine wertvolle Vertrautheit unter den Beteiligten des Projektes entstehen liess. Bei den Besuchen in Südamerika war die Situation ähnlich, wobei es bei der Genauigkeit der Arbeit aber manchmal haperte, was mich als Schweizer natürlich irritierte. Dafür war das tägliche Leben unserer Kultur ähnlich und der Kontakt mit den Verantwortlichen der Projekte spontan und herzlich. Deshalb kam ich auch von diesen Arbeitsaufenthalten jeweils frohen Mutes zurück. In Afrika hingegen waren die Zusammenarbeit und das Verhältnis mit den lokalen Behörden und den Verantwortlichen der Projekte meist nicht einfach, ja oft mühsam. Für meinen Begriff fehlten die Verantwortung und das nötige Interesse für das jeweilige Projekt. Aus diesem Grund fühlte ich mich oft allein verantwortlich und demzufolge frustriert. Neben der Passivität spürte ich auch einen latenten Rassismus, den ich aber besonders unter den Afrikanern selbst feststellte. Obwohl ich mich schon während meinen zwei Jahren in Rwanda mit diesem Problem auf dem Bau beschäftigen musste, erlebte ich damals nie Rassismus gegen mich persönlich. Als internationaler Berater erlebte ich dies nun anders, aber zum Glück fand ich Rat bei den lokalen Vertretungen von UNICEF und WHO, denn ohne sie hätte ich die Projekte wohl nicht erfolgreich abwickeln können. Bei der Abreise war ich deshalb meist erschöpft und hatte das Gefühl, dass meine ganze Energie verflogen war und ich nur noch mit meinem blanken Skelett im Flugzeug sass. Zu Hause brauchte ich erst Ruhe, um neue Kräfte zu generieren. Scheinbar bestätigt durch meine Erläuterungen sagte mein Arbeitskollege erleichtert: „Genau so erlebe ich es auch!“

a) Während einem Aufenthalt in Nigeria war auf meinem Arbeitsprogramm auch ein Besuch bei der staatlichen Universität von Ibadan. Diese Stadt liegt 128 Kilometer nordöstlich von Lagos und ist mit einer Autobahn, dem „Expressway“, verbunden. Vor der Fahrt warnte mich der lokale UNICEF Programmverantwortliche, dass diese Strecke die unfallreichste des Landes sei und dass immer mit schockierenden Szenen gerechnet werden musste. Und schon bald nach der Abfahrt musste ich feststellen, dass von den Leitplanken kaum noch 100 Meter im Originalzustand waren, der Rest war bis Ibadan verbogen, verbeult oder lag weggerissen am Boden. Es war ein trauriger Anblick und glich einem Bombenangriff. Nach etwa einer halben Stunde sah ich ein Mann quer auf der Fahrbahn liegen. Er wurde von allen Fahrzeugen überfahren und niemand schien dies zu bemerken, zu kümmern oder machte Zeichen, um den Verkehr anzuhalten. Ich glaubte meinen Augen nicht und wendete mich aufgewühlt an meinen Begleiter. Der zeigte auf einen Lastwagen vor uns, ein Lastwagen der wie die meisten extrem überladen war. Darauf hatte es immer Mitfahrer, die oft als blinde Passagiere während der Fahrt aufgesprungen waren und sich dann oben angekommen nirgends festhalten konnten. Und so genügte ein Nickerchen und die Person verlor das Gleichgewicht und stürzte vom Fahrzeug auf die Fahrbahn. Auf der sehr stark befahrenen Strasse konnte oder wollte der nachfolgende Lastwagen nicht bremsen, und so auch die anderen Lastwagen dahinter. Er wurde von allen überfahren und das änderte sich den ganzen Tag nicht. Ich fragte, warum niemand aus dem Dorf wenigsten die Leiche von der Strasse holt. Die Antwort war einfach: „Niemand kennt ihn im Dorf und so kümmert sich niemand um ihn!“; davon könnte ich mich bei der Rückfahrt nach Lagos selbst überzeugen. Ich hatte mir den Ort gemerkt und musste dann auf der Rückfahrt entsetzt feststellen, dass er tatsächlich noch dort lag und den ganzen Tag von Hunderten von Fahrzeugen wie eine Ratte flach gewalzt worden war. Mein Begleiter wollte sich über das Gesehene nicht weiter äussern und meinte nur kurz, dass in Afrika das Leben leider nicht den gleichen Wert wie in Europa habe. Dann wollte ich noch wissen, weshalb es so viele Unfälle gab. Auch diese Frage war einfach zu beantworten: der Fahrer ist übermüdet, betrunken, abgelenkt, etc., was sich auch in den folgenden Jahren nicht geändert hat.

 Ein paar Tage später erzählte mir ein Schweizer von einem abscheulichen Diebstahl. Es war wie immer ein heisser Tag, als er einen Besucher auf der stark befahrenen Strasse zum Flugplatz bei Lagos fuhr. Um frische Luft zu schnappen, öffnete sein Gast das Fenster und hielt seinen linken Arm aus dem Fenster, indem er sich am Dachrand des Autos festhielt. Der Fahrer warnte den Besucher dies nicht zu tun und bat ihn das Fenster aus Sicherheitsgründen wieder zu schliessen. Doch dieser liess sich nicht belehren. Bei einer Verkehrsampel musste der Fahrer anhalten und in diesem Moment kam ein Mann mit einer Machete von hinten und trennte dem Besucher den Unterarm ab, nahm die Uhr vom Arm und warf diesen wie Abfall in den Strassengraben. Diese Schilderung entsetzte mich so sehr, dass ich seither traumatisiert nie mehr meinen Arm aus dem Fenster eines Autos hielt.


b) In unserem Büro in Genf arbeitete während kurzer Zeit eine Ärztin aus Zaire. Um sie mit einer typisch schweizerischen Mahlzeit bekannt zu machen, lud ich sie mit weiteren Arbeitskollegen zu einem Fondue bei mir zu Hause ein. Zur Vorspeise gab es wie immer Trockenfleisch, dann das Käsefondue und zur Nachspeise einen frisch zubereiteten Fruchtsalat. Es war ein gemütlicher Abend gewesen und ich war der Überzeugung, dass auch sie diese Mahlzeit genossen hatte. Einige Monate später als sie bereits wieder zurück in Zaire war, wurde ich nach Kinshasa gerufen. Ich fand es normal sie von meiner Reise zu informieren. An einem freien Nachmittag lud sie mich deshalb ebenfalls zu einem typischen Essen ein. Allerdings bestand sie darauf, dass ich sie beim Einkauf auf dem offenen Markt begleiten müsse. Da ich Märkte liebe war ich sofort dazu bereit. Als ich aber sah, dass lebende Raupen, Heuschrecken, Termiten, Schlangen und andere Lebewesen in ihrem Einkaufskorb verschwanden, wurde mir „mulmig“ zu Mute. Und tatsächlich bestand das Nachtessen aus diesen Viechern. Als ich nur zaghaft zugriff meinte sie, ich soll mich nicht so heikel benehmen, denn ich hätte sie in Genf auch gedrängt Käse zu essen dessen Geruch sie nicht ausstehen konnte. Sie hatte dieses Essen nie vergessen und wollte sich nun mit ihrem typisch lokalen Essen rächen. Die Raupen waren gekocht, doch ihre Köpfe waren immer noch knackig. Ich habe kein zweites Mal geschöpft!

Während dem Essen hatte ich bemerkt, dass der Platz neben ihr leer geblieben war und so fragte ich nach ihrem Gemahl. Scheinbar etwas unruhig sagte sie, dass er zusammen mit weiteren Oppositionellen gegen die Regierung vom Mobutu kämpfe. Er sei deshalb ständig auf der Flucht und gezwungen, jede Nacht an einem anderen Ort zu übernachten. Sie konnte deshalb nur hoffen, dass er an diesen Abend plötzlich bei ihr auftauchen werde. Dieser Fall bestürzte mich und so sagte ich, dass ich mich in einer solchen Situation als politischer Flüchtling in der Schweiz melden würde. Diese Idee gefiel ihr aber überhaupt nicht und etwas aufgebracht erwiderte sie, dass sie keine Feiglinge seien und für die Freiheit nicht in Genf, sondern im eigenen Land kämpfen wollten. Diese überzeugte Denkweise überraschte und beeindruckte mich sehr. Gleichzeitig war ich aber nicht sicher, ob sie diese dramatische Geschichte nur erzählte, um nicht zu gestehen, dass ihr Mann mehrere Frauen hatte und sie deshalb an diesem Abend allein war.


c) In meiner Stellenbeschreibung wurde der Aufbau einer Gruppe von Beratern gefordert, um mir in den verschiedenen Regionen beizustehen. Obwohl ich schon einige Kandidaten im Visier hatte, waren immer andere Aufgaben dringender gewesen. In Brasilien aber hatte ich einen sehr guten Mann gefunden, den ich als Berater dem Regionalbüro in Washington gerne vorgeschlagen hätte. Eines Abends beim Nachtessen schlug ich ihm den Posten als „Konsultor“ vor. Er war nicht abgeneigt, doch dann kam sofort eine Frage, die mich ein wenig überraschte. Er wollte wissen, ob er seine Frau auf den zukünftigen Reisen mitnehmen dürfe. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass dies nicht vorgesehen sei, war sein Interesse für so einen Posten augenblicklich verschwunden. Ich konnte seine Meinungsänderung nicht verstehen und bat um eine Erklärung. Ohne Scham erklärte er mir schliesslich, dass er ein extrem starkes sexuelles Verlangen habe und eine Nacht ohne seine Frau für ihn eine Tortur sein würde. Ich atmete einmal tief durch und nahm seine Absage mit grossem Bedauern an. Und so ging die Suche nach qualifizierten Kandidaten weiter.


d) später hatte das WHO Regionalbüro in Brazzaville einen Kandidaten in Sambia gefunden, um mich bei Projekten auf dem Afrikanischen Kontinent zu entlasten. Als ich nach Madagaskar gerufen wurde, fand ich die Gelegenheit gekommen um ihm dort das nötige Wissen als Berater für die lokale Produktion von ORS zu übermitteln. Leider schien der Anwärter an lange Arbeitsstunden nicht gewohnt zu sein. So bat er immer wieder um eine Pause, währenddessen ich allein weiterarbeitete. Am letzten Tag beim Verlassen des Hotels gab es plötzlich einen Aufruhr. Er behauptete, dass ein nächtlicher Besuch ihm alles Geld gestohlen habe. Es war äusserst peinlich, denn er gab sich als Diplomat aus und bat die Polizei ins Hotel. Jetzt wurde auch klar, dass er seine zusätzliche Freizeit hauptsächlich mit Frauen verbracht hatte, was ihn aber erstaunlicherweise nicht verlegen machte. Als er sich wieder beruhigt hatte, kam schon seine zweite Schamlosigkeit: Er bat mich um meinen Rapport! Er wollte ihn kopieren um ihn als sein eigener Rapport in Brazzaville abzugeben! Als ich nach seinem eigenen Rapport fragte, antwortete er lächelnd er hätte nicht genug Zeit dafür gehabt! Auf eine solche Frechheit hatte ich keine Antwort und verabschiedete mich von ihm mit einem äusserst gezwungenen Lächeln. Natürlich war dies seine einzige und letzte Chance gewesen als „Consultant“ für die WHO zu arbeiten, jedenfalls mit mir!


e) Auf dem Heimflug hatte ich einen Arzt aus Genf neben mir. Er war auch für die WHO unterwegs und so hatte ich einen Gesprächspartner. Da er sich ständig kratzte fragte ich ihn, wo er in Antananarivo übernachtet habe. Und siehe da, er hatte im gleichen Hotel übernachtet und so wie in meinem Zimmer war auch sein Bett wohl mit Wanzen bevölkert gewesen. So konnte auch ich ohne Hemmungen auf dem ganzen Flug kratzen genauso wie er. Zu Hause, es war Winter und eisig kalt, stellte ich meinen Koffer erst einmal über Nacht auf den Balkon, zog mich aus, füllte die Waschmaschine mit der schmutzigen Wäsche und nahm sofort eine Dusche. Solche Erlebnisse waren oft Teil der Reiserei und man war auch immer wieder beschäftigt, um sich der bissigen Tiere zu entledigen.


