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Vollendete Autobiographien: 146




Ich habe diese Zeilen geschrieben um jungen Leuten zu beweisen, dass man auch ohne Matura im Leben etwas erreichen kann und um sie zu ermuntern mit etwas Mut und Abenteuerlust das Gleiche zu tun.

(1) Das Familenwappen
Meine Eltern waren kein ideales und glückliches Ehepaar. Was sie zusammenhielt war vor allem ihre Mühe die Familie ernähren zu können, besonders während den Kriegsjahren. Ihr Leben war geprägt von harter Arbeit, wobei Ferien kaum zu ihrem Wortschatz gehörten.

(1) Mein Vater
Mein Vater wurde am 5. Dezember 1905 in Basel-Stadt als Sohn des Johann Heinrich und der Mathilde Faust-Grimm geboren. Er war die fünfte Generation einer Basler Handwerkerfamilie die seit 1780 schriftlich belegt ist. Bis zur zweiten Primarklasse besuchte er zusammen mit seiner Schwester Klara die Schule in Basel. Im November 1913 zog die vierköpfige Familie nach Zug, wo sein Vater, also mein Grossvater (geb. 6. Mai 1881), eine Stelle als Meister bei der Verzinkerei Zug gefunden hatte.
(2) Meine Grosseltern Johann Heinrich und Mathilde Faust-Grimm mit ihren Kindern Hans und Klara
In Zug besuchte mein Vater weiter die Primarschule und später die Sekundarschule. Da er sehr viel künstlerisches Talent hatte, trat er nach der Konfirmation eine Lehre bei einem Bildhauer an. Mein Vater erzählte viel aus dieser Zeit, vor allem von einem Bächlein hinter dem Haus und den Enten die er heiss liebte. Ich glaube er verbrachte, zusammen mit seiner Schwester, eine sehr glückliche Kindheit und Jugend in Zug.
(3) Mein Grossvater, Vater und zwei Arbeiter mit Ventilationsrohren für eine Möbelfabrik vor unserem Geschäft an der Marktstrasse
Im Frühling 1921 kaufte sein Vater, das Haus „zum „Eckstein“ in Lachen, wo er ein Spenglerei gründete. Anfangs fertigte er aber vor allem Lüftungsanlagen für die florierende Möbelindustrie. Dank seinem Humor und seinem gemütlichen Wesen war er im Dorf bald integriert und beruflich geschätzt. Für meinen Vater waren die neuen Umstände allerdings weniger beglückend, denn sie zwangen ihn schweren Herzens seine Ausbildung als Bildhauer aufzugeben und bei seinem Vater als Lehrling ins neue Geschäft einzutreten. Damit waren seine Zukunfts-Träume plötzlich entschwunden und er wurde zu einem Beruf gezwungen den er selbst wohl nie freiwillig gewählt hätte. Ich glaube er litt deswegen sein ganzes Leben lang. Aber zur damaligen Zeit hatte er als einziger Sohn eines selbständigen Handwerkers ja gar keine andere Wahl. Um seine beruflichen Kenntnisse nach dem Abschluss seiner Lehre zu erweitern, besuchte er dann im Jahre 1925 die Fachschule für Spengler und Sanitär-Installateure in Bern. Im Jahre 1932 verschied sein Vater mit nur 51 Jahren nach einer Blinddarmoperation und nachfolgender Lungenentzündung. So musste mein Vater schon in jungen Jahren das Geschäft übernehmen. Dies war für ihn eine riesige Herausforderung, denn schon damals war die Konkurrenz unerbittlich und jeder Handwerker kämpfte ums Überleben seines Betriebes.
(4) Schriftzug aus Kupfer über dem Eingang des Geschäftes von Frau Kellenberger
(5) Schriftzug aus Kupfer über den Schaufenstern des Konsums im Oberdorf
Mit seiner künstlerischen Begabung, begann er deshalb Schriftzüge aus Kupfer für verschiedene Geschäfte anzufertigen. Nach dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges wurde es noch schwieriger, denn nun musste er zusätzlich noch als Wachmeister der lokalen Luftschutzkompanie amtieren, was für ihn natürlich Ausfall von Einkommen bedeutete. Überdies war schon zu dieser Zeit das Zusammenleben mit seiner Mutter und Schwester im gleichen Haushalt alles andere als harmonisch.
(6) Hochzeitsfoto meiner Eltern
Nach 33 Jahren Junggesellenleben fand mein Vater durch ein Zeitungsinserat schliesslich meine Mutter (die vorher niemals einen Basler heiraten wollte) und konnte so endlich seine eigene Familie gründen. Sie heirateten im Jahre 1939, also noch während den Kriegsjahren. Doch die Spannungen zwischen ihm und seiner Mutter sowie seiner Schwester waren damit nicht aus der Welt geschafft. Im Gegenteil, das Zusammenleben unter demselben Dach wurde für die Neuvermählten zu einer aufreibenden Herausforderung. Zudem waren ja Beide für die Einheimischen nur „Zuzügler“ im Dorf und zudem noch Protestanten. Sich in einem streng katholischen Ort zu beweisen war damals nicht einfach. Vielleicht aus diesem Grund äusserte er sich auch politisch nie. Aber sie verstanden es sich zu behaupten und mit sorgfältiger Arbeit und gewissenhaftem Geschäftsgebaren das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Mein Vater litt viele Jahre an starkem Ekzem mit Bläschenbildung an beiden Händen. Da die Bläschen juckten und bei der Arbeit extrem lästig waren, versuchte er alles Mögliche um das Ekzem zu kurieren; aber nichts schien zu helfen. Er ging sogar ein paar Mal zu einem Heiler ins Appenzellerland, der ihm eine schwarze Salbe mitgab. Die Hände mussten nach der Anwendung verbunden bleiben, was die tägliche Arbeit noch mehr einschränkte. Aber auch damit blieb eine heilende Wirkung aus. Man konnte auch nicht feststellen ob es sich um eine Berufskrankheit handelte, oder ob der Grund eher die grosse berufliche Belastung sowie die ständige Spannung zu Hause war. Als er älter wurde verschwand das Ekzem. Meine Grossmutter, also seine Mutter, starb am 24. Juni 1957 und seine Schwester, Tante Clara, am 09. Juli 1983.
In der begrenzten Freizeit suchte er Ausgleich mit Zeichnen oder mit der Kreation von Kannen, Vasen und anderen Gegenständen aus Kupfer. Er war Mitglied des Spenglermeisterverbandes des linken Zürichseeufers. Über viele Jahre war er ein aktives Mitglied der freiwilligen Feuerwehr. Aber liebe und treue Freunde fand er hauptsächlich im Männerchor, Freunde die ihn bis in den Tod begleiteten. Die Proben des Männerchors besuchte er immer pünktlich und fehlte selten. Die Höhepunkte waren aber die Konzerte im Dorf und die Auftritte an Sängerfesten.
(7) Mein Vater als Clown.
Wie sein Vater hatte er gerne Spass und so erschien er einmal als Clown für die Ansagen am „Sängerbund“ Abend im Hotel Bären. Nebst dem Männerchor sang er manchmal auch im Evangelisch-Reformierten Kirchenchor. Er war auch einmal Obernarr bei der der Narrhalla, der Fasnachtgesellschaft in Lachen, für die er sich ausserordentlich einsetzte. Er wurde ja schliesslich in Basel geboren und hatte somit das Fasnachts-Blut mit in die Wiege mitbekommen.
(8) Theateraufführung im Hotel Bären. Vater am Tisch und ich als Statist auf dem Sofa.
Manchmal übernahm er auch eine Rolle in Theaterstücken die an Vereinsabenden („Kränzli“) vorgeführt wurden, einmal sogar mit mir als Statist. Er liebte auch den See und hatte sich sogar ein Paddelboot gänzlich aus Blech angefertigt.
(9) Mein Vater mit seinem selbst gefertigten Paddelboot im Hafen von Lachen.
Nachdem er das Geschäft aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben musste, begann er wieder zu ziselieren. Dies ist eine Form der Metallbearbeitung, bei der das Metall (meistens Kupfer) über einer weichen Unterlage (Ziselierkitt) mit einem Ziselierhammer „getrieben“ wird um reliefplastische Formen oder Verzierungen in der Oberfläche zu erreichen.Aber er nahm sich auch Zeit um Ausfüge zu machen und sich einem neuen Hobby, der Bauernmalerei, zu widmen. Am 9. September 1978 nahm ihm aber dann der Tod seine Arbeiten für immer aus seinen Händen und so verliess er uns nach einem Herzinfarkt und einer nachfolgenden Lungenentzündung im Alter von 73 Jahren.
(10) Das letzte Hobby meines Vaters : die Bauernmalerei.

(1) Meine Mutter hiess vor der Heirat Sophie Margaritha Vontobel
Meine Mutter wurde am 5. Juni 1909 auf dem Flumser Berg als Tochter von Albert Vontobel und Albertina Jaberg geboren. Ihr Vater, sowie seine Brüder, waren sehr unternehmerisch und reisefreudig. Schon als junger Mann holte er sich Fachwissen im Bereich Elektrizität in England. Mit diesem Wissen wurde er im Jahre 1897 in die Technische Kommission des Projektes «Erstellung einer elektrischen Beleuchtungszentrale» in Rüti, ZH aufgenommen. Später erstellte er ein eigenes, kleines Elektrizitätswerk auf dem Flumserberg und führte eine Sägerei.
(2) Die Eltern meiner Mutter, Albertina Jaberg und Albert Vontobel
Ihre Mutter kam ursprünglich aus dem Kanton Bern und ihr Vater von Wald im Kanton Zürich. Somit war Wald auch der Heimatort meiner Mutter und dies erwähnte sie immer wieder, denn aus unerklärlichen Gründen wollte sie einfach keine St. Gallerin sein. Die Eltern meiner Mutter wohnten auf dem Flumserberg. Leider verstarb ihre Mutter sehr jung und hinterliess ihrem Mann vier kleine Mädchen: die Albertina (die sehr jung an Krebs starb), meine Mutter Sophie Margaritha (1909), Bertha (1912) und Hanna (1916).
(3) v.l.n.r. meine Mutter, Bertha und Albertina
Überfordert mit der Situation suchte sich ihr Vater eine Haushälterin, die er dann schliesslich, wie damals üblich, heiratete. So wuchsen die vier Mädchen mit einer Stiefmutter auf. Sie nannten sie aber nie Mutter, sondern einfach nur „Adele“. Leider verstanden sich die vier Mädchen überhaupt nicht mit ihrer neuen Mutter und so hatten sie eine sehr schwierige, ja schlimme Jugend. Sie wurden geschlagen, ohne Essen eingesperrt und mussten immer viel arbeiten. Das Essen war spärlich und so schickte sie ihre Stiefmutter oft in den Wald um Beeren und Pilze zu suchen. Aber diese Tätigkeit war für sie keine Strafe, denn es erlaubte den Mädchen für einen Moment der Unbill ihrer Stiefmutter zu entkommen. Da es am Flumserberg keine Schule gab, mussten die Kinder jeden Tag und bei jedem Wetter zu Fuss ins Dorf hinunter und abends wieder zurück. Als meine Mutter erwachsen wurde suchte sie Arbeit und fand eine Stelle bei einer jüdischen Familie in Zürich. Diese erste Stelle schien sie sehr geprägt zu haben, denn sie erwähnte diese Zeit später immer wieder. Sie sagte, dass sie bei diesen reichen Leuten vor allem sparen gelernt habe und dass das Sprichwort «Bei den Reichen lernt man sparen!» wohl seine Richtigkeit habe. Da sie für die damalige Zeit schon ein sehr avantgardistisches Gedankengut hatte, suchte sie bald Veränderung und fand erst Arbeit im Grand Hotel auf dem Bürgenstock, dann bei den gleichen Besitzern im Hotel Orselina im Tessin, wo sie sehr glücklich war, und schliesslich in Genf.
(4) v.l.n.r. Meine Mutter, ihr Vater und Hanna ihre Schwester auf dem Flumserberg
Nach dem Tod von „Adele“ wurde die Sägerei und das kleine Elektrizitätswerk für ihren Vater immer mehr zur Belastung. Der produzierte Strom fand wohl Absatz bei den Bauern am Berg, aber meistens hatten diese kein Geld und bezahlten mit Eiern oder anderen Naturalien, oder eben gar nicht. Und so rief sie Ihr geliebter Vater immer wieder zurück nach Hause und bat sie um Mithilfe im Betrieb und im Haushalt. Er konnte sich auch nicht mehr um Hanna, seiner jüngsten Tochter, kümmern und so wurde sie vom Grossvater und seiner Frau aufgenommen. Der Grossvater hatte eine Web-Schiffchen Fabrik in Flums und so konnte sie die ganze Jugend unten im Dorf verbringen. Da meine Mutter auf die Dauer ihrem Vater nicht zur Seite stehen konnte, suchte sich ihr Vater wieder eine Haushalthilfe die er dann auch gleich heiratete. Sie hiess Theresia Margrit Minning und gebar ihm nochmals zwei Töchter, die Theresia Margrit (1941) und die Ruth Ana (1943). Leider hatte er noch vor der Geburt des zweiten Mädchens, der Ruth, einen tödlichen Motorradunfall.
(5) Meine Mutter bereit für eine Ausfahrt mir ihrem Vater
Meine Mutter hatte grosse Mühe den Tod ihres geliebten Vaters und seine dritte Heirat zu akzeptieren. Als dann noch Erbprobleme die Situation vergifteten, brach meine Mutter den Kontakt mit der letzten Frau ihres Vaters und deren Mädchen ab. Nach der Heirat mit meinem Vater zog sie nach Lachen und machte da nicht nur den Haushalt, sondern teilte mit ihm den Betrieb wo sie konnte. Sie übernahm die Büroarbeiten und führte zudem ein Laden mit Haushaltartikeln.
Da meine Mutter in den Bergen aufgewachsen war liebte sie die Natur, wanderte gerne, ging aber auch gerne ins Theater und war schon als Ledige an der Welt-Politik interessiert. Sie liebte und schätzte ihr Land und so kaufte sie beim Ausbruch des 2. Weltkrieges im Jahre 1939 mit ihrem hart ersparten Geld eine Wehranleihe von CHF 100.--, was damals sehr viel Geld war. Der Sinn der Anleihe war die Landesverteidigung zu stärken. Dafür bekam sie vom Bundesrat eine Dankesurkunde für ihr „Opfer im Namen des Vaterlandes“.Sie schätzte die Bücher von Gottfried Keller und teilte seine differenzierte Weltanschauung. Dabei störte sie besonders die Geldgier gewisser Leute und die grosse Armut und Ungerechtigkeit in der Welt. Auch erwähnte sie oft die gedankenlose Abholzung der Wälder und meinte der Mensch werde dafür einmal büssen müssen.
(6) Die Dankesurkunde für die „Opfer im Namen des Vaterlandes“.
Sie legte auch immer sehr viel Wert auf Arbeiten die von Hand gemacht wurden und so entschied sie sich kurz nach der Heirat die Teppiche für das Schlafzimmer mit grober Wolle selbst zu knüpfen. So entstanden wunderbare „Smyrna“-Teppiche denen sie das ganze Leben lang treu blieb. Auch Stricken und Nähen waren ihre Stärke. Es war ihr Wille und Stolz, wenn immer möglich die Wollsachen und Kleider für uns Kinder, trotz viel Arbeit im Betrieb, selbst zu fertigen. Sie machte auch Lederarbeiten und hatte sich für gewisse Anlässe sogar ihre ganz persönlichen Handtaschen kreiert. Während ihre Schwestern und auch die Schwägerin sich Sekten zuwendeten, interessierte sie sich für Alternativen zur modernen Medizin und für eine natürliche Lebensweise. Sie schloss sich dem damaligen Verein "Volksgesundheit Schweiz" an, über den man sich damals lustig machte und die Mitglieder wegen den Atemübungen „Schnüüfeler“ nannte. Heute heisst der Verein „Vitaswiss“. Überzeugt von den natürlichen Heilmethoden holte sie sich Information über mögliche homöopathische Anwendungen gegen Krankheiten wie Kopfschmerzen, Migräne, Allergien, Rheuma, usw. Dazu hatte sie sich eine kleine Sammlung von Publikationen und Bücher angelegt. Unter diesen befanden sich auch solche über Krankenpflege, gesundes Essen, Fitness, Blutwellübungen und vieles mehr. Zudem versuchte sie mit der „Methode Coué“, des Vereins für positive Lebensgestaltung, ihr hartes Leben mit Autosuggestion zu meistern. Gleichzeitig war sie aktiv im Samariterverein, im Vogelschutzverein und später im Altersturnen. Was ihr weniger lag waren die Massenveranstaltungen. Nach dem Umzug in das neue Haus an der Speerstrasse machte ihr vor allem der Garten grosse Freude. Auch ihr Leben war, wie das meines Vaters, vor allem mit Arbeit ausgefüllt. Mit fast 90 Jahren starb sie am 22. Januar 1999 nach einer Magenoperation und zwei Oberschenkelbrüchen im Altersheim in Lachen.
(7) Am 80. Geburtstag meiner Mutter

(1) Der Verfasser der Biographie im Alter von ungefähr einem Jahr.
Ich wurde im Sommer des Jahres 1941 an einem Sonntag um 13.10 Uhr im Bezirkspital Lachen im Sternkreiszeichen des „Löwen“ geboren. Damals war mein Gewicht nur 3.480 kg! Man sagte zu jener Zeit, dass Sonntagskinder im Leben viel mehr Glück hätten als andere Kinder. Meine Mutter freute sich darum sehr und war auch stolz einen Knaben geboren zu haben. Sie hat das später immer wieder erwähnt. Was mein Vater dazu meinte weiss ich nicht. Dafür wollte er unbedingt, dass ich Hans heisse. Schliesslich waren mein Vater, mein Grossvater und andere Vorfahren schon auf diesen Namen Hans getauft worden. Diese Tradition konnte man doch nicht einfach fallen lassen! Meine Mutter hätte mich lieber auf den Namen Werner getauft, aber mein Vater wollte nichts davon wissen. Nicht einmal als zweiter Vorname wollte er einwilligen und so wurde ich am 28. September 1941 von Pfarrer A. Meier in der Evangelischen Kirche in Siebnen auf den Namen Hans getauft. Meine Taufpatin war meine Tante Bertha Vontobel und der Taufpate Hans Abegg.
Scheinbar war ich ein problemloses Kind, weinte nicht viel und konnte mich mit mir selbst beschäftigen. Das war für meine Eltern eine grosse Entlastung, denn wir hatten eine Spenglerei, machten auch sanitäre Anlagen und meine Mutter hatte ja den Laden mit Haushaltartikeln. Somit hatten meine Eltern nicht viel Zeit für mich. Aber vielleicht war es gerade diese Situation die mich daran gewöhnte allein zu sein und selbständig zu werden. An einigen Nachmittagen durfte ich zu meiner Tante Adelheid und Onkel Heiri Diethelm. Eigentlich waren sie weder meine echte Tante oder Onkel, sondern einfach gute Bekannte meiner Eltern.
(2) Tante Adelheid Diethelm-Roos, die wie eine echte Tante immer für mich da war.
(3) Onkel Heiri, der Kunstmaler, der für mich immer ein wahrer Onkel war.
Aber Tante Adelheid war die beste Freundin meiner Mutter, und da sie selbst keine eigenen Kinder hatten wurde ich ganz einfach Teil dieser Familie. Da war auch noch die Mutter von Tante Adelheid, die Frau Roos. Sie kochte jeden Abend auf dem Feuerherd in einer grossen Pfanne Bohnen-Kaffee. Zuvor nahm sie die hölzerne Kaffeemühle vom Gestell, nahm sie auf ihren Schoss und füllte sie mit der nötige Menge Kaffeebohnen. Dann schüttete sie das Pulver mit ein bisschen Zichorie in das kochende Wasser und rührte einige Male um. Damit entwickelte sich ein unvergesslicher Kaffee-Duft der schliesslich das ganze Haus erfüllte. Dies war gleichzeitig der Hinweis an alle im Haus, dass das Nachtessen bald bereit sein wird.
Ja, ich fühlte mich sehr wohl und behütet bei meinen drei „Babysittern“. Meistens war ich nur am Nachmittag bei ihnen und machte dann erst einmal ein Schläfchen. Dann schaute ich „Frau Roos“ bei ihren Handarbeiten zu oder ging ins Atelier von Onkel Heiri Diethelm. Er war Kunstmaler und machte zu jener Zeit sehr viele Portraits und Bilder mit Chrysanthemen in allen Farben. Während diesen Nachmittagen malte er sogar ein Portrait von mir, auf das ich immer sehr stolz war.
(4) Mein Porträt, Autor Heiri Diethelm, Kunstmaler
Er hatte meistens ein spitzbübisches Lächeln in Gesicht und war immer zu einem Witz bereit. Manchmal gestaltete er mit einer Prise Komik und Satire auch Postkarten. Mit seinen amüsanten Zeichnungen machte er sich vor allem über den Luftschutz und das schwierige Leben während des Krieges lustig. Einmal zeichnete er auf einer Karte Männern aus allen Schichten der Bevölkerung. Jeder hatte seine rechte Hand in der Hosentasche des Vordermannes. Darunter stand: „Einer lebt vom Andern“. Natürlich verstand ich damals den Sinn der Zeichnung noch nicht, aber sie war so farbenfroh und lustig, dass ich sie nie vergass. Meine Eltern hingegen brauchten sie manchmal um gewisse Kunden mit ein bisschen Humor an ihre unbezahlten Rechnungen zu erinnern.
(5) Eine der Satire Postkarten von Onkel Heiri.
Tante Adelheid war meistens in der Küche oder dann im Garten wo sie mit Leidenschaft Chrysanthemen züchtete, die dann eben wieder Motive für Onkel Heiris Bilder wurden. Der Geruch von Öl-Farben, Leim und anderen Mal-Utensilien machte mir bewusst, dass ich in einem Haus eines Künstlers war, was ich als grosse Ehre empfand. Das entfachte auch in mir das Interesse für Kunst und alles Kreative. Es war einfach schön in diesem harmonischen Haus zu sein. Vor dem Nachtessen ging ich dann nach Hause; natürlich zu Fuss und ganz alleine. Damals war der Verkehr auf der St. Gallerstrasse noch unbedeutend und so machten sich meine Eltern und meine „Babysitter“ keine Sorgen, dass etwas passieren könnte. Da es damals auf dieser Strasse noch kein Trottoir gab, lief ich immer im Strassengraben. Obwohl unbequem, es war mein ganz privater Weg und ich redete mir immer ein auf diese Weise vor dem Verkehr in Sicherheit zu sein. Und tatsächlich, in all den Jahren passierte mir nie etwas. Aber vielleicht hatte ich mir das damals nur eingeredet und war ungefährdet nur weil ich einen Schutzengel hatte oder Sonntagskind war? Diese ganz speziellen und unbeschwerten Nachmittage nahmen dann leider mit dem Eintritt in den Kindergarten und später mit dem Schulbeginn ein Ende. Aber Tante Adelheid und Onkel Heiri blieben immer ein Eltern-Ersatz und waren auch später da, wenn mich Probleme plagten und nahmen sich Zeit um mir zuzuhören, wenn ich mein Herz ausschütten musste.
Wo es auch war, ich spielte immer gerne am Boden. Am liebsten zu Hause in der Stube, vorne bei der Balkontüre, denn da konnte ich mich zusätzlich hinter dem Vorhang verstecken. In meiner Fantasie machte ich Theatervorstellungen und zog dann den Vorhang hin und her. Mein Vater spielte ja auch manchmal bei einem „Kränzli“ Theater und das inspirierte mich. Aber der Vorhang diente mir auch um mich zu verstecken und mich in Sicherheit zu fühlen. Aber vielleicht war es auch um ein Bisschen Aufmerksamkeit und Zuneigung meiner Eltern zu ergattern. Manchmal legte ich mich sogar auf die Stühle unter dem Stubentisch. So war ich vom Boden „verschwunden“ und hoffte damit, dass mich meine Eltern suchen würden. Aber der Versuch gelang nur einmal und begeisterte leider niemanden. Den Drang mich unsichtbar zu machen hatte ich auch in der Stube meiner Grossmutter, die Kürschnerin war. Auch bei ihr versteckte ich mich unter dem Stubentisch. Sie hatte einen wunderschönen Holztisch und darunter schienen mir die Halb- und Stundenschläge ihrer Wanduhr noch viel faszinierender zu sein. Ein besonders Highlight war für mich aber das Verschwinden hinter dem Sofa das vor einem immer geschlossenen Fenster stand. Vor dem Fenster war ein Vorhang und dahinter eine Menge Felle aller Art gelagert. Und so bat ich meine Grossmutter um ein Nickerchen auf dem Sofa. Nach einer Weile liess ich mich dann einfach hinter dem Sofa langsam auf die Felle gleiten und verschwand so in meiner Phantasie aus ihrer Stube. Aber auch sie war meistens so stark mit ihrer Arbeit beschäftigt, dass sie mein Verschwinden gar nicht bemerkte und so musste ich mich meistens wieder selbst aus dem staubigen Abgrund befreien um von meiner Traumwelt ins reale Leben zurück zu kehren.
Wenn meine Mutter in der Küche war wollte ich ihr immer beim Kochen helfen. Doch ich war damals noch zu klein und so durfte ich nur einfache Arbeiten machen; zum Beispiel die mit Teig belegten Kuchenbleche mit Früchten auslegen. Das liebte ich sehr, denn es war ja gleichzeitig auch eine kreative Beschäftigung. Eines Tages wurde sie, so wie oft, beim Kochen gestört und musste weg vom Herd um im Laden Kunden zu bedienen. Sie hatte gerade einen grossen Topf mit Hafersuppe gemacht, ihn aber auf den Herd gelassen. Mit meinem Drang zu helfen wollte ich während ihrer Abwesenheit in der Suppe rühren. Da ich nicht in den Topf sah, zog ich ihn gegen mich und schüttete dabei den kochenden Inhalt über mich. Meine Mutter erzählte mir später, dass sie mich nach ihrer Rückkehr aus dem Laden als eine einzige Blase vorfand. Sie hatte mich zum einem Arzt gebracht der mich in eine Mumie verwandelt hatte. Wieder zu Hause rief meine Mutter zusätzlich zu der medizinischen Behandlung einen Mann mit heilenden Kräften an. Sie legte mich in der Stube auf das Kanapee und musste dann wieder in den Laden. Als sie am Nachmittag nach mir schauen wollte war ich nicht mehr in der Stube auf dem Sofa. Erschreckt suchte sie überall bis sie mich auf dem Balkon fand. Während meine Verbände in einem wilden Durcheinander an meinem Körper herunter hingen, schaute ich durch die Ritzen der Verschalung und beobachtete das Leben auf der Marktstrasse. Ich hatte keine Blasen mehr und keine Spur von Verbrennungen. War dies nun ein Wunder und hatten wir dies tatsächlich dem Gesundbeter zu verdanken? Meine Mutter war dessen überzeugt und war sehr froh, dass sie den Mann mit den heilenden Kräften um Hilfe gebeten hatte. Damals war ich mir noch nicht bewusst, dass ich durch dieses Wunder vor lebenslänglichen, scheusslichen Brandnarben verschont wurde. Trotzdem fragte ich mich später oft ob es nicht doch eher mein Schutzengel war der mir beigestanden war oder dass ich als Sonntagskind einfach mehr Glück hatte?