f) Dass sexueller Trieb auch beim Studium ein grosses Problem sein kann, erfuhr ich während einem dreiwöchigen Kurs in der Demokratischen Republik Kongo. Es war ein regionaler Schulungskurs für nationale CDD Programmmanager aus französisch sprechenden Ländern in Afrika; alles Mediziner. Der Kurs fand auf dem paradiesischen Landsitz „Nsele“ des Präsidenten Mobutu Sese Seko statt, 16 km flussaufwärts von Kinshasa. Das ganze Gebiet war eingezäunt und vom Militär oder der Präsidentengarde bewacht. Man konnte den Landsitz deshalb ohne Bewilligung nicht verlassen. Mit dieser Situation schienen sich einige Kursteilnehmer absolut nicht abzufinden. Eines Nachts besuchte mich eine aufgebrachte Gruppe von Ärzten in meinem Bungalow und verlangte eine Aussprache, die ich natürlich nicht verweigerte. Was ich da allerdings hören musste, machte mich sprachlos. Wie von Geistern besessen und wild gestikulierend erklärten sie mir, dass die WHO wohl das Essen und Trinken während des Kurses anbiete, doch den Sex dabei vollkommen vergessen habe. Sex gehöre wie Wasser und Brot zur täglichen Nahrung des Menschen. In Afrika könne ein Mann nicht einen Tag auf Sex verzichten, ohne seine Sinne zu verlieren, was hier offensichtlich bereits geschehen war. Ich konnte nicht verstehen, dass sich Ärzte und Akademiker so unbeherrscht benehmen konnten. Also versuchte ich zu erklären, dass im Budget des Kurses nichts für solche Aktivitäten vorgesehen sei und ich deshalb nicht helfen könne. Doch damit konnte ich sie nicht beruhigen und so gingen die Beschimpfungen auch am nächsten Tag weiter. Es drohte ein Streik oder sogar eine Meuterei. Ein Kollege kam auf die Idee einen Bus zu organisieren, um wenigstens die schlimmsten “Notfälle“ von dem abgelegenen Ort nach Kinshasa zu bringen, um sie im entsprechenden Quartier einer kurzen Entzugstherapie zu überlassen, was dann auch geschah. Ich fand, dass diese Leute keine Begleitung brauchten, und blieb in meinem Bungalow. Bevor sie wegfuhren, wollte ich allerdings wissen ob sie denn keine Angst vor Krankheiten wie AIDS, Syphilis, etc. hätten? Doch sie meinten als Ärzte könne ihnen nichts passieren und fuhren sorglos in die Stadt. Sie kamen erst spät in der Nacht wieder zurück und waren sichtlich entspannt sowie doppelt erlöst, auch von ihrem Geld. Wie in der ganzen Welt lebt auch in Afrika einer vom andern und so verlangten die schlauen Wächter bei der Rückkehr ins Camp von jedem Passanten eine Abgabe von US$ 20.00, also eine Kommission für die geleistete Gefälligkeit. Da bei solchen Schulungen die Teilnehmer immer möglichst viele Devisen auf die Seite legen wollen, tat diese Abgeltung sehr weh. Aber interessanterweise war damit die Sache erledigt und niemand beschwerte sich über diese fiese Erpressung. Einige Monate später vernahm ich, dass scheinbar nicht alle Abenteuerlustigen so immun gegen Geschlechtskrankheiten waren und einer, den ich persönlich kannte an AIDS gestorben war. Ob er sich an diesem Abend ansteckte, konnte ich nicht herausfinden, aber von seinem Tod zu erfahren machte mich traurig.


g) Anfangs Januar 1994 wurde ich unverhofft beauftragt die Regierung von Tadschikistan bei der lokalen Produktion von ORS zu beraten. Der Auftrag kam vom regionalen UNICEF Vertreter, der in Islamabad (Pakistan) stationiert war und mit seiner Familie dort wohnte. Aus diesem Grund bat er mich, erst nach Islamabad zu reisen, um dort die Einzelheiten des Einsatzes zu besprechen. Also packte ich meinen Koffer und flog nach Pakistan. Doch bei meiner Ankunft befand sich der Verantwortliche gar nicht im Lande. Selbst seine Familie hatte keine Ahnung, wo er sich befand oder wann er zurück sein würde. Also blieb mir nichts anderes übrig als ihn im Hotel abzuwarten. Nach etwa drei Tagen erschien er plötzlich und teilte mir mit, dass er mich nach Duschanbe begleiten würde. Er fand aber keine Zeit, mir Details des Projektes oder Informationen über den Verlauf der Reise bekannt zu geben. Früh am nächsten Tag rief er mich an und bat mich, mit meinem Gepäck vor dem Hotel für den Flug bereit zu sein. Bald darauf erschien ein Fahrzeug der UNO, das mich zusammen mit meinem Kollegen zum Flugplatz brachte. Zu meiner Überraschung bestiegen wir dort nicht einen Linienflug, sondern ein kleines Privatflugzeug der UNO. Erst jetzt erfuhr ich, dass es gar keine Flugverbindung zwischen Islamabad und Duschanbe gab. Also flogen uns die zwei Piloten anstatt direkt zum 665 km entfernten Duschanbe, erst zur 1259 km entfernten Stadt Maschhad, der zweitgrössten Stadt im Ira Während das Flugzeug dort aufgetankt wurde, durften wir Passagiere das Flugzeug verlassen, mussten aber in einem Transitraum gesondert warten. Der Mittag war schon längst vorbei und ich hatte Hunger, doch in diesem Raum gab es keine Möglichkeit sich zu verpflegen. Mein „Kollege“ hatte mir nicht gesagt, dass es eine lange Reise werde, und dass ich im Hotel ein Lunchpaket hätte verlangen sollen. Nach langem Warten bekamen wir endlich grünes Licht für den Weiterflug zum 1000 km entfernten Taschkent in Usbekistan, also wieder nicht nach Duschanbe wie erwartet. Während diesem Flug bemerkten die beiden Piloten, dass wir keine Verpflegung bei uns hatten und so teilten sie freundlicherweise ihr Essen mit uns.

Der Flug nach Maschhad über die karge Gegend von Afghanistan und Iran war atemberaubend schön. Dies liess uns den fehlenden Sitzkomfort in der engen Kabine etwas vergessen, denn eingeklemmt zwischen unserem Gepäck war die Reise alles andere als komfortabel. Es war schon längst dunkel als wir endlich in Taschkent landeten. Der lange, mühsame Flug hatte mir stark zugesetzt und so hatte ich nur den einen Wunsch: mich in einem Bett auszuruhen. Am nächsten Morgen überraschte mich mein „Kollege“ schon früh mit einer neuen Hiobsbotschaft. Er teilte mir mit, dass der Grund des Fluges nach Taschkent eigentlich seine Teilnahme an einer internationalen Konferenz war. Daher könne er mich nicht nach Duschanbe begleiten. Nach diesem Geständnis fühlte ich mich brutal fallengelassen und war verdrossen über die chaotische und gedankenlose Art seines Benehmens. Gestrandet in Taschkent hatte ich erst keine Ahnung wie meine Reise nun weiter gehen soll und wie ich Duschanbe, mein Ziel schliesslich erreichen konnte. Zum Glück wusste ich, dass bei grossen Konferenzen immer lokale Bürokräfte anwesend sind, um auswärtigen Gästen bei logistischen Problemen behilflich zu sein, und so wendete ich mich an eine dieser Damen. Doch da ich kein Teilnehmer dieser Konferenz war, schien ihre Hilfsbereitschaft erst sehr gering, doch schliesslich befreite sie mich aus der miesen Lage. Und so sass ich zwei Tage später in einer uralten, russischen Maschine die in Richtung Duschanbe flog. Der Flug über die vielen Berge war eindrücklich, aber irgendwie konnte ich die Aussicht nicht geniessen. Der miese Zustand der Maschine bereitete mir Sorge und ich hoffte andauernd, dass diese nicht auseinanderfalle und ich das Ziel sicher erreichen werde.

Am Flugplatz erwartete mich ein Fahrer, der mich zum Hotel brachte. Kurz vor der Ankunft hielt er plötzlich am Strassenrand und bat mich bei einem ambulanten Verkäufer Fladenbrot zu kaufen. Als ich ihn fragend anschaute sagte er barsch, dass es im Hotel kein Brot gebe. Das Restaurant sei meistens geschlossen und man müsse sich im Zimmer verpflegen. Da ich zum Feilschen mit dem Brot-Verkäufer am Strassenrand keine Lust verspürte, überliess ich dieses Ritual dem Fahrer und hoffte nur, die nötige Menge Brot für die kommenden Tage zu erhalten. Zum Glück hatte ich auf meinen Reisen immer Schokolade, Getreidebiscuits, Tee- und Suppenbeutel, sowie einen Tauchsieder dabei, was mir erlaubte Wasser zu erhitzen, um Tee oder eine Suppe zu machen. Danach fuhren wir weiter zum Hotel, das wohl aus der Zeit der Sowjetunion (UdSSR) stammte. Es war ein hässlicher «Plattenbau» und im Innern lieblos eingerichtet. Es war überall düster und so verbrachte ich meine Freizeit meistens in meinem Zimmer. Dieses befand sich im fünften Stockwerk und war im Lift als «Waffenfrei» gekennzeichnet. Ein solcher Hinweis hatte ich in einem Hotel noch nie gesehen, was mir natürlich eine bedrückende Ahnung über die Zustände im Land gab. Vor dem Fahrstuhl sass Tag und Nacht eine Frau, meistens Russinnen, von der ich jeweils diskret inspiziert wurde. Das gab ein bisschen Sicherheit, aber wohl fühlte ich mich deswegen im Hotel trotzdem nie, denn immer wieder begegnete ich bewaffneten, furchterregenden Gestalten. In meinem äusserst kleinen Zimmer gab es eine «Nasszelle». Diese war so klein, dass nach dem Duschen der ganze Raum, inklusive WC und Waschbecken nass waren. Da es keinen Duschvorhang gab, gelang es selbst mir als Sanitär-Installateur nicht, den Raum vor Wasser zu schützen.

Am nächsten Tag brachten mich Vertreter von UNICEF und WHO zu einer Besprechung ins Gesundheitsministerium. Hier erfuhr ich, dass ORS ursprünglich über das Gesundheitssystem der Sowjetunion geliefert wurde. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mussten sich die verschiedenen, neuen und unabhängigen Länder in Zentralasien neu orientieren und sich selbst um die medizinische Versorgung kümmern. Da diese auf die neue Situation nicht vorbereitet waren, stellten anfangs UNICEF und andere internationale Agenturen die nötige Menge von ORS sowie weitere Medikamente zur Verfügung. Diese Situation wollte der Gesundheitsminister Tadschikistans nun ändern. Er hielt eine lokale Produktion für nachhaltiger, aber auf die Frage wie dies geschehen sollte gab es keine Antwort. Die Anliegen der Behörden übersetzte mir eine Dolmetscherin, doch plötzlich hielt sie inne. Als ich sie nach dem Grund der Unterbrechung fragte, sah sie mich betreten an und meinte, dass man Dummheiten nicht übersetzen soll, es sei denn man wolle sich selbst blamieren. Nach der Sitzung erklärte sie mir überraschend offen, dass nach der Autonomie des Landes, viele qualifizierte Russen das Land verlassen hatten und ihre Posten neu besetzt werden mussten. Da kompetentes Personal im Lande fehlte, wurden die offenen Stellen meist mit Parteifreunden besetzt. Ohne die nötige Aus- oder Fortbildung seien diese, meist derben Individuen, den Anforderungen der zugeteilten Posten nicht gewachsen. Diese Situation schien die Dame sehr zu beunruhigen, vor allem aber die Frage der Sicherheit und der erforderliche Unterhalt der von Russland erstellten Kernkraftwerke. All dies hörte ich zum ersten Mal, denn es hatte ja bis anhin keine Einsatzbesprechung gegeben. Aber die Bestätigung ihrer Aussagen liess nicht lange auf sich warten.

Am Nachmittag gab es eine Besichtigung des dreistöckigen, staatlichen Pharmabetriebes. Es war eine solide, aber schlecht erhaltene Betonkonstruktion in der nur Produkte in flüssiger Form, zum Beispiel Tinkturen auf Kräuterbasis, hergestellt wurden. Die installierte Ausrüstung war alt und ein Lager für Rohmaterial, Verpackungsmaterial sowie Fertigprodukte gab es nicht. Diese wurden irgendwo verstreut auf dem Gelände gelagert. Während dem Rundgang spürte ich unter meinen Begleitern ein gewisses Unbehagen und hatte Mühe bei gewissen Räumen den nötigen Zugang zu bekommen. Als ich das Qualitätslabor sehen wollte hiess es, dass es in diesem Raum nichts zu sehen gebe. Doch ich liess nicht locker, worauf ich tatsächlich in einen leeren Raum geführt wurde. Auch die Toiletten wollte ich sehen, doch wieder sagte man mir, dies sei nicht die Aufgabe meines Besuches. Doch mit dem Vorwand ein dringendes Bedürfnis zu haben, bekam ich die Erlaubnis und so konnte ich wenigstens den hygienischen Zustand der Toiletten beurteilen, ein Ort, der oft die Situation eines ganzen Betriebes reflektiert. Es war ein sehr mühsamer Besuch und so verliess ich das Gebäude mit der Ahnung, dass die erstrebte Aufrüstung auf aktuelle internationale Standards nicht nur sehr kostspielig sein würde, sondern, dass vor allem qualifiziertes Personal fehlte.

Nach ein paar Schritten im Freien hielt mich ein ehemaliger Arbeiter zurück. Sichtlich entrüstet, traurig und frustriert erzählte er mir, dass vor etwa zwei Monaten alle Instrumente und Geräte des Qualitätslabors aus den Räumen entfernt wurden und sich nun in Kartons und Kisten in einem offenen Schuppen ausserhalb des Gebäudes befanden. Analytische Arbeiten sowie Qualitätskontrolle konnte daher im Werk nicht mehr durchgeführt werden. Diese inakzeptable Situation schien die lokalen Behörden nicht zu stören, was mich nach den Schilderungen der Dolmetscherin aber nicht mehr überraschte. Es wurde mir nun klar, dass mit den speziellen Umständen im Lande eine lokale Herstellung von ORS und weiteren Pharmazeutischen Produkten im Moment nicht in Frage kam. Allerdings machte ich mir Sorgen, denn ich hatte keine Ahnung was mein Fazit bei den unberechenbaren, neuen Funktionären auslösen könnte. Diese schienen sich Kritik nicht gewohnt und so fühlte ich mich plötzlich in einer äusserst heiklen Lage. Um Probleme zu vermeiden und mich zu schützen, entschloss ich mich meinen Rapport erst nach meiner Rückkehr in Genf zu beenden.

Auch in der Freizeit verfolgte mich in diesem Land ein Unbehagen, denn ich wusste nicht wem man wirklich trauen konnte. Nachts war Ausgangsverbot, trotzdem hörte man immer wieder Schüsse in der Gegend. Am Sonntagmorgen begleitete mich ein Funktionär auf den Markt. Leider war es kein farbenfroher Markt mit Gemüsen und Früchten, sondern eher ein Trödelmarkt. Es tat mir leid zu sehen, wie die Menschen versuchten für ihre wenigen Habseligkeiten einen Käufer zu finden, um anschliessend etwas Essbares zu ergattern. Der Anblick dieses Marktes machte mich traurig, denn ich hatte noch nie so verzweifelte Menschen gesehen.

Eines Abends war ich unverhofft bei ein paar UNO Funktionären zum Essen eingeladen. Erst hatte ich Bedenken nachts auf der Strasse zu sein, denn schliesslich war dies untersagt. Doch als ich sah, dass ich von einem blauen UNO Fahrzeug abgeholt wurde, musste ich annehmen, dass ich nichts riskierte. Gewisse Bedenken angeschossen zu werden, konnte ich aber nicht vermeiden. Endlich traf ich Leute, die schon lange im Lande waren und nach ein paar «Gläsern» interessante Erlebnisse mit mir teilten. Einige waren aus Bosnien und meinten, dass es in ihrem Land nicht besser sei und sich dort genauso grauenhafte Dramen abspielten. Sie erzählten, wie sich damals ein bis anhin problemloses Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen plötzlich verändert hatte. Sozusagen über Nacht hatte sich die bisherige Harmonie in eine unerklärliche Feindschaft verwandelt. Das Zusammenleben in Städten, im Dorf und in den Mehrfamilienhäusern wurde unerträglich. Dann erwähnten sie grauenhafte Torturen, Gräueltaten und fast tägliche Morden in der Nachbarschaft, die nie geahndet wurden. Sie waren so abscheulich, dass es mir übel wurde. Da sie ihre Erfahrungen sehr emotionell und aufgewühlt erzählten, musste ich annehmen, dass sie diese Zustände tatsächlich erlebt hatten. Diese traumatisierten Männer hatten eine Anstellung bei der UNO gefunden, waren aber in ihrem Einsatzland genauso Gefahren ausgeliefert.

Natürlich hatte ich mir während des ganzen Aufenthaltes Gedanken gemacht, auf welche Art ich dieses Land wieder verlassen könnte. Schliesslich meldete ich mich im Büro der UNO und bat um Hilfe. Kurz darauf erhielt ich eine fast mysteriöse Nachricht, in der man mir mitteilte, dass ich mich noch am selben Abend um 22h00 Uhr auf dem Flugplatz einfinden soll. Doch als ich dort eintraf schien dieser geschlossen, denn ich konnte nirgends Licht sehen. Trotzdem trat ich in das Gebäude und versuchte in der Dunkelheit jemand zu finden der mir weiterhelfen konnte. Und tatsächlich entdeckte ich in einem Raum ein Stehpult auf dem «Check-in» stand. Bald erschien eine Dame, die mir mitteilte, dass demnächst ein Flugzeug landen werde, das mich nach London bringen würde. Erneut schien mir alles unheimlich und mysteriös. Als einziger Passagier wartete ich in dem dunklen Wartesaal der Dinge, die da kommen sollten. Nach etwa zwei Stunden regte sich etwas: in totaler Dunkelheit war eine Boing 747 gelandet und man bat mich startbereit zu sein. Doch dann kam unverhofft Leben in diesen dunklen Raum. Eine Gruppe von ca. 10 Personen erschien wie aus dem Nichts und schritt dem Ausgang zu. Dann ging alles sehr schnell. Ich wurde gebeten mich dieser Gruppe anzuschliessen und so bestieg ich genauso hastig wie diese das riesige Flugzeug der «Air India», um dort sofort zu einem freien Sitz in der 1. Klasse geführt zu werden. Der Rest der Maschine war voll besetzt mit Passgieren aus Indien. Ich musste annehmen, dass «meine Gruppe» aus hochrangigen Staatsangestellten bestand und dass es ein regulärer Flug war, den die Regierung zur Landung befohlen hatte. Meinen Reisenachbarn schien die Bedienung in der 1. Klasse zu gefallen, besonders die Bar. Ich selbst war so müde, dass ich bis London trotz fröhlicher Stimmung im Raum herrlich schlief. In London suchte ich sofort einen Anschluss nach Genf und war froh, dann sicher und heil wieder zu Hause angekommen zu sein. Mit den Reisen nach Afghanistan und Armenien war die nach Tadschikistan wohl die chaotischste, abenteuerlichste und gleichzeitig gefährlichste meines Lebens gewesen. Aus diesem Grund habe dieses Erlebnis dieser Biografie angefügt.

 

Das Ende einer Erfahrung.
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20.11.  WHO/UNICEF, Genf (1. Mai 1981 – 31. März 1997) – Das Ende einer Erfahrung..

Als mein Chef die Führung eines neu geschaffenen Bereiches am Hauptsitz der WHO in Genf übernahm, schlug er mir vor ihm zu folgen und mich der Herstellung und der Qualitätssicherung von Präservativen in Entwicklungsländern anzunehmen. Als ich ihm erwiderte, dass ich absolut keine Ahnung von Naturkautschuk (Latex) habe, fragte er mich mit einem Lächeln, ob ich vor meinem Eintritt in die WHO schon etwas von ORS gehört hätte? Er war überzeugt, dass auch dieser Fachbereich für mich kein Problem sein würde. Wie immer wiederholte er seinen motivierenden Satz: „Wenn man will, so kann man!“ Doch inzwischen wusste ich, dass man von einem Berater nicht nur Auskunft über ein Produkt erwartete, sondern dass er vor allem grosses Fachwissen haben musste um glaubhaft zu sein, und diese hatte ich nicht. Aus diesem Grund entschied ich mich mit schwerem Herzen sein Angebot nicht anzunehmen und dem ORS treu zu bleiben….leider!

 Nachdem ein junger Mediziner seinen Posten übernahm, änderte sich die Stimmung im Büro sofort. Es fehlte dem bisher zusammengeschweissten Team plötzlich an offenem Austausch von Informationen, was sich bald negativ auf die Motivation auswirkte. Dann starb unerwartet mein direkter Vorgesetzter. Seinen, sowie neu geschaffene Posten, wurden jetzt mit jungen Leuten besetzt, die oft erst vor kurzem ihr Studium beendet hatten. Diese neuen, noch meist unerfahrenen Arbeitskollegen schienen sich untereinander bestens zu verstehen und wir „Alten“ fühlten uns bald irgendwie ausgegrenzt. Man verschanzte sich nun in seinem Büro und die Türen der einzelnen Büros blieben, im Gegensatz zu früher, immer geschlossen.

 Gottlob war ich meistens irgendwo in der Welt unterwegs und so betraf mich diese neue Situation kaum. Trotzdem suchte ich eines Tages ein offenes Gespräch mit meiner neuen, direkten Vorgesetzten. Ich gestand ihr, dass ich mich seit ihrer Ankunft isoliert und führungslos fühlte. Darauf meinte sie, dass ich mich in meinem Sachgebiet bestens auskenne und nicht auf ihre Führung angewiesen sei. Leider verstand sie nicht, dass ohne Führung und Unterstützung meine Arbeit schwierig wurde und dass ich wie bis anhin einem Team angehören wollte. Sofort merkte ich, dass sie keine Kritik duldete und meinem Wunsch einer offenen Aussprache nicht gewachsen war. Ihre Reaktion: sie begann unerwartet zu weinen. Ich war für sie offensichtlich zu selbstsicher. Nach dieser Unterredung war klar, dass ich nun genauso wie andere Arbeitskollegen, ebenfalls auf ihrer Abschussliste stand. Ihre Art und Weise war rücksichtslos und zermürbend; man existierte nicht mehr für sie, wurde ignoriert und nicht mehr zu Sitzungen eingeladen. Die Arbeit wurde schwierig, doch ich hielt vorerst ihrer zerstörenden Methode stand.

 Es folgte die Zeit, wo bei WHO und UNICEF die Geschäftsführer wechselten. Bei der WHO wurde im Jahre 1988 Generaldirektor Dr. Halfdan Mahler durch Dr. Hiroshi Nakajima ersetzt und dieser im Jahre 1998 durch Frau Gro Harlem Brundtland aus Norwegen. Bei UNICEF übernahm im Jahre 1995 Frau Carol Bellamy die Rolle von Exekutivdirektor James P. Grant. Während mit der norwegischen Politikerin plötzlich ein neuer Wind bei der WHO wehte, wollte sich Carol Bellamy nun vor allem für Mädchen und Frauen einsetzen. Meine bisherigen Aufgaben hatten für die neuen Direktorinnen keine Priorität mehr. Zudem fanden bei der WHO gewisse Leute, dass die Produktion von ORS (Pharmazeutika) eigentlich die Aufgabe der Privatindustrie sei. Da ich deren Vorteile aus Erfahrung kannte, hatte ich schon lange angefangen diese zur Zusammenarbeit zu motivieren. Diese beschränkte sich allerdings nur auf technische Beratung, wobei das Handbuch „Oral Rehydration Salts, Planning, establishment and operation of production facilities“ dabei eine grosse Hilfe war. Trotz meinen Bemühungen wurde mein Teil-Vertrag bei der WHO wie befürchtet nicht weiter verlängert, mein Posten aufgelöst und die Einsparung für andere gesundheitsorientierte Aufgaben gebraucht. Also blieb nur noch die zweite Hälfte des Vertrages, die von UNICEF finanziert wurde. Aus diesem Grunde zog ich für meine verbliebene Halbzeit-Stelle in das Gebäude von UNICEF in Genf.

 Genau in diesem Moment wurde ein Umzug all dieser Büros in ein anderes Gebäude geplant. Es war vorgesehen, dass die Planungs- und Ausführungsarbeiten ein Architekt aus New York übernehmen sollte. Mit dieser Idee waren die Verantwortlichen von UNICEF in Genf aber nicht einverstanden und so wurde ich ganz per Zufall gefragt, ob ich diesen Auftrag übernehmen würde. Für mich war dies ein ausserordentlicher Glücksfall, denn mit Planung und Überwachung von Baustellen hatte ich ja Erfahrung und liebte diese Art von Arbeit. Zudem konnte ich wieder Vollzeit arbeiten und gleichzeitig kurze Anfragen für „Consultancies“ in Bangladesh, Nordkorea, etc. annehmen, was für mich schliesslich eine sehr abwechslungsreiche und befriedigende Zeit wurde.

Feste Anstellungen waren damals bei der UNO selten geworden und neue Arbeitsverträge immer zeitlich limitiert. Mein erster Vertrag wurde im Jahre 1981 für nur ein Jahr ausgestellt, später dann aber immer wieder für ein oder zwei weitere Jahre verlängert. Da mein letzter Vertrag ein paar Monate vor meinem fünfundfünfzigsten Geburtstag endete, riskierte ich das Anrecht auf meine Rente zu verlieren. Mit Besorgnis wendete ich mich an meine direkten Vorgesetzten, aber keiner von ihnen schien mein Problem zu erkennen oder wollte sich meiner Situation annehmen. Schliesslich wendete ich mich an die Direktion der UNICEF in New York und schilderte meine missliche Lage. In letzter Minute wurde mein Vertrag dann schliesslich um ein paar Monate verlängert und damit eine reguläre Pensionierung gesichert.