Für meine Mutter war es wichtig, dass die Mahlzeiten immer gemeinsam eingenommen wurden. Es war auch normal, dass vor dem Essen ein kurzes Gebet gesprochen wurde und dass man immer wartete bis der Vater am Tisch sass. Er selbst war meistens in Eile und ass sehr schnell. Am Abend gab es meistens Milchkaffee. Meine Mutter bereitete den Kaffee jeden Tag frisch mit einem MELITTA Filter zu und so kam der Milchkaffee natürlich heiss auf den Tisch. Für meinen Vater war er aber immer zu heiss, denn er wollte gleich wieder weg. So goss er den Milchkaffee portionenweise in die Untertasse, von wo er ihn lautstark ausschlürfte. Dies konnte meine Mutter nicht ausstehen und konnte es nicht lassen immer wieder missmutige Bemerkungen zu machen. Es war auch normal, dass ständig entweder das Telefon oder die Laden-Glocke läutete und wir beim Essen gestört wurden. Jedes Mal musste dann entweder mein Vater oder meine Mutter ans Telefon oder dann in aller Eile die zwei Stockwerke hinunter rennen um die Kunden nicht mit langem Warten zu verärgern. Somit war ich schon bevor ich gehen konnte oft mir selbst überlassen, zum Beispiel auch wenn ich „mein eigenes Geschäft“ nicht erledigt hatte und man mich auf dem Nachttopf sitzen liess. Aber das störte mich nicht und so rutschte ich mit meinem „Nachthafen“ bis zu ihrer Rückkehr auf dem dunkelgrünen Linoleum-Boden in der ganzen Stube herum. Mein Aktionsradius war allerdings beschränkt, denn die Türen hatten Schwellen und so konnte ich nicht ausreissen. Aber das schien mir nichts auszumachen, denn entweder „studierte“ ich die Ornamente des Bodenbelages und der schönen Kassettendecke oder dann fand ich etwas anderes um mich zu beschäftigen. Vielleicht entfachte gerade dieses Alleinsein meinen Trieb zur Fantasie und schliesslich Selbständigkeit.
Obwohl es in unserer Stube sehr eng war, stand in einer Ecke eine ziemlich grosse Zimmerlinde. Damals war eigentlich der Gummibaum grosse Mode und alle hatten eine solche Pflanze zu Hause. Aber meine Mutter wollte diesen Trend nicht mitmachen und kaufte sich stattdessen eine Zimmerlinde. Die Pflanze hatte grosse, zarte Blätter. Wahrscheinlich litt sie unter zuwenig Licht, denn ich sah wie meine Mutter immer wieder dürre Blätter abschnitt oder am Boden auflas. Mit meinem Beschäftigungsdrang wollte ich ihr eines Tages einen Gefallen tun und mich wie sie um diese Pflanze kümmern. Ich fand eine Schere und begann die Blätter eines nach dem anderen von unten her abzuschneiden. Wie ein Wunder kam plötzlich meine Mutter in die Stube und verhinderte so einen Kahlschlag. Sie war sich natürlich bewusst, dass ich es ja im Grunde genommen nur gut gemeint hatte und nur helfen wollte, aber eine moderate Schelte bekam ich trotzdem. Auch die Zimmerlinde war mir nicht böse und liess bald wieder neue Blätter spriessen.
Natürlich wollte ich schon als kleiner Knirps von 3 Jahren die Welt entdecken und schlich bei jeder Gelegenheit aus dem Haus. Da ich weder ein „Gampiross“ noch ein Dreirad-Velo hatte, baute mir mein Vater eine Mini-Dampfwalze. Sie war gerade gross genug um mich darauf zu setzen. Er hatte sie aus verschiedenen Eisenteilen zusammengeschweisst und dann bunt bemalt. Die Walze machte einen furchtbaren Lärm auf der Strasse und so wusste man immer wo ich mich herumtrieb. Eigentlich war sie viel zu schwer und unbeweglich für mich. Ich konnte deshalb nur ausserhalb des Hauses mit ihr spielen. Man konnte nur geradeaus fahren und musste ständig mit den Beinen angeben. Zudem war sie mit den vielen Kanten nicht ungefährlich, gab kaum Anreiz zur Kreativität und ich wusste nie wo ich während der Fahrt meine Füsse aufsetzen sollte. Trotzdem wollte ich sie mit niemandem teilen und wenn ich einmal einwilligte, dann nur unter meiner strengen Aufsicht. Abgelenkt durch interessantere Sachen, liess ich sie aber trotzdem oft irgendwo stehen und so musste mein Vater das begehrte Objekt schlussendlich im ganzen Dorf suchen. Wo und wie dieses kleine Kunstwerk meines Vaters endete ist nicht bekannt.
(6) Immer zu einem Scherz bereit.
Meine Mutter war für die damalige Zeit sehr avantgardistisch und emanzipiert. Sie sagte, dass sie neben der vielen Arbeit auch mal eine Abwechslung brauche und kaufte sich ein Saison-Abonnement des Opernhauses in Zürich. Ganz alleine fuhr sie während der Wintersaison einmal im Monat zur Oper. Während ihrer Abwesenheit passte mein Vater auf mich auf. Er gab mir das Nachtessen und dann nahm er mich mit ins Büro. Dort durfte ich bei ihm auf dem Schoss an seinem Pult sitzen und seiner Arbeit zusehen. Er erzählte mir aus einem Bilderbuch von Wilhelm Busch und zeichnete im Licht einer Lampe über dem Pult allerlei Ornamente auf ein Stück Papier. Schon damals sprach er von subjektiver Wirklichkeit und bewies es gleich mit einer zeichnerischen Illusion. Das faszinierte mich und entfachte wahrscheinlich später die Freude am Zeichnen in der Schule. Diese seltenen und wundervollen Momente waren ganz speziell für mich, denn für einmal war mein Vater entspannt und hatte Zeit für mich. Es war als ob er die Abwesenheit meiner Mutter brauchte um mir vollends zu zeigen, dass er mich liebte und mein Vater war. Wenn ich schläfrig wurde brachte er mich sanft ins Bett. Am nächsten Tag erzählte mir dann meine Mutter ganz glücklich von der schönen Oper oder Operette die sie gesehen hatte. Als ich etwas älter war, durfte ich mit ihr vor Weihnachten sogar an eine Kindervorstellung im Opernhaus Zürich. Auch dies entfachte in mir Interesse an Theater und Kunst.
(7) Einer der seltenen Momente auf dem Arm meines Vaters.
Zusammen unternahmen meine Eltern aber nur selten etwas. Die Ausnahme war die Generalversammlung des Spengler- und Installateuren Verbandes, die einmal im Jahr stattfand. Sie war jedes Jahr an einem anderen Ort und dauerte meistens zwei Tage. Während diesen Versammlungen lernten sie viele Berufskollegen kennen mit denen sie auch nachher noch in Kontakt blieben. Ich war überzeugt, dass ihnen diese Abwechslung immer gut tat. Natürlich hatten meine Eltern dann immer ein schlechtes Gewissen mich Tante Adelheid und Onkel Heiri überlassen zu haben und so brachten sie mir jedes Mal eine kleine Erinnerung mit nach Hause. Einmal als sie in Bern waren bekam ich einen kleinen, aus dunklem Holz geschnitzten Bär den ich sehr verehrte und bei meinem Bett aufstellte. Die nächsten Male bekam ich eine Musikdose die eine zarte Melodie spielte, eine Weidenpfeife auf der ein farbiger Vogel sass oder eine Glaskugel die beim Schütteln Schneefall über eine Miniatur-Landschaft bewirkte.
(8) Mein allererstes Kässeli, das mich zum Sparen antrieb.
Schliesslich bekam ich auch ein knallrotes Kässeli aus Holz das mich zum Sparen anspornen sollte. Und das tat es dann auch! Obwohl ich das Kässeli eigentlich ganz leicht hätte öffnen können, war mir das Ersparte viel zu wertvoll um es auszugeben. Später als ich älter wurde eröffneten meine Eltern ein „Sparbüchlein“ bei der Leih- und Sparkasse vom Linthgebiet, wo ich meine Batzen regelmässig und ganz alleine einzahlte. Die Bank befand sich gegenüber unserem Haus. Eines Tages war draussen plötzlich Lärm zu hören. Ich schaute aus dem Fenster und sah wie gerade ein Räuber aus der Bank rannte und die Polizei hinterher. Ich weiss nicht ob man den Übeltäter fassen konnte. Ich erinnere mich nur noch, dass ich mir Sorgen um mein hart Erspartes auf der Bank machte. Aber bald war wieder Ruhe im Dorf und ich erfuhr bei der Bank, dass meine Batzen nicht als Teil der Raubbeute verloren gingen.
Zu dieser Zeit herrschte ja Krieg rund um die Schweiz und manchmal mussten wir nachts bei einem Bombenalarm die Fenster verdunkeln. Mein Vater hatte vorsorglich mit Holzlatten Rahmen gemacht und darauf Dachpappe genagelt. Das ergab einen sicheren Lichtschutz den man einfach und schnell vor den Fenstern montieren konnte. Immer wenn nachts die Sirenen heulten installierte mein Vater diese Rahmen. Trotz dieser Vorkehrung wollte mein Vater nicht, dass in der Stube Licht gemacht wurde. So sassen wir mit einer Kerze im Dunkeln und hörten Radio oder gingen ins Bett. Einmal, nach einer grossen Detonation, rief mich mein Vater auf den Balkon von wo man am Himmel eine Flamme sah. Er sagte mir, dass ein Flugzeug abgeschossen worden sei und dass es nun zu Boden fallen würde. Im Radio hörten wir dann, dass das Flugzeug in der Nähe des Bodensees abgestürzt war. Meine Mutter wollte unbedingt, dass wir uns im Keller in Sicherheit bringen. Sie hatte Angst, dass noch mehr Flugzeuge kommen würden und dann unser Dorf bombardieren könnten. Doch mein Vater wollte nicht in den Keller und so stritten die Beiden für eine Weile bis wieder Ruhe eingekehrt war; auch in unserem Haus. Ich war froh, dass wir nicht in den Keller mussten, denn da war es im Winter ja so unheimlich und kalt.
(9) Der Ferien-Bub Maurice oder „Gigi“ aus Frankreich und der Autor, damals „Gogi“ genannt.
Während diesen Jahren organisierte das Rote Kreuz für Kinder aus Frankreich Ferien in der Schweiz. Die SBB holte diese Kinder an den Grenzen ab und verteilte sie dann in der ganzen Schweiz. Die meisten Kinder waren sehr abgemagert, kränklich und verstört. In unserem Dorf hatten fast alle Familien ein französisches Ferienkind aufgenommen. Im Jahre 1945 bekamen wir Maurice einquartiert. Er kam von Audincourt, war älter als ich, und konnte natürlich kein Wort Deutsch. Ich begann damals erst zu sprechen und konnte seinen Namen nur mit Schwierigkeiten aussprechen. Deshalb nannte ich ihn einfach „Gigi“ und ich wollte nicht Hans, sondern „Gogi“ genannt werden. Da ich bis anhin alleine war, hatte ich etwas Mühe nun plötzlich alles mit jemanden teilen zu müssen. Da Maurice älter war, wollte er mir überall beistehen und helfen. Und genau dies konnte ich nicht ausstehen. Ich war dies eben nicht gewohnt, denn ich musste mich ja bis anhin alleine behaupten. So wurden seine Hilfeangebote oft mit einem energischen „Gogi selber!“ erwidert. Dies verletzte den hilfsbereiten Franzosen oft sehr und so war unsere Beziehung nicht immer superharmonisch. Maurice hatte einen jüngeren Bruder der bei unseren Nachbarn, den Noser’s, untergebracht war. Er hiess Robert. Wenn ich Maurice zu stark nervte, ging er einfach zu seinem Bruder. Da konnte er sich wenigstens mit jemandem in seiner Sprache verständigen. Aber damit verärgerte er meine Mutter, besonders wenn er ohne etwas zu sagen verschwand.
Die Ferienkinder blieben 5 Wochen während den ganzen Sommerferien, dann mussten sie wieder mit der Bahn zurück nach Frankreich zu ihren Eltern. Robert kam während mehreren Jahren jeden Sommer zurück zu unseren Nachbarn. Schliesslich blieb er sogar ein ganzes Jahr und durfte sogar die Schule besuchen. Maurice kam nie mehr ins Dorf zurück. Wahrscheinlich hatte ich ihm mit meiner tonangebenden Art die Lust genommen oder dann war ihm das Lernen der deutschen Sprache einfach zu mühsam. Meine Mutter hingegen fand den Aufenthalt von Maurice und den anderen Kindern sehr bereichernd. Sie sagte mir später immer wieder, dass ich während des Aufenthaltes von Maurice genügend Französisch gelernt habe um mich schliesslich mit ihm zu verständigen. Um mit ihm zu rivalisieren und mich verbal verteidigen zu können blieb mir aber vielleicht damals gar nichts anderes übrig als seine Sprache zu lernen. Ich kann mich erinnern, dass er mir oft sagte: „Was Du sagst bist Du selbst…!“ Als Maurice dann wieder zurück in Frankreich war fehlte er mir plötzlich. Und so bat ich meine Mutter immer wieder im Himmel einen Bruder zu bestellen und erwähnte diesen Wunsch auch in meinen Gebeten. Erst als ich erwachsen wurde gestand meine Mutter, dass meine Bitte erfüllt worden war und sie später tatsächlich einen Bruder geboren hatte. Leider war er tot auf die Welt gekommen.
Unser Essen war bescheiden und lange Zeit von Rationierungsmarken abhängig. Der Grund für die Ausgabe dieser Marken war die landesweite Versorgungskrise. Nur mit diesen Rationierungsmarken konnte man, sofern vorhanden, die individuell zugeteilte Menge an Lebensmitteln, Toilettenartikel, Textilien, Schuhen, etc. kaufen. Dabei entwickelte sich ein reger Tauschhandel. Auch meine Mutter tauschte Marken für Butter gegen solche für Fleisch, Zucker gegen Mehl oder Eier. Zur Reifezeit der Früchte gab es eine Extra-Zuteilung für Einmachzucker. Meine Mutter nahm dann das Fahrrad und fuhr mit dem Anhänger nach Wangen zu einem Bauern den sie durch das Geschäft kannte. Einmal kaufte sie nebst anderen Früchten einen ganzen Korb voll frisch gepflückter Kirschen. Sie setzte mich neben den Korb im Anhänger und sagte ich solle auf die Kirschen aufpassen. Als wir zu Hause ankamen war ein grosser Teil der Kirschen verschwunden. So gab es halt am Abend keinen „Chriesibrägel“ und die Mutter nahm mich nur noch unter strenger Kontrolle mit zum Bauern. Trotzdem liebe ich Kirschen noch bis heute sehr!
Mit der Versorgungskrise wurden die Leute sparsam und erfinderisch. Das Wegwerfen von Brot wurde zur Sünde, von dem ich auch bis heute noch fest überzeugt bin. Auch hartes Brot wurde noch verzehrt oder anders verwertet. Sofern man es sich damals leisten konnte, musste man sich Notvorräte anschaffen. Gleichzeitig ordnete die Regierung die sogenannte „Anbau-Schlacht“ an. Das hiess, dass überall auf offenen Grünflächen Kartoffeln gepflanzt werden mussten. Auch unsere Gemeinde stellte den Bürgern Land zur Bepflanzung zur Verfügung. Somit bekam auch mein Vater ein Stück Land wo wir Gemüse, Mais und Kartoffeln pflanzten. Einmal hat mich meine Mutter auf den „Pflanzblätz“ mitgenommen. Sie liess mich in der kleinen Gerätehütte im Schatten zum Mittagsschläfchen. Als ich erwachte entdeckte ich neben mir eine Flasche. Da ich Durst hatte trank ich von dem „kalten Tee“ den meine Mutter für meinen Vater vorbereitet hatte. Ein wenig später bemerkte meine Mutter, dass ich nicht mehr schlief und auf dem Feld herumtorkelte. Sie hatte dem Tee einen „Gutsch“ Schnaps beigefügt und somit hatte ich im zarten Alter von 3 Jahren meinen ersten „Schwips“!
(10) Blick vom "Planzblätz" an der Alpenblickstrasse gegen die Wägitalerberge. (Oelgemälde von Heiri Diethelm)
Als ich älter wurde durfte ich auf dem „Pflanzblätz“ mithelfen. Mein Vater hatte einen Wassertank aus galvanisiertem Blech gemacht. Der war so angefertigt, dass er auf einen Leiterwagen montiert werden konnte. Oben hatte er eine trichterförmige Öffnung wo man das Wasser einfüllen konnte und hinten war ein grosser Hahnen mit dem ich die Giesskannen füllen durfte. Ich füllte den Tank hinter unserem Haus im Dorf und durfte ihn dann auf dem Leiterwagen auf das Feld bringen. Das Giessen der Gemüse übernahmen dann meine Eltern. So war ich als kleiner Knirps schon für die Wasserversorgung verantwortlich. Einmal hatte ich etwas zu Hause vergessen und so rannte ich blindlings und so schnell ich konnte ins Dorf. Der Weg war einfach und schnurgerade, aber ich musste die Seidenstrasse und dann die Marktstrasse überqueren. Und so rannte ich kurz vor dem Ziel in die Seite eines von links kommenden Autos. Zum Glück fuhren die Autos damals nicht so schnell wie heute und kam so mit grossem Schrecken aber ohne Verletzung davon. Der Fahrer schien genau so erschrocken wie ich, denn er hatte mich ja nicht kommen sehen. Wäre ich eine Sekunde schneller gewesen, wäre ich mit Bestimmtheit vor das Auto gerannt und hätte dann meinen Eltern kein Wasser mehr auf den „Pflanzblätz“ bringen können. Ich habe diesen Moment nie vergessen und es wurde mir erneut bewusst, dass ich einen Schutzengel hatte! Ich bin ihm heute noch dankbar. So viel ich mich erinnern kann, habe ich meinen Eltern nie von diesem Todesschreck erzählt. Sie hatten mir ja vorher schon hunderte von Malen eingebläut, dass ich mich umsehe bevor ich eine Strasse überquere und so schämte ich mich für meine Unfolgsamkeit. Aber es war eine Lektion die ich nie vergessen habe und so vergewissere ich mich noch immer bevor ich eine Strasse überquere ob der Weg wirklich frei ist.
Was wir auf dem „Pflanzblätz“ ernteten wurde dann nach Hause gebracht und für den Verzehr im Winter aufbewahrt. Den Mais brachte mein Vater in eine Mühle in Siebnen. Die Mutter machte damit nicht nur Polente, sondern an Feiertagen auch einen ausgezeichneten Maiskuchen mit Sultaninen. Die Kartoffeln kamen in den Keller und reichten bis in den Frühling wo sie auch nach dem Auskeimen noch gegessen wurden. Mit den Beeren und Früchten machte meine Mutter Konfitüre oder sterilisierte sie in Gläsern. Da die Hühner im Winter keine Eier legen, legte meine Mutter frische Eier schon im Herbst in einen, mit „Wasserglas“ gefüllten, irdenen Topf. Die Eier mussten immer mit Wasserglas gedeckt sein, denn die Wirkung dieser Konservierungsmethode basiert darauf, dass die Poren der Eierschale aufgefüllt werden, sodass das Ei vor dem Eindringen von Wasser, Luft und Mikroorganismen geschützt wird. Auf den Hurden lagerten Äpfel und Birnen. All das Eingekellerte erlaubte meiner Mutter eine gewisse Abwechslung beim Gestalten des Winter-Menuplans. Die Stangenbohnen wurden im Ofen gedörrt und dann mit Speck und Kartoffeln im Winter gegessen. Doch im Keller wohnten auch Mäuse und die hatten ja auch Hunger. Damals hatten die Konfitüre Gläser keine Deckel und man versiegelte sie nach dem Abfüllen mit Cellophan-Folie. Dieser Schutz war aber gegen Mäuse ungenügend und so fertigte mein Vater Blechstücke die man auf jedes “Gomfi-Glas“ legen musste. Nach einer gewissen Zeit entwickelte sich in allen Gläsern eine weiss-blau-grüne Schimmelschicht. Doch das war kein Gesundheitsproblem. Man musste einfach den „Filz“ ganz säuberlich entfernen vor Gebrauch.
In den Seeanlagen, direkt am See, gab es einige Linden die während der Blütezeit im Frühling immer wunderbaren Duft verbreiteten. Diesem Duft konnte meine Mutter nicht widerstehen und so nahm sie den Handwagen, legte eine Leiter darauf und ging damit Richtung See. Manchmal waren die Linden bereits schon von anderen Leuten „besetzt“ und so versuchte sie sich mit ihnen zu arrangieren. Alle kamen mit dem Ziel möglichst viele Lindenblüten nach Hause zu bringen. Eigentlich war das Pflücken von Lindenblüten im öffentlichen Raum nicht erlaubt und so waren wir immer darauf gefasst von Gemeindearbeitern oder dem Wachtmeister weggejagt zu werden. Es gab ja immer Leute die sinnlos Äste vom Baum rissen, die Blüten dann bequem am Boden pflückten und die zerzausten Äste wie Abfall einfach liegen liessen. Durch diese Art von Pflücken hatten gewisse Bäume arg gelitten und ihre natürliche, schöne Form verloren. Da meine Mutter die Natur liebte, zeigte sie mir wie man die Blüten ohne Schaden direkt am Baum pflücken konnte. Ich durfte sogar auf die Leiter steigen und die Blüten selbst abnehmen. Zu Hause wurden die Blüten getrocknet und in einem eigens dafür hergestellten Stoffsack aufbewahrt. Im Sommer machte dann meine Mutter fast jeden Tag einen Lindenblütentee mit Pfefferminze, ein erfrischendes Getränk das auch mein Vater sehr liebte und erst noch hundertprozentige Bio Qualität war. Im Winter war es ein wichtiges Heilmittel gegen Fieber und bei Grippe.
Zu dieser Zeit waren viele Männer im Militärdienst an der Grenze. Mein Vater war beim Luftschutz eingeteilt und konnte so wenigsten den Betrieb weiterführen. Allerdings gab es nicht viel Arbeit denn die Leute hatten wenig Geld und so schätzte man jeden Kunden. Meistens brachten die Leute auch nur Sachen zur Reparatur, zum Beispiel Giesskannen, Waschzuber (Gelten), Pfannen, etc. In unserer Werkstatt gab es deshalb Berge von reparierten Artikeln. Mein Vater nannte sie „Flick“. Oft vergassen die Leute ihre Reparatur und so musste mein Vater diese „Flicks“ monatelang hüten bis sich vielleicht doch noch jemand daran erinnerte und sie abholte. Und wehe, wenn er sie in dem grossen Haufen nicht mehr sofort finden konnte…! Für die Bezahlung dieser Reparaturen hatte mein Vater auch ein Kässeli. Es war eine kleine, runde Dose die er einmal beim Kauf von Hustenbonbons bekommen hatte und die er in einer unverschlossenen Schublade unter der Werkbank aufbewahrte. Er verlangte nicht viel für eine Reparatur, manchmal nur 50 Rappen. Und trotzdem jammerten die Leute und sagten der Preis sei unverschämt. Ich war noch sehr klein und konnte das nicht verstehen. Aber ich kann mich errinnen, dass meine Mutter immer sagte man müsse froh sein, wenn man Arbeit habe. Wenn mal grössere Arbeit anfiel dann durfte man nicht „nein“ sagen, auch für Arbeiten nachts oder sonntags nicht. Für alle Arbeiten schrieb meine Mutter eine Rechnung. Die Bauern, besonders diejenigen die vom Bräggerhof, bezahlten die Rechnungen meistens bar und an Sonntagen nach der Kirche. Sie kamen zu uns nach Hause und es war üblich sie bei dieser Gelegenheit zu einem Schnaps in die Stube einzuladen. Dabei wurden Neuigkeiten diskutiert und natürlich viel geraucht, meistens „Stümpen“ oder „Brissago“. Mein Vater rauchte Zigaretten und so störte ihn die lästige Raucherei nicht. Ich aber hatte immer das Gefühl wir hätten starken Nebel in der Stube, besonders im Winter bei geschlossenem Fenster und so wurde es mir oft übel. Lüften war keine Option, sonst hätten die geschätzten Kunden ja gefroren und zudem war das Holz für den Stubenofen auch nicht billig. Erst als alle zum Mittagessen nach Hause gingen konnte meine Mutter die Balkontüre kurz öffnen und frische Luft rein lassen.
Die Jahre nach dem Kriegsende waren für meine Eltern nicht einfacher geworden, doch davon merkte ich als Kind eigentlich nicht viel und lebte unbeschwert. Man war mit dem zufrieden was man hatte, lebte einfach und fand sich damit ab. Ausserdem kannte man ja gar nichts Anderes. Spielsachen waren damals rar und so vertrieb ich meine Freizeit hauptsächlich draussen mit Kindern im Dorf oder mit dem Holzbaukasten, Stoffresten und einigen Holzkühen die ich einmal auf Weihnachten erhalten hatte. Dies stimulierte bei mir Kreativität und ich konnte damit stundenlang auf dem Stubenboden spielen. Erst als ich viel älter wurde kaufte mir mein Vater erst einen „Mecano“ Baukasten und später eine elektrische Eisenbahn; eine WESA. Für den Aufbau der Geleise brauchte ich oft einen grossen Teil des Stubenbodens. Einmal aufgebaut und funktionierend, wollte ich die Anlage natürlich nicht sofort wieder demontieren. Das nervte meine Mutter, denn sie musste immer aufpassen, dass sie in der kleinen Stube nicht auf die Gleise trat. Mein Vater war verständiger, denn es war ja auch ein wenig „seine Eisenbahn“ und er half mir auch immer, wenn ich Probleme mit dem elektrischen Strom hatte. Zudem war allen klar, dass mein Zimmer ungemütlich war und ein anderes Zimmer in unserer Wohnung dafür nicht existierte.
Als ich etwas grösser wurde und schliesslich in die Schule musste wurde es selbstverständlich, dass ich den Eltern nach der Schule bei der Arbeit half. Die klassische Mithilfe war das tägliche Abtrocknen und Versorgen des Geschirrs. Auch beim Kochen gab es immer Arbeiten, die sogar ein kleiner Bube verrichten konnte, zum Beispiel Gemüse rüsten, Äpfel für eine Wähe schälen, etc. Es kam aber auch vor, dass meine Mutter sehr beschäftigt war und ich ein einfaches Gericht wie „Ghackets und Hörnli“ ganz alleine zubereitete. Auch die Herstellung von Butter oder „Anke“ war oft meine Aufgabe. Zuerst musste ich ganz sorgfältig „d’Nidle“ von der Milch abschöpfen, die in einem grossen flachen Becken im „Frigo“ gekühlt wurde. Als Folge tranken wir dann die so behandelte Milch schon damals als Variante „Light“. Dann durfte ich diesen Nidel in der Buttermaschine so lange schlagen bis er Butter wurde.
(11) Buttermaschine
Zum Abschluss wurde der Butter in eine Holzform mit einem Muster gegeben und dann gestürzt. Das gab ein schönes „Mödeli“ mit dem man auf einfache Weise Geld sparen konnte. Auch beim Zubereiten von Joghurt hatte ich meiner Mutter zugeschaut und bald schmeckten die von mir gemachten natürlich viel besser! Meine Mutter kaufte jeden Tag 1 ½ Liter frische Milch direkt vom „Milchmann“. Dieser machte seinen Direktverkauf auf der Strasse vor dem Haus und war immer mit Ross und Wagen unterwegs. Die Kunden mussten einen Milchkessel mitbringen und dann holte er mit einem Litermass die Milch aus einer der mitgeführten Tausen (Schweizer Volumenmass für Flüssigkeiten) und schüttete sie in das mitgebrachte Gefäss. Jedes Mal, wenn meine Mutter den „Milchmann“ verpasst hatte, musste ich die Milch mit dem Milchkessel zu Fuss in der Molkerei Röthlin holen. Die Heimkehr war immer tückisch, denn es durfte ja kein Tropfen verloren gehen und vor allem durfte ich nicht stolpern. Manchmal durfte ich auch kleinere Einkäufe machen: einen Zweipfünder beim Beck, ein Kilo Bintje Kartoffeln im „SIMON“ oder ein halbes Pfund gehaktes Rindfleisch beim Metzer Mächler. In die Metzgereien oder in die Molkerei ging ich am liebsten, denn da bekam ich immer ein „Rädlein“ Wurst oder ein Stück Käse.
Wenn meiner Mutter das Salz ausging, dann schickte sie mich zu Fräulein Rickenbacher an die Herrengasse. Zwischen dem Modehaus Zimmerli und dem Gasthaus Schwanen führte die hagere Frau ein kleines Geschäft mit Lebensmitteln und Tabakwaren. Sie war die Einzige im Dorf, die das Monopol für den Verkauf von Salz hatte. Damals lag das Schweizer Salzregal, also das Hoheitsrecht auf den Salzhandel, noch ausschliesslich bei den Kantonen. Mitten im Laden war auf dem Boden eine grosse Holzkiste in der das Salz gelagert wurde. Darüber hing eine grosse Hebelwaage, mit der das Salz abgewogen und dann in eine Papiertüte geschüttet wurde. Oft war das Salz hart geworden und Fräulein Rickenbacher, oder ihr Bruder, musste dann mit viel Mühe das Salz klein schlagen oder abraspeln. Noch etwas früher waren ja auch der Tabak und sogar die Zündhölzer mit einem Monopol belegt und nur an bestimmten Orten erhältlich.
Oft musste ich für meine Mutter einem Brief zur Post bringen oder dann sogar Einzahlungen machen. Das Letztere verlangte von meiner Mutter schon etwas mehr Vertrauen und so war sie immer in Sorge bis ich wieder zurück war. Eines Tages, es war zur Chilbi-Zeit, hatte ich meine Einzahlungen bei der Post bereits gemacht und war ganz brav auf dem Heimweg. Ich wusste, dass ich das Geld der Post gegeben hatte und mir niemand das Geld meiner Eltern mehr nehmen konnte. Doch da kam mir plötzlich in den Sinn, dass am kommenden Wochenende Chilbi war und dass ich einige Schausteller bei ihrer Ankunft gesehen hatte. Wie behext machte ich mich sofort auf einen unbewilligten und unerlaubten Umweg nach Hause. Beim „Jurt-Ecken“ bog ich links in die Herrengasse ab und ging stracks bis zum Hotel Ochsen am See. Und siehe da, eine „Rössliritti“ (Rösslispiel) war genau vor der Kanzlei im Begriff Gestalt anzunehmen. Das Aufstellen von Karussells konnte mich so faszinieren, dass ich alles vergass um mich herum. Und so verfolgte ich äusserst aufmerksam wie die vielen Teile zusammengebaut wurden. Es war so interessant, dass ich die Zeit total vergass und fast wie in Trance dastand. Als dann beim Sonnenuntergang endlich die Karussellfiguren, hölzerne, weisse „Rössli“, ausgepackt und auf dem Karussell montiert wurden, stand plötzlich mein Vater neben mir. Er war ausser sich vor Wut und schrie mich so laut an, dass alle Leute im Umkreis sich umkehrten um zu schauen was passiert war. Da ich mit Geld unterwegs war, hatte sich natürlich auch er grosse Sorge gemacht und mich im ganzen Dorf gesucht. Zu Hause hörte ich dann eine ähnliche Predigt nochmals von meiner Mutter. Ich wusste, dass meine Eltern recht hatten, denn ich hatte ihnen Sorge gemacht. Aber der Drang den Zusammenbau der „Rössliritti“ zu verfolgen war einfach zu gross gewesen. Das gleiche Verlangen und das gleiche Interesse für den Aufbau übernahmen mich dann jeweils auch vor der Chilbi bei der Ankunft der „Berg- und Talbahn“, der Schiffschaukel, dem Kettenkarussell oder der „Autobahn“ der Familie Häseli mit der fast himmlischschönen Orgel wo zwei Engel den Takt angaben. Diese Arbeiten konnte ich allerdings meistens ohne Angst vor meinem Vater aus dem Schulhausfenster heraus beobachten, sofern die Lehrer nicht vorbeugend die Sonnenstoren runterliessen.
Am Freitag war immer Putztag und da bekam auch ich immer eine Arbeit zugeteilt. Meistens war es die Reinigung des Treppenhauses. Da man oft mit schmutzigen, ja sehr schmutzigen Schuhen die Treppe rauf und runter ging, musste ich jede einzelne Stufe zuerst mit Stahlwolle „spönle“, dann mit einem Besen reinigen und schliesslich mit Bodenwichse glänzen. Ich hasste diese Arbeit, denn sie war nicht nur mühsam, sondern auch undankbar. Kaum war ich jeweils fertig mit der Arbeit, da kam schon wieder jemand mit schmutzigen Schuhen und machte meine ganze Mühe zunichte. Damals brauchte man kein Toilettenpapier, ja es war geradezu verpönt und zudem zu teuer. Damals brauchten alle Leute Zeitungspapier das vorher kleingeschnitten wurde. Auch diese Arbeit wurde immer an mich delegiert. War kein Zeitungspapier vorhanden war, brauchten wir auch alte Telefonbücher oder ein „Heftli“ die man an einer Schnur aufhängen konnte. So konnte man in aller Ruhe die interessantesten Seiten lesen und sogar aus dem „Heftli“ herausreissen. Leider war dieses Papier sehr glatt und deshalb nicht saugfähig. Zudem verstopfte dieses harte Paper das WC, was meinen Vater immer sehr irritierte.
Als ich kräftiger wurde musste ich Lieferungen, die mit der Bahn kamen, mit dem Leiter- oder Handwagen beim Güterschuppen am Bahnhof abholen und dann die leeren Retour-Kisten wieder zur Bahn bringen. Meistens waren es Lieferungen für meine Mutter, das heisst Haushaltartikel. Natürlich musste ich ihr helfen die verschiedenen Artikel aus der Holzwolle herauszuholen und dann mit dem Lieferschein prüfen ob auch wirklich alles geliefert und angekommen war. Danach kam die Holzwolle wieder in die Kiste. Die gebrauchten, krummen Nägel wurden auf einer Stahlplatte in Vaters Werkstatt gerade geschlagen (rezykliert) und anschliessend zum Verschliessen der Kiste mit der Holzwolle wieder gebraucht.
(12) Was für eine Überraschung, plötzlich war eine Schwester da!
Am 11. Januar 1946 wurde ich mit der Geburt meiner Schwester überrascht. Obwohl ich mir eigentlich einen Bruder gewünscht hatte, freute ich mich natürlich riesig, denn nun war ich nicht mehr alleine. Sie wurde Margrit getauft wie meine Mutter. Da meine Mutter Sophie Margaritha hiess, hätte sie gerne den Namen Sophie an meine Schwester weitergeben wollen, aber scheinbar hatte mein Vater auch dafür kein Gehör. Man hatte in der Familie nie zwei Vornamen gehabt und so gab es für uns Kinder nur einen Vornamen. Ich weiss nicht warum, aber schliesslich nannte man meine Schwester später zu Hause nicht Margrit sondern „Maite“. Da meine Mutter vom Flumserberg kam war es wahrscheinlich ein Flumser-Kosename. Für mich war aber meine Schwester die „Mädes“. Wieso ich sie so nannte weiss ich nicht, aber es war auch so etwas wie ein Kosename, denn ich vergötterte meine kleine Schwester. Unerklärlicherweise weinte sie als Kleinkind die ganze Zeit, was meine Mutter zum Verzweifeln brachte und meinen Vater oft in Zorn versetzte. Trotzdem entwickelte sich eine Vertrautheit zwischen den Beiden und so durfte nun meine Schwester bei meinem Vater auf dem Schoss sitzen und ich hatte das Nachsehen. Sie wurde sein Schützling und konnte sich Sachen erlauben die mir nie erlaubt waren. Damit änderte sich meine Beziehung zum Vater und so hatten wir uns schliesslich fast nichts mehr zu sagen. Er hatte für meine Schwester einen Kindersitz gemacht der am Küchentisch angeschraubt war. Aber auch am Tisch weinte meine Schwester die ganze Zeit und wollte zudem nicht essen. Wenn es meine Mutter einmal fertigbrachte, dass sie etwas getrunken oder gegessen hatte, erbrach sie plötzlich das Ganze wieder in einem grossen Bogen über den ganzen Küchentisch. Als ich älter wurde fühlte ich mich noch mehr für sie verantwortlich. Aber damit entstand eine Situation wie sie Maurice mit mir erlebt hatte. Auch sie wollte keine brüderliche Bemutterung und schlug meine gutgemeinten Belehrungen oder Hilfe meistens energisch ab. Sie hatte sogar Freude mich zu ärgern und so schlug sie während dem Essen gerne mit den Füssen gegen die Besteckschulblade unter dem Küchentisch, sodass die Gabeln zu den Löffeln oder Messer oder umgekehrt hüpften. Dabei zeigte sie auf mich und ich bekam prompt von meinem Vater eine Ohrfeige. Interessanterweise weinte sie während einer solch ungerechten Behandlung nicht, sondern schien sich dabei köstlich zu amüsieren und mich im geheimen sogar genüsslich auszulachen.
Bis zur Geburt meiner Schwester schlief ich im Schlafzimmer meiner Eltern. Es war ein grosses Zimmer mit einem kleinen Ofen, mit dem aber nie geheizt wurde. Somit war es im Winter in diesem Zimmer immer sehr kalt. Manchmal öffnete meine Mutter vor dem „ins Bettgehen“ die Türe zur Stube um von da etwas Wärme hinein zu lassen. Mit der Kälte im Zimmer und der Tatsache, dass das WC ein halbes Stockwerk tiefer im Treppenhaus war, hatten wir Nachttöpfe unter dem Bett. Da mein Vater seine nächtliche „Urinproduktion“ nicht jeden Tag entsorgte, war der „Nachhafen“ manchmal randvoll, was meine Mutter sehr aufbrachte. Es war ja immer ein Kunststück das volle Gefäss ohne „Unfall“ die Treppe hinunter bis zum WC zu tragen.
Da es für meine Schwester keinen Platz in diesem Zimmer hatte, stellten meine Eltern den Stubenwagen mit meiner Schwester in die Stube. Diese Situation duldete aber meine Mutter nicht lange und bald drängte sie auf mehr Platz. Schliesslich erhielten wir von meiner Grossmutter ein Zimmer neben dem Schlafzimmer meiner Eltern, das aber nur einen Zugang von ausserhalb der Wohnung hatte. Um den Zugang zu vereinfachen machte mein Vater ein Loch in die Wand des Elternschlafzimmers und erstellte so direkten Zugang zu dem neuen Zimmer; meinem Zimmer. Es gab aber keine Türe, sondern nur einen dunkelroten Vorhang der die zwei Zimmer trennte. Mit diesem Vorhang kam keine Wärme von der Stube in mein Zimmer und so glaubte ich mich im Winter wie in einem Eisschrank. Dieser Vorhang garantierte auch keine Schalldämmung und so kam es, dass ich eines Nachts erwachte, weil ich im Elternschlafzimmer so seltsame, balgende und stöhnende Geräusche hörte. Ich glaubte mein Vater würde meine Mutter plagen und so stand ich auf, ging in ihr Schlafzimmer und fragte warum sie sich stritten. Aber offensichtlich hatte ich die Beiden in einem ganz dummen Moment erwischt und so beteuerten sie mir ganz verwirrt, dass alles in Ordnung sei und ich doch zurück ins Bett gehen soll. Obwohl ich damals noch sehr klein war wurde mir bewusste, dass ich mit meiner kindlichen Sorge um meine Mutter meine Eltern für Jahre traumatisiert haben könnte. Jedenfalls hörte ich diese Geräusche nachher nie mehr!
Mein Zimmer war ein äusserst hässliches Zimmer. Es war blau-grün gestrichen und hatte an den Wänden seltsame, abstrakte Ornamente die ich nie verstehen konnte obwohl ich sie jeden Abend ansehen musste und sie zu entziffern versuchte. Ich war nicht glücklich in diesem Zimmer und nässte das Bett fast jede Nacht. Jeden Morgen erwachte ich in einem feuchten Bett und schämte mich dann den ganzen Tag. Meine Eltern schimpften und ich war mir bewusst, dass ich meine Mutter, nebst ihrer täglichen Arbeit, zusätzlich mit Arbeit belastete. Manchmal hatte sie keine Zeit um die Leintücher zu wechseln und so liess ich sie und das Pyjama einfach im Zimmer trocknen. Ich war deshalb oft traurig und wusste mir nicht zu helfen. Ich konnte ja auch mit niemandem darüber sprechen, denn Bettnässen war doch eine grosse Schande und hatte vielleicht sogar etwas mit einer Erbsünde zu tun…! Schliesslich brachte mich meine Mutter zum Arzt der mir Pillen verschrieb, leider Pillen die mich von dem Leiden nicht erlösten. Als ich älter wurde hörte die Mühsal endlich auf und ich musste keine Angst mehr haben, dass mich jemand wegen leichtem Geruch von Urin lächerlich machen könnte
Mein Zimmer war auch kalt und feucht. Es gab keine Heizung und im Winter hatte es Eisblumen an den Fenstern. Dies war sicher ein Grund wieso ich einmal eine Brustfellentzündung hatte. Damals ging man nicht wegen jedem Husten zum Arzt und man versuchte es zuerst mit alten Hausmitteln. So wurde vorerst einmal mit Kohl- oder Zwiebel-Wickel probiert. Ich konnte mich für diese Behandlung nie begeistern. Erstens fühlte sich der Wickel nass an und wurde im Winter sehr schnell kalt. Zudem entfachte er einen Geruch der mich dann lange treu begleitete. Als es schlimmer wurde brachte mich meine Mutter schliesslich zu Dr. Steinegger, der gleich neben uns seine Praxis hatte. Er verschrieb mir ein pulverförmiges Medikament, das er vorher selbst in ganz kleinen Dosen in Mini-Papiertüten abgefüllt hatte. Damit ging es mir schnell wieder besser und ich durfte später sogar ganz alleine zur „Sprechstunde“ gehen. Diesmal gab mir der Arzt aber keine kleinen Papiertüten, sondern Kapseln. Ich hatte noch nie Kapseln gesehen und war deshalb überzeugt, dass dies nun eine neue Art von Verpackung sei. So öffnete ich zu Hause jede Kapsel (was nicht einfach war), schüttete das scheussliche Pulver in meinen Mund und spülte es mir Wasser runter. Da ich überzeugt war, dass die Kapsel aus Kunststoff war, warf ich sie nachher in den Abfall. Beim nächsten Arztbesuch beklagte ich mich beim Arzt über die komplizierte Einnahme des Medikamentes. Erst jetzt erklärte er mir, dass die Kapsel aus Gelatine sei und sich im Magen total auflösen würde. Natürlich wurde ich rot im Gesicht und schämte mich für meine Ignoranz. Dieses Erlebnis half mir aber später bei meiner Arbeit in Entwicklungsländern wichtige Informationen klar zu beschreiben, die lokalen Realitäten wahrzunehmen, sie entsprechend zu formulieren und weiter zu geben. Nicht alles was für uns normal ist, wird von anderen Menschen ebenso wahrgenommen und verstanden.
Das Haushaltgeschäft meiner Mutter war an der Markstrasse und hatte ein grosses Schaufenster. Im Laden war es ziemlich chaotisch und so gab es dort immer etwas für mich zu tun. Da wir keine Zentralheizung hatten, bat sie mich im Winter oft zuerst einmal den Ofen im Laden einzuheizen. Dazu brauchte ich meistens Holzwolle und anderes Packmaterial. Von diesem Material hatte es immer genügend im Laden. Da der Ofen total umringt mit Holzgestellen und Haushaltartikel war, musste ich immer aufpassen, dass er nicht zu heiss wurde und nichts in der Nähe Feuer fing.
Meine Mutter war sehr fortschrittlich und hatte in ihrem Verkaufsortiment immer Neuigkeiten. So verkaufte sie schon damals Geschirr aus „Bakelit“, dem ersten, industriell hergestellten Kunststoff. Doch sie war zu beschäftigt um diese Artikel den Kunden entsprechend zu präsentieren, zum Beispiel im Schaufenster. Nach meinem Begriff hatte genau diese Auslage ein Potenzial im Konkurrenzkampf mit anderen Geschäften. Obwohl ich noch ein kleiner Bursche war, liess mich deshalb die Versuchung nicht los, die Gestaltung des Schaufensters selber etwas attraktiver zu gestalten. Nach einigen Versuchen gelang es mir zuerst wenigstens die Anzahl der ausgestellten Artikel zu reduzieren und sie etwas geordneter auszustellen. Erstaunlicherweise war mein Vater bereit mir dabei zu helfen und den hässlichen, dunkelgrünen Linoleumboden mit drei verstärkten Sperrholzplatten zu überdecken. Dabei wurde die Ausstell-Fläche auf Fensterhöhe angehoben. Irgendwo konnte ich dann noch schwarzen Stoff aufreiben und so belegte ich den neuen Holzboden damit. Auf der nun schwarzen, angehobenen Fläche kam die Ware jetzt viel besser zu Geltung. Aber damit war ich noch nicht zufrieden. Ich wollte, dass meine Mutter die ausgestellten Artikel viel öfter wechselt, zum Beispiel im Frühling mit Artikeln die man in der Waschküche brauchte, im Sommer Einmachgläser und im Winter Backutensilien und Artikel die sich als Geschenke eigneten. Um das Fenster immer wieder neu zu gestalten, holte ich mir Ideen bei anderen Geschäfts-Auslagen und versuchte immer mit einem speziellen Blickfang die Aufmerksamkeit der Passanten auf das Fenster zu richten.
Da mir diese kreative Arbeit sehr gefiel, sagte ich meiner Mutter eines Tages, dass ich später in meinem Leben einmal Schaufenster-Dekorateur werden wollte. Sie sah mich verstört an und sagte äusserst barsch „nein“! Dann ergänzte sie ihre Äusserung und meinte, dass dies ein Beruf für Schwule sei. Ihre Antwort verwirrte mich ausserordentlich und ich verstand eigentlich gar nicht was sie damit sagen wollte und was ich damit anfangen soll. Dachte sie ich sei schwul nur weil ich gerne dekorierte und kreativ tätig war? Damals war Homosexualität eine Riesenschande und im Dorf kannte man jeden beim Namen die so veranlagt waren. Ich begann mich zu fragen was sich andere Leute wohl denken, wenn sie mich Schaufenster dekorieren sahen. Vor allem fragte ich mich was denn eigentlich so schlimm war an der ganzen Sache. Aber ich bekam keine Antwort, denn über so ein Tabu wurde damals nicht gesprochen. Und so blieb ich mit meinen Fragen ganz alleine und machte mir schliesslich keine Gedanken mehr darüber. Natürlich half ich meiner Mutter trotzdem weiterhin ihr Schaufenster etwas auffallend und schön zu gestalten, denn schliesslich machte mir diese Arbeit grossen Spass.
Als ich älter wurde nahm ich mich sogar unserem Schaufenster am Gangyerweg an. In diesem Fenster stellte mein Vater sanitäre Apparate, Waschhafen, Zentrifugen, etc. zur Schau. Für mich war es ein Fenster wo man achtlos vorbeiging. So versuchte ich die Artikel wenigstens ein bisschen attraktiver zu platzieren und mit farbigen Plakaten auf die Ware aufmerksam zu machen. Als der Vertreter der Hans U. Bosshard AG (HUB), damals ein Grossist für Sanitäre Apparate in Zürich, meine Bemühungen entdeckte, war er ganz begeistert. Er schlug vor für eine kurze Zeit ein Teil einer Badezimmerwand aus der Ausstellung in Zürich bei uns im Schaufenster zu zeigen. Zuerst war ich sprachlos, dass so etwas überhaupt möglich war. Aber dann freute ich mich riesig in unserem Dorf etwas Modernes und Auffälliges zu zeigen, denn diese Wand war nicht mit Kacheln, sondern mit Chintz bezogen. Chintz ist ein mit Wachs überzogenes, dünnes, glänzendes Baumwollgewebe in einer Leinwandbindung, welches damals ein äusserst trendiger Dekostoff war. So wurde unser armseliges Schaufenster mit einem Mal eine Attraktion und ich genoss den Anblick, besonders abends, wenn die Wandlampen eine äusserst elegante Atmosphäre ausstrahlten.
(13) Mein grosser Stolz, ein modernes Badezimmer in unserem Schaufenster vor Weihnachten.
Manchmal durfte ich auch meinem Vater in der Werkstatt helfen. Auf der Schlagschere durfte ich Streifen aus Aluminium schneiden. Die Arbeit musste immer sehr exakt sein, denn die Streifen wurden später an Herrn Bucher geliefert. Er produzierte Schubladen-Einlagen. Die Aluminiumstreifen wurden mit Filz überzogen und dann als Besteck-Halter in den Schubladen eingebaut. Oft waren es sehr viele Streifen die geschnitten werden mussten; so viele, dass mein Vater oder Albert Pfister, unser einziger Arbeiter, den Rest oft selber fertig schneiden mussten. Albert war ein sehr ruhiger, geduldiger Mann der meine Kunstwerke die ich meist am Werkstattboden aus Holz bastelte nie kritisierte. Er beschwerte sich auch nie, wenn er manchmal meine hinterlassene Unordnung aufräumen musste. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er es nicht immer einfach hatte mit meinem Vater, denn dieser konnte sehr aufbrausend sein. Wahrscheinlich steckte in meinem Vater eine sehr grosse Frustration, weil ihn sein Vater gezwungen hatte seine Bildhauer-Lehre aufzugeben. Irgendwie hatte ich deshalb für seine Ausbrüche Verständnis und er tat mir sogar leid, denn er hatte damals keine andere Wahl als sein Schicksal zu akzeptieren. Die Stimmung war deshalb auch in der Familie oft unausstehlich und so konnte ich nur hoffen, dass ich in meinem Leben nie in eine solche Situation gedrängt würde.
Ab und zu nahmen sie mich mit auf eine Baustelle wo ich kleine Handreichungen machen konnte. So durfte ich einmal mit ihnen auf das Dach der Pfarrkirche steigen. Mein Vater hatte bei der Renovation der Bedachung eine grössere Arbeit bekommen und so wollte er mir zeigen was er alles gemacht hatte. Danach stiegen wir hinauf zu den beiden Kuppeln, die von einer anderen Firma im Dorf neu mit Kupfer eingekleidet wurden. Von da hatte man eine wunderbare Aussicht über das ganze Dorf. Diese Arbeit war nicht die Erste an einer katholischen Kirche, denn schon früher durfte er die Türen der Martinskirche in Galgenen mit zwei stehenden Engeln schmücken. Mit viel Hingabe hatte er die Engel mit ihren grossen Flügeln auf Kupferblech-Tafeln ziseliert und welche dann die Eingangs-Türen beschützten. Im Sommer musste er manchmal Flachdächer reparieren oder den Belag ersetzen. Dazu brauchte er flüssigen Teer der in einem alten Waschhafen geschmolzen wurde. Ich war verantwortlich, dass immer genug flüssiger Teer zur Verfügung stand und dass das Feuer nicht ausging. Die Arbeit war nicht ungefährlich, denn man konnte sich mit dem heissen Teer sehr stark verbrennen.
Eigentlich war Blech kein Werkstoff den ich liebte, das Material war mir zu kalt, eigenwillig und gefährlich. Man konnte sich beim Hantieren mit Blechtafeln ganz schön verletzen. Stattdessen kam ich oft in die Werkstatt um etwas aus Holz zu basteln. Einmal hatte ich beim Einkauf von Käse bei Deubers gesehen, dass sie einen ganz neuen und modernen Ladenkorpus hatten. Vorne hatte der Ladentisch in kurzen Abständen vertikale, abgerundete Leisten. Das sah für mein damaliges ästhetisches Empfinden ausserordentlich modern und elegant aus. Sofort entschied ich mich meiner Schwester einen solchen Ladentisch zu bauen. Ich ging zur Parkettfabrik und Holz-Baufirma Benedikt Kälin oder „Käli Bäni“ an der Rosengartenstrasse und suchte mir im Holzlager das nötige Material. In kurzer Zeit hatte ich den Verkaufstisch angefertigt und in der Stube platziert. Natürlich passte er nicht zu den Möbeln in die kleine Stube. Zudem war er viel zu gross, aber ich fand ihn trotzdem schön und eine Bereicherung. Meine Eltern hatten leider weniger Freude daran und meine Schwester konnte überhaupt nichts damit anfangen. Sie wollte nicht „Verkäuferlis“ spielen. Der Tisch blieb darum manches Jahr unbenützt in seiner Ecke stehen bis ihn mein Vater eines Tages verschwinden liess. Ich habe keine Ahnung was er damit angefangen hat.