Kurz darauf hatte ich plötzlich Probleme mit den Augen und liess mich in der Augenklinik des Kantonsspitals untersuchen. Sofort entdeckte man ein Hypophysenadenom“, ein gutartiger Tumor an der Hypophyse oder Hirnanhangsdrüse. Nach dem Tumor wurde auch die Hypophyse entfernt, was seitdem die Produktion gewisser Hormone nicht mehr erlaubt. Die zwei Eingriffe hatten mich sehr geschwächt und so lag ich wochenlang einfach auf dem Sofa in der Wohnung herum. Erst nachdem der Hormonhaushalt mit Ersatz-Präparaten wieder einigermassen hergestellt war, ging es mir wieder besser und so konnte ich wieder arbeiten. Da ich wusste, dass meine Stelle abgebaut wurde, fand ich es wichtig einen Bericht über meine Arbeit zu erstellen. Dabei durften natürlich auch Details über den Ursprung und der Entwicklung von ORS nicht fehlen. Genau während dieser Zeit hatten wir in Genf einen Besuch vom Hauptsitz in New York. Ich hatte dort nämlich einen neuen Vorgesetzten bekommen, der sich nun in den verschiedenen Regionalbüros offiziell vorstellte. Beim persönlichen Gespräch in meinem Büro entdeckte dieser mein Bericht über meine Arbeit. Er war so begeistert von diesem Dokument, dass er davon unbedingt eine Kopie nach dessen Vollendung verlangte. Zu meiner Entrüstung meinte er dann aber schamlos, dass ihm mein Bericht für seine professionelle Entwicklung sehr nützlich sein werde. Damit hatte mein neuer Chef nicht nur meinen Respekt verspielt, sondern auch meine Lust das Dokument je mit ihm zu teilen.

Etwas später endete mein verlängerter Vertrag mit UNICEF und dies obwohl man mir eine Umschulung für eine neue Aktivität versprochen hatte. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich bei UNICEF gar nie eine für mich wirklich verantwortliche Person hatte, die sich um meine Anliegen kümmerte. Es gab bis anhin wohl immer einen offiziellen Vorgesetzten in New York und eine verantwortliche Person in Genf, doch diese interessierten sich kaum für mich und meine Arbeit. Natürlich war ich mir bewusst, dass sich unter diesen Vorgesetzten niemand befand, der über die Produktion von Pharmazeutika Bescheid wusste. Ich arbeitete auf einem Gebiet wo man mich in Ruhe liess, was ich ja auch schätzte. Über all die Jahre hatte ich mich an meine Selbständigkeit gewöhnt, fühlte mich aber trotzdem oft wie ein Satellit in der Organisation. So schien niemand bemerkt zu haben, wie wichtig meine Aufgabe für mich selbst war und wie viel ich von meinem Privatleben bis anhin für sie geopfert hatte. Diesen bitteren Beweis bekam ich am letzten Tag meines Vertrages, als ich nach fast 16 Jahren Zugehörigkeit mein „Laissez-passer“, das Reisedokument der Internationalen Organisationen, zurückgeben wollte. Der verantwortliche Beamte meinte jovial, dass ich doch noch einige Monate ehrenamtlich weiter arbeiten soll, um bei der Organisation einen guten Ruf zu hinterlassen! Er nahm das Dokument nicht zurück und verschwendete keine Zeit für ein paar Abschiedsworte oder um sich offiziell von mir zu verabschieden. Nach diesem Mangel an Respekt für meinen jahrelangen Einsatz, hatte ich nur noch einen Wunsch: die Organisation so schnell als möglich zu vergessen. Doch auch dies gelang mir nicht, denn wegen administrativen Nachlässigkeiten musste ich anschliessend ganze neun Monate für meine Rente kämpfen. Zudem wurde sie erst in US$ anstatt in CHF (so wie ursprünglich abgemacht) ausbezahlt, wobei ich durch den zeitlichen Verzug zusätzlich einen beträchtlichen $/CHF Kursverlust hinnehmen musste, was schliesslich zu einer reduzierten Rente führte.

Alle Organisationen, und haben sie noch so noble Ziele, werden immer von Menschen geführt. Leider haben diese aber meistens nicht die gleichen edlen Ziele und bewerben sich nicht nur aus humanitären Gründen für einen Posten bei der UNO und deren Nebenorganen. Gute Entlöhnung, Ansehen und persönliche Interessen haben meistens Vorrang! Leider sind sich diese Leute nicht bewusst, dass sie mit ihrem eigennützigen Benehmen einer Organisation nicht dienen. Und so ist man nach der Pensionierung bei UNO Organisationen genau so schnell vergessen wie in einem multinationalen Konzern.

Zum Glück hatte ich die vergangenen 16 Jahre, die ich für die zwei internationalen Organisationen arbeiten durfte, sehr positiv, abwechslungsreich und äusserst interessant erlebt; was ohne Matura manchmal etwas anspruchsvoll war! Es erlaubte mir meinen persönlichen Horizont zu erweitern, fremde Länder und Kulturen kennen zu lernen, sowie mit Menschen aus der ganzen Welt zu arbeiten. Gleichzeitig war ich stolz, als Schweizerbürger Teil dieser Organisationen zu sein und bei meinen Einsätzen im Ausland gleichzeitig für meine Heimat ein bisschen „Werbung“ zu machen. Allerdings war ich nicht sicher, ob das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) dies auch wirklich schätzte. Wie die meisten Länder ist ja auch die Schweizer Regierung bestrebt, gewisse Positionen in internationalen Organisationen mit seinen Landsleuten zu besetzen, wobei aber vor allem strategische Topkader-Stellen Priorität haben. Wie die wenigen von Schweizern besetzten UNO Posten in Genf, gehörte auch meine Stelle nicht in diese Kategorie und so fühlten wir Betroffenen uns von „Bern“ nicht unbedingt wahrgenommen. Ich konnte nicht verstehen, warum die offizielle Schweiz nicht mehr von unseren Erfahrungen und dem „Insider“ Wissen profitieren wollte. Da scheuten andere Länder keine Mühe und Kosten, um ihre Landsleute in UNO Organisationen zu platzieren und mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Zudem organisierten diese Länder während den Generalversammlungen, zum Beispiel der WHO, Zusammenkünfte ihrer Landsleute, um so inoffiziell auf dem Laufenden zu bleiben. Die neutrale und offizielle Schweiz pflegte solche Kontakte nicht.

Dabei ging es uns nicht um Anerkennung, sondern um Probleme in Bezug auf die unterschiedlichen Systeme zwischen der Schweiz und der UNO zu erörtern. Ein Schweizer mit internationalem Status ist nämlich in der Schweiz mit steuerlichen, sozialen, rechtlichen und weiteren Problemen konfrontiert. So ist zum Beispiel ein ausländischer UNO Mitarbeiter in der Schweiz steuerfrei, während ein Schweizer der bei der UNO arbeitet sein Vermögen versteuern muss. Zudem gibt es bei der UNO mit ihren zeitlich limitierten Verträgen keine Arbeitslosenversicherung. Möchte ein Schweizer bei dieser Versicherung, sowie der AHV abgesichert bleiben, dann gehen die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge zu lasten des Versicherten, was sehr kostspielig ist und sich nicht jeder leisten kann. Ausserdem waren Schweizer Staatsangehörige vom Militärdienst nicht dispensiert und mussten dafür ihre Ferien opfern oder einen unbezahlten Urlaub beantragen. Ich selbst war davon glücklicherweise nicht betroffen, denn als ich den Befehl erhielt meine militärische Ausrüstung, inklusive Gewehr, im Zeughaus abzuholen, hatte ich noch keinen festen Wohnsitz und war meistens im Ausland unterwegs. Aus diesem Grund erhielt ich ein „Congé ONU“, oder „UNO Urlaub, der während der ganzen Vertragszeit bei der UNO gültig blieb. Aus all diesen Gründen war für Schweizer, besonders mit Familie, eine Anstellung bei der UNO in der Regel unattraktiv. Um diese ganz spezifischen Anliegen und Probleme von Schweizern bei der UNO dem offiziellen Bern klar zu machen, wurde die «Association des Fonctionnaires Internationaux Suisse» (AFIS) gegründet. Bis weit nach der Pensionierung war ich aktives Mitglied dieses Vereins und versuchte Antworten auf meine spezifischen Fragen zu bekommen. Zum Beispiel wollte ich wissen wie der monatliche Lohnabzug (staff assessment), der immer fast die Hälfte des UN-Grundlohnes ausmachte, nach der Überweisung an die Schweizer Regierung verwendet wurde? Eine für mich bis heute nicht klar beantwortete Frage!

Mehr als ein Jahr nach meiner Pensionierung musste ich im Bürogebäude von UNICEF etwas erledigen. Als mich eine der Sekretärinnen sah, rief sie mich in ihr Büro. Sie sagte, dass schon seit langer Zeit etwas für mich aufgehoben wurde und zeigte auf das Gestell hinter mir. Dann forderte sie mich auf eine blaue Schachtel, die auf dem untersten Regalbrett lag, mitzunehmen. Ich bückte mich, doch schliesslich musste ich auf die Knie gehen um das verstaubte Objekt zu ergreifen. Als ich wieder stand und es öffnete, fand ich darin ein „Service Award Certificate“ oder eine Auszeichnung für meine Arbeit, alles aus penetrant riechendem Plastik. Es hatte sich niemand von den Verantwortlichen die Mühe genommen, mir dieses Dokument persönlich zu übergeben; ich musste es mir selbst vom Boden auflesen. Die Situation ekelte mich an und ich hatte grosse Lust, das „Plastik Geschenk“ sogleich in den Abfalleimer zu werfen. Aber ich tat es nicht, ich entschied, den Verantwortlichen ihre Geschmacklosigkeit und den fehlenden Respekt sowie Anstand gegenüber ihren ehemaligen Mitarbeitern zu verzeihen.

Trotz den bedauerlichen Erfahrungen am Ende meiner Zeit bei der UNO bleiben mir vor allem die vielen positiven Erinnerungen und die schönen Begegnungen mit kompetenten und sehr angenehmen, liebenswürdigen Menschen in der ganzen Welt. Zudem durfte ich in den nachfolgenden Ländern nicht nur viel Neues, Interessantes und Inspirierendes erleben, sondern vor allem auch Anerkennung für meine Arbeit erfahren, etwas das mir immer wieder erlaubte neue Kraft und Mut zu schöpfen:

Afghanistan, Albanien, Algerien, Argentinien, Bangladesh, Brasilien, Burundi, Kolumbien, Kongo, Costa Rica, Elfenbeinküste, Kuba, Jemen, Nordkorea, Ecuador, Ägypten, El Salvador, Guatemala, Guyana, Haiti, Honduras, Indien, Indonesien, Iran, Irak, Jordanien, Kenia, Madagaskar, Mexiko, Marokko, Mozambique, Myanmar, Nepal, Nicaragua, Nigeria, Pakistan, Panama, Peru, Philippinen, Saudi Arabia, Sierra Leone, Sri Lanka, Sudan, Syrien, Tansania, Thailand, Trinidad & Tobago, Tunesien, Türkei, Uganda, Venezuela, Vietnam, Zaire, Sambia, Zimbabwe.

Die Zeit danach
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21.  Die Zeit danach

Nachdem mein Vertrag mit UNICEF sowie der WHO nicht mehr weiter verlängert wurde, versuchte ich meine professionellen Kenntnisse und die erworbene Erfahrung im Ausland nun im eigenen Lande anzubieten. Ich fühlte mich mit 55 Jahren einfach noch zu jung, um ein Rentnerleben zu führen. Zuerst meldete ich mich beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und beim Botschafter der Schweizer Mission der UNO in Genf. Aber immer bekam ich die gleiche Antwort: „Wir bedauern sehr, Ihnen keine positive Antwort geben zu können und schicken Ihnen in der Beilage Ihr Dossier wieder zurück.“ Ich hatte das Gefühl, dass mein CV gar nie gelesen wurde und dass man wohl einen „Onkel“ in Bern brauchte, um für eine Bewerbung überhaupt berücksichtigt zu werden. Dann versuchte ich es bei der UNOPS, dem Büro für Projektdienste der Vereinten Nationen. Doch auch hier schien es keine offenen Stellen zu haben.