Neben all ihrer Arbeit im Geschäft und im Haushalt nahm sich meine Mutter immer noch Zeit um einen grossen Teil unserer Kleider selbst zu schneidern oder zu stricken. Für meine Schwester machte meine Mutter einmal sogar einen Jupe, den sie mit einer Endlos-Nadel gestrickt hatte. Ich fand diese „Lismätä“ etwas ganz besonders und durfte manchmal selbst eine kleinen „Blätz“ stricken. Dieses Stück wurde dann mit anderen, aus Restwolle gestrickten Stücken, zusammengenäht. Die ca. 15 x 15 Zentimeter grossen „Blätze“ ergaben so eine grosse Blätz-Decke die im Winter sehr geschätzt war. Meine Mutter hatte eine Riesenzahl von Strickmustern und Zuschneid-Vorlagen. Die Wolle und Stoffe kaufte sie jeweils bei Frau Flepp in der Herrengasse. Manchmal durfte ich sie begleiten und meine Meinung über Farbe, Strickvorlage, etc. abgeben, was aber nicht bedeutete, dass sie meinen Ratschlägen folgte. Sie strikte für mich Pullover die man sehr leicht jedes Jahr meinem Wachstum anpassen konnte. Das hiess natürlich, dass ich dem Pullover sehr grosse Sorge tragen musste, denn er wurde ja nicht nur für einen Winter gestrickt. So ging ich jahrelang mit dem gleichen Pullover zur Schule, einem Pullover bei dem man nur die Farb-Nuancen der Verlängerungen an den Ärmeln und am unteren Ende zu zählen brauchte um zu wissen wie alt er war. Die Schuhe kaufte mir meine Mutter immer beim Dosenbach, ein Geschäft das sich zwischen dem „Sport-Marty“ und dem „Coiffeur Pfister“ an der Zürcherstrasse befand. Einkaufen war für mich immer langweilig, aber in dieses Schuhgeschäft ging ich immer gerne. Es hatte dort ein Kinder-Karussell, das man mit einer runden Platte in der Mitte drehen konnte. Meistens beschleunigte ich es so stark, dass es mir schon bald übel wurde. Während ich mit dem Karussell beschäftigt war, konnte sich meine Mutter in aller Ruhe eine Auswahl Schuhe zeigen lassen. War die Entscheidung oder eine entsprechende Auswahl getroffen, musste ich die Schuhe anziehen und ein paar Schritte in Laden herumgehen. Um ganz sicher zu sein, dass die Schuhe auch wirklich passten, wurden sie dann samt meinen Füssen in einen Apparat, ein Pedoskop, „durchleuchtet“. Oben am Apparat hatte es drei Sichtfenster die es mir, meiner Mutter und der Verkäuferin gleichzeitig erlaubten einen Blick in den quadratförmigen Holzkasten zu werfen. Da konnte man in einem grünlich schimmernden Licht das Schuhwerk mit seinen Nägelen und meine Fussknochen sehen. Neben dem Karussell war dieser Apparat immer das Interessanteste für mich. Er war so faszinierend, dass es mir egal war, wenn ich mehrere Male Schuhe „probieren“ musste. Immer wieder wollte ich die vielen Knochen meiner Füsse sehen. Die damals kaum fragwürdige Prüfmethode mit einem Röntgengerät ist heute verschwunden.
(14) Das Pedoskop, mit dem ich die vielen Knochen meiner Füsse sehen konnte.
Während der Schulzeit trugen die Buben auch im kalten Winter nur kurze Hosen. Um keine kalten Beine zu haben, strickten die Mütter lange Wollstrümpfe die bis zum Oberschenkel reichten. Diese Strümpfe wurden mittels eines elastischen Bands mit dem „Gschtältli“ verbunden und jeweils an Knöpfen festgemacht. Das „Gschtältli“ wurde auf Brusthöhe unter dem Hemd getragen und hatte die Form eines heute bei Mädchen modischen „Top“ mit Strips. Also waren wir eigentlich schon damals punkto Mode super modern. Aber für die Burschen war so eine weibische Montur damals absolut asexuell und konnte, im Gegenteil, furchtbar beschämend sein. Je nach Art und Qualität der Wolle, bissen zudem die Strümpfe den ganzen Tag und man war abends froh sie los zu werden. Anstatt dieser „Gschtältli“-Montur konnte man sich im Winter auch für ein „Combinaison“ entscheiden. Es war am Morgen viel schneller und einfacher angezogen, denn die langen Unterhosen und das Unterhemd waren als ein einziges Kleidungsstück angefertigt. Es wurde vorne mit Knöpfen vom Hals bis ganz unten zugemacht. Die vielen Knöpfe waren schon etwas mühsam und das „Combinaison“ für einen allfälligen Toilettenbesuch ziemlich ungeeignet. Natürlich hatte der „Designer“ die nötige Vorkehrung getroffen und das „Combinaison“ hinten mit einem Schlitz ausgestattet. Den Schlitz konnte man mit einem Knopf schliessen, aber Durchzug gab es trotzdem. Man musste fest annehmen, dass der Schöpfer dieses Kleidungsstückes es nie selbst getragen hatte und deshalb die Panik bei einem „Notfall“ nie selbst erleben durfte. Wenn es im Winter einmal sehr kalt wurde konnte man die kratzigen Wollstrümpfe auch über die Beine des „Combinaison“ und das „Gschtältli“ über das Unterhemd anziehen. Allerdings wurde es dann in einer „Bedürfnisanstalt “ noch viel komplizierter. Wenn es regnete oder schneite trugen alle Buben eine schwarze Wollstoff-Pelerine die weder warm gab noch wasserdicht war. Wir sahen alle wie „Samichläuse“ aus. Schirme waren dazumal unter uns Buben verpönt; man hatte ja an der Pelerine eine Kapuze und das sollte genügen. Da hatten es die Mädchen besser, die hatten zwei Möglichkeiten sich gegen den Regen zu schützen: den Schirm und farbige Pelerinen. Nach intensivem Drängen kaufte mir meine Mutter viel später einen jagdgrünen „Chlüperlisack“. Endlich etwas nicht selbst Genähtes und damals erst noch Top modern! Ich war stolz auf diesen Mantel und trug ihn freiwillig viele Jahre bis auch er aus der Mode geriet.
Jahrelang trug ich im Winter den gleichen von meiner Mutter gestrickten Pullover, dem ich natürlich immer äusserste Sorge tragen musste. Die nachträglich angestrickten Zentimeter hatten natürlich nicht mehr die Originalfarbe und so war die Sparsamkeit meiner Mutter für alle sichtbar. Aus diesem Grund war ich immer eifersüchtig, wenn ich sah wie Schulkameraden aus ärmlichen Verhältnissen an jeder Weihnacht vom Frauenverein ein nagelneuer, wunderbarer Pullover sowie andere Kleider erhielten. Noch viel frustrierender wurde es aber für mich nach dem Neujahr, wenn jene beschenkten Buben mit total verschmutzen und teilweise schon verlöcherten „neuen“ Pullover zu Schule kamen. Erst als ich viel älter wurde verstand ich die Tatsache, dass etwas das nichts kostet auch keinen Wert haben kann und somit nicht geschätzt wird!
Eine ähnliche Ungerechtigkeit verdross mich später während den zwei Jahren in der Sekundarschule. Immer wieder musste ich zusehen wie Buben die von den Eltern Sackgeld erhielten sich in der Pause ein „Pürli und ein Brügeli“ beim Beck Bähler holen konnten. Ich aber hatte kein Geld und bekam für Schleckereien auch keines. Und wenn ich zu Hause jammerte, sagte meine Mutter ich könne ja einen Apfel mitnehmen, wenn ich in der Pause Hunger hätte, was übrigens viel gesünder sei als Schokolade! Aber für mich war das keine Alternative, ich wollte so wie die Anderen sein. Wieso konnten sich all die Kinder von Fabrikarbeitern ein „Znüni“ leisten und meine Eltern, Inhaber eines Geschäftes, gönnten mir nur einen Apfel? Oft schämte ich mich und hielt mich im Hintergrund. Später aber musste ich einsehen, dass meine Eltern mir Selbstzügelung und Genügsamkeit beigebracht hatten und zudem meine Zähne vor Zahnfäule geschützt hatten. Sie waren überzeugt, dass ich alles Nötige zu Hause bekomme und somit kein Sackgeld brauche. Natürlich hatten sie recht, aber manchmal wäre ich gerne ein bisschen selbständiger gewesen und nicht immer vom Betteln bei den Eltern abhängig. So suchte ich nach einer alternativen Einkommensquelle.
(15) Ein Apfel und ein Stück Brot zum Z’üni anstatt Süssigkeiten, war das Prinzip meiner Mutter.
Links von unserem Haus wohnte ein junges, sehr modernes und kinderloses Ehepaar das Zibung hiess. Sie wollten nicht einfach mit Lebensmitteln handeln so wie alle anderen im Dorf, sondern nach dem Kriegsende sofort eine Marktlücke schliessen. Aus diesem Grund hiess ihr Geschäft ganz elegant „Comestibles“. Und tatsächlich konnte man bei ihnen Sachen kaufen die man früher noch gar nie im Dorf gesehen hatte. Im Schaufenster konnte man Hummer, getrocknete Aale und andere Fische bewundern. Dann gab es neben Ananas und Bananen viele andere bis anhin unbekannte Früchte aus tropischen Ländern. Was anfänglich im Dorf Kopfschütteln auslöste, wurde schliesslich ein Renner und der Laden war trotz stolzen Preisen immer voll. Nicht nur wohlhabende Leute kauften dort ein, sondern auch Leute die einfach aus Neugier einmal etwas anderes kaufen und essen wollten. Natürlich faszinierten auch mich all die interessanten Produkte und so fragte ich eines Tages Herrn Zibung ob er gelegentlich eine Hilfe brauchen könnte. Da ich kein Sackgeld von meinem Vater erhielt, sah ich eine Möglichkeit einige Rappen zu verdienen. Er war ein sehr schlauer Mann und er witterte sofort einen neuen Kundenservice (Hauslieferdienst). Und so wurde ich zum Laufbuben und musste die Einkäufe der betuchten Kunden nach Hause bringen. Ich hoffte natürlich auch, dass mir dieser Dienst neben einem kleinen Entgelt auch noch etwas Trinkgeld einbringen würde, aber dem war nicht so. Mit den hohen Preisen bei Zibung nahmen die Leute an, dass dieser Service bereits inbegriffen sei. Einmal musste ich am heiligen Abend zu einer wohlhabenden Familie im Rotbach. Es war aussergewöhnlich viel Ware und so nahm ich meinen Schlitten um die Ware nicht tragen zu müssen. Aber es hatte so viel Schnee, dass der Weg auch auf diese Weise äussert mühsam war. Als ich schliesslich dort ankam wurde mir die Ware kaltschnäuzig von der Hausherrin an der Haustüre abgenommen. Dann schloss sich die Türe wieder und zwar ohne Weihnachtsgruss oder einem „Christchindli-Batzen“. Aber auch bei Zibung’s ging es nicht grosszügiger zu und her. Einen Lohn oder ein Entgelt bekam ich nie und ich konnte froh sein, wenn ich ausnahmsweise einmal einen Apfel oder eine überreife Frucht erhielt. Das war meine erste, echte Enttäuschung in meinem Leben. Aber diese Erfahrung war mir trotzdem viel wert, denn ich hatte gemerkt, dass man sich von schlauen Leuten nicht ausbeuten lassen soll. Und so verkündigte ich den „modernen“ Zibung’s bald darauf, dass ich zu viele Schulaufgaben hätte um noch weiter Frondienst leisten zu können. So etwas hatten sie dem braven, gutwilligen Burschen natürlich nicht zugetraut und schauten mich fassungslos an. Ich weiss nicht wer ihnen danach den Laufburschen machte, aber das war mir dann schliesslich egal. Meine Eltern waren über meine Entscheidung sehr froh, denn sie hatten mich schon lange vor Zibung’s Gebaren gewarnt und fanden ich sollte mich erst einmal auf die Schulaufgaben konzentrieren.
Trotz dieser schlechten Erfahrung war mein Drang nach „finanzieller Unabhängigkeit“ noch nicht verschwunden. Immer wieder suchte ich neue Möglichkeiten um etwas zu verdienen. Durch Zufall ergab sich, dass jemand das Austragen der Zeitschrift „Leben & Glauben“ aufgeben musste und ich davon erfuhr. Sofort bewarb ich mich und verteilte dann das religiöse Blatt pflichtbewusst jede Woche bei Wind, Regen und Schnee an die wenigen Protestanten im Dorf. Der Erlös war nicht riesig und entsprach kaum meinem Aufwand. Aber wenigstens hatte ich jeden Monat einige Franken die ich für mich behalten konnte. Natürlich suchte ich nach weiteren Geldquellen. So fand ich zum Beispiel an der Weihnachtsausstellung in der Turnhalle einen Posten als „Lösli-Verkäufer“. Auch dies war nicht sehr einträglich und verlangte lange Stunden Ausdauer im Lärm der Ausstellung bis schliesslich so ein Bund Lösli verkauft war. Zudem gab es noch weitere Verkäufer und so war ich speziell gegenüber den charmanten, aber sehr aggressiven Mädchen im Nachteil. An den Weihnachtsausstellungen hatten auch meine Eltern immer einen Stand, anfangs mit Haushaltartikeln und später auch Waschmaschinen, Zentrifugen, etc. Manchmal musste ich an Stelle meiner Mutter den Stand „hüten“, was ich immer todlangweilig fand und dabei erst noch nichts verdiente.
(16) Unser Stand an der Weihnachts-Ausstellung
Eine weitere Art um an Geld zu kommen war für uns Buben im Frühling das Sammeln von Maikäfern. Sehr früh morgens, bevor die Sonne aufging, gingen wir auf die Suche nach Bäumen die von Maikäfern als Nachtquartier benutzt wurde. Schnell legten wir die mitgebrachten Tücher auf den Boden und begannen die Äste zu schütteln. Die schlaftrunkenen Käfer fielen wie tot auf die Tücher von wo wir sie dann in die mitgebrachten Kübel schütteten. Oft war die „Ernte“ gering, aber wir brachten die Käfer trotzdem zur Sammelstelle, wo wir den verdienten Erlös erhielten. Paradoxerweise gönnte ich mir nach all der Mühe einige Rappen zu verdienen meistens nichts und warf die wenigen „Batzen“ in mein knallrotes Holz-Kässeli, das mir meine Eltern geschenkt hatten. Nachdem es sich etwas gefüllt hatte, brachte ich das Geld immer auf die Linth Bank, wo meine Eltern ein Sparheft für mich eröffnet hatten.
Als Sohn eines Handwerkers wurde ich von einigen Buben im Dorf beneidet. Da wir ein Auto hatten glaubten sie wir seien reich und ich hätte mehr Spielsachen als sie. Dabei brauchte ja mein Vater das Auto für die Arbeit und es wurde selten zum Ausfahren am Sonntag gebraucht. Leider wussten sie nicht, dass bei uns immer gespart werden musste und sich meine Eltern immer drei Mal überlegten ob eine nötige Ausgabe überhaupt gemacht werden konnte. Sie hatten auch nicht gemerkt, dass ich nie Sackgeld hatte und deshalb nach Möglichkeiten suchte etwas zu verdienen. Sie hatten auch nie meinen Vater gehört der mir immer sagte: „Wenn Du etwas kaufen willst, dann verdiene zuerst das Geld dafür! Natürlich war dies für mich oft nicht einfach zu verstehen, aber mit der Mühe etwas selbst zu verdienen lernte ich das Geld zu schätzen und dies hat mich schliesslich für das ganze Leben geprägt. Es hat mich aber nicht traumatisiert, sondern überlebensfähig gemacht. Eine solche Erfahrung konnten nachfolgende Generationen meistens nicht mehr machen, denn die Eltern wollten den Kindern unbedingt ein viel besseres Leben bieten und erfüllten ihnen sämtliche Wünsche kompromisslos. Dabei merkten sie selten, dass sie den Kindern damit keinen Dienst erwiesen und sogar verhinderten, dass sie unabhängig und selbständig wurden. Zudem wurden ihre Anstrengungen von den Kindern meistens nicht einmal entsprechend geschätzt.
Etwas was mich allerdings während all der Jahre der Kindheit überschattete, ja vielleicht sogar ein bisschen traumatisiert hatte, war die ständige Spannung in der Familie. Einerseits war dies die schwierige Beziehung zwischen meinem Vater und seiner Mutter, sowie seiner ledigen Schwester. Ich weiss nicht wieso die Drei ein so kompliziertes Verhältnis miteinander hatten. Durch die Heirat mit meinem Vater wurde meine Mutter unweigerlich Teil dieser unerträglichen Situation. Die Grossmutter und die Schwester meines Vaters konnten meine Mutter mit ihren emanzipierten Ansichten nicht ausstehen und so wurde sie von den Beiden nie akzeptiert. Sie kritisierten sie ständig und mischten sich überall in ihre Angelegenheiten ein. Einmal erzählte mir meine Mutter, dass meine Grossmutter an einem Sonntagmorgen, also an einem Tag an dem sie sich ausnahmsweise einmal etwas Ruhe gönnten, die Türe des Schlafzimmers meiner Eltern aufriss und schrie: „Raus aus dem Bett ihr faulen Schweine!“ Solche Szenen haben meine Mutter natürlich ausserordentlich schockiert und traumatisiert. Ein weiteres Mal sagte sie mir, dass sie ihr zweites Kind wahrscheinlich wegen des unaufhörlichen Psycho-Terrors und Ärger verloren hatte. Durch all diese Erlebnisse wurde meine Mutter extrem verbittert und verbot uns Kindern schliesslich mit den Beiden im unteren Stock in Kontakt zu sein. Dies wiederum verletzte meinen Vater und belastete schliesslich ihre Ehe. Dabei blieb verschwiegen, dass mein Vater einen Beruf ausübte der ihm nicht entsprach und ein Geschäft führen musste das er gar nie wollte. Diese Situation schien mir manchmal auch der Grund für seine verzweifelten Wutanfälle zu sein. Einmal hörte ich ihn so ausserordentlich erzürnt, dass er die beiden „Tabourets“ (Hocker) auf dem Küchenboden zerschmetterte. Da nun die zwei Sitzgelegenheiten in der Küche fehlten und man sich keine neuen „Tabourets“ leisten konnte, sah ich meinen Vater nachher mit den verschieden Holzteilen hinunter in die Werkstatt verschwinden. Die Reparatur war sehr eindrücklich denn er verstärkte die Sitze mit Rundeisen die diagonal unter der Sitzfläche mit Schrauben verbunden waren. Ich fragte mich ob nun die „Tabourets“ resistent genug für den nächsten Wutanfall waren und war gleichzeitig amüsiert? Da zertrümmert mein Vater die Hocker und muss sie wie zur Strafe dann selbst wieder zusammenflicken. Irgendwie tat mir mein Vater aber leid denn ich fühlte, dass er im Geheimen an irgendetwas litt. Vielleicht fehlte ihm eine ehrliche Anerkennung für seine Arbeit oder dann sogar Zuneigung? Ich sah nämlich meine Eltern nie in zärtlicher Zweisamkeit oder dass sie sich spontan einen Kuss gegeben hätten. Aber damals war es halt einfach so, man zeigte seine Gefühle nicht. Alle mussten eine gewisse Härte vorspielen, sogar wir Buben. Man prägte uns zum Beispiel ein, dass ein Bursche nie weinen darf und wenn er es tut dann ist er ein „Weichling“ und wird ausgelacht. Natürlich färbten sich diese Gegebenheiten auf meine Kindheit und später meine Jugend ab. Manchmal hatte ich grosse Lust wegzulaufen und in Gedanken fragte ich mich vor dem Einschlafen mit welcher Familie an der Markstrasse ich wohl am liebsten tauschen würde. Ich ergründete jede Familie an der Marktstrasse vom Rathaus bis zum Brunnen auf dem Joachim-Raff-Platz; fand aber keine bessere Alternative. Überall wurde gestritten und so musste ich traurig feststellen, dass zu dieser Zeit meine Eltern mit ihren unlösbaren Problemen keine Ausnahme waren. Aber meine Sehnsucht nach glücklichen Eltern und Harmonie in der Familie erlöschte nie. Entgegen dem Verbot besuchte ich deshalb trotzdem heimlich meine Grossmutter und meine Tante Klara, denn sie hatten mir ja persönlich nichts zu Leide getan. Aber auch da fand ich keine echte Harmonie oder Frieden, etwas das in unserer Familie nicht einmal nach dem Tod meiner Grossmutter im Juni 1957 und meiner Tante einkehrte. Dabei waren alle meine 3 Tanten sehr religiös, aber jede war in einer anderen Sekte! So blieb mir nichts anderes übrig als zu hoffen, dass es mir im Erwachsenenalter gelingen wird dieser Konstellationen zu entrinnen und wenigstens für mich selbst ein harmonisches Umfeld zu schaffen.
Für den Begriff „Kindheit“ wird vom Bundesamt für Gesundheit BAG der Zeitraum von der Geburt bis zur Pubertät oder bis zum Jugendalter eines Menschen definiert. Wann ich ins Jugendalter übertrat war mir nicht bewusst. Aber es war offensichtlich, dass während meiner „Kindheit“, sowie im Jugendalter, wir alle ein einfaches, aber naturgemässes Leben führten. Wir hatten keine andere Wahl als „Saison-Gemüse“ zu essen! Wir wussten, dass wir in der Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern Europas keinen Grund hatten uns zu beklagen. Zudem verloren wir Kinder damals keine Zeit mit Fernsehen und wurden nicht von sozialen Medien beeinflusst, sondern spielten meistens miteinander im Freien. Für meine Eltern war es gewiss nicht immer einfach gewesen. Aber trotz all dem Erlebten war mir und allen Kindern schliesslich eine unbeschwerte und gute Kindheit vergönnt.
Ein weiser Gärtner weiss, dass ein junger Baum einen Pfosten braucht, damit er sicher stehen und gut gedeihen kann. Diese Sicherung am Pfosten hilft dem Baum gleichzeitig seine Wurzeln gut im Boden zu verankern, sodass er bei starkem Sturm nicht umkippt. Genauso versuchen Eltern und andere Erzieher junge Menschen zu führen und das nötige Wissen zu vermitteln um sie später im Leben stark und ehrenhaft zu wissen. Dieses Bestreben wurde von vielen Jungen oft lästig empfunden und sie erkannten dessen Sinn erst viel später, was natürlich auch bei mir der Fall gewesen war. Mit der aufkommenden anti-autoritären Erziehung wurde dann diese sichernde Stütze leider oft bewusst verkannt und die Jungen begannen sich nach ihrem eigenen Gutdünken zu entwickeln. Dies führte unweigerlich zu weniger Respekt gegenüber den Eltern, den Lehrern, der Obrigkeit und der Gesellschaft im Allgemeinen, eine traurige Wende die niemand zu hinterfragen scheint.
(17) Aus dem Zeichnungsheft der 2. Klasse

(1) Der "Eckstein" unser Haus an der Marktstrasse
Unser Haus war viereckig und hatte ein ähnliches Aussehen wie die eines Würfels; die vier Seiten und die Höhe mit etwa gleichen Massen. Zudem hatte es eine Art Flachdach, war grün gestrichen und hatte Fenster mit knallroten Fensterläden. Ein grünes Wohnhaus war zur damaligen Zeit aussergewöhnlich und deshalb an der Ecke der Marktstrasse zum Gangynerweg kaum übersehbar. Vielleicht war dies der Grund wieso man das Haus und die „Beiz“ im Parterre „Eckstein“ nannte. Der Eingang zum Haus war an der Marktstrasse und über eine Doppeltreppe erreichbar. Nach dem Öffnen der schweren Haustüre aus Holz sah man einem langen Gang der durch das ganze Haus bis hinten zum Treppenhaus führte. An zwei Stellen war er mit Glastüren unterteilt, die aber immer offenblieben, sodass jedermann Zugang zum ganzen Haus hatte. Gleich rechts nach dem Haupteingang befand sich die Türe zur Gaststube. Offiziell wurde sie von Herrn und Frau Michel geführt wurde, doch eigentlich machte Frau Michel die ganze Arbeit alleine. Schon früh am Morgen war sie auf den Beinen und wischte die Doppeltreppe vor dem Hauseingang und dann meistens auch noch das ganze Trottoir vor dem Haus an der Marktstrasse. Dann wässerte sie die drei viereckigen Töpfe vor dem Haus in denen sie zwei rote Oleander- und einen Lorbeerstock gepflanzt hatte. Im Herbst wurden die Pflanzen im Keller überwintert. Der Wirt war kahlköpfig, kleinwüchsig und meist etwas angesäuselt. Man sah ihn sehr selten ausserhalb des Hauses und bei irgendeiner Tätigkeit schon gar nicht. Oft blieb er den ganzen Tag im Bett und erweckte so den Eindruck schwer krank zu sein. Allerdings glaubten wir seinem Gejammer schon lange nicht mehr, denn man hörte ihn zu oft nach seiner Frau schreien. Meistens musste sie ihm dann sofort frische Kalbsleber und ein Glas Wein ans Bett zaubern, etwas das meine Mutter immer sehr aufbrachte. Sie hatte Bedauern mit Frau Michel, konnte aber gleichzeitig nicht verstehen warum sie sich wie eine Sklavin behandeln liess. Wenn Herr Michel mich irgendwo traf, versuchte er mir meistens Angst zu machen indem er auf ein rundes Loch ganz oben am Dach zeigte. Immer wieder wollte er mich überzeugen, dass da oben ein „Böhlima“ wohne, einer der mich auffrisst sobald ich in den Estrich steigen würde. Interessanterweise machte mir seine Angstmacherei nie Eindruck.
Die Gaststube, oder eher ein „Schpuntä“, war nicht sehr gross, hatte aber zwei Eingänge. Man konnte sie durch den Hauseingang oder direkt von aussen über eine Treppe vom Gangynerweg her erreichen. Rechts und links von dieser Treppe wuchsen zwei riesige Lebensbäume oder Thujen. Die zwei immergrünen Bäume waren schlank und reichten fast bis zum Dach unseres Hauses. Mein Vater sagte, dass die Spezies ausgesprochen langsam wachsen und das Holz deshalb sehr hart sei. Dann fügte er hinzu, dass das Holz eigentlich ideal für die Herstellung von Holzhämmern wäre. Da die Holzhämmer in unserer Werkstatt nicht nur alt, sondern ziemlich „überarbeitet“ aussahen hoffte ich immer, dass er deswegen die Bäume nicht eines Tages fällen würde. Neben dieser Treppe und den Bäumen war ein kleiner Eckgarten den meine Tante pflegte. Es wuchsen dort ausschliesslich rosa Hortensien die nachts von den heimkehrenden Gästen von den zwei Eckseiten her gerne grosszügig begossen wurden. Ich fragte mich deshalb wieso die Blumen nicht gelb waren. Vielleicht war dies einer der Gründe warum meine Mutter diese Blumen hasste. In der Hausmauer über diesem kleinen Garten war ein riesiger Ventilator der den Rauch aus der Gaststube ins Freie blies. Dieses Loch in der Mauer bot sich im Winter als beliebte Zielscheibe der „Nachtbuben“ für Schneebälle. Traf einer der Buben genau in den Ventilator dann schneite es in der Gaststube! Während Frau Michel schreiend ins Freie kam, lachten sich die Jünglinge auf der Strasse halb tot. Um die Gäste in Zukunft vor solchen Streichen zu schützen, montierte mein Vater an der Aussenwand eine flexible Klappe vor den Ventilator. Für meine Schwester und mich war die Gaststube irgendwie tabu und so getrauten wir uns selten hinein. Es war halt ein Ort wo Männer sich betranken, beim Kartenspiel viel rauchten, schrien und fluchten, etwas das meine Eltern nie taten. Für sie war es schlicht ein Ort wo Kinder nicht hin gehörten. Wenn ich Frau Michel unbedingt etwas mitteilen musste, dann klopfte ich immer zuerst an der Küchentüre. Ich wollte sie nicht bei der Arbeit stören. Erst wenn sich da niemand meldete, machte ich mir Mut und klopfte an die Türe der Gaststube.
Im Hausgang links nach dem Eingang, genau gegenüber der Gaststube, befand sich die Türe des Ladens meiner Mutter. Sie verkaufte allerlei Haushaltartikel die man damals brauchte und so war der Raum immer übervoll mit Stahl- Aluminium- und Kupferpfannen für Feuer-, Gas-, und Elektroherde, Kaffeekannen, Buttermaschinen, Brotkästen, Essträger, emailliertem Essgeschirr, Besteck aus Aluminium, Thermosflaschen, Dochten für Petrollampen, Waschbretter, Waschgelten, Waschstöpsel, Spritzkannen, Kupfer Cachepots, etc. Ganz links beim Eingang stand ein grosses Metallgestell das die Form eines Christbaumes hatte. An den vielen Haken wurden die Deckel für die verschiedenen Pfannen aufgehängt und so zur Schau gestellt. Ganz oben auf dem konischen Gestell stand ein aus Zinkblech gestanzter Hahn den ich immer bewunderte. Da meine Mutter nicht immer im Laden sein konnte, bat man die Kunden bei geschlossener Türe auf einen Knopf am Türrahmen zu drücken. Manchmal gab es Leute die äusserst ungeduldig waren und versuchten mit andauerndem läuteten meine Mutter anzuspornen noch schneller die Treppe hinunter zu rennen, was meine Mutter auch meistens mit unterdrücktem Unmut tat. Aber schliesslich war damals der Kunde „König“ und so wollte man doch niemandem wegen langem Warten verlieren…! Hinter dem Laden war ein „Säli“ das zur Wirtschaft gehörte, das aber meistens unbenützt blieb. Auf der anderen Seite des Ganges war die Küche der Gaststube. Sie war nur mit einem Holzherd und einem „Schüttstein“ ausgestattet. Um frische Lebensmittel vor Fliegen und Ungeziefer zu schützen, wurden diese in einem Gitterschrank aufbewahrt. Ich fragte mich oft wie Frau Michel mit dieser primitiven Einrichtung eine Mahlzeit zubereiten konnte.
Ein halbes Stockwerk tiefer befand sich die Toilette der „Beiz“ mit WC und Pissoir, die aber auch für von den Arbeitern des Spenglerbetriebes genutzt wurde. Es war das geruchvollste und unappetitlichste „stille Örtchen“ im Haus. Da mein Vater sanitäre Installationen machte, konnte ich nie verstehen, dass so ein Schandfleck in unserm Haus überhaupt existieren konnte. Neben dem „stillen Örtchen“, das bei erhöhtem Alkoholkonsum der Gäste nicht immer so „still“ war, ging es dann auf einer wackligen Holztreppe noch ein halbes Stockwerk tiefer in den Keller und in die Waschküche, welche gleichzeitig auch als Badezimmer diente. So hatte es in diesem Raum nicht nur einen Doppel-Spültrog, einen mit Feuer beheizten Waschherd und eine mit Wasser angetriebene Zentrifuge, sondern auch eine freistehende Badewanne, die alle Bewohner im Hause nach Absprache benützen konnten.
An das Haus angebaut, auf der gleichen Höhe wie das „Gäste-WC“, war die Werkstatt meines Vaters. In der Mitte des Raumes stand ein Holzofen der im Winter die ganze Werkstatt heizen musste. Da man damals noch keine Fenster mit Doppelverglasung hatte, war der arme Ofen oft überfordert um immer eine angenehme Temperatur im Raum zu garantieren. Links vom Ofen war die Schlagschere und rechts davon die grosse, horizontale Biegemaschine. An der Decke neben der Schlagschere hatte mein Vater eine Schaukel „Seiliritti“ montiert, doch die Benützung kam nur mit der Bewilligung meines Vaters in Frage und wenn es die Arbeiten in der Werkstatt nicht störte. Die Werkstatt wurde früher einmal mit einem Lagerraum und einem Schaufenster gegen den Gangynerweg erweitert.
(2) Das Schaufenster am Gangynerweg
Über diesem Raum war das Fitting-Lager, das man aber nur über eine schwere, „klobige“ Leiter erklimmen konnte. Einmal oben angekommen brauchte es athletische Fähigkeiten um weiterzukommen. Zudem war es da oben so niedrig, dass man sich nur kriechend bewegen konnte. Im Freien, zwischen dem Nachbarhaus „SIMON“ und unserem Haus, wurden die Leitern gelagert. Auf der anderen Seite der Werkstatt, also auch im Freien, wurde allerlei Material wie Wasserleitungsröhren, Profileisen, etc. aufbewahrt. Unter einem kleinen Vordach befanden sich die Esse, der Amboss und der Ofen mit dem man Asphalt flüssigmachte. Hier befanden sich auch die Ställe der Kaninchen meines Vaters. Wir hatten eine wunderschöne braune Kaninchen-Rasse die „Havanna“ hiess. Ich war für das Füttern verantwortlich, das heisst ich musste jeden Tag nach der Schule ausserhalb des Dorfes „grasen“, also Gras an den Wegrändern abreissen. Wenn es vorkam, dass ich das Füttern oder auch das Auffüllen von Wasser vergessen hatte, bekam ich von meinem Vater eine harte Schelte. Natürlich verstand ich seinen Unmut und hatte ja später auch Bedauern mit den hungernden Kaninchen. Mit einem „Rüebli“ oder sonst einem frischen Gemüse versuchte ich dann bei den Kaninchen meine Nachlässigkeit wiedergutzumachen.
Im 1. Stock des Hauses gab es vier Zimmer und eine Küche. Zwei Zimmer waren dem Wirte-Ehepaar zugeteilt und ein Drittes der Serviertochter. Das vierte Zimmer war die Stube und gleichzeitig das Kürschner-Atelier meiner Grossmutter. Die Kücheneinrichtung bestand aus einem Holzherd, einem „Schüttstein“ und einem Küchenbüffet. Diese Küche gehörte meiner Grossmutter und meiner Tante. War die Küchentüre einmal ein Spalt offen, dann entwich immer ein undefinierbarer, übler Geruch in das Treppenhaus. Ein Bad gab es nicht und so machte man die tägliche „Katzenwäsche“ in der Küche. Die Serviertöchter mussten sich allerdings für ihre persönliche Hygiene mit einem Waschbecken und einem Wasserkrug auf ihrer Kommode zufriedengeben. Sie beklagten sich nie, denn damals wurde dies schon fast als Hotelkomfort angesehen. Natürlich gab es für alle die Möglichkeit in der Waschküche ein Bad zu nehmen. Um mit warmem Wasser baden zu können, musste man aber immer erst den Waschherd aufheizen. Für ein tägliches Bad war ein solcher Aufwand natürlich zu gross. Für die Bewohner des ersten Stockes gab es nur ein einziges, gemeinsames WC, das sich ein halbes Stockwerk tiefer im Treppenhaus befand.
(3) Der alte "Eckstein" vor der Aufstockung
Um mehr Raum zu erhalten, entschied mein Grossvater kurz nach dem Erwerb des Grundstückes das Haus mit einem 2. Stockwerk zu vergrössern. Meine Eltern erhielten auf diesem Stock eine Stube, ein Schlafzimmer, ein kleines Büro und die Küche. Die anderen drei Zimmer wurden von meiner Tante und meiner Grossmutter benutzt. Leider wurden die Räume äussert schlecht unter den Bewohnern aufgeteilt. So musste meine Tante immer durch unsere Wohnung und das Büro meines Vaters gehen um in ihr Zimmer zu gelangen. Man grüsste sich nie und wich sich, wenn möglich immer aus. Ein harmonisches Zusammenleben zwischen meinen Eltern, meiner Tante und meiner Grossmutter habe ich deshalb nie erlebt. Unsere Küche war etwas besser eingerichtet. Es gab einen „Schüttstein“, einen Holzherd sowie einen elektrischen Kochherd, eine Eckbank und sogar einen Kühlschrank (oder Frigidaire wie man ihn damals nannte). Die Aussenwände der Küche waren nicht isoliert und so kam es, dass im Winter Kondenswasser an den Wänden runter lief. Dieses verursachte schliesslich Schimmel fast auf der ganzen Wand. Ich durfte mich mit dem Rücken nie an die Wand lehnen, sonst wurden meine Kleider nass. Ausser meiner Mutter schien sich niemand daran zu stören. Es war halt einfach so und da konnte man nichts ändern! Vielleicht verursachte damals diese feuchte Wand meine Brustfellentzündung. Der einzige Luxus den wir damals in unserer Wohnung hatten war das eigene Badezimmer. Man konnte es nur durch die Küche erreichen und bestand einzig aus einem grünen Lavabo und einer blauen Badewanne! Ein Drittel der Badewanne war mit einem Holzbrett überdeckt auf dem Eimer, Nachtöpfe, ein Elektro-Strahler und allerhand Gerümpel gelagert wurde. Da das Entfernen dieses Brettes mühsam war oder die Eltern dazu keine Zeit hatten, genossen wir Kinder meistens nur 2/3 der Badewanne. Natürlich versuchte ich das Wasser auch unter dem Brett zu geniessen, aber ich hielt es darunter meistens nicht lange aus. Damals wurde nur einmal in der Woche gebadet und der „Boiler“ nur am Samstag eingeschaltet. Schliesslich musste man sparen und warmes Wasser war Luxus. Am Samstagnachmittag badete zuerst meine Schwester, dann ich und später am Abend noch meine Muter, oft im gleichen Wasser. Nachher hatte es im Boiler kein warmes Wasser mehr. So badete mein Vater am Sonntagmorgen und nachher wurde der Boiler wieder abgestellt. Das Badewasser wurde manchmal anschliessend auch noch zum Einweichen von schmutziger Wäsche genutzt. Neben dem Bad befanden sich ein eingebauter Besenschrank und darunter eine Schublade wo das Schuhputz-Zeug aufbewahrt wurde. Ganz unten im Schrank lag immer ein Stück schwarzer Gartenschlauch mit dem mir mein Vater immer wieder drohte, wenn ich Dummheiten machte. Natürlich bekam ich ihn auch manchmal auf dem Hintern zu spüren. Aber daran hatte früher niemand etwas auszusetzen, denn es gehörte zur Erziehung. An der Innenseite der Türe wurde das Wachstum meiner Schwester und mir regelmässig mit Bleistiftstrichen protokolliert.
Das schönste Zimmer auf diesem Stock war für mich die Stube, denn sie hatte eine wunderbare, weissgestrichene Kassetten-Decke. Für mich war der Raum dadurch nobel und ehrwürdig. Zudem bewunderte ich die Arbeit des Schreiners der die Decke angefertigt hatte. Mir schien als ströme sie Ruhe und Harmonie aus, besonders wenn ich auf dem Sofa lag, mir gleichzeitig südamerikanische Musik anhörte und von der fernen weiten Welt träumte. In einer Ecke der Stube war ein grüner, freistehender Kachelofen, den ich im Winter einheizen musste. Über der Feuerstelle war eine Öffnung in welcher man eine Pfanne oder Teekrug hineinstellen konnte. Manchmal machten wir darin auch „heisse Marroni“. Der Kachelofen hatte eine Sitzbank, die aber meist zu heiss war um lange darauf zu sitzen. Meine Mutter wärmte darauf die selbstgemachten „Chriesischteisäcke “, die dann die kalten Betten wärmten. Gleich neben dem Ofen war ein kleiner, fragiler Tisch auf dem der Radio stand. Der Tisch hatte eine Schublade in der sich Fotos aus der Jugendzeit meines Vaters befanden. Immer wieder wühlte ich darin und fand tatsächlich immer wieder Aufnahmen die ich noch nicht gesehen hatte. In der anderen Ecke stand ein schönes Möbel, in dem eine Nähmaschine versteckt war. Das „versenkbare Modell“ hatte einen Fussantrieb, etwas das mich als Kind besonders interessierte. Ich liebte es die Maschine so richtig in „Schwung“ zu bringen und trat dabei oft zu wild auf das Pedal. Aber das schätzte meine Mutter überhaupt nicht, besonders wenn ich dabei die Nadel gebrochen hatte. Von der Stube hatte man Zugang auf den Balkon, von dem man eine herrliche Aussicht auf die Marktstrasse und die Umgebung hatte. Im Sommer waren am Balkongeländer Blumenkisten angehängt, in denen meine Mutter immer Geranien oder Petunien pflanzte. Für das Giessen der Blumen wurde meistens ich beauftragt. Der Balkon befand sich über dem Trottoir und da ich den Kopf mehr bei den Passanten als beim Giessen hatte, erhielten sie oft eine ungewollte, erfrischende Dusche. Es kam aber auch vor, dass ich bewusst nicht aufpasste…!
Ausserhalb der Wohnung, ein halbes Stockwerk tiefer im Treppenhaus, befand sich unser gemeinsames WC, das wir mit meiner Grossmutter und die Tante Klara teilten. Es hatte keine Beleuchtung, hatte kein Lavabo und war so klein, dass man bei der Benützung die Türe offenlassen musste. Eine Lüftung gab es auch keine. Dafür hatte die Türe eine 20 cm grosse, viereckige Öffnung die man nicht schliessen konnte. Ich hätte eine herzförmige Öffnung vorgezogen; das hätte das „Örtchen“ wenigstens ein bisschen romantischer gemacht. Gegenüber der Toilette wurden sanitäre Apparate wie WC Schüsseln und Lavabos auf einem Zwischenboden über der Treppe gelagert. Für den Zugang brauchte man auch hier akrobatische Fähigkeiten. Zuerst kletterte man eine kleine Eisenleiter hinauf und dann, ohne sich richtig festhalten zu können, stieg man waghalsig mit dem linken Bein hinüber auf die Galerie. Ich war immer wieder erstaunt wie viel diese einfache Holzkonstruktion an Gewicht aushalten konnte und getraute mich jeweils nur zögernd auf diese Holzbühne!
Über dem 2. Stock befand sich der Estrich, den man über eine sehr steile Holztreppe ohne Handlauf erklimmen musste. Dort wurde Wäsche aufgehängt, Holz gelagert und allerlei „Gerümpel“ aufbewahrt. Besonders an regnerischen Tagen, war der Estrich für uns Kinder ein Eldorado. Da gab es in einem Überseekoffer Masken, Kleider, Perücken und andere Utensilien die mein Vater an der Fasnacht oder für Theatervorführungen gebraucht hatte. Oft versuchte ich meine musikalischen Talente auf einer alten Zither, ein Zupfinstrument das meine Vorfahren wahrscheinlich besser als ich beherrscht hatten oder mit einer schwarzen Okarina (auch Gefäss- oder Kugelflöte genannt). Man musste sorgfältig damit umgehen, denn das Blasinstrument war aus gebranntem und glasiertem Ton. Weiter gab es einige „Trümpi“ (oder Maultrommeln) mit denen wir tatsächlich Töne produzierten und einen uralten Plattenspieler auf dem wir Mutters „Schellackplatten“ laufen liessen. Allerdings konnte man mit einer alten Pauke mehr Lärm erzeugen. Ich liebte dieses Instrument und konnte mir deshalb nicht vorstellen, dass ein so grosses Instrument auch sehr feinhäutig sein konnte. Eines Tages schlug ich noch kräftiger als sonst auf die Tierhaut mit dem das Schlaginstrument bespannt war. Ich weiss nicht ob es an meiner jugendlichen Kraft oder am Alter der Pauke lag, jedenfalls klaffte mir plötzlich ein grosser Riss entgegen und sie gab keinen Ton mehr von sich. Sorgfältig versteckte ich die Pauke in der hintersten Ecke des Estrichs. Doch es ging nicht lange bis mein Vater die Übeltat entdeckte und mich entsprechend zurechtwies. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er als Basler-Bürger an meinem Interesse für ein Schlaginstrument heimlich Freude hatte. Jedenfalls besorgte er mir bald darauf eine kleine Blechtrommel und zeigte mir wie man richtig trommelt. Leider war für mich eine Blechtrommel kein Ersatz für eine grosse, echte Pauke und so verflog auch bald die Lust einmal nach Basler-Art trommeln zu können. Neben diesen Musikinstrumenten gab es im Estrich auch ein Luftgewehr mit dem wir farbige Haarbolzen auf eine Bleiplatte schossen. Scheinbar machten sich meine Eltern nie Sorgen wegen der Gefahr dieser Waffe und auch keine Gedanken über das was wir im Estrich sonst noch trieben. Wir hörten dann nur ihr Schimpfen, wenn wir nicht aufgeräumt hatten.
Später erstellte mein Vater in einem Teil des Estrichs ein Zimmer für meine Tante. So musste meine Tante nicht mehr durch unsere Wohnung um in ihr Zimmer zu gelangen. Allerdings lag dieses Zimmer direkt über unserer Stube. Mit der damaligen schlechten Isolation konnte sie deshalb alle unsere Gespräche mithören, was uns aber keine Sorgen machte. Aber vielleicht störten wir Kinder im Gegenteil unsere Tante mit unserem Geplapper…! Zudem hatte sie da oben im Estrich weder Lavabo noch WC. Ohne Heizung hatte sie im Winter sicher sehr kalt und im Sommer mit dem Blechdach über ihrem Kopf bestimmt sehr heisse Nächte. Irgendwie staunte ich über ihr Einverständnis da oben zu wohnen und hatte gleichzeitig Bedauern mit ihr. Da wir nie miteinander sprachen, weiss ich nicht was sie selbst darüber dachte. Das frei gewordene Zimmer der Tante in der Wohnung wurde mir zugeteilt und so konnte ich das hässliche Zimmer endlich verlassen. Nach dem Tod meiner Grossmutter am 24. Juni 1957 durfte ich dann in ihr Zimmer ausserhalb der Wohnung wechseln. Aber zuerst wollte ich diesen Raum renovieren und die elektrischen Leitungen unter Putz verlegen. Dieses Vorhaben gefiel meinem Vater aber gar nicht und so hatten wir deswegen eine böse Auseinandersetzung. Doch bald war wieder Frieden im Haus und ich konnte darauf in ein renoviertes, schönes aber kaltes Zimmer ziehen.
Vom Estrich hatte man Zugang auf die „Zinnen“. Das war das flache, begehbare Dach oder Terrasse über den darunterliegenden Zimmern. Das ganze Dach war total mit galvanisiertem Blech abgedeckt. Das Blechdach war fast unbegehbar heiss im Sommer und bitterkalt kalt im Winter. Von Wärmeisolation sprach damals noch niemand, denn man war schliesslich froh überhaupt ein dichtes Dach über dem Kopf zu haben. Am Dachrand war eine Seilwinde installiert, mit der man schwere Gegenstände hochziehen konnte. So wurden die „Gelten“ mit der nassen Wäsche aus der Waschküche hochgezogen. Die Wäsche wurde dann an den Drähten auf der Zinne aufgehängt und an der Sonne getrocknet. Im Sommer wurden auch die Matratzen, Untermatratzen und sogar die Bettgestelle über die steile Estrich-Treppe hoch geschleppt. Die Matratzen wurden zuerst geklopft (entstaubt) und dann den ganzen Tag „gesonnt“. Am Mittag wurden sie gedreht und so auch auf der anderen Seite von der Sonne „entkeimt“! Ja, nachher hatte man immer das Gefühl auf einer ganz neuen und sauberen Matratze zu schlafen
(4) Von der Zinne aus immer genaue Zeit am Kirchturm.
Auf der Zinne waren auch zwei Blechbehälter in denen meine Mutter Schnittlauch und Kalk-Hauswurz (Sempervivum calcareum) gepflanzt hatte. Ich staunte immer wieder wie aussergewöhnlich resistent der Hauswurz gegen Hitze und Kälte war; aber leider nicht gegen uns Kinder. Wir hatten einen riesigen Spass abgerissene Blätter der Nachbarin, dem Trudi Noser, bei offenen Fenstern entweder in die Küche oder das Schlafzimmer zu werfen. Das Nachbarhaus war ja nur wenige Meter von dem Unsrigen entfernt. Die Trudi schätze die Hauswurz-Blätter allerdings kaum in ihrer Wohnung, aber sie verstand unseren Spass und lachte mit uns. Von dieser Zinne konnte man über eine schräge Eisenleiter und dann über eine vertikale Leiter die höchste Stelle des Hauses erreichen. Die Aussicht da oben war genial, denn man konnte das ganze Dorf und sogar den See sehen. Allerdings hatte es kein Geländer und meine Eltern schätzten meinen Aufenthalt da oben überhaupt nicht. Wenn mich Nachbarn entdeckten riefen sie sofort meine Eltern an und dann bekam ich Schelte. Manchmal konnte ich es aber nicht lassen und montierte ganz zuoberst die Fahnenstange. Dann fixierte ich eine der Fahnen die ich im Estrich gefunden hatte und liess sie flattern, sodass man sie im ganzen Dorf sehen konnte! Auch an den beiden Dachecken zur Marktstrasse hatte es je eine Fahnenstange wo an Festtagen zwei lange Fahnen abgerollt wurden.
Das Haus hatte keine Zentralheizung und so heizte man individuell in den Zimmern mit kleinen Öfen. Aber da das Holz und die „Briketts“ teuer waren, wurde fast immer nur in Vaters Büro und in der Stube geheizt. In den anderen Zimmern blieb es kalt im Winter und auf den Scheiben bildeten sich wunderbare Eisblumen. Die Kälte spürte man besonders am Morgen und so legte ich meine Unterwäsche und einige Kleider jeden Abend unter die Bettdecke. So musste ich früh morgens nicht eiskalte und feuchte Unterwäsche und Kleider anziehen. Einmal im Jahr bekamen wir Holz von einem Bauern, aber nicht zugeschnitten wie das heute in den Läden erhältliche Cheminée-Holz. Die Lieferung musste zuerst in Stücke gesägt und dann gespalten werden. Dies geschah immer unter dem kleinen Dach neben dem Eingang des Restaurants. Schon als Knirps musste ich dabei helfen und die „Scheiter“, abgefüllt in einer „Zeine“, mit einem „Wägeli“ ums Haus zum Aufzug bringen. Von da zog dann mein Vater das Holz auf das Blechdach. Dort hatte es ein schräges Dachfenster wo man die „Scheiter“ in den Estrich warf. Und dann kam schliesslich die beschwerlichste Arbeit. Meistens traf es mich die „Scheiter“ so raumsparend wie möglich unter dem Dach aufzuschichten. Der Raum war sehr niedrig und selbst als Kind musste man sich bücken um überhaupt unter diesen Teil des Daches zu gelangen. Aufrecht stehen konnte man nicht. Ich hasste diese Arbeit, denn nachher ich hatte immer Holzsplitter oder „Schpiissä“ an allen Fingern sowie Schmerzen im Rücken und den Beinen. Im Winter musste man diese „Scheiter“ dann in die Stube hinunterholen. Der Estrich war im Winter nicht nur sehr kalt und gespenstisch, sondern auch äusserst schlecht beleuchtet. Um das Holz überhaupt zu finden musste man deshalb nachts mit einer Taschenlampe in den Holzraum kriechen. Niemand war deshalb begeistert Feuerholz zu holen und so war es meistens an mir in den Estrich zu steigen, denn ich selbst wollte ja auch nicht frieren in der Stube. Da alle immer von Gespenstern redeten und man tatsächlich auch immer komische Geräusche aus dem Estrich hörte, war mir da oben nachts alleine oft unheimlich. Sobald ich das nötige Holz ergattert hatte, rannte ich so schnell als möglich wieder hinunter in die Wohnung.
Einmal im Monat war Waschtag. An diesem Tag kam jedes Mal Frau Bürgi um meiner Mutter zu helfen. Manchmal kam auch ihre Tochter „Rösli“ um auf uns Kinder aufzupassen. Die Leintücher wurden am Vortag in den zwei Spültrögen, der Badewanne und anderen Behältern in der Wachküche mit dem Vorwaschpulver „LENIS“ eingeweicht. Schon früh am nächsten Tag wurde der Waschherd aufgeheizt und die Leintücher gekocht. Da mein Vater ja nur jeden Samstag ein Bad nahm, war es nicht übertrieben die Leintücher zu kochen, sonst wären sie ja nie weiss geworden. Der Waschherd hatte einen Wasseranschluss und so hatte man auch warmes Wasser beim Waschtrog und der Badewanne. Das hin und her mit der Wäsche zwischen Waschhafen, Waschtrog und Zentrifuge war eine äusserst harte Arbeit, besonders im Winter mit der Barchent-Bettwäsche. Zudem wurde ja damals mit einem Waschbrett im Waschtrog gearbeitet. Über dem Trog war ein Fenster durch das man die fertig gewaschene und ausgewrungene Wäsche in einer „Metall-Gelte“ ins Freie hinaus schubste. Von da wurde die Gelte aufs Blechdach gezogen und die Wäsche dort aufgehängt. Meine Mutter hatte immer Angst, dass irgendwann die Gelte mit der schweren, nassen Last kippen und auf jemanden herunterfallen könnte. Am Mittag durfte Frau Bürgi mit uns Mittagessen und ich aus einem kleinen „Mini-Humpen“ Süssmost trinken. Der Waschtag war für mich immer sehr aufregend und für meine Mutter trotz der Hilfe von Frau Bürgi ein riesiger Stress, denn das Haushaltgeschäft, die Telefonanrufe und die Küche konnten ja nicht ignoriert werden. Später kaufte mein Vater eine kleine Haushalt Waschmaschine die in unserer Küche an Stelle des Holz-Kochherdes installiert wurde. Sie hiess ADORA und hatte im Bottich ein Drehkreuz das sich hin und her drehte und so die Wäsche an den Wänden vorbeizog. Erst viel später wurde dann auch die gemeinsame Waschküche modernisiert und der Waschherd durch die automatische Waschmaschine UNIMATIC ersetzt. Alle Hausbewohner konnten sie nach festem Plan benutzen. Obwohl die Maschine die Wäsche sehr erleichterte, hatte diese Modernisierung nach meiner Ansicht auch eine bedauerliche Folge: Frau Bürgi und Rösli wurden nicht mehr gebraucht.
Im Frühling wurden die Vorfenster ausgehängt und mit den frisch eingeölten, roten Fensterläden ersetzt. Bis ich älter wurde machte diese Arbeit immer mein Vater. Meine Mutter hatte immer eine riesige Angst, dass er bei dieser waghalsigen Arbeit aus dem Fenster fallen könnte. Wenn man nicht aufpasste, konnte einem aber auch ein Vorfenster oder ein Festerladen aus den Händen gleiten und hinunterfallen. Es war in der Tat eine gefährliche Arbeit und ich merkte erst später wie risikoreich dieses Aus- und Einhängen war. Und nach dieser Mutprobe musste man ja die Fenster oder die Fensterläden schliesslich noch über die steile Treppe in den Estrich tragen wo sie gelagert wurden. An einigen Fenstern wo das Auswechseln ganz speziell akrobatische Fähigkeiten verlangte, entschieden sich meine Eltern später die Vorfenster das ganze Jahr zu dulden. Es gab auch Fenster die einen oder mehrere „Sprünge“ hatten, aber da eine Reparatur zu teuer war klebte mein Vater einfach Kitt auf die Stelle wo die gebrochenen Teile zusammenkamen um sie so zusammenzuhalten. Eine solche Notlösung konnte jahrelang überdauern.