 

Schliesslich wurde mir klar, dass man mit 55 Jahren kaum noch die Aussicht auf eine dauerhafte Stelle hatte und so folgte eine eher zermürbende Zeit. Eine ehemalige Arbeitskollegin, die zur gleichen Zeit ebenfalls eine schwierige Zeit zu bewältigen hatte, versuchte ihren Frust mit einem Töpferkurs zu überwinden. Eines Tages überredete sie mich zu einer Schnupperlektion. Die kreative Handarbeit begeisterte mich sofort und so begann auch ich auf Töpferscheiben Schalen und andere Objekte zu kreieren. Die Kursleiterin hatte sehr ansprechende Glasuren, mit denen jede Kreation ganz speziell wurde. Leider entschied sie sich bald darauf ihre Kurse aufzugeben, was mich aber nicht davon abhielt das Hobby weiter zu pflegen. Zusammen mit meiner Kollegin besuchten wir danach einen Töpferkurs der MIGROS Klubschule. Leider hatte hier die Tonerde nicht die gleiche Qualität wie im ersten Kurs. Da uns auch die vorhandenen Glasurfarben nicht begeisterten, entschieden wir nach dem Ende des Kurses unser Hobby aufzugeben. Zudem hatte ich zu Hause keinen Platz mehr, um all meine „Kunstwerke“ aufzubewahren. Aber immer, wenn ich später eine Töpfer-Drehscheibe sah, zwickte es mich in meinen Händen. Neben der kreativen Erfahrung war es für mich vor allem eine Art Therapie gewesen, um die Mühe mit der plötzlichen Arbeitslosigkeit etwas zu überwinden.

 

Dann versuchte ich es mit sozialer Fürsorge und war bereit mich einer Flüchtlingsfamilie anzunehmen. Ich wollte der Familie bei ihrer Integration behilflich sein. Doch leider musste ich bald feststellen, dass ich für diese anspruchsvolle Aufgabe weder Psychologe noch Psychiater war, denn ihre Denkweise und eigenwillige Mentalität brachte mich bald zur Verzweiflung. Zum Beispiel musste ich einsehen, dass mein Bemühen, dem arbeitslosen Vater eine Arbeit zu verschaffen, aussichtslos war. Er argwöhnte, dass wenn er arbeiten würde, seine sozialen Beihilfen gestrichen würden und er dann viel weniger «verdienen» würde; was ja tatsächlich stimmte. Es war für mich auch mühsam zu beobachten, wie gedankenlos und grosszügig sie ihr Fürsorgegeld ausgaben. Wenn ich sie darauf ansprach, hiess es immer «wir haben das Recht dazu». Natürlich hatten sie das Recht ihr Geld so auszugeben wie‘s ihnen gefiel, doch leider fehlte das vernünftige Haushalten, die Eigenverantwortung und Anerkennung. Auch wurden immer wieder die Schweiz und seine Institutionen scharf kritisiert. Dies irritierte mich jedes Mal, denn sie hatten dazu absolut keinen Grund. Eines Tages konnte ich nicht anders und wagte mich zu fragen, warum sie mit ihrer Unzufriedenheit nicht in Erwägung ziehen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Erbost wurde ich sofort als Rassist bezeichnet. Obwohl ich bis anhin unzählige Menschen verschiedenen Ursprungs kennengelernt hatte: eine so abstruse, fordernde Denkweise hatte ich bis anhin noch nicht erlebt. Sie war so widersprüchlich mit meinem Gedankengut, dass die Betreuung der Familie für mich zur psychischen Belastung wurde. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Kontakt abzubrechen und meine gut gemeinte Aktion zu beenden.

 

Glücklicherweise erhielt ich danach bald kurzfristige Aufträge von UN-Organisationen (UNICEF, WHO, etc.) um mich weiter um bestehende Projekte zu kümmern (Nord-Korea, Bangladesch, etc.) Zudem erhielt ich eine Anfrage aus Deutschland, wo ein Lieferant von Rohmaterial Pläne hatte, ORS herzustellen. Dabei handelte es sich vor allem um technische Beratung, was mich sehr motivierte. Während dies nur immer eintägige Besprechungen waren, begleitete ich den Besitzer der Firma einmal während einem 10-tägigen Kunden-Besuch in Venezuela.

 

Bald darauf kam die Anfrage einer Schweizer Firma, die einen Projektleiter für einen neuen Chemiebetrieb in China suchte. Es handelte sich um die Überwachung eines Neubaus, der Installation der Produktions-Maschinen und der Inbetriebnahme der ganzen Produktionseinheit. Erst war ich begeistert wieder im Fernen Osten tätig zu sein. Doch dann fragte ich mich plötzlich, wie ich mich ohne die nötigen Sprachkenntnisse mit dem Besitzer des lokalen Unternehmens und besonders mit den lokalen Leuten verständigen würde. Im Vergleich zu meinen früheren Stellenbeschreibungen erschien mir das Angebot zudem sehr mangelhaft erstellt, die Arbeitsbedingungen unbefriedigend und vieles unklar. Also entschied ich das Angebot der Firma abzulehnen. Wer weiss wie viel Ärger ich mir damit erspart hatte.

 

 

Weltbank
Etwas später kontaktierte mich ein Kollege der Pharmabetriebe in Drittweltländern beriet und Rohmaterial sowie Maschinen dorthin exportierte. Um seine Präparate zu exportieren, wollte einer seiner Kunden in Westafrika seine Produktionskapazität erweitern und hatte deshalb die Weltbank um finanzielle Unterstützung gebeten. Diese aber verlangte erst eine neutrale Machbarkeit Studie. Dank meiner beruflichen Erfahrung in der Pharmaindustrie schlug mich mein Kollege als unabhängiger Berater der Weltbank vor. Obwohl es sich hier nicht um ORS handelte, schien mir die Aufgabe spannend und so sagte ich mit viel Motivation auf seine Anfrage zu. Um mich auf meinen Einsatz vorzubereiten, bat ich die Weltbank aber erst um eine Kopie der Marktanalyse des Projektes. Nachdem eine solche nicht vorhanden war, entschied ich mich diese abzuwarten. Schliesslich dauerte es dann fast ein Jahr bis ich positiven Bescheid bekam und ich gebeten wurde mich auf den Weg nach Afrika zu machen.

 

Bei der Ankunft im Büro der Weltbank stellte ich fest, dass man mir die Wahrheit verschwiegen hatte, denn die verlangte Studie war immer noch nicht vorhanden. Die Beauftragten dieser grundlegenden Studie entschuldigten sich und erklärten, dass sie nun aber in einigen Tagen zu einer Marktstudie nach Senegal reisen würden. Das tönte gut, als ich aber die Liste der für den Export bestimmten Präparate verlangte sagte man mir, dass sich der Fabrikant weigerte diese Information zu liefern. Die Verantwortlichen der Machbarkeitsstudie hatten also keine Ahnung was exportiert werden sollte. Zudem war nicht klar welche Länder für den Export tatsächlich in Frage kamen! Mit dieser absurden Situation wurde mir klar, dass hier noch einige Hürden zu überwinden waren. Gleichzeitig schien diesen Leuten nicht bekannt, dass ein grosser Teil der afrikanischen Länder für die Versorgung der benötigten Medikamente von der WHO, UNICEF sowie anderen Hilfsorganisationen abhängig waren. Somit stellte sich die Frage welche Regierung mit ihrem meist sehr limitierten Budget für Gesundheit, wohl die Möglichkeit hatte den Import von Medikamenten aus Ghana zu finanzieren. Dann schien ihnen auch nicht bewusst, dass für den Export sowie einen möglichen Verkauf an Internationale Hilfsorganisationen auch lokal hergestellte Produkte dem Internationalen Standard entsprechen mussten.

 

Nach dieser Erkenntnis entschloss ich mich den Kopf nicht weiter mit diesen Fragen zu belasten und mich erst dem erwünschten Ausbau der Produktion anzunehmen. Der bestehende Bau und die Ausrüstung waren schon einige Jahre alt, aber immer noch in gutem Zustand. Was mich aber mehr beunruhigte, war die Qualitätssicherung der Produktionsabläufe. Eine strikte Einhaltung dessen Richtlinien ist nicht nur elementar, sondern eine der Bedingungen, um Medikamente überhaupt exportieren zu dürfen. Doch das Management schien diesbezüglich unbekümmert und meinte immer wieder Ghana sei nicht die Schweiz. Ich argumentierte vergebens, dass die Anforderung an die Qualität eines Medikamentes für alle Fabrikanten gelte und dies ungeachtet, ob ein Präparat für arme oder reiche Patienten bestimmt war. Doch für das Management war die Erweiterung des Betriebes das Hauptziel und so erstellte ich eine detaillierte Liste der nötigen Maschinen sowie der zusätzlich benötigten Ausrüstung. Immer wieder wurde erwähnt, dass neue, effizientere Maschinen die Reduktion von Personal erlaube und deshalb substanzielle Einsparungen ermöglichen würden. Da ich Zugang zur Buchhaltung hatte konnte ich aber bald beweisen, dass dies gar nicht möglich war. Die miesen Löhne der Angestellten standen in keinem Verhältnis zum Rest der Betriebskosten, vor allem aber in Bezug auf die grosszügigen Vergütungen an das Management. Diese Feststellung und meine Empfehlung erst die exzessiven Gehälter der Direktion zu kürzen, wurden offensichtlich gar nicht geschätzt. Auch die eingesetzten Preise der nötigen Maschinen auf der Einkaufsliste gefielen dem Management nicht. Ich wurde gebeten meine Schätzungen zu erhöhen, was bei mir bald einen unbehaglichen Verdacht weckte.

 

An einem Abend wurde ich von einem der Manager zu einem Bier eingeladen. Nach dem dritten Glas wurde der Mann leutselig und erzählte, dass er abends noch als Priester tätig sei. Freudestrahlend gab er zu, dass er es jeweils geniesse die Gläubigen in der Kirche zu manipulieren. Das machte mich fassungslos, doch dann benutzte ich den Moment, um dem angeheiterten Mann weitere Geständnisse zu entlocken. Ich bezog mich auf seine vorhergehenden Äusserungen in Bezug auf die Qualität der Präparate, die für ihn scheinbar keine grosse Priorität hatte. So frage ich ihn, ob es nicht so sei, dass wenn ein Patient nach der Behandlung mit einem seiner Produkte erkrankte, dieser gar nicht ahnte, dass der Grund ein mangelhaftes Präparat sein könnte. Und wenn dieser es erfuhr, er kaum die Möglichkeit hatte dies zu beweisen und es zudem illusorisch war den Fabrikanten dafür zu belangen, auch wenn die finanziellen Mittel dafür vorhanden wären. Während er mir die aussichtslose Situation eines Patienten mit einem verschmitzten Lächeln bestätigte, wurde es mir schlecht. Ich konnte seine Gewissenlosigkeit und Scheinheiligkeit nicht ertragen.

 

Bei diesem Besuch spürte ich bei den lokalen Partnern leider kein Wille etwas zu verbessern und so begann ich mich zu fragen, ob sich mein Einsatz überhaupt lohnt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das Projekt nur ein Vorwand war, um an Devisen zu kommen. Obwohl ich eigentlich an afrikanischen Verhältnissen gewöhnt war, fühlte ich mich hier unwohl und hatte Mühe die Situation so zu akzeptieren, wie sie war, was mich schliesslich psychisch belastete. Zudem war ich mir bewusst, dass ich mir mit meinen Feststellungen keine Freunde schaffte und damit vielleicht sogar mein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Trotzdem dokumentierte ich konsequent und ohne Rücksicht auf mögliche Folgen die Sachlage in meinen Bericht an die Weltbank. Zu meiner Genugtuung erfuhr ich später, dass diese das Gesuch um finanzielle Unterstützung abgelehnt hatte. Doch der Pharmabetrieb gab sich nicht geschlagen und wandte sich anschliessend an die USAID um finanzielle Unterstützung. Aber auch diese Organisation verlangte erst eine Begutachtung, die wohlweislich durch eigenes Personal durchgeführt wurde. Durch einen Zufall hatte dieser Berater Zugang zu meinem Rapport, das seine Aufgabe natürlich erleichterte. Sein Gutachten fiel überraschenderweise noch viel kritischer aus als in meinem Rapport und so konnte die Firma auch aus den USA keine Hilfe erwarten. Diese Tatsache gab mir den Beweis und die Genugtuung, dass es heute doch noch möglich ist gewissenhafte Arbeit zu leisten und ehrliche Aussagen in einem Rapport festzuhalten, was unnötige Verschwendung von Hilfsgeldern vermeiden kann. Nach dieser Erfahrung entschied ich mich keine weiteren Beratungen in Afrika mehr zu machen und mein Leben dem Ruhestand entsprechend einzurichten.