Schon während meiner Lehrzeit wurde mir bewusst, dass mit dem alternden Haus etwas geschehen musste. Das Haus zitterte bei jedem Lastwagen der die Marktstrasse hinunterrumpelte, es war schlecht isoliert, hatte keine Zentralheizung und die Aufteilung der Stockwerke/Zimmer war widersinnig. So begann ich das Haus auszumessen und sinnvollere Grundrisse zu zeichnen. Doch mit vier Hauswänden von je 10 Metern Länge, also einer totalen Grundfläche von nur 100 m2, musste ich meinen Versuch bald aufgeben. Es war illusorisch auf 100 m2 das Treppenhaus, das Lager des Gastbetriebes, die individuellen Keller, die Waschküche, die Heizung und eine Tiefgarage unterzubringen. Zudem war der Umschwung des Grundstücks zu klein um die Einfahrt zu einer Tiefgarage zu realisieren. Aber ich liess nicht los, denn die Bausubstanz des Gebäudes war schlecht und es musste eine Lösung gefunden werden. Komischerweise schien der schlechte Zustand des Hauses meinen Vater weder zu stören noch zu beunruhigen. Wie immer meinte er, dass man jetzt schon mehr als 30 Jahre in diesem Haus wohne und dass sich bis anhin niemand an den Mängeln gestört habe. Bald hatte ich aber eine neue Vision. Meine Nachbarn an der Markstrasse waren ja alle in der gleichen Situation. Bei einem Neubau mussten alle die neuen Vorschriften einhalten, was auf den kleinen, individuellen Grundstücken nicht möglich war. Das brachte mich auf die Idee, zusammen mit den Nachbarn, eine Überbauung von unserem Haus an der Markstrasse bis hinauf zur Einmündung in die Herrengasse beim Joachim-Raff-Platz, inklusive Stall und Schlachthaus der Metzgerei, zu erwägen. Doch auch diese Idee musste ich bald begraben. Obwohl ich kein modernes Geschäftshaus mit Glasfassaden im Kopf hatte und mir eher eine Überbauung im lokalen Dorfstil vorschwebte, fand ich mit meiner wagemutigen Idee keine Befürworter.
Am 10. April 1962 kauften meine Eltern von der „Genossame“ ein Stück Land an der Speerstrasse. Die Bauparzelle war 659 m2 gross und kostete CHF 22’406.--, ein Betrag den sich meine Eltern hart zusammengespart hatten. Der Kauf kam für mich überraschend. Aber scheinbar hatten auch sie schliesslich gemerkt, dass das Leben im Eckstein zu mühsam wurde und sie sich im Geheimen nach einem komfortableren Wohnen sehnten. Sofort begann ich in meiner Freizeit ein „Traumhaus“ zu entwerfen. Ich zeichnete detaillierte Pläne für ein Einfamilienhaus mit Küche, Wohnraum und Gäste-WC im Erdgeschoss und vier Schlafzimmer mit den dazugehörenden Badezimmern im Obergeschoss. Über den zwei Garagen waren ein Studio und eine 2-Zimmerwohnung geplant, beide mit direktem und separatem Eingang von Aussen. Aus finanziellen und anderen Gründen verzögerte sich aber die Realisierung des Baus und so konnte das neue Heim erst 1966 bezogen werden. Zu meiner grossen Enttäuschung fanden meine Eltern meine Bau-Pläne unrealistisch und liessen von einem Architekten ein „Standard“ Zweifamilienhaus ausarbeiten. Als mir meine Eltern seine Pläne zeigten, intervenierte ich sofort. Der Architekt hatte den Eingang und die Garagen an der Speerstrasse geplant, also dort wo die Distanz vom Haus zur Strasse am grössten war. Da auf diese Weise viel Gartenfläche verloren ging, schlug ich vor den Eingang sowie die Garagen an die Alpenblickstrasse zu verlegen, was er schliesslich auch tat. Auf diese Weise entstand auf der Sonnenseite des Hauses entlang der Speerstrasse ein durchgehender Garten.
(5) Unser Haus an der Speerstrasse 19
Nachdem meine Eltern ins neue Heim gezogen waren, wurde unsere Wohnung im Eckstein vermietet. Nach dem Tod meiner Grossmutter und dem Wegzug meiner Tante waren zudem im 1. Stock Zimmer frei geworden. Meine Mutter nützte diese Gelegenheit um bis zur Aufgabe des Spenglereibetriebes im Dezember 1974 dort ihr Büro und das meines Vaters einzurichten. Im Jahre 1980, als ich in Manila arbeitete, erfuhr ich von der Planung einer Überbauung am Gangynerweg. Sofort meldete ich mich bei den Bauherren und teilte ihnen mein Interesse an ihrem Vorhaben mit. Der Zukauf unserer Liegenschaft erlaubte ihnen schliesslich ihr Projekt bis zur Markstrasse zu erweitern. Somit erfüllte sich meine Vision einer Gesamtüberbauung im lokalen Baustil und seinen Vorteilen doch noch. Allerdings nicht an der Marktstrasse, so wie ich mir es vorgestellt hatte, sondern am Gangynerweg. Die Liegenschaft „Eckstein“ wurde am 28. Juni 1982 verkauft und bereits am 23. August abgebrochen.
Epilog.
Eigentlich wurde angenommen, dass der „Eckstein“ am gleichen Ort wieder aufgebaut wird, denn das Wirtepatent konnte damals in Lachen nicht von einer Person erworben werden, sondern war auf das Grundstück verschrieben. Aus diesem Grund erwartete ich an seiner Stelle wieder ein Gasthaus, einen neuen „Eckstein“, und hatte fest im Sinn mich an der Überbauung zu beteiligen. Doch dann erfuhr ich, dass die „Credit Suisse“ den vorteilhaften Platz an der Markstrasse kaufen wollte und aus diesem Grund auf der Baustelle bereits dicke Betonwände für den Banksafe im Untergeschoss gegossen wurden. Aus unbekannten Gründen entschied dann aber die Credit Suisse anders und so entstand anstelle des „Ecksteins“ weder eine Bank noch ein Restaurant. Das Wirtepatent wurde auf das Mittelhaus am Ganynerweg überschrieben und so wurde mir dieses Grundstück angeboten. Zuerst fand ich das Angebot interessant, doch schliesslich entsprach die etwas versteckt und im Boden versenkte Gaststätte am Ganynerweg meinen Vorstellungen nicht mehr und so zog ich mich vom Projekt zurück. Am 31. August 1984 wurden zur Eröffnung der Zentrumsüberbauung „Gangyner“ alle ehemaligen Grundbesitzer zu einem Nachtessen im neu eröffneten Restaurant „Gangyner“ eingeladen, an dem ich gerne teilgenommen habe.

Meine Mutter sagte die Hegners seien „mehr Bessere“. Mit den drei Kindern spielte ich deshalb fast nie, denn ich fühlte mich in ihrer Gegenwart immer geringgeschätzt oder sogar ignoriert. Meine Mutter meinte sie seinen vielleicht auf uns eifersüchtig, denn unser Haus stand an dominanter Stelle an der Markstrasse, während sich ihr moderner Stoffladen versteckt im Gässchen befand. Sie hatten ein amerikanisches Auto; einen „NASH“, den sie gerne zur Schau stellten. Trotz vorgeblicher Strenggläubigkeit wurde er jeden Sonntagmorgen, anstatt in die Kirche zu gehen, im Garten gewaschen und auf Hochglanz poliert. Autowaschen am Sonntag war damals verpönt und so wunderte ich mich immer wieso diese selbstgefällige Tat dieser noblen Leute von den Nachbarn geduldet wurde. Von unserem Küchenfester, besonders diskret durch die Fensterladen, hätte ich eigentlich immer beobachten können was bei den stolzen Hegner’s vorging, aber komischerweise interessierte es mich nicht. Erst als ich älter wurde erfuhr ich, dass man die majestätische Frau Hegner jeden Winter als Samichlaus zu den Kindern nach Hause bestellen konnte. Sie kam aber nicht alleine, sondern hatte auch einen „Schmuzli“ oder „Tüüsseler“ und zwei schöne, weisse Engel zu ihrem Schutz bei sich. Sie war immer in einem wunderbaren Bischofs-Kostüm, mit rotem Samt-Umhang und einer prunkvollen Mitra auf dem Kopf unterwegs. Dadurch schien Frau Hegner noch imposanter und machte deshalb den Kindern und den Erwachsenen als „Samichlaus“ immer einen ganz besonderen Eindruck. Obwohl ich nie herausfand wer ihre Begleitpersonen eigentlich waren stand für mich fest, dass ihre Gruppe immer die Schönste aber auch die Feierlichste von allen „Samichläusen“ im Dorf war.
Im Kontrast zu den hellen und modernen Auslagen der „Stoff Hegner’s“, führte Frau Vogt links daneben ein winzig kleines Geschäft. Beim Betreten musste man vorsichtig sein, denn der Laden befand sich einige Stufen tiefer als die Strasse. Sie verkaufte und flickte Schirme in einem düsteren, kellerartigen Raum, in dem man ohne elektrisches Licht gar nicht arbeiten konnte. Im Sommer liess sie manchmal die Ladentüre offen um ein bisschen Tageslicht und frische Luft in den Raum zu lassen. Sie war eine „Welsche“ und hatte daher oft Mühe sich mit der Mentalität in der March zu Recht zu finden. Überdies war damals der Gangynerweg nachts nicht besonders beleuchtet und deshalb ideal um sich nach einer Biertour vor oder gegenüber ihrer Ladentüre zu erleichtern. So beklagte sie sich gerne bei ihren Kunden über ihr Schicksal. Obwohl mir bewusst war, dass damals Alternativen beschränkt waren, konnte ich nicht verstehen wieso sie nicht trotzdem versuchte in ihrem Leben etwas zu verändern.
Gegenüber vom Haus Stoff Hegner’s war ein grosser Garten und mitten drin das Haus von Dr. Steinegger. Er war ein guter Arzt und machte auch Hausbesuche. Er hatte einen Sohn der Hansruedi hiess, der aber selten an Entdeckungen oder Streichen von uns Buben mitmachte. Ich glaube er war sehr einsam in dem wunderbaren Haus und scheute die anderen Kinder. Trotzdem spielten wir manchmal zusammen. Einmal hatte er seinem Vater Zigaretten geklaut und so rauchten wir in einem Gebüsch des Gartens eine „CAMEL“. Natürlich wusste ich, dass ich dies nicht durfte und dass es sogar eine Sünde sein könnte. Aber es war äusserst spannend so eine spezielle und teure Zigarette zu rauchen und schliesslich zu merken, dass es mir eigentlich gar keinen Spass gemacht hatte!
Links neben unserem Haus führte das neuzeitliche Ehepaar Zibung ein Geschäft, das sie distinguiert „Comestibles“ nannten. Sie hatte es von der Familie Scheppler übernommen und verkauften für die damalige Zeit sehr exklusive Artikel wie Hummer und tropische Früchte. Das Geschäft wurde hauptsächlich von wohlhabenden Kunden besucht. Ich offerierte mich als Laufbursche um etwas Sackgeld zu ergattern, doch meine Erwartungen wurden bald enttäuscht und so gab ich diese Freiwilligenarbeit wieder auf. Nach etwas mehr als einem Jahr waren die Zybung’s plötzlich nicht mehr im Laden und niemand im Dorf wusste Bescheid über das mysteriöse Verschwinden. Dann stand der Laden lange leer bis die Familie Sutter das Geschäft übernahm. Sie hatten einen Sohn, den Alfred, und eine jüngere Tochter, die Ursula. Damit hatte ich unerwartet einen neuen und fast gleichaltrigen Spielkameraden bekommen. Wir waren oft zusammen und erstellten sogar eine Seilbahn vom Büro meines Vaters bis zum Zimmer von Alfred. Es war unheimlich spannend wie die Transporte über die Strasse funktionierten. Aber auch da hatten bald meine und seine Eltern Einwände und wir mussten alles abbrechen. Leider gelang es den Sutter’s nicht das Geschäft, so wie vorher die Zybung’s, florieren zu lassen und mussten es bald wieder aufgeben. Danach kamen die Dörig’s und brachten mit frischem Gemüse und Früchten wieder neues Leben in den Laden. Zudem hatten sie einen Lieferwagen mit dem sie ihre Ware ambulant in der ganzen Umgebung verkauften. Sie hatten einen Sohn, den Norbert, der viel jünger war als ich und mit dem ich dann oft spielte, oder eher auf ihn aufpasste. Einmal fiel er vom fast 6 Meter hohen Garagedach direkt vor meine Füsse. Ich befürchtete das Schlimmste, aber wie ein Wunder war ihm nichts geschehen. Nach diesem Vorfall liessen die Eltern sofort einen Zaun auf der Terrasse über dem Lager erstellen. Doch auch die Dörig’s zogen nach einiger Zeit wieder weg und das Geschäft wurde in eine chemische Reinigung umgewandelt.
An der Marktstrasse, gegenüber dem Hotel Bären, führte Herr Grüninger Pius eine Eisenhandlung. Das Prägende für mich war nicht nur das Haus, das mir wie aus Laubsägeholz gebaut vorkam, sondern vor allem sein Laden im Erdgeschoss. Er war so voll gestopft mit Ware, dass man kaum eine Fläche fand um etwas hin zu legen. Es gab hier alles was aus Eisen gefertigt war: Werkzeuge, Baumaterial, Küchenartikel, usw. Aber die Auswahl an verschiedenen Schrauben und Nägeln beeindruckte mich am Meisten. Es erstaunte mich immer wieder wie er sofort wusste wo jeder Artikel seinen Platz hatte. Für meinen Vater war dieses Geschäft sehr wichtig, denn nur dort konnte er sich mit allerlei Material eindecken das für seine Arbeit brauchte. Da er mich oft zu Herr Grüninger schickte um etwas zu besorgen, war ich oft in dem Laden und deshalb traurig als er starb, das Geschäft geschlossen und das Haus abgerissen wurde.
Gegenüber dem Haus von Dörig’s, also auf der anderen Seite der Markstrasse, war das Eckhaus der wortkargen Familie Renggli. Sie hatten eine Zahnarztpraxis, aber meine Mutter sagte Herr Renggli sei viel zu grob mit den Patienten und so wurde er von ihr bei Zahnproblemen gemieden. Sie hatten einen Sohn der viel älter war als ich und gleich wie seine Eltern sehr zurückgezogen lebte. Am Sonntagmorgen holten sie meistens ihren roten MG aus der Garage und liessen den Motor wie vor einem Formula1-Rennen immer wieder aufheulen. Damit wusste die ganze Nachbarschaft, dass die Drei zu einem Tagesausflug bereit waren. Während der Abwesenheit wurden das Haus und der Umschwung von zwei furchterregenden Hunden (Dobermann) bewacht. Ihr Auslauf war sehr beschränkt und meine Mutter hatte mit den armen Hunden immer Bedauern. Sie fragte sich immer wieso niemand wegen der bedauerlichen Haltung der Tiere reklamierte. Vielleicht bellten sie gerade deshalb jedes Mal, wenn ich auf meinem Schulweg an ihnen vorbeigehen musste und versuchten mich mit ihren fletschenden Zähnen zu beeindrucken. Sie rannten wie wild hinter dem Gartenhag hin und her und bellten noch als ich schon lange am Hause vorbei war. Ich hatte keine Angst vor diesen kräftigen, muskulösen und temperamentvollen Wesen, aber geheuer war es mir trotzdem nie gewesen. Eines Tages hörte ich einen riesigen Knall vor unserem Haus und rannte sofort ans Fenster. Ein vom Oberdorf kommendes Auto war mit vollem Tempo in die Ecke von Renggli’s Gartenmauer geprallt. Zu meinem Erstaunen öffneten sich die Türen und drei Männer krochen heil aus dem Wrack. Aber anstatt sich den Schaden anzusehnen, rannten die drei Insassen sofort von der Unfallstelle weg und verschwanden im Dorf. Ich fragte mich natürlich ob die drei das Auto gestohlen hatten oder dann total besoffen waren. Natürlich kam nach einiger Zeit der Wachtmeister Müller und beschaute sich die Sache, aber warum sich die Drei aus dem Staub gemacht hatten und ob man sie je gefasst hatte erfuhren wir nie. Man hörte auch nie wer den Schaden an Renggli’s Gartenhag berappen musste.
An der Schützenstrasse, schräg gegenüber unserem Haus und neben dem „Schlössli-Kreuz“ war der „Adler“, eine „Beiz“ die man in der ganzen Gegend und bis nach Zürich kannte. Erstens hatten die Wirte, die Federici’s, immer äussert rassige Serviertöchter und an der Fasnacht eine Dekoration die jedes Jahr mit einem anderen Motto auftrumpfte. Einmal war es „Südsee-Träume“, dann „Teufelsküche“ oder „Grottenfieber“, etc. Auf alle Fälle wurde jedes Jahr vor der Fasnacht das ganze Lokal total mit Papier ausgekleidet und dann künstlerisch bemalt sodass man die „Beiz“ nicht mehr erkannte und glaubte irgendwo anders zu sein. Damals rauchte man noch in der „Beiz“ und so war es auch eine Rauchhöhle. Eine strenge Feuerpolizei gab es damals noch nicht und so hatte der Wirt Glück, dass die Dekoration nie in Flammen aufging. An der Fasnacht und auch unter dem Jahr gab es dann oft „live“ Musik die so laut war, dass manchmal die Scheiben meines Zimmers klirrten und das Bett zitterte, besonders wenn sich die Türe der „Beiz“ öffnete. Ausser meiner Mutter schien diese Nachtruhstörung niemand zu irritieren. An der Fasnacht war es einfach normal und unter dem Jahr durfte man doch nicht so zimperlich sein! Auf die Polizei konnte man nicht zählen und eine Klage hätte für uns vielleicht Folgen haben können, denn die Wirte hatten ja damals auch schon so ihre Beziehungen. Im Dachgeschoss dieses Hauses wohnten die Pfiffner’s mit ihren Buben. Sie hätten ja wohl als Erste Grund gehabt gegen die nächtlichen Störungen zu klagen, denn sie wohnten ja über der „Beiz“. Aber um die Wohnung nicht zu verlieren hatten auch sie keine andere Wahl als den Lärm zu erdulden. Vielleicht war ihnen aber auch bewusst, dass ihre Buben mit ihrer Vitalität auch keine Engel waren. Sie waren so lebendig, dass ihr Vater Angst hatte sie könnten eines Tages bei ihrer Kletterei aus dem Fenster fallen. Mit dieser Gefahr sah er sich gezwungen die Fenster zu sichern. Da er als Arbeiter in einer Möbelfabrik arbeitete fertigte er sich eine Art Sprossenwand, die er dann vor das Fenster montierte. So konnte man von der Strasse aus beobachten wie die Buben an diesen Sprossen herumturnten ohne, dass sie auf die Strasse herunterfallen konnten. Einer der Buben hiess Bruno und war gleich alt wie ich. Wir waren oft zusammen und leisteten uns Torheiten von denen unsere Eltern besser nichts wussten. Einmal hatte Bruno die Idee ein „Wett-Brünzlen“ zu machen und die ganze Bande ging in den Kuhstall beim Kronenhof nebenan. Es waren keine Tiere da und so musste jeder zeigen wie weit er zielen konnte und dies ohne vorher die Blase gefüllt zu haben. Man stellte sich auf eine Linie und zielte auf den Güllengraben. Zu unserer Überraschung gewann ein Mädchen! Komischerweise fragten wir uns damals nicht wie das überhaupt möglich war. Erst viel später, bei einer Klassenzusammenkunft, lüftete sie ihr Geheimnis; ein Geständnis das ein lautes Gelächter auslöste.
(1) Das ehrwürdige "Schlössli"
Vor dem „Adler“ gab es eine leicht erhöhte, halbrunde Ecke auf der ein Bruderschaftskreuz stand. Es war umgeben von immergrünen Eiben die im Herbst zündrote „Früchte“ hatten. Auf der Rückseite des Kreuzes und gegenüber unserem Haus befand sich das „Schlössli“, ein wunderbares Gebäude aus dem Jahre 1640. Das markante Kennzeichen des Hauses war der achteckige Turmaufsatz mit barocker Haube. In diesem Haus wohnte Herr Diethelm, ein immer elegant gekleideter, älterer Mann, der an einem Stock ging. Er hatte eine Haushälterin, die Marie hiess. Sie war etwas mürrisch, aber im Grunde sehr lieb und nett. Von unserm Balkon aus konnte ich beobachten wie sie immer mit viel Hingabe den Garten pflegte. Sie hatte wunderbare, grosse Rosenstöcke, die sie im Herbst auf den Erdboden umlegte ohne den Stamm zu brechen. Dann bedeckte sie die Rosen mit Tann-Ästen um sie vor Schnee und Kälte im Winter zu schützen. Jeweils am Samstag fegte sie sogar einen Teil der Markstrasse ausserhalb des Gartens und an Fronleichnam nahm sie sich dem Altar und dessen Dekoration beim Bruderschaftskreuz an. Neben und hinter dem Haus hatte es grosse Tannen, die ich das ganze Jahr bewunderte. Sie überstanden Stürme, Hitze und Kälte und blieben das ganze Jahr grün. Im Garten plätscherte immer ganz beruhigend ein Brunnen. Der Garten war eine Oase der Ruhe. Marie sagte das Wasser komme aus der eigenen Quelle auf dem Grundstück. Nach einigen Jahren begann die Quelle aber zu versiegen. Mein Vater meinte der Grund liege bei den vielen Neubauten im Dorf. Wegen den Garagen unter den modernen Häusern wurde viel tiefer als früher im Erdreich gebaut und damit die unterirdischen Wasserströme durcheinandergebracht. Jeden Morgen nach dem Aufstehen ging ich zuerst ans Fenster der Balkontüre und erhaschte mir einen Blick auf das „Schlössli“ mit seinem Turm und den Tannen neben dem Hause. Während jeder Jahreszeit war das „Schlössli“ wunderbar anzusehen, besonders aber im Winter, wenn das Haus und die Tannen mit Schnee bedeckt waren. Immer träumte ich einmal in den mysteriösen Turm steigen zu dürfen. Ich hätte zu gerne erfahren wie von dort unser Haus aussieht und wie man sich in einem solchen Herrenhaus fühlt. Leider war mir dies nie vergönnt. Später, nach dem Tod des Besitzers und der Marie, verwahrloste das Gebäude, was ich ausserordentlich bedauerte. Ich konnte nicht verstehen, dass scheinbar niemand in der Gemeinde das schöne „Schlössli“ als wertvoll einschätzte und in der Lage war es vor Verlotterung und vor allem vor der Verunstaltung durch den nachfolgenden Besitzer zu schützen
Rechts neben dem Schlössli-Garten, am Schlössliweg, war ein äusserst kleines Haus mit zwei Stockwerken. Es war eines der ältesten Häuser im Dorf, was die Inschrift auf dem Türbogen über der Haustüre auch bestätigte. Die Haustüre war so klein, dass man sich beim Eintritt bücken musste. In diesem uralten Haus wohnte die Familie Hegner. Der Vater war Schneidermeister und sein Sohn ein Sängerbund-Kollege meines Vaters. Sie hatten einen Sohn, der aber älter war als ich und mit dem ich selten zusammenspielte. Nach dem Abbruch des Hauses konnte der massive Türbogen mit der alten Inschrift gerettet werden und wurde dann bei der Überbauung „Gangynerweg“ in der Fassade eingebaut.
An diesem Haus angebaut, und wahrscheinlich genau so alt, war das Haus der Familie Tschabrun. Das Haus war eher eine Höhle als ein Haus und ich fragte mich oft wie man dort nur wohnen konnte. Es war eine aussergewöhnliche Familie. Alle waren fettleibig und der Vater sowie der Sohn dem Alkohol verfallen. Sie lebten sehr zurückgezogen in ihrer traurigen Behausung. Wahrscheinlich schämten sie sich und zeigten sich deshalb tagsüber kaum auf der Strasse. Ich kann mich noch sehr gut erinnern wie oft seine Frau im Morgenrock gegen Mitternacht bis zur Ecke an der Markstrasse kam um dort ihren total betrunkenen Ehemann in Empfang zu nehmen. Die gute Frau Tschbrun tat mir immer sehr leid.
Rechts am Haus vom Schneider Hegner angebaut war ein eher neueres Haus. Darin befand sich die „Leih- und Sparkasse vom Linthgebiet“, die Bank zu der ich meine hart verdienten Ersparnisse brachte. Sie wurde einmal am helllichten Tag überfallen, ein Ereignis das ich selbst erlebte und das mich noch lange in Träumen beschäftigte. Über der Bank wohnte Frau Zipfel, eine sehr liebenswürdige alte Frau. Sie lebte alleine und war nicht mehr sicher auf den Beinen. So sass sie oft einfach am Fenster und beobachtete das Geschehen auf der Markstrasse. Manchmal winkte sie mir zu und bat mich zu ihr in die Wohnung. Da gab sie mir kleine Geschenke oder dann durfte ich sogar mit ihr Tee trinken und Kuchen essen. Als ich später im Welschland war liess sie immer Grüsse an mich ausrichten. Ich war sehr traurig als ich schliesslich von ihrem Hinschied erfuhr. Einige Jahre später zog die „Leih- und Sparkasse vom Linthgebiet“ in ihr neues Gebäude beim Bahnhof. Anstelle der Bank eröffnete ein Herr Rieder aus Uznach eine Filiale seines Uhrengeschäftes in Uznach. Herr Rieder hatte vorher Marili Noser, unsere Nachbarin geheiratet, und dies war offenkundig der Grund dieser Entscheidung gewesen.
Vor diesen zwei Häusern war ein Stück Land das mit einem soliden Eisenhag mit gefährlichen Spitzen umzäunt war. Es war der Garten den sich Frau Zipfel und Frau Züger aus der Metzgerei teilten. Während sich Frau Zipfel nur noch um einige Blumen im Garten mühte, pflanzte Frau Züger neben Blumen auch Gemüse an. Da ich wusste das dieser Garten nachts gerne als Pissoir genutzt wurde und sich Besoffene nicht selten am Gartenhag so elend fühlten, sodass sie sich in den Garten übergaben, hätte ich nie von diesem ökologisch gedüngten Gemüse gegessen. Aber wenigstens war dieser Fleck Land damals noch grün und durch die vielen Blumen im Sommer wunderbar farbenfroh. Leider wurde später dieses Stück Land, so wie viele andere Grünflächen im Dorf, zubetoniert.
Rechts neben der Bank und ebenfalls zusammengebaut war das Haus der Familie Züger. Sie hatten eine Metzgerei und führten ein gut bürgerliches Restaurant. Der Züger Nöldi war eine schillernde Persönlichkeit im Dorf. Er war im Schützenverein und durch dies war auch seine „Beiz“ immer gut besucht. Aber auch politisch war er immer aktiv. Dies verlangte oft einen ausgedehnten Beizenbesuch was zur Folge hatte, dass man seine lautstarke, nächtliche Heimkehr nicht verpassen konnte. Leider starb er unverhofft und das Geschäft wurde später von der Familie Strickler übernommen. Beide waren noch sehr jung, dynamisch und sehr freundlich. Aber irgendwie schien es Ihnen nicht zu gelingen den traditionsträchtigen Betrieb im gleichen Stil wie die Familie Züger weiterzuführen. Sie hatten einen kleinen Sohn der Albert hiess. Obwohl die Strickler’s für ihn ein Kindermädchen hatten, war ich oft mit dem „Albertli“ zusammen und spielte mit ihm. Aber nach einigen Jahren verliessen die Strickler’s das Dorf wieder und die Metzgerei sowie das Restaurant blieben lange geschlossen.