 

 

The Global Fund
Doch ich konnte ich es nicht lassen und hatte immer wieder das Gefühl ich müsse unbedingt noch nach Arbeit Ausschau halten, um meinen Lebensabend zu finanzieren. Und so war ich überglücklich als mich ganz zufällig eine ehemalige Arbeitskollegin von UNICEF fragte ob ich Lust hätte für eine neu geschaffene Organisation die nötigen Möbel einzukaufen und deren Installation zu organisieren. Die Aufgabe interessierte mich sofort und so fand ich unverhofft eine temporäre Beschäftigung. Es handelte sich dabei um „The Global Fund“, eine Stiftung zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria. Der Global Fund wurde im Januar 2002 nach schweizerischem Recht als unabhängige, gemeinnützige Stiftung gegründet, wobei die Verwaltung anfangs noch von der Weltgesundheitsorganisation getätigt wurde. Die Belegschaft war sehr klein und in zwei verschiedenen Büros an verschiedenen Standorten in Genf untergebracht. Mit viel Freude und Elan begann ich meine Arbeit. Doch als ich erfuhr, dass das Management im Sinn hatte IKEA-Möbel der anzuschaffen, sah ich mich bereits gezwungen zu intervenieren. Natürlich sind diese Art Möbel beliebt, modern und billig, doch nach meinem Verständnis kaum für einen professionellen, anspruchsvollen Bürobetrieb geeignet. Also versuchte ich die Verantwortlichen zu überzeugen, dass man solidere Möbel braucht, zum Beispiel wie diejenigen die sich bei der WHO seit Jahren bewährt hatten. Doch die grauen, an Militär erinnernde Möbel, fanden keine Gunst. Erst als ich herausfand, dass diese nun auch in hellbraun erhältlich waren, konnte ich die damals kleine Gruppe schnell für diese Wahl überzeugen. In dieser Farbe sahen diese Metallmöbel nämlich aus wie aus Holz gefertigt.

 

Als dann Dr. Richard Feachem, den ich aus der Zeit bei der WHO bereits kannte, als erster Geschäftsführer ernannt wurde, entschied er sofort alle Mitarbeiter an einem einzigen Ort unterzubringen. Er mietete ein ganzes Stockwerk in einem neuen Bürogebäude, indem die Büroflächen nach den jeweiligen Anforderungen erst aufgeteilt werden mussten. Gleichzeitig musste die nötige Infrastruktur und das IT-System geplant werden. Also fragte er mich, ob ich diese Arbeit auch übernehmen würde. Natürlich war dies für mich ein Traumjob und so brauchte ich keine Zeit, um lange zu überlegen. Bereits im Juli 2002, also kurz nach der Gründung der Stiftung, begann ich meine Arbeit als „Project Manager“. Eigentlich wurde ich anfangs nur für drei Monate engagiert, doch dann wurde der Vertrag immer wieder verlängert, sodass ich bis im Juni 2003 beim Global Fund tätig war.

 

Anfangs wurde für eine Belegschaft von maximal 75 Angestellten geplant, für die man aber anfangs nur die Hälfte des Stockwerkes benötigte. Um in Zukunft den Rest des Stockwerkes für weitere Angestellten bereit zu haben, wurde dieses dann aber gänzlich mit der nötigen Infrastruktur ausgerüstet. In enger Zusammenarbeit mit den verschiedenen Abteilungen und deren Chefs konnten die Räume genau nach deren Bedürfnissen geplant und erstellt werden. Dies war für mich eine äusserst interessante und sehr befriedigende Arbeit. Bereits schon in dieser Phase begann ich die Belegschaft an das Recycling zu gewöhnen. Jeder Arbeitsplatz wurde mit einem Papierkorb ausschliesslich für Papier und einem Abfalleimer für den Rest ausgestattet. Da fast 100% der Funktionäre im Ausland rekrutiert worden waren, hatte ich anfangs Mühe den Leuten das Trennsystem der Schweiz beizubringen. Aber mit etwas Geduld und den entsprechenden Erklärungen funktionierte dies schliesslich sehr gut. Ich erklärte allen, dass die Gemeinde Meyrin bei unkorrekter Benützung des «Eco-Points», der sich vor dem Haus befand, sehr streng war und Bussen unbedingt vermieden werden mussten. Einen Stock tiefer hatte sich eine Abteilung der WHO eingemietet, dessen Management eine strikte Trennung von Papier, PEA, Glas, etc. nicht ernstnahm, was aber bald saftige Bussen auslöste. Nachdem die verschiedenen Anfangsschwierigkeiten überwunden waren und die Belegschaft installiert war, wurde mein Posten aufgelöst. In den folgenden Jahren stieg die Zahl der Angestellten ständig an und schon bald musste die Organisation in ein Gebäude mit mehr Bürofläche umziehen. Einige Jahre später zog der „The Global Fund“ sogar in ein eigenes Gebäude in Grand-Saconnex. Die Belegschaft war inzwischen auf rund 700 Personen gewachsen, dies allein in Genf.




(1) Weggis im Frühling

Weggis im Frühling

 

Weggis, Kirschenpflücken
Im Mai 1994 war ich zur Hochzeit der Tochter meines Cousins eingeladen. Der Apéro fand auf dem Bauernhof eines Bekannten in Weggis statt. Um sicher zu stellen, dass zum Empfang alles bestens vorbereitet war, fuhr ich zusammen mit der Mutter der Braut schon etwas früher auf den Hof. Dort fand ich den Grossvater der Bauernfamilie in einem Graben mit PVC-Ablaufrohren hantieren. Da es mir schien, dass er sich den Kopf zerbrach wie die verschiedenen Teile richtig zusammenzufügen, bot ich ihm spontan meine Hilfe an, was ihn sichtlich verblüffte. Erst als ich ihm erklärte, dass ich von Beruf Sanitär-Installateur sei, willigte er ein. Als er mir erklärte was er mit den Rohren vorhatte, war das Problem schnell gelöst und der Bauer sichtlich überrascht, dass jemand festlich gekleidet etwas von Abwasser-Leitungen verstand.

 

(2) Weggis im Frühling

Weggis im Frühling


Dies war für mich der Anfang einer ausserordentlich schönen Zeit, die ich in den folgenden Jahren bei dieser Bauernfamilie in Weggis verbringen durfte. Betört von den vielen, blühenden Kirschbäumen fühlte ich mich dort sofort wohl. Ich stellte mir vor wie diese Bäume wohl zur Erntezeit aussehen würden und wie es wäre, wenn ich dort Kirschen pflücken könnte. Kirschen waren seit meiner Kindheit meine Lieblingsfrucht. Anfangs Sommer fasste ich dann den Mut und meldete mich bei der Schwägerin der Braut, um zu fragen, ob ihr Onkel, der Bauer, vielleicht Hilfe bei der Kirschernte brauchen könnte. Sie lachte und meinte er brauche immer Hilfe und ich soll mich doch einfach bei ihm melden, was ich auch sofort tat. Damit begann ich eine neue Karriere, die eines Kirschenpflückers! Mit dem Bauer traf ich die Abmachung, dass ich als Freiwilliger auf dem Hof arbeite und dass als Gegenleistung Kost und Logis geboten werden. So bekam ich ein Zimmer im Dachstock, dort wo drei Grosskinder ihre Zimmer hatten.



(3) Die Antrittsprüfung des Bauern: das Besteigen seiner länsten Leiter

Die Antrittsprüfung des Bauern: das Besteigen seiner länsten Leiter


Am ersten Arbeitstag hatte ich das Gefühl, dass ich besonders vom Sohn des Bauers kritisch beobachtet wurde und dass er mir die harte Arbeit nicht zutraute. Wie um mich zu prüfen, stellte er mich vor eine unglaublich lange Leiter, die an einem riesigen Kirschbaum stand. Der Baum wuchs auf einem abschüssigen Hang, was die Arbeit nicht einfach machte. Obwohl die Leiter für meine Beurteilung viel zu steil stand, stellte ich mich dieser Aufgabe, denn als Spengler war ich an solche Situationen gewohnt. Also kletterte ich mit dem umgehängten «Chratte» (Handkorb aus Weiden) in die Höhe und begann Kirschen zu pflücken. Es war ein herrliches Gefühl in diesem Baum zu sein und immer wieder den «Chratten» unten in einen grösseren Behälter zu leeren. Der junge Bauer schien sichtlich erstaunt, dass ich mit seiner etwas gar übertriebenen Eintrittsprüfung keine Mühe hatte. Als er einen Moment nicht da war, geschah das Unerwartete. Ich stieg wie gewohnt mit meinem prall gefüllten «Chratten» vorsichtig die Leiter runter, um ihn zu leeren. Ich war bereits sicher unten angekommen, als ich unerwartet auf dem nassen Gras ausglitt und dann auf dem Hintern bis zum Fuss des Hügels rutschte. Obwohl ich mich fest an den «Chratten» klammerte, waren nach der Landung nicht mehr viele Kirschen darin. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass das Kirschenpflücken auf steilem Gelände wirklich seine Tücken haben kann. Trotzdem bestand ich die Prüfung und hatte abends auch genügend Kirschen abgeliefert. Damit war ich im Kreise der «Chriesner» aufgenommen!

 

(4) Kirschenpflücken am Steilhang

Kirschenpflücken am Steilhang


Allerdings gab es am zweiten Tag noch eine weitere Prüfung. Der Bauer führte mich an einen kleineren Baum, den ich ganz allein «strupfen», also ohne Stiel pflücken durfte. Zuerst war ich stolz einen ganzen Baum für mich allein zu haben, doch nach einer gewissen Zeit wurde mir bewusst, wie lange man brauchte, um ein 200-Liter Fass zu füllen. Ich leerte «Chratten» um «Chratten» in den leeren Bauch des «Mauser»-Fasses und es wollte einfach nicht voll werden. Nach einer gewissen Zeit wurde das Pflücken an diesem Baum langweilig und die Aufgabe schliesslich zur Geduldprobe. Ich erfüllte meine Arbeit erst am Morgen des nächsten Tages und wurde erst dann an einem anderen Baum eingesetzt. Jetzt waren wir zu dritt und so lernte ich auch die anderen «Chriesner» kennen. Hier wurden Witze erzählt sowie über Klatsch im Dorf gelacht, was bei heiterer Stimmung sogar ganz spontane Jauchzer auslöste.

 

(5) Mittagessen mit Aussicht auf den Pilatus

Mittagessen mit Aussicht auf den Pilatus


Zum Mittag- und Abendessen sassen wir jeweils alle zusammen am Tisch auf dem gedeckten Sitzplatz vor der Küche. Von hier aus hatte man eine wunderbare Aussicht auf den Pilatus. Der Sitzplatz war ein Ort, wo jeder neue Kräfte tanken konnte. Und jeden Tag verwöhnte uns die Bäuerin dabei mit einem feinen Essen. Danach gab es natürlich einen «Kafi-Fertig» sowie fast immer eine leckere Süssigkeit, die meistens einer der Chriesner mitgebracht hatte. Ich genoss diese gemeinsamen Momente sehr, denn bei meinen Eltern gab es dies nur sehr selten. Es war ein Moment, wo man Neuigkeiten diskutierte, mit den Kindern spielte oder einfach gemütlich am Tisch sass. Manchmal kamen auch unverhofft Besuche, die dann ebenfalls am Tisch Platz nahmen und mitdiskutierten. Es war tatsächlich nie langweilig auf diesem Hof.

 

Manchmal fuhr ich vor dem Nachtessen mit den Kindern nach Greppen, um uns im kühlen Nass des Vierwaldstättersees zu erfrischen. Anfangs hatten die Kinder noch Respekt vor dem Wasser und tummelten sich hauptsächlich am Ufer, doch schon bald schwammen die beiden älteren Mädchen bis zum Floss unweit im See. Bald brauchten sie meine Anweisungen nicht mehr und fühlten sich sicher im Wasser. Dafür hatte ich nun oft Mühe wieder alle aus dem Wasser zu treiben, um wieder pünktlich zum Nachtessen am Tisch zu sein. An einem schönen Sonntag durfte ich mit der ganzen Jungmannschaft und ihrer Mutter zu einem Badeplausch nach Morschach fahren. Das war eine grosse Ausnahme, denn am Sonntag wurde normalerweise auch gearbeitet und an der Hauptstrasse ein Stand mit Kirschen aufgestellt. Da die Mädchen dort allein verkaufen mussten, schätzte es die Mutter, wenn ich ihnen, wenn nötig behilflich war und sie die Mädchen gleichzeitig in Sicherheit wusste. Einmal hielt ein roter Ferrari vor unserem Stand und eine elegante Dame stieg aus dem Wagen. Sie fand die Mädchen äusserst niedlich und meinte mit einem Lächeln in meine Richtung, ob ihnen der Grossvater beim Verkauf helfe. Es war das erste Mal, dass mich jemand für einen Grossvater hielt! Ich versuchte den Schock zu verbergen, lächelte bitter und beobachtete dabei die kichernden Mädchen beim Verkauf der Kirschen. Ihre Rechnungsmethode schien mir nämlich sehr kompliziert und wie das Rückgeld ausgerechnet wurde für mich noch viel verwirrender. Es schien mir als hätten die Jungen heute kein Kopfrechen mehr in der Schule gelernt, denn die Mädchen konnten die einfachsten Rechnungen nur schriftlich lösen. Nachdem die elegante Frau wieder weggefahren war, versuchte ich ihnen meine einfache Rechnungsmethode zu übermitteln, die ich als Primarschüler gelernt hatte, doch scheinbar kam ich damit zu spät. Die Lehrer hatten sie bereits mit den neusten Rechnungsmethoden überzeugt und meine Mühe, ihnen einfaches mündliches Rechnen beizubringen blieb erfolglos.

 

(6) Herrliche, schwarze Kirschen direkt vom Baum.

Herrliche, schwarze Kirschen direkt vom Baum.

 

Jedes Jahr organisierte die Bauernfamilie für alle «Chriesner» einen Ausflug, meistens verbunden mit einem Besuch einer Kapelle oder Kirche. Dies geschah vorwiegend am Schluss der Kirschenzeit. Man wollte dem «Herrgott» nicht nur für die gute Ernte, sondern vor allem auch für eine unfallfreie Zeit danken. Ich schätzte diese Dankesbezeugung, denn es war tatsächlich nicht selbstverständlich, dass wir bei dieser gefährlichen Arbeit vor Unheil verschont blieben. Einen unverhofften und kurzen Ausflug gab es aber auch manchmal unter der Woche, besonders nach einem strengen Arbeitstag: einmal nur ins Dorf zu einem Bier oder für einen riesigen Coupe mit verschiedenen Glace Kugeln nach Küsnacht. Ein spezieller Anlass war aber die Sennenchilbi mit einem farbenfrohen Umzug, an dem die Bauernfamilie mit einem eigenen Wagen teilnahm. Da man abends von der Bank hinter dem Haus die Lichter des Hammetschwand-Lifts sehen konnte, lud ich die Mutter und Kinder eines Tages zu einem Ausflug auf den Bürgenstock ein. Mit dem Schiff fuhren wir von Weggis zum Schiffsteg Kehrsitten-Bürgenstock und dann mit dem höchstem Freiluft-Aufzug Europas, zur Spitze des Bürgenstock auf 1114 Meter über Meer. Es war ein herrlicher Sommertag und ich freute mich zu sehen, wie Mutter und Kinder den Ausflug genossen. Da während der Kirschenzeit den Eltern nur wenig Zeit für die Kinder blieb, überliess mir die Mutter manchmal auch die Überwachung der Schulaufgaben. Ich schätzte diese zusätzliche Aufgabe, denn dadurch fühlte ich mich bald Teil der Familie.

 

Die Zeit auf dem Bauernhof machte mir aber auch bewusst, wieviel Arbeit im Sommer anfällt und dass hier eine 40-Stunden-Woche Illusion ist. Das gilt vor allem bei Betrieben mit Viehhaltung, denn Kühe wollen jeden Tag gefüttert, gemolken und gepflegt werden; auch am Sonntag. Neben Milchwirtschaft kultivierte die Bauernfamilie auch Gemüse im Freien und in einem Triebhaus. Während der Bauer bei Tagesanbruch schon im Stall mit den Kühen beschäftigt war, sah man seine Frau auf dem Felde reifes Gemüse ernten. Dieses wurde dann am Hof-Brunnen gewaschen und für den Zwischenhändler bereitgestellt. Dieser holte die Ware bereits um 07h00 Uhr ab, wobei ich hören konnte wie er immer wieder versuchte den Preis für die Kirschen zu drücken. Zum Beispiel unregelmässig grosse oder durch Regen nass gewordene Früchte waren Gründe, die bereitgestellte Ware abzulehnen oder einen Preisnachlass zu verlangen. Da der Preis der Kirschen ab Hof im Verhältnis zum hohen Verkaufspreis in den Geschäften lächerlich tief war, fand ich seine Feilscherei immer zynisch. Auch bei den «gestrupften» Kirschen war der Abnehmer sehr anspruchsvoll. Als wir an einem Abend eine grosse Lieferung Kirschen fürs Fass (Kirsch) in Küssnacht abliefern wollten, entdeckte der Alkoholproduzent einige Stiele und Blätter unter den Kirschen. Sofort wurde die Ware abgewiesen und wir mussten so schnell wie möglich zurück, um die Kirschen zu waschen. Zum Glück hatte der Bauer erst vor kurzem eine entsprechende Maschine gekauft. Die Kirschen rollten auf rotierenden Stahlrollen in einen Eimer und wurden dabei intensiv «geduscht». Ausser einigen widerspenstigen Stielen, die man von Hand entfernen musste, wurden dabei alle Unreinheiten schnell entfernt. Und so konnten wir die Ware noch am gleichen Abend definitiv abliefern. Der Alkoholproduzent erklärte dabei, dass gegenwärtig nur einwandfreie Ware geduldet würde und auch seine Preise einem grossen Druck ausgesetzt seien. Er meinte, dass der Import von Kirschen oder sogar Kirsch, zum Beispiel aus der Türkei, wohl eines Tages Tatsache werde. Der Preiskampf ist in der Landwirtschaft ebenfalls unerbittlich geworden.

 

(7) Am Verlesen von den vielen Kirschen

Am Verlesen von den vielen Kirschen

 

Jeden Morgen, nachdem der Zwischenhändler die vorbereiteten Kirschen abgeholt hatte, wurde anschliessend noch die Ware für den Hofladen bereitgestellt. Um 08h00 gab es Frühstück, und schon zu dieser Zeit drängten Kunden in den Hofladen. Nachher zogen die «Chriesner» zu ihren zugeteilten Kirschbäumen und begannen mit dem Pflücken der Kirschen. Diese wurden dann in grüne Kunststoff-Klappbehälter geleert und dann nach und nach vom Bauern zum Hof gebracht, wo bereits Helfer bereit waren, um diese zu verlesen, in Kartonschachteln zu füllen, diese zu etikettieren und dann auf einer Waage das Gewicht zu kontrollieren. Diese Schachteln kamen dann in grössere Kunststoff-Gitter und waren so bereit für den Grossisten, der die Lieferung am nächsten Morgen abholte. Diese Arbeit ging nach dem Nachtessen meistens weiter und endete oft erst um 23h00. Und am nächsten Morgen war die Familie schon um 05h00 wieder auf den Beinen. Ich staunte immer wieder über ihre Ausdauer und dass dabei ein Lächeln und die gute Laune nie fehlten. Auch Regen war kein Grund, um die Arbeit einzustellen: man zog wetterfeste Jacken an und sicherte so die Verfügbarkeit von Kirschen und Gemüse auf dem Markt. Ich selbst hielt solchen Anforderungen meistens nicht lange Stand. Aber da ich das Pensionsalter bereits überschritten hatte, durfte ich die Arbeit meinen Kräften anpassen und dann zum Beispiel beim Verlesen der Kirschen helfen. Allerdings wollte ich in Anwesenheit von anderen, noch rüstigen «Chriesnern», keine Spezialbehandlung. Besonders eine ältere Dame, die Hildi, verblüffte mich immer wieder mit ihrem Einsatz. Man entdeckte sie meistens zuoberst in einer Baumkrone, wo es scheinbar die schönsten Kirschen gab und wo man gleichzeitig die Aussicht geniessen konnte. Erst in den letzten Jahren getraute ich mich nach dem Mittagessen eine kleine Siesta einzuschalten, dies, um dann am Nachmittag wieder mit neuem Elan an die Arbeit zu gehen. Auch arbeitete ich nicht mehr bis spät in die Nacht, sondern nahm mir die Freiheit früher als die anderen ins Bett zu gehen. Und so vergingen viele Jahre bis mich dann gesundheitliche Gründe zwangen das «Chriesne» aufzugeben.

 



(8) 45 Jahre AHVM und seine Plakatsäule

45 Jahre AHVM und seine Plakatsäule

 

AHVM
Seit meinem Umzug von Grand-Saconnex nach Meyrin im Jahre 1986, wohnte ich unweit der Grenze von Frankreich, also fast im Ausland. Zum Glück war es bis anhin verboten so nahe an die Grenze zu bauen und so hatte ich «Natur- Pur» bis vor den Eingang des Wohnhauses. Wenn ich nicht auf Reisen war, genoss ich deshalb fast jeden Tag einen ausgedehnten Streifzug durch die Gegend sowie entlang der Grenze. Dabei bemerkte ich eines Tages unzählige Weinflaschen und Aludosen in einem Maisfeld liegen. Sofort dachte ich an den Schaden, den dieser Unrat an Agrarfahrzeugen anrichten könnte. Also sammelte ich den Abfall zusammen und füllte damit drei Einkaufstaschen. Entsetzt über das respektlose Benehmen gewisser Leute wollte ich damit die Obrigkeiten bewegen etwas gegen das «Littering» zu unternehmen. Bis anhin hatte ich nichts mit lokalen Behörden zu tun gehabt und so meldete ich mich in einem Gebäude, das ich für das Gemeindehaus hielt. Doch ich hatte mich geirrt, ich befand mich im Sekretariat des AHVM (Association des Habitants de la Ville de Meyrin), dem Einwohnerverein, wo mein Anliegen sofort Verständnis fand. Bald hatte die Präsidentin die Idee einmal im Jahr die Stadt zusammen mit Freiwilligen vom Unrat zu befreien. Damit wurde ich unverhofft Verantwortlicher der Aktion «Meyrin Propre» und Mitglied des AHVM. Die Direktion des Einkaufszentrums war bei den ersten Aktionen bereit uns zu unterstützen und offerierte den Teilnehmern frische Gipfel, während wir für heissen Kaffee und Tee sorgten. Mit über 300 Teilnehmern war schon der Start dieser Aktion ein voller Erfolg. Das motivierte die Gemeindeverwaltung bald die Aktion «Meyrin Propre» zu unterstützen. Während sich die AHVM weiterhin der administrativen Organisation annahm, lieferte die Gemeinde nun nicht nur die logistische Unterstützung, um die gesammelten Abfälle mit einem Lastwagen einzusammeln, sondern offerierte nach der Arbeit sogar ein feines Grillbüffet. Zudem organisierte sie immer eine musikalische Überraschung und einen Wettbewerb. Am Schluss erhielt jeder Teilnehmer als Andenken eine Pflanze, die nachher im Garten oder auf einem Balkon blühte und gepflegt wurde. «Meyrin Propre» wurde schliesslich eine Aktion, die aus Freiwilligen allen Alters und vielen Nationalitäten bestand und noch nach mehr als 10 Jahren geschätzt wurde.



(9) Aktion Meyrin Propre

Aktion Meyrin Propre

 

Bald wurde ich in das Komitee des Vereins aufgenommen und später sogar Co-Präsident. Ich hatte mich, ohne viel zu überlegen in ein neues Abenteuer eingelassen und wurde als Freiwilliger plötzlich mit unerwarteten Aufgaben gefordert. Zum Beispiel entschieden wir uns nach dem Tsunami im Fernen Osten den Opfern in Sri Lanka zu helfen. Wir motivierten die multikulturelle Bevölkerung von Meyrin ihre traditionellen Rezepte mit uns zu teilen um damit ein Kochbuch herauszugegeben. Es entstand ein hübsches Buch mit Rezepten aus der ganzen Welt. Der Erlös wurde erfolgreich in einem Projekt der Organisation «Children Action» eingesetzt. Nachdem eine Tramlinie nach Meyrin geplant war, setzte sich AHVM für eine alternative Linienführung ein und versuchte mit einer Unterschriftensammlung das Quartier «Champs-Fréchets» besser zu bedienen und gleichzeitig die neue Siedlung «Vergers» zu erschliessen. Obwohl genügend Unterschriften vorhanden waren, wurde der Variante des Kantons der Vorzug gegeben. Dieses Projekt war für mich sehr anstrengend gewesen und endete schliesslich enttäuschend. Aber es bot Gelegenheit interessanten Streitgesprächen beizuwohnen, neue Leute kennen zu lernen und sich mit teilweisen abstrusen Denkweisen von Politikern auseinanderzusetzen. Diese Erkenntnisse motivierten mich meine Erfahrungen zu notieren und sie dann in der Lokalzeitung «Meyrin Ensemble» zu veröffentlichen, dies hauptsächlich in der Spalte «Naïf». Diese teilweise satirischen Texte waren nicht immer schmeichelhaft und bewirkten oft Missbehagen bei der Gemeindeverwaltung. Dagegen wurde der «Naïf» von der Bevölkerung geschätzt und war meistens auch der Grund die Zeitung überhaupt zu lesen. Doch bald wurden unerwünschte Texte von der Redaktion ignoriert und später die Spalte «Naïf» sogar nicht mehr weitergeführt. Schon am Anfang dieser Situation verlor ich meine Begeisterung zu schreiben und produzierte keine Beiträge mehr. Dafür nahm ich mich der Illustration des AHVM Kalenders an, wobei zu meinen eigenen Fotos je nach dem Jahres-Thema entsprechend neue Fotos nötig waren, was für mich erneut eine sehr kreative Beschäftigung war. Gleichzeitig setzte ich mich für die Kreation einer Ansichtskarte vom Meyrin ein und benützte dazu erneut Fotos, die von meinen Streifzügen stammten. Wegen gesundheitlichen Problemen musste ich dann aber meine Freiwilligen-Tätigkeit reduzieren und schliesslich aufgeben.