Auf der anderen Seite der Markstrasse, also vis-à-vis der Metzgerei und dem Restaurant, stand ein grosser Kuhstall. Davor gab es ein kleines Gebäude mit quadratischem Grundriss, das gelegentlich als Militärküche von den im Dorf einquartierten Einheiten benutzt wurde. Es war eine rudimentäre Küche und punkto Hygiene kein Prunkstück. Das Abwasser floss einfach in einer kleinen Rinne übers Trottoir direkt auf die Strasse und von da in den See, das war damals normal. Man musste einfach aufpassen, dass man nicht über die Rinne stolperte. Auf alle Fälle war diese Küche für uns Kinder trotzdem ein sehr interessanter Ort und wir trieben uns da gerne herum. Der Grund waren die vielen Soldaten von denen wir immer ein Militärbiskuit oder Schokolade erhofften. Das absolute Erlebnis war aber immer, wenn einer der Soldaten uns einen Kaugummi, einen „Bazooka“, gab! So etwas war damals rar und deshalb sehr gefragt, schliesslich kam der Kaugummi aus dem fernen Amerika! Ausserdem hätten mir meine Eltern niemals einen Kaugummi gekauft. Gelegentlich kamen auch Leute die einfach hofften etwas von der übrig gebliebenen Suppe oder den Mahlzeiten zu ergattern. Es war ja damals Krieg und das Portemonnaie von vielen Leuten oft leer.
Neben dem Stall war das Schlachthaus der Metzgerei Züger, das natürlich auch ein Anziehungspunkt für uns „Gwundernasen“ war. Wenn ein Tier erschossen wurde, schickten uns die Metzgerburschen allerdings meistens weg. Aber nachher konnten wir unbehindert zuschauen wie die Tiere zerschnitten, ausgenommen und aufgehängt wurden. Besonders interessant aber fand ich, wenn die Schweine im heissen Wasser gebrüht wurden und anschliessend auf der Holzbank die Borsten abgeschabt (enthaart) wurden. Meine Mutter war gar nicht begeistert, wenn ich ihr von diesen Arbeiten erzählte, denn sie war überzeugt, dass mir dies schaden könnte. Ich selbst sah nie eine Gefährdung, ausser wenn mich die Arbeiter vor dem eigentlichen Schlachten mit dem Wasserschlauch aus dem Schlachthaus jagten. Dann warteten wir einfach draussen bei dem noch lebenden Vieh, das unter dem Vordach angebunden war. Aus den traurigen, verängstigten Augen konnte man lesen, dass die Tiere merkten was Ihr Schicksal mit ihnen vorhatte. Wahrscheinlich aus diesem Grund hatten die Metzger-Burschen dann grosse Mühe um sie in das Schlachthaus zu treiben. Die brutale Art und Weise wie das oft geschah, fand ich meist schlimmer als das Erschiessen der Tiere. In diesen Momenten taten mir die Tiere jedes Mal sehr leid.
(2) Das Nachbarhaus, der "Simon"
Rechts neben dem Stall war ein Gebäude mit einem komischen Grundriss. Vorne, gegen die Marktstrasse, war das Haus gebogen wie die Strasse, endete aber hinten in einem Spitz so wie ein Stück Kuchen. An diesem Spitz kam das Gebäude mit unserer Werksatt so zusammen, sodass wir Buben bei unseren Entdeckungs-Streifzügen hinter unserem Haus über das Blechdach auf das Dach ihrer Waschküche klettern konnten. Im Parterre des Gebäudes war ein Lebensmittelgeschäft das „SIMON“ genannt wurde. Frau Noser, die Besitzerin des Geschäftes, war eine gute Nachbarin und meine Mutter mochte sie sehr gut. Sie war Witwe und wohnte mit ihren zwei Töchtern, der Trudi und dem Marili, im zweiten Stock. Die beiden Mädchen waren viel älter als ich und mussten schon tatkräftig im Laden mithelfen. Fast jeden Tag erschien eine ziemlich feste Frau mit ihrem Buben in meinem Alter um im SIMON Einkäufe zu machen. Beim Anblick der feilgehaltenen Süssigkeiten begann der Bube immer sofort nach Schokolade oder anderen Schleckereien zu betteln. Und jedes Mal gab die Mutter nach und kaufte ihm was er begehrte. Immer wenn ich dies beobachtete wurde ich eifersüchtig, denn meine Mutter hätte mir nie Schleckereien gekauft. Sie sagte immer, dass Zucker sehr schlecht für die Zähne sei und sie kein Geld für den Zahnarzt hätte. Und wie immer hatte sie Recht gehabt. Der Bube, der später mit mir in der gleichen Klasse zur Schule ging und dessen Bruder man komischerweise „Mockäpäss“ nannte, hatte tatsächlich schlechte Zähne. Sie waren so schlecht, dass er schon bald nach der Schulzeit ein künstliches Gebiss tragen musste. Das war sehr schockierend für mich und ich hatte Bedauern mit ihm. An der Chilbi hatte die Familie Noser einen Stand auf dem Trottoir vor dem Laden, und die Töchter verkauften frische Früchte und vor allem Trauben aus Italien, die ich sehr liebte. Später machte ich dann während der Chilbi auch einen Stand vor dem Haus und hielt Haushaltartikel feil. Bald merkte ich aber, dass dies eine sehr verantwortungsvolle und riskante Arbeit war, denn man konnte den Stand nicht einfach unbeaufsichtigt verlassen. Schon damals verschwand alles was nicht niet und nagelfest war.
Im ersten Stock wohnte die Familie Fleischmann mit ihren drei Kindern. Wir spielten oft zusammen und bauten einmal sogar unser „eigenen Verkaufsladen“ auf dem leeren Stück Land zwischen unseren Häusern, das aber eigentlich auf dem Lande des „SIMONS“ war. Ich ging in alle Geschäfte im Dorf und fragte um Attrappen von Lebensmittel-Packungen die man damals in den Schaufenstern hatte. Es war erstaunlich wie viel „Ware“ wir bekamen und wie sich unser Inventar an Suppen, Zahnpasten, etc. rasch erweiterte. Eigentlich hatte ich gehofft, dass meine Schwester als Verkäuferin mitspielen würde, aber sie weigerte so wie meistens, wenn ich sie gerne mit dabeigehabt hätte. Dafür kamen viele andere Kinder und der Laden wurde ein regelrechter Anziehungspunkt. Das wurde dem Vater Fleischmann plötzlich zu viel. Da er als Schneider immer zu Hause war, hatte er unser Unternehmen von Anfang an missbilligend von seinem Fenster oben herab verfolgt. Eines Tages bat er meinen Vater die miese “Hütte“ abzureissen um wieder Ruhe zwischen den beiden Gebäuden zu haben. Das war für uns natürlich eine bodenlose Beleidigung und schliesslich ein dramatisches Zusehen wie unser, mit viel Herzblut und Mühe erstelltes „Geschäft“ in kurzer Zeit vernichtet war! Am Schluss wurden wir gebeten den ganzen „Plunder“ aufzuräumen! Erst später wurde mir bewusst, dass wir ja ohne Bau-Bewilligungen gebaut hatten und nicht einmal daran gedacht hatten eine Lizenz für das Geschäft einzuholen. Aber das ganze Spiel war schliesslich doch eine Lehre fürs Leben gewesen. Allerdings zeigte uns damals niemand auf welchen Umwegen und mit welchen Mitteln wir unser „Projekt“ gegen allen Widerstand trotzdem hätten durchkämpfen können…!


(1) Die Möbelfabrik Rüttiman & Rothlin
Das Leben im Dorf war damals vor allem von der Industrie geprägt. Ob Sommer oder Winter, immer um 11.30 Uhr, um 12.55 Uhr und um 17.00 ertönte das riesige Horn auf dem Dach der Möbelfabrik Max Stählin. Es war für uns fast wichtiger als die Uhr an den beiden Kirchtürmen, denn es kündigte nicht nur den Arbeits-Beginn und das Arbeits-Ende in der Fabrik an, sondern war eine Zeitansage für das ganze Dorf und besonders auch für uns Kinder. Bei seinem Aufheulen wussten wir immer, dass man entweder nach Hause zum Essen musste oder dass es höchste Zeit war um zur Schule zu rennen. Meine Mutter sagte immer: „Chasch verusä, aber wänns hornät, chunsch hei“! Ein anderer Hinweis, dass es Zeit war um nach Hause zu gehen, waren die unzähligen Arbeiter die aus den Fabriken nach Hause oder wieder zurückströmten. Das Dorf Lachen war damals vor allem für die Holzindustrie bekannt. Da war erstens das grosse Sägewerk Risi entlang dem Bahngeleise, die Sägerei Oberli und dann die Möbelfabriken Max Stählin und Rüttimann-Rothlin, die sehr schöne Qualitäts-Möbel herstellten. Aber da gab es noch eine Reihe von anderen Betrieben bei denen man Arbeit fand. So zum Beispiel bei Color Metall (RiRi), der Reissverschlussfabrik, der Seidenfabrik Stünzi & Söhne, der Baumwoll-Zwirnerei Ruoss-Kistler (die sich aber auf Galgener Boden befand), der Weblitzenfabrik Grob AG, der Schuhfabrik Growela, der Hemdenfabrik KAUF und der Webmaschinenfabrik Zipfel. Später kamen noch die Teppichfabrik FORBO, die Firma Industrielack, die Lackfarbenfabrik Stehlin und weitere, meistens kleinere Betriebe dazu. Heute ist von diesen Betrieben leider nicht viel übriggeblieben und auf den ehemaligen Fabrikarealen stehen Wohnungen oder die Betriebe wurden zu anderen Zwecken umgenutzt. Obwohl das Dorf heute kaum mehr von Industrie geprägt ist, nennen es die Politiker und Immobilienhändler eine „fortschrittliche Entwicklung“. Während früher die Arbeiter im Dorf wohnten und sogar zum Mittagessen nach Hause gehen konnten, ist heute für die Berufstätigen „pendeln“ zur Pflicht geworden. Man arbeitet auswärts und verbringt somit viel Zeit im Zug oder auf der Strasse, Zeit die man früher für die Familie und die Kinder hatte. Da bleibt schon die Frage ob bei diesen Veränderungen und dem damit ausgelösten täglichen Stress, der Verlust der damaligen Lebensqualität wert ist. Es wäre auch interessant zu wissen, ob mit dem erreichten Wandel und Wohlstand die Leute nun glücklicher geworden sind.
(2) Das Oberdorf mit Blick auf die Kirche
Obwohl die Industrie damals das Dorfbild beherrschte, war die Landwirtschaft genau so präsent. So betrieb die Molkerei Röthlin hinter dem Restaurant Schützenhaus, also fast im Dorfzentrum, eine Schweinezüchterei. Je nach Wetter und Wind hatten so alle Dorfbewohner abwechslungsweise das Glück sich selbst in einem Schweinestall zu fühlen. Zudem war jeden Dienstag Schweinemarkt (Süülimärt) der auf der Markstrasse ab unserem Haus bis zum Restaurant Sternen stattfand. Schon früh morgens kamen die Bauern mit ihren Fuhrwerken und ladeten ihre Kisten gefüllt mit Schweinen ab. Der ganze Morgen hörte man nichts anderes als das Grunzen und Quietschen der Schweine. Die Strasse war abgesperrt und so konnten nur Fussgänger den Markt durchqueren, durch den ich natürlich nach der Schule gerne einen Umweg machte. Meine Mutter schätzte meine Marktbesuche aber gar nicht, denn auf der Strasse hatte es überall Schweinekot und ich war eben nicht immer sehr aufmerksam. Dies büsste ich damit, dass ich meine Schuhe dann selbst putzen musste, was oft keine appetitliche Arbeit war. Aber auch die Reinigung der Strasse nach dem Markt war nicht einfach, denn die Markstrasse war damals noch mit „Bsetzisteinen“ (Kopfsteinpflaster) belegt. Aber dank Wasser aus den Hydranten war die Strasse nachmittags wieder sauber.
Frau Michel, die Wirtin vom „Eckstein“, machte jeden Dienstag, also zum Süülimärt, einen grossen Topf Fleischsuppe. Mit einem Anschlag am Fenster wurde dies den Bauern bekannt gemacht. Am Mittag war deshalb die Beiz immer bis auf den letzten Platz besetzt. Man hörte die Stimmen bis in unsere Wohnung, besonders wenn die Bauern gute Käufe oder Verkäufe gemacht hatten und das mit einem Schnaps und urchigem „Bödele“ feierten. Natürlich war dies ein wichtiger Tag für die Kasse von Frau Michel, aber dazu gehörte eben auch das Putzen der Böden am nächsten Tag, das meistens sehr mühsam und ekelerregend war. Das erlebte einmal auch mein Vater, denn oft blieben einige Bauern nach dem Essen in der Beiz und genossen mit dem gemachten Gewinn das Leben den ganzen Nachmittag und manchmal bis spät in die Nacht. Einmal klopfte ein Bauer ganz verzweifelt um fast Mitternacht an unsere Wohnungstür. Er hatte auf der Toilette erbrochen und jetzt fehlten ihm die beiden Zahnprothesen. Er flehte meinen schlaftrunkenen Vater an, ihm doch die Zähne aus dem WC zu holen. Mein Vater war gar nicht begeistert von seiner Forderung, willigte aber schliesslich doch ein mit ihm ins Erdgeschoss zu gehen. Als er die Zähne im WC nicht sehen konnte, fragte ihn mein Vater, ob er denn nach dem Erbrechen gespült habe? Der Bauer nickte herrisch und sagte verzweifelt „natürlich“! Irritiert versuchte ihm dann mein Vater zu erklären, dass in diesem Fall die Prothesen bereits im Jauchekasten seien und er diese nicht mehr finden könne. Das wollte der aufgebrachte und besoffene Mann überhaupt nicht verstehen und erboste noch mehr. So ging mein Vater mit ihm und einer Taschenlampe ein halbes Stockwerk tiefer und leuchtete in den übelriechenden Inhalt der Jauchegrube. Erst jetzt verstand der Bauer sein Unglück und liess meinen Vater endlich wieder zurück ins Bett gehen. Dem armen Kerl schickte mein Vater nie eine Rechnung für seine Dienste und konnte nur hoffen, dass der Bauer nicht seinen ganzen Tageserlös versoffen hatte und noch etwas übrigblieb um sich neue Zähne zu kaufen!
Einmal im Jahr fand die Viehausstellung auf dem Seeplatz statt. Aus der ganzen Gegend benutzten die Bauern diese Gelegenheit um ihr Vieh prämieren zu lassen. Schon Tage zuvor suchten Gemeindearbeiter die systematisch im Boden befindlichen Rohrhülsen. Darin wurden dann Stahlrohre eingesetzt und dann mit Ketten verbunden. Das ergab schliesslich eine grosse Anlage wo später die Kühe, Kälber und anderes Vieh angebunden werden konnte. Am Tag der Ausstellung war schon früh morgens Betrieb im Dorf und ständig trafen Bauern mit ihren Tieren ein. Natürlich hatten alle Kühe Glocken am Hals und das bewirkte ein unaufhörliches Gebimmel in allen Tonarten. Stolz marschierten die festlich gekleideten Besitzer neben ihren ebenso fein herausgeputzten und oft mit Blumen dekorierten Tieren an unserem Haus vorbei. Noch eindrücklicher waren aber die Bäuerinnen, die meistens in der Märchler Tracht gekleidet ins Dorf kamen. Am Nachmittag, nach der Prämierung der Tiere, kehrten die Besitzer mit ihren Tieren meist sofort wieder nach Hause zurück. Schliesslich mussten sie zur Melkzeit wieder im Stall sein. Bei der Rückkehr konnte man feststellen wie die Tiere prämiert worden waren, denn sie hatten je nach Kategorie ein entsprechendes, farbiges Schild auf der Stirne. Natürlich hinterliess die Viehausstellung jedes Jahr nicht nur Spuren auf den Strassen im ganzen Dorf, sondern auch immer einen ausgesprochen ländlichen Duft.
Lachen war früher bekannt und sogar berüchtigt wegen seinen vielen Beizen und „Schnapsbudeli“. Alkoholkonsum war damals normal und so machte sich niemand über die Nebenwirkungen grosse Gedanken. Sogar mein Vater genehmigte sich jeden Morgen vor dem Frühstück einen Schnaps. Meine Mutter bat ihn immer wieder diese blöde Mode aufzugeben, aber er war überzeugt, dass er seinen Hals regelmässig desinfizieren müsse. Im Vergleich zur damaligen Bevölkerung von ungefähr 3’000 Einwohnern waren die nachfolgenden 35 Lokale mit Alkoholausschank aber schon aussergewöhnlich:
Adler |
Bierhalle |
Gambrinus |
Ochsen |
Schützenhaus |
Alpenblick |
Central |
Jäger |
Pöstli |
Schwanen |
Alpenrösli |
Eckstein |
Kapelle |
Ratskeller |
Sonne |
Bahnhof |
Eintracht |
Kreuzplatz |
Rosengarten |
Sternen |
Bären |
Eisenbahn |
Marktstübli |
Rössli |
Tell |
Bauernhof |
Falken |
Merkur |
Rütli |
Traube |
Biergarten |
Frohsinn |
Metzg |
Schäfli |
Zehnder |
Die „Abendsonne“ an der Zeughausstrasse befindet bereits auf dem Gemeindegebiet von Galgenen und ist deshalb in der obigen Tabelle nicht aufgeführt.
Natürlich waren viele dieser Betriebe sehr klein und wohl kaum rentabel. Die Meisten überlebten nur weil der Besitzer den Betrieb selbst und ohne Personal führte. Die grosse Zahl von Beizen war für Geschäftsleute wie mein Vater eine ziemliche Herausforderung, denn sie zu ignorieren wäre für unser Geschäft schlecht gewesen. Zudem wäre man entweder als hochnäsig oder als geizig eingeschätzt worden. Für mich waren die Beizen lange tabu denn meine Mutter sagte immer wieder, dass diese Lokale nicht für mich seien. Als ich älter wurde konnte ich aber meiner Mutter nicht mehr gehorchen, denn mit meinen Kollegen war es einfach unmöglich am Wochenende zu kneifen und ein gemeinsames Bier in einer der vielen Beizen abzulehnen. Nach der Polizeistunde wurde ein Aufenthalt im Dorf besonders interessant, denn nun verliessen die letzten Gäste lautstark die Lokale. Oft ignorierten sie mit dissonanten Gesängen die schlafenden Nachbarn oder entschieden sich noch für eine handfeste Prügelei. Dies schätze der Wachtmeister überhaupt nicht, denn Ordnung mit Männern in alkoholisiertem Zustand zu schaffen war nicht immer leicht. Männer in diesem Zustand waren zu allem fähig und so warfen sie ihn einmal kurzerhand in einen Brunnen. Man nannte den Kanton Schwyz ja damals nicht grundlos „Kanton Mord und Totschlag“. Um ein solches Spektakel nicht zu verpassen trafen wir uns Buben oft am Samstag um Mitternacht beim „Löli-Ecken“, gegenüber dem Rathaus, dort wo früher der Konsumverein seine Filiale hatte. Trotz der riesigen Auswahl an Beizen zog ich aber später mit einigen Kollegen das ruhige „Café Wolf“ an der Kantonsstrasse beim Spreitenbach vor. Es war ein kleines, nettes Lokal, das an die Autogarage und Tankstelle der Familie Wolf angebaut war. Mit einer Tochter des Besitzers die das Lokal führte, konnte man stundenlang und oft sehr angeregt über das Geschehen im Dorf und der ganzen Welt diskutieren
Der Konsumationsdruck auf Gewerbetreibende galt auch für die Vereine, denn um freiwillige Zuwendungen zu erhalten wurde nicht nur überall „eingekehrt“, sondern man musste auch alle Geschäfte im Dorf berücksichtigen, also auch den Bäcker, den Metzger, den Coiffeur, usw. Ich war mir bewusst, dass auch das Überleben unseres Betriebes von diesen Berücksichtigungen abhing, aber ich empfand diesen Zwang äusserst demütigend und unerträglich. Dieser Zustand hatte für meine Begriffe nichts mit Handels-Freiheit zu tun und war so einschränkend, dass ich diese Situation in einem eigenen Betrieb weder akzeptieren, noch hätte weiterführen wollen. Diese Erkenntnis war schliesslich auch einer der Gründe wieso ich später den väterlichen Betrieb nicht übernahm. Ich wollte frei und ohne Druck entscheiden können welche Geschäfte für meine Einkäufe in Frage kamen und wo es mir Spass machte „einzukehren“.
Gleichzeitig bestand damals ein gegenteiliger, öffentlicher Druck und zwar gegen die Billigung der MIGROS, der gefährliche Feind des Kleinhandels und der Kleinbetriebe. Man fürchtete um seine Existenz und dass ein landesweites „Lädelisterben“ eintreten würde; eine Befürchtung die sich ja später auch teilweise bestätigte. Obwohl die MIGROS damals keine Bewilligung hatte sich im Kanton Schwyz niederzulassen, fand der schlaue Gründer, Gottlieb Duttweiler, eine Lösung. Er suchte private Lebensmittelgeschäfte die willig waren auch MIGROS Artikel in ihrem Sortiment aufzunehmen. In unserem Dorf konnte man deshalb im Laden eines „Verräters“, der „GIRO“ hiess, neben anderer Ware auch MIGROS Produkte kaufen. Natürlich verstand ich die Ängste meiner Eltern, war aber trotzdem immer versucht mich in diesem Geschäft wenigsten einmal umzusehen. Ich war mir zweifellos bewusst, dass wenn ich dort gesehen würde, dies unter den Gewerbetreibenden im Dorf sofort als schlimmes Vergehen verurteilt würde. Zudem hatte ich auch Angst mit meiner Neugier dem Ruf meiner Eltern zu schaden. MIGROS war und blieb für uns deshalb tabu. Allerdings nur in unserem Dorf, denn im Kanton Zürich hatte MIGROS ja schon seit einiger Zeit Filialen und dort kannte mich niemand. So konnte ich dort in aller Ruhe die neuen, stark kritisierten Verkaufsmethoden (Selbstbedienung) erkunden, immer in der Hoffung vielleicht etwas zu lernen oder später sogar zu imitieren.
Zum Glück gab es im Dorf eine Ausnahme. Es war eine Person die damals noch keine solchen Überlebens-Sorgen hatte und vielleicht gerade deshalb mit ihrer Lebensfreude und Ausstrahlung immer in Erinnerung bleiben wird. Es war der „Glace-Ma“, der im Winter zum „Marroni-Ma“ wurde. Im Sommer kam er jeden Tag vom Oberdorf her ins Dorf. Er wohnte in Galgenen und hiess Mastolaro. Immer schob er eine wunderbare, fahrbare Eisdiele oder „Gelateria“ vor sich hin und meldete seine Gegenwart mit einer Glocke. Der immer fröhliche Italiener hatte einen Schubkarren in ein märchenhaftes Gefährt umgebaut, das mich immer sehr faszinierte. Seine Eisdiele war rechteckig, die Räder waren mit Seitenwänden abgedeckt und die Verkaufsfläche mit einem romantischen Baldachin vor der Sonne geschützt. Die Tragstützen des Baldachins waren nicht einfach Holzpfosten, sondern mit verschiedenen Profilen von einem Schreiner gedreht worden. An den Trägern waren Glasleuchter befestigt, die nachts ein musisches Licht ausstrahlten. Ausser einigen Ornamenten in Goldfarbe war alles Schneeweiss gestrichen. Auch er selbst war immer schneeweiss gekleidet und erschien mit einem Koch-Hut auf dem Kopf noch eindrucksvoller. Damit war er natürlich eine Erscheinung die im Dorf nicht unbemerkt blieb. Auf der äusserst sauberen Verkaufsfläche sah man nur die funkelnden Deckel der Glace-Behälter die unter der Fläche gekühlt eingebaut waren. Allerdings war die Auswahl mit Vanille und Erdbeere damals sehr bescheiden. Wenn man eine Glace bestellte, nahm er eine Art Metall-Form aus einem mit Wasser gefüllten Eimer, legte eine dünne Waffel hinein und füllte sie mit der Glace. Dann legte er eine zweite Waffel darauf und stiess dann die fertige „Eis-Waffel“ aus der Form und übergab sie dem Kunden. Damals gab es noch keine Cornets und so musste man aufpassen, dass der süsse Genuss in der Sommerhitze nicht gleich auf allen vier Seiten schmolz und so über die Hände und Kleider lief. Im Herbst schien der „Glace-Ma“ verschwunden und man sah ihn erst wieder im Winter, wenn er im Dorf „Eissi Marroni, ganz eiss!“ ausrief. Im Winter nannten wir ihn deshalb den „Marroni-Ma“. Er hatte immer gute Marroni und sogar mein Vater kaufte manchmal einige Gramm, die wir dann zu Hause teilten und genossen. Ob „Glace-Ma“ oder „Marroni-Ma“, der Italiener war immer so wohl gelaunt und sympathisch, dass ihn alle im Dorf sehr schätzten. Zeitweilen machte ihm im Winter ein anderer, populärer „Marroni-Ma“ Konkurrenz: der Michele Brusetti, der Grossvater eines Schulkammeraden.
Neben dem „Glace-Ma“ gab es noch weitere Personen die im Dorf alle kannten. Sie waren aber eher Dorf-Originale über die man sich lustig machte oder die wir Buben gelegentlich zu ärgern versuchten. Einer der Bekanntesten war der gute René, der im Bürgerheim wohnte und dort viel im Garten arbeitete. Er „spannte“ bei Hochzeiten in einer schwarzen Kleidung und einem Zylinderhut vor der Türe der Kapelle und erwartete gerne einen „Batzen“ oder einige „Füürschtei“ beim Erscheinen des Brautpaares. Eigentlich war er immer freundlich, aber wir Buben versuchten ihn trotzdem manchmal zu ärgern. Dann wurde er aufgeregt und rannte einfach „nach Hause“ ins Bürgerheim. Manchmal versuchten wir ihn durch das Gitter des Gartenhages zu hänseln. Aber das entging den Ingenbohler Schwestern selten und sofort jagten sie uns schimpfend davon.
Eine weitere Person, oder besser gesagt ein Original, das alle Leute im Dorf kannten, das war der „Kafader-Päuli“ der an Down-Syndrom litt. Man sah ihn fast jeden Tag im Dorf, meistens um etwas für seinen Vater zu erledigen. Er war immer sehr freundlich, konnte aber auch sehr ungehalten sein. Dann liess man ihn am besten weiterwatscheln. Es war erstaunlich wie er fast alle Leute mit Namen zu grüssen wusste und dass ihn sein Vater sogar mit Zahlungen auf die Post schicken konnte. Das zeigte, dass er trotz seinen Einschränkungen sehr gewissenhaft war und vielleicht auch deshalb im Dorf immer Respekt erfahren durfte.