(10) Einweihung der Tramlinie 14, 12. Dezember 2009

Einweihung der Tramlinie 14

 

Reisen
Nach der Entfernung des Hypophysenadenoms im Jahre 1996, einem gutartigen Tumor unter dem Hirn, wurde mir bewusst wie viel Glück ich hatte, um weiter leben zu dürfen und dass ich mit dem nun erhaltenen «Bonus» vorsichtig umgehen musste. Danach folgte die Frühpensionierung, welche überhaupt nicht mein Wunsch gewesen war, aber mir nun erlaubte das Leben gemütlicher zu gestalten. Während meinen vielen Reisen war ich wohl in vielen Ländern gewesen, habe aber meistens nur den Flugplatz, viele Büros und Fabriken gesehen. Nun wollte ich in Ruhe gewisse Ort nochmals besuchen und diesmal aber in Ruhe geniessen. Reisen mit der Bahn schien mir dafür die beste Art, denn sie erlaubt Länder in gemächlichem Tempo zu entdecken. Als erste grosse Bahnfahrt ging es 1998 mit dem echten «Orient Express» von Moskau durch Sibirien und die Mongolei nach Peking, eine etwas lange Bahnfahrt hinter dem «Eisernen Vorhang», aber reich an Eindrücken und eine grossartige Erfahrung. Schon als ich noch in Jakarta arbeitete träumte ich mit dem «Palace on Wheels» den Rajasthan im Nordwesten Indiens zu entdecken. Und diesen Wünsch erfüllte ich mir im Jahre 2005. Es war eine Reise, auf der wir die Gegend sehr authentisch und auf eindrücklichste Weise erleben durften. Etwas später, im Jahre 2006, ging es mit dem deutschen Sonderzug «1001 Nacht» von Damaskus via Hama und Palmyra nach Istanbul. Eine Reise mit vor allem emotionalen Erlebnissen, zum Beispiel das romantische Frühstück neben dem Speisewagen in der Wüste, für das die Kellner die ganze Einrichtung des Speisewagens neben dem Zug installiert hatten. Dann aber vor allem der fabelhafte Fussmarsch frühmorgens durch die Wüste zu den Ruinen von Palmyra. Leider wütete schon ein paar Wochen später genau dort der Bürgerkrieg mit der sinnlosen Verwüstung von Teilen des UNESCO Welterbes, der Oasenstadt Palmyra. Wegen gesundheitlichen Problemen zog ich dann Orte mit Thermalbädern vor, zum Beispiel Leukerbad, das Tote Meer in Jordanien, Lanzarote, Tunesien, Izmir und Cesme in der Türkei und dann später Mallorca. Eine Ausnahme war dann eine Reise durch Usbekistan, welche etwas anstrengend, aber sehr interessant war.

 

Gleichzeitig entdeckte ich Kreuzfahrten. Zuerst mit der Atlantiküberquerung auf der QM2, dann mit «Costa» eine Rundfahrt mit Aufenthalten in Spanien und Marokko, dann eine Fahrt auf dem Nil bis Luxor, später mit «Costa» in Südeuropa mit einem Aufenthalt im Heiligem Land und später eine Silvesterkreuzfahrt in den Kanarischen Inseln mit der Queen Elisabeth. Dann folgte eine Kreuzfahrt in den Norden mit der Queen Victoria mit Besuchen in Schottland, Island, Färöer-Inseln und Norwegen. Diese Kreuzfahrt war hauptsächlich von Regen geprägt, aber zum Glück gab es auf dem Schiff jeden Tag interessante kulturelle Vorträge, so zum Beispiel über den legendären Troll. Dann ging es mit MSC von Südafrika via Seychellen, Ägypten und Napoli zurück in die Schweiz. Dies war eine wunderbare, aber sehr spezielle Kreuzfahrt. Es befanden sich nämlich fast ausschliesslich ältere Passagiere auf dem Schiff und so waren die Bars nach dem Abendessen menschenleer. Stattdessen traf man dort die Schiffscrew, was immer interessante Gespräche erlaubte. Aber ich liess mich von dieser speziellen Erfahrung nicht entmutigen und besuchte mit der Queen Elisabeth im Jahre 2009 Abu Dhabi, Bahrain, Dubai, Fujaïrah und Oman, Orte, die mit ihrer opulenten Bautätigkeit sehr eindrücklich sind. Dann folgte eine dreiwöchige Kreuzfahrt mit der Queen Victoria über Weihnachten/Neujahr von Los Angeles nach Hawaii und zurück nach LA. Diese Reise verbrachte man hauptsächlich auf hoher See, was erlaubte den Komfort eines Cunard Schiffes in vollen Zügen und ohne Langeweile zu geniessen. Zuerst gingen wir auf der Insel Hawaii an Land und besuchten Hilo, dann folgte Kauai auf der Insel Nawiliwili, und Maui auf Lahaina. In Maui trafen wir uns mit einer Bekannten aus der Zeit in Jakarta und machten einen Ausflug auf den Vulkan Haleakalã. In Honolulu waren wir von unseren Tischnachbarn und ihren Bekannten zu einem Nachtessen in Oahu eingeladen. Dann ging die Fahrt über Ensenada, Mexico, zurück nach Los Angeles and die Schweiz.

 

Im Jahre 2013 erfüllte sich ein weiterer Wunsch: Patagonien! Die Reise brachte uns erst mit der IBERIA nach Santiago de Chile und dann weiter mit dem Bus zum Hafen von Valparaiso, von wo die Kreuzfahrt startete. Mit dem Schiff «Veendam» der Holland American Line ging es erst nach Puerto Montt, wo ein Ausflug uns zu den Petrohué Wasserfällen brachte und von wo man eine wunderbare Aussicht auf die Vulkane Osorno und Calbuco hatte. Am anderen Tag ging es weiter nach Puerto Chacabuco, bevor wir dann durch den abgeschiedenen Fjord von Chile navigierten. Auf dieser Stecke brachte uns das Schiff nahe an den Mamalia Gletscher, was ein eindrückliches Erlebnis war. Ab Punta Arenas ging es wieder zurück durch die Magellanstrasse nach Ushuaia. Hier machten wir einen Ausflug in den Nationalpark «Feuerland», nach Fuerte Bulnes sowie «Fin del mundo» (am Ende der Welt) und dann mit dem Schiff zum Cap Horn, dort wo der Atlantik und der Pazifik aufeinandertreffen. Mit einer sehr bewegten See war die Fahrt zum Cap Horn äusserst abenteuerlich und bestätigte die Aussage, dass es in dieser wilden Gegend sehr schwierig zum Navigieren sei. Nachher nahm das Schiff wieder Kurs Richtung Norden mit einem Halt in Puerto Madryn, bereits in Argentinien. Dort besuchten wir eine riesige Kolonie Pinguine. Dann ging die Fahrt weiter nach Montevideo in Uruguay, wo erneut eine Stadtrundfahrt auf dem Programm war. Einen Tag später kamen wir in Buenos Aires an, wo unsere 19-tägige Kreuzfahrt endete. Sie war ein spezielles Erlebnis gewesen, doch bei dem meist trüben Wetter oft eher trostlos, besonders während der langen Fahrt durch den Fjord. Daher suchten wir in Buenos Aires noch einen fröhlichen Abschluss mit Tango, einer Schifffahrt im Paranà Delta, sowie einem Wiedersehen mit einem Schulkameraden.

 

 

Schlussgedanken
Auf fast all diesen Reisen begleitete mich Jérôme, ein Spanier aus Andalusien. Ich hatte ihn schon kurz nach meiner Ankunft in Genf kennengelernt. Mit seiner fröhlichen, unbekümmerten Natur half er mir meine etwas schwerfällige Deutschschweizer Art zu entkrampfen und mich schneller der «welschen Mentalität» anzupassen. Zudem war er bereit sich während meinen ständigen Reisen um meine Wohnung und vor allem dem Briefkasten zu kümmern. Während all den Jahren wurden wir gute Freunde und so ist er inzwischen neben meinen vielen Bekannten in der ganzen Welt, mein bester Freund geworden. Er war auch immer da, wenn ich mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte und versuchte immer mir neuen Mut zu machen. Auf den vielen Reisen teilten wir die gleichen Interessen und wussten es zu schätzen, all die Erlebnisse und Erfahrungen überhaupt machen zu dürfen. Zudem wurde ich inzwischen auch Teil seiner Familie in Spanien. Ja ich schätze seine bedingungslose Freundschaft.

 

Kurz vor ihrem Tod entschuldigte sich meine Mutter, weil man mir nicht erlaubt hatte Architektur zu studieren und ich eine Bauspengler-Lehre machen musste. Mit Tränen in den Augen wollte sie zudem wissen, ob dies mein Leben negativ geprägt habe. Diese Frage überraschte mich sehr, denn während meinem ganzen Leben hatten meine Eltern nie mit mir darüber gesprochen; es war einfach so gewesen. Scheinbar aber hatte sich meine Mutter die ganze Zeit damit beschäftigt und musste diese Last nun loswerden. Plötzlich tat sie mir leid und so versuchte ich ihr zu versichern, dass ich während meinem ganzen Leben auch wirklich nie wegen ihrer Entscheidung gelitten habe. Im Gegenteil, gerade weil ich ein Handwerk erlernen durfte, öffneten sich mir Türen wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich sagte ihr auch, dass ich vielleicht gar kein guter Architekt geworden wäre und demzufolge wohl kaum die Möglichkeit gehabt hätte in verschiedenen Ländern zu leben und zu arbeiten. Während meine Worte sie sichtlich beruhigten, gab mir dieses Gespräch den Anstoss über mein eigenes Leben nachzudenken. Denn war es nicht so, dass ich nach meiner Volljährigkeit mein Leben selbst in die Hände genommen hatte und ich mir dabei kaum Gedanken machte, dass ich wie im Gegenzug meinen Eltern ihre Erwartungen an mich zerstörte? Besonders für meinen Vater, der mich so gerne als Nachfolger im Betrieb gesehen hätte, war diese Situation sicher nicht einfach gewesen. Also wäre es nun nicht auch meine Pflicht gewesen mich ebenfalls bei meiner Mutter zu entschuldigen? Leider kam mir dies erst nach reifer Überlegung in den Sinn und dann war es zu spät; sie starb nur wenige Tage nach diesem, für mich ergreifenden Dialog.

 

Aber wieso hatte ich mich überhaupt so abtrünnig gegenüber meinen Eltern verhalten? Ich weiss es nicht, ich handelte wohl einfach intuitiv und aus einem tiefen Drang die Welt kennen zu lernen. Schon als Kind träumte ich, besonders bei südamerikanischer Musik, von fernen Welten. Dann war es auch so, dass mein Vater Mühe hatte den Betrieb zu modernisieren. Ich hatte es einige Male versucht mit ihm in seinem Betrieb zu arbeiten, aber eine erhoffte Gemeinsamkeit dauerte oft nur Wochen, bis ich dann wieder ausriss, um eine neue Stelle zu finden, Dabei musste ich nicht einmal grosse Anstrengungen machen, denn damals war eine Matura noch keine Bedingung für eine Anstellung. Und so boten sich immer wieder Möglichkeiten, um neue Erfahrungen zu sammeln. Es war mir wichtig immer eine gute Stelle zu haben und dafür war ich bereit auch mein Privatleben zu opfern. Ich war überzeugt, dass während mich Leute enttäuschten, meine Arbeit mich nie im Stich lassen würden Auch schätze ich es sehr einen Beruf zu haben, der mit Reisen verbunden war und es mir gleichzeitig erlaubte mein Wissen zu erweitern. Für meine Eltern war es sicher nicht immer einfach gewesen, ihren Sohn irgendwo in der Welt Gefahren ausgesetzt zu wissen. Während meine Mutter sich bestimmt Sorgen gemacht hatte, schien sie meine Abenteuerlust zu verstehen. Auch mein Vater schien, trotz den Enttäuschungen, die er mit mir erlebte, schlussendlich ein wenig stolz auf mich zu sein und mir meine extreme Freiheitsliebe verziehen zu haben. Vielleicht war er sogar beruhigt zu sehen, dass ich es beruflich auch ohne Matura geschafft hatte. Allerdings muss ich gestehen, dass ich in meinem Leben vor allem sehr, sehr viel Glück hatte und mich mein Schutzengel bis anhin nie im Stich gelassen hatte.

 

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