Im Bärengässli wohnte eine weitere Person die wir gerne foppten. Es war der mental leidende Sohn der Familie Beeler, der zu Hause betreut wurde. Allerdings konnte dieser sehr aggressiv und böse werden. Und genau dies versuchten wir Buben oft zu provozieren. Dann kam er wie ein wildes Tier schreiend auf uns los und wir rannten davon. Zum Glück war die Gartentüre immer geschlossen, sonst hätte er uns sicher einmal erwischt. Natürlich kam bei seinem ersten Aufschrei sofort die Mutter oder der Vater aus dem Hause und beschimpfte uns. Aber alles nützte nichts, beim nächsten Mal im Bärengässli konnten wir es nicht lassen, den armen Burschen wieder zu provozieren.
Natürlich hatte ich manchmal einen anderen triftigen Grund den Weg zur Schule durch das Bärengässli zu wählen. An der Ecke des Bärengässli und der St. Gallerstrasse befand sich nämlich die Bäckerei Häfliger, wo man immer durch das Fenster in der Backstube sehen konnte. Wenn das Fenster offen war bat ich oft um etwas Teig. Meistens gab er mir ein kleines Stück, ein Stück das ich nicht zum Backen oder Essen brauchte, sondern um kleine Kügelchen zu formen. Beim vielen Drehen mit meinen schmutzigen Fingern wurden sie bald dunkelbraun und ideal um meine Klassenkameraden damit zu beschiessen. Aber der erhaltene Teig wurde nicht immer auf diese Weise vergeudet. Es kam vor, dass mir meine Mutter einen „Z’nüni-Apfel“ mitgab und mir vorschlug ihn beim „Beck“ Häfliger im Teig backen zu lassen. Auf dem Heimweg holte ich ihn dann ab und genoss das feine Gebäck zu Hause.
(3) Aus dem Zeichnungsheft der vierten Klasse (1952)
Während meiner Jugend hatten wir noch sehr lange und strenge Winter. Aber das hinderte uns Kinder nicht den Schnee zu geniessen. Schon als keinen Knirps gingen meine Eltern mit mir schlitteln, zuerst am Landsgemeindeplatz, dann bei der Steinegg am „Säuglingshang“ und später bis zum Bräggerhof, was immer eine rasante Abfahrt versprach. Meine Mutter war in den Bergen aufgewachsen und deshalb gewohnt Ski zu fahren. Als ich etwas grösser wurde, bekam ich das erste Paar Ski und machte, wie alle in Lachen, meine ersten Versuche am „Säuglingshang“. Anfangs war ich mehr am Boden als auf den Skiern und konnte mich deshalb nicht sofort dafür begeistern. Aber da auch in der Schule Skifahren gefördert wurde und ich meine Fähigkeiten mit anderen Buben vergleichen konnte, kam schliesslich doch noch Interesse für diesen Sport auf. Allerdings verlangte das Skifahren damals sehr viel Anstrengung, denn es gab weder Skilifte noch präparierte Pisten. So mussten wir unsere Bretter auf den Achseln mindestens bis zum Bräggerhof tragen um eine lohnende Abfahrt geniessen zu können. Für ein Totalerlebnis mussten wir aber noch viel weiter hinaufsteigen, beim Waldeggli vorbei bis zum Stöcklichrüz auf 1248 m ü.M. Allerdings war der erste Hang, das Wellblech, kein spezieller Genuss. Alle Grundstücke die wir auf der Abfahrt durchquerten waren in Privatbesitz, also Wiesen von Bauern die wir immer ohne Bewilligung durchquerten. Besonders wenn es nicht viel Schnee hatte, waren wir Skifahrer bei den Bauern gar nicht willkommen, denn wir produzierten mit dem Abrutschen auf den fast aperen Wiesen manchmal Landschaden. Einige Landbesitzer umzäunten deshalb ihre Wiesen mit Stacheldraht um so unsere Durchfahrt zu verhindern. Ohne Vorsicht endete man darum gerne mit zerrissenen Hosen und Kratzer an den Beinen im Schnee. Tückisch war es auch wenn Bauern den wunderbar weissen Schnee mit Jauche (Gülä) übersprüht hatten. Aber wenigstens war man dann durch den farbigen Schnee gewarnt und durfte sich danach einfach keinen Sturz erlauben!
Damals wurden öffentliche und dringende Mitteilungen an die Bevölkerung durch den Gemeindeweibel, Herr Ruhstaller, ausgerufen. An solchen Tagen hatte er die Pflicht auf seinem Fahrrad durchs ganze Dorf zu fahren und die aufgetragene Ansage der Bevölkerung mitzuteilen. Immer wieder stieg er vom Fahrrad und begann dann sofort mit einer Glocke die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Dann hörte man ihn mit kräftiger Stimme zum Beispiel folgendes rufen: „Es wird bekannt gemacht…, dass vom Zwei bis am Füüfi z’Wasser abgeschtellt wird!“ Wenn man ihn nicht gehört oder verpasst hatte war das kein Problem, denn die Nachricht wurde anschliessend von den Nachbarn nochmals übermittelt. Ich fand diese Art von persönlicher Kommunikation immer sehr sympathisch und es war schade, dass diese Tradition schliesslich aufgegeben wurde.
Die persönliche Kommunikation funktionierte auch bestens ohne Gemeindeweibel. Man kannte sich im Dorf und es gab überall immer Augen die nur zu gerne etwas gesehen hätten um es dann sofort in Umlauf zu bringen. Wenn ich unbewusst jemanden auf der Strasse nicht grüsste, wurde dies meinen Eltern bei der nächsten Gelegenheit vorwurfsvoll mitgeteilt und ich wurde dann beschuldigt unfreundlich zu sein mit den Leuten. Es gab keine Anonymität im Dorf, dafür aber ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Solidarität, etwas das leider sehr verloren ging. Man war „Lachner“ und darauf war man stolz. Gleichzeitig grenzte man sich aber bewusst von Einwohnern aus Nachbargemeinden ab. Besonders mit den Leuten aus Siebnen bestand eine seltsame, ja vielleicht argwöhnische und misstrauische Beziehung. Natürlich hatten wir den Vorteil, dass unser Dorf am See gelegen war und wir deshalb vielleicht etwas anders geprägt waren. Jedenfalls nahm der Zwist um die Fasnachtszeit meist ganz spezielle Formen an. Im Turnus organisierte jede Gemeinde ihren eigenen Fasnachtsumzug. Jede Gemeinde wollte immer den besten und schönsten Umzug vorführen. Um dies den Konkurrenten zu vermiesen, beauftragten beide Veranstalter jeweils „Wettermacher“ um am Umzug des Gegners für Regen oder Schnee zu sorgen. Einmal hatte dies sogar funktioniert und der Siebner Umzug wurde total verregnet. Prompt wurde beim nächsten Fasnachts-Umzug noch mal nachgedoppelt und ein Wagen voll mit Regenschirmen mit dem Motto „Z’Siebne gosch mit em Schirm at d’Fasnacht“ vorgeführt. Natürlich war dies ein ziemlich gemeiner Fasnachts-Scherz, doch da man die Fasnacht des Nachbarn meistens sowieso eigenwillig mied, blieb er für die Meisten in Siebnen wohl unbemerkt. Trotzdem „lächelte“ man in Lachen an der Fasnacht weiter so wie immer!
Aber nicht nur an der Fasnacht wurde gescherzt. Während dem ganzen Jahr machten die sogenannten „Nachtbueben“ von sich reden. Allerdings waren ihre Spässe nicht immer lustig und endeten oft mit Beschädigungen. Meistens entdeckte man erst am Morgen, wo „gleidwärchet“ oder „gschändet“ worden war. Mein Vater war öfters Opfer von so mutwilligen und kopflosen Taten. Immer wieder musste er unseren Handwagen im ganzen Dorfe suchen und verlor dabei kostbare Arbeitszeit. Der Handwagen hatte seinen Platz unter dem Vordach neben dem hinteren Eingang zum „Eckstein“. Der Abstellplatz war wohl eingezäunt, aber das Tor liess sich leicht öffnen. Und so war er für die heimkehrenden, angetrunkenen Gäste eine einladende Versuchung um sich damit zu vergnügen (etwa so wie es heute mit den Einkaufswagen der Shopping-Center geschieht). Aber auch unsere Auszugs-Leitern waren vor den „Nachtbueben“ nicht sicher. Die Leitern waren diskret unter einem Blechdach beim Werkstatteingang aufgehängt und waren zusätzlich durch eine Metall-Gittertüre geschützt. Aber mein Vater hatte trotzdem Bedenken, dass die Übeltäter mit einer entwendeten Leiter einen Unfall bauen könnten und er dann schliesslich dafür verantwortlich sein müsste. Aber auch andere Betriebe wurden Opfer von diesen „Nachtschwärmern“. Sogar die Seeanlagen waren nicht sicher vor ihnen. Pflanzen wurden nicht nur mutwillig ausgerissen, sondern weggeworfen oder gestohlen. Neben weiteren Schändigungen wurden einmal sogar einige der roten Holzbänke am Seeufer zersägt. Natürlich hatte niemand etwas von der Tat gesehen oder gehört!
Der ganze Strassenverkehr aus Zürich in Richtung Graubünden und zurück führte damals unausweichlich durch unser Dorf und an unserem Hause vorbei. Am Sonntagabend war der Verkehr oft unerträglich, denn da kehrten die vielen Ausflügler nach Hause zurück. Pausenlos fuhren Autos durchs Dorf und man hatte Mühe die Strasse sicher zu überqueren. Zum Glück unterbrach die Barriere im Oberdorf von Zeit zu Zeit diese Autolawine und lichtete für kurze Zeit den blauen Abgasdunst. Während der Woche waren es die schweren Lastwagen die unser Haus zittern liessen und ich fragte mich oft ob das Haus solide genug sei um auf Zeit der ständigen Belastung Stand zu halten. Aber nicht nur die Autos durchquerten unser Dorf, sondern auch die Bahn. Durch die Geleise war das Dorf in zwei Teile getrennt und mit Bahnübergängen miteinander verbunden. Es gab vier Barrieren, eine beim im Aetzihof/Sagenriet, eine beim Rütli, dann an der Alpenblickstrasse und eine sehr kleine (nur für eine Person) beim Griesammler. Die drei letzt aufgeführten Barrieren wurden von einer Frau in einem Wärterhäuschen beim Rütli bedient. Sie hatte die drei Barrieren immer genau im Auge und wusste immer wenn jemand unter der Barriere hindurch schlüpfte und in Eile über die Geleise huschte. Dies kam auch oft bei der vom Bahnhof bedienten Barriere „Aetzihof“ vor, denn nur zu oft blieb diese sehr lange geschlossen um nach der Durchfahrt des normalen Zuges noch einen Schnellzug oder einen Güterzug abzuwarten. Dann ignorierten nicht nur wir Kinder, sondern auch eilige Erwachsene die geschlossenen Barrieren.
Lokale Transporte wurden von Fuhrhaltern mit Ross und Wagen ausgeführt. Auch das Bier, die Milch und andere Waren wurden auf diese Weise angeliefert. Einmal pro Woche lieferte die Brauerei Wädenswil das Bier in Fässern mit einem Wagen der von zwei, manchmal vier wunderbaren, starken Pferden gezogen wurde. Grössere Güter wurden von den Fuhrhaltern ebenfalls mit Ross und Wagen transportiert. Diese Art von Transport verursachte keine Luftverschmutzung und lieferte meiner Mutter immer wieder frischen Bio-Dünger in Form von „Rossböllen“ die sie der Erde beimischte und vor allem für die Rosen gedacht waren. Die Molkerei Röthlin hatte schon damals einen täglichen Hauslieferdienst. Im Turnus machten die Söhne der Familie Röthlin ihre Tour mit Pferd und Anhänger durchs ganze Dorf um ihren Kunden mit Milch direkt aus der „Tanse“ (Taussä) zu bedienen. Es war frische und unbehandelte Milch die jeden Tag zweimal von den Bauern bei der Molkerei Röthlin abgeliefert wurde. Da man wusste, dass die Milch direkt aus dem Stall kam, wäre es niemandem eingefallen bei Röthlin’s zu reklamieren, wenn man eine Fliege oder ein Haar darin fand (oder die Milch deswegen sogar weg zu schütten). Es war normal die Milch zu sieben und sie vor Gebrauch erst aufzukochen. Allerdings schmeckte mir die Milch ganz frisch von der Kuh viel besser, am Allerbesten aber auf einer Alp. Dabei machte ich mir keine Gedanken ob die Milch behandelt war oder vielleicht sogar unsichtbare Schadstoffe enthalten könnte. Die Milch war einfach ein herrlich natürliches Getränk das ich jeden Tag genoss. Und wenn ein Bauer einmal versuchte seine Milch mit Wasser zu streckten, dann dauerte es nicht lange bis dies allen im Dorf bekannt wurde.

Während den ersten Tagen im neuen Jahr war man eigentlich noch in Weihnachts-Stimmung und mit den Geschenken beschäftig. Erst am 6. Januar, dem Tag der Erscheinung des Herrn (Epiphanie) und dem Festtag der heiligen drei Könige, merkte man, dass ein neues Jahr begonnen hatte. An diesem Tag gab es bei uns immer einen Dreikönigskuchen aus süssem Hefeteig, der zu Kugeln geformt und blütenförmig angeordnet mit Mandelblättchen und Hagelzucker bestreut war. Mit dem gekauften Kuchen gab es eine goldene Papierkrone, denn in einem der Kugeln war eine kleine Figur in Form eines Königs eingebacken. Wer beim Essen auf diesen Glücksbringer stiess, war für einen Tag König. Früher benutze man eine getrocknete Bohne, eine Mandel, eine Münze oder einen anderen kleinen Gegenstand. Ich hatte oft das Glück auf meiner Seite und genoss es einen ganzen Tag meiner Schwester zu zeigen wer regierte.
Um Mitternacht des Dreikönigstages begann jeweils das traditionelle Einschellen der Fasnacht. Schon als kleiner Knirps war ich fasziniert von diesem heidnischen Brauch den Winter und die dunklen Geister mit viel Lärm zu vertreiben. Doch ich musste zuerst gross und kräftig werden um selbst mitmachen zu können. Und als ich glaubte es sei soweit, präsentierte ich mich mit anderen Burschen gegen Mitternacht bei der Spreitenbach-Brücke wo wir die Treicheln fassten. Ich bekam zwei Treicheln, die mir an einem Rundholz angehängt wurden, das ich hinter dem Kopf über beiden Achseln trug. Als ich mir bewusst wurde welches Gewicht diese Treicheln tatsächlich hatten, war es schon zu spät um meine Meinung zu ändern, denn die „Einscheller“ marschierten bereits los. Mit dem Lärm den wir produzierten vertrieben wir natürlich nicht nur alle Dämonen des Winters, sondern schreckten auch viele Einwohner aus ihrem Schlaf. Natürlich war die Last der Treicheln viel zu gross für mich und bald merkte ich wie schwierig es war sie im Gleichschritt zu schwenken. Ich bedauerte, dass ich beim Fassen der Treicheln zwei Geissen-Glocken geringschätzig verweigert hatte, die mir anfänglich angeboten wurden. Aber eben, ich wollte schon erwachsen sein und so hatte ich mich überschätzt. Der Marsch ins Dorf war mühsam und so war ich froh als wir schliesslich dort ankamen und die Treicheln wieder abgeben konnten. Meine Einbildung schon erwachsen zu sein und mein falscher Stolz wurden mit Schmerzen in meinen beiden Achseln und tauben Ohren während fast einer ganzen Woche bestraft. Trotzdem war es ein einmaliges Erlebnis gewesen bei diesem Brauch aktiv dabei zu sein. Hingegen war ich ein Jahr später an einer Teilnahme beim Einschellen nicht mehr interessiert.
Da die Weihnachtszeit nach dem Dreikönigstag der Fasnacht Platz machte, passten natürlich die Weihnachtssymbole nicht mehr in die Stube und so war es auch meistens der Tag wo man den Christbaum abräumte, wo man die Kugeln vorsichtig in Seidenpapier versorgte und die vielen abgefallenen Tannennadeln am Boden mühsam mit dem Staubsauger entfernte. Gleichzeitig begannen die Mütter Fasnachtsküchlein und „Schenkeli“ zu backen. Auch meine Mutter verwöhnte uns mit diesen Backwaren, ja sogar „Berliner“ mit hausgemachter Himbeerkonfitüre „im Herzen“, die im Öl frittiert werden mussten und daher eher schwer verdaulich waren. Natürlich war ich bei der Zubereitung immer dabei und half wo ich konnte. Da aber immer heisses Öl im Spiel war, durfte ich nicht zu nahe an den Kochherd. Dafür durfte ich bei einer Arbeit mit weniger Fett- und Ölgehalt mithelfen, zum Beispiel bei den „Bricelet“ oder Bretzeli. Anfangs machte sie meine Mutter noch auf dem Feuerofen, aber bald kaufte sie ein elektrisches Bretzel-Eisen, das ich dann sogar selbst bedienen durfte. Die Bretzeli wurden dann in einer schönen Aluminium-Dose aufbewahrt und wenn Gäste kamen während der Fasnachtszeit aufgetischt. Oft konnte ich nicht widerstehen und öffnete die Dose in Abwesenheit meiner Mutter…! Noch besser aber mundeten mir die Ziegerkrapfen aus der Konditorei Schmid; sie waren einfach himmlisch gut. Genau so gut waren die „Lachnerli“, die man zum meinem Glück das ganze Jahr dort kaufen konnte. Sie kosteten damals nur 20 Rappen und so nannte man sie „20er-Stückli“. Immer erhältlich waren auch die „Schriberli“, ein knuspriges Gebäck für das ich gerne mein sauer verdientes Sackgeld opferte. Leider ist das leckere Gebäck seit die Schriber’s die Bäckerei aufgaben nicht mehr erhältlich. Ich hatte noch mehrer Male erfolglos bei Frau Schriber nach dem Rezept gefragt, aber sie blieb verschwiegen. Das „Schriberli“ war nämlich so gut, dass ich das Rezept ganz gerne mal zu Hause ausprobiert hätte.
Eigentlich war es verboten in der „Uzyt“ nachts maskiert auf die Strasse zu gehen, denn dafür gab es die offiziellen Fasnachtstage, der Erste immer am letzten Montag im Januar. Aber niemand scherte sich um Vorschriften und die Polizei hielt sich meistens diskret zurück. Es waren Wochen wo man sich unter einer Larve vieles erlaubte, welches man sich normalerweise niemals getraut hätte. Es war eine limitierte Zeit von Freizügigkeit die oft an Unsittlichkeit grenzte. Interessanterweise wurde diese unmoralische Zeit von der Kirche nie verboten. Vielleicht aber verstand sie das Bedürfnis der Menschen sich wenigstens einmal im Jahr aus dem Konformitätsdrucks der umgebenden Gesellschaft zu lösen und sich frei zu fühlen etwas zu tun was sonst nicht toleriert wurde.
(1) Fröhliches Fasnachtstreiben im Dorf (aus dem Zeichnungsheft der 2. und 3. Primarklasse)
Während die Erwachsenen nun mehrere Wochen Zeit hatten die Fasnacht zu geniessen, mussten wir Kinder geduldig auf den ersten offiziellen Fasnachtstag warten. Dieser Tag begann meistens mit einer Hexenjagd. Als Hexen verkleidete Masken verfolgten uns Buben durchs ganze Dorf und versuchten uns zu erwischen. Einige hatten „Süblotere“ (aufgeblasene Schweine-Blasen), meist noch mit Blut verschmiert, bei sich. Wenn man erwischt wurde bekam man eine „Süblotere“- Lektion, was nicht immer appetitlich war. Am Nachmittag kamen dann schönere Masken ins Dorf und es wurde gemächlicher. Ich liebte besonders die schönen Dominos oder die Rölli, denn diese verteilten „Eierkränze“. Dann kamen noch zwei weitere Fasnachtstage im Februar, wo am Dienstag die Wurst- und Brotverteilung stattfand.
Da mein Vater in Basel aufgewachsen war, fühlte er sich während der Fasnachtszeit besonders in seinem Element. Fast jedes Jahr fuhr er nach Basel zu seinen „drei schönsten Tagen des Jahres“, so wie es die Basler nennen. Meine Mutter konnte mit der Fasnacht nichts anfangen. An ihrer Stelle durfte ich aber schon als kleiner Junge meinen Vater begleiten und sogar mit ihm an den „Morgenstraich“. Aus diesem Grund war er auch ein begeistertes und sehr aktives Mitglied der „Narrhalla“, der im Jahre 1864 gegründeten Lachner Fasnachtsgesellschaft. Manchmal versuchte er Elemente der Basler Fasnacht im Dorf einzuführen, aber mit solchen Experimenten kam er gar nicht gut an. Doch nach Jahren Geduld gelang es ihm trotzdem. Zusammen mit Onkel Heiri (Diethelm) kreierten sie im Jahre 1950 für den Fasnachtsumzug, mit dem Motto "Lachen lächelt", den „Lachner Grind“, ein Kopf mit einem fröhlich lachenden Gesicht. Es war erstaunlich, dass diese für Lachen neue Art von Maske, plötzlich akzeptiert wurde, denn im Grunde genommen war sie nichts anderes als den Basler „Fasnachtsmasken“ nachgeahmt und hatte überhaupt nichts Gemeinsames mit der Märchler-Fasnachtskultur.
(2) Der von Heiri Diethelm kreierte "Lachner Grind"
Während Onkel Heiri den „Lachner-Grind“ entwarf, wurden die ersten Prototypen in unserer Werkstatt oder bei Onkel Heiri in seinem Atelier angefertigt. Diese Arbeiten interessierten mich besonders und so durfte ich auch immer mithelfen. Zuerst wurde die Maske aus Gips kreiert und dann ein Negativ davon hergestellt. Dann wurde Zeitungspapier in Wasser eingeweicht und mit Kleister lagenweise in oder auf die Negativ-Form gelegt, sodass ein solider Karton entstand. Sobald die Maske trocken war, wurde sie von der Form genommen und zum weitertrocknen neben den Holzofen gelegt. Für den „Lachner Grind“ brauchte es zwei Formen, eine für das Gesicht und die Andere für den Hinterkopf. Die beiden Teile wurden dann zusammengenäht und die „Narbe“ mit nassen Papier und Kleister zum Verschwinden gebracht. Am Schluss wurde der Grind bemalt, was meistens Onkel Heiri machte. Manchmal wurde eine grosse Anzahl Köpfe gebraucht und so war ich immer gerne in der Werkstatt gesehen. Für den Fasnachtsumzug baute mein Vater und Onkel Heiri in unserer Werkstatt den grossen „Lachner Grind.“ Er wurde dann am Fasnachts-Umzug auf Rädern durchs ganze Dorf gezogen und später sogar nach Zürich an die Fasnacht mitgenommen. Obwohl ich beim Kleben von „Lachner-Grinden“ oft mithalf, durfte ich erst viel, viel später einmal einen solchen an der Fasnacht selbst tragen. Ohne Mitglied der „Narrhalla“ zu sein, durfte man damals wohl „Lachner-Grinde“ anfertigen, aber nicht tragen.
(3) Lachner Fasnachtsumzug 1950
Natürlich wollte mein Vater immer, dass auch ich an der Fasnacht teilnahm. Schon als kleiner Knirps verkleideten mich meine Eltern. Sie fanden in der Fasnachtskiste auf dem Estrich eine Mädchentracht aus Ungarn und die musste ich unbedingt anziehen. Sie bestand aus einem grünen Filzjupe mit zwei Goldbändern am Saum, einer weissen, langärmligen Bluse und einem dreieckigen Kopfschmuck mit rotweissen Bändern die über die Ohren bis auf die Brust reichten. Dann hatte ich noch einen eleganten, grünen Handbeutel um mein Taschentuch und andere Mitbringsel zu verstauen. Und ob das Übel nicht schon genug gewesen wäre, wurden dann noch meine Backen rosa und die Lippen knallrot geschminkt! Ich verstand gar nicht was diese Verkleidung mit Fasnacht zu tun hatte, denn sie war für mich überhaupt nicht lustig. Zudem sträubte ich mich „Wiber-Chleider“ zu tragen, denn ich wollte unter keinen Umständen als ein Mädchen im Dorf gesehen und von den anderen Buben ausgelacht werden. Aber mein Protest nützte nichts, meine Eltern fanden mich niedlich und ich musste einfach als Mädchen an die Fasnacht. Wenn ich schon ein weibliches Wesen sein musste, dann wäre ich anstatt „niedlich“ lieber eine böse, hässliche Hexe gewesen, so hätte ich wenigstens zur Märchler Fasnacht gepasst. Und so trabte ich mit gesenktem Kopf neben meinen Eltern her und fragte mich wieso sie mir diese Schmach antaten? Zu meinem Erstaunen passierte nichts das mich beleidigt hätte und andere Eltern fanden mein „Fasnachts-Kleidchen“ sogar sehr originell und „herzig“. Aber all dies konnte meine miese Fasnachtstimmung auch nicht erheitern.
(4) An die Fasnacht mit einer Tracht aus Ungarn
Als ich etwas grösser wurde durfte/musste ich als „Ringgi und Zofi“* an den Fasnachts-Umzug. Für diesen speziellen Auftritt wurden die Maske, die Kleider und die Hundekiste speziell für die Fasnacht angefertigt. Diesmal wehrte ich mich nicht, denn man konnte ja mein Gesicht unter dem „Grind“ nicht sehen. Allerdings hatte ich Mühe die Hundekiste mit dem Zofi während dem ganzen Umzug mitzutragen. Die blöde Kartonkiste hinderte mich am normalen Gehen. *Ringgi (von Ringier abgeleitet) ist ein Reporter und Zofi (von Zofingen, dem Sitz von Ringier) seinem Dackel.
(5) An die Fasnacht als Ringgi und Zofi
Im Juni 1950 fand in Lachen das Schwyzer Kantonal-Jubiläumssängerfest statt. Das Logo des Festes war ein Singvogel. Damit hatte mein Vater bereits schon wieder eine Idee für den Fasnachtsumzug des darauffolgenden Jahres. Er kreierte eine Figur die den Gesang und die Musik symbolisierte. Und wieder wurde ich zum Opfer seines Projektes. Ich musste ein langes, blaues Kleid tragen, das bis auf den Boden reichte und mit vielen weissen Singvögeln und einem grossen Notenschlüssel dekoriert war. Mein Kopf wurde zu einem Notenkopf auf dem ein grosser weisser, singender Vogel sass, der seine Lieder unter dem Noten-Fähnchen gegen den Notenhals piepste. Am Notenkopf angemacht waren zudem lange Haare die in zwei Teilen bis zu meiner Hüfte reichten und auf beiden Seiten mit je einer weissen Masche zusammengehalten wurden. Natürlich ging das alles nicht ohne mein Gesicht zu schminken. Ich bekam grosse rote Backen und dunkle Augenbrauen aufgemalt. In der Hand trug ich einen kleinen eleganten Handbeutel, der aus dem gleichen Stoff wie das Kleid gemacht war. Darin hatte ich Süssigkeiten für die Kinder. Der Name dieser Schöpfung: „Singvögeli“!!! Zu dieser Zeit war ich schon 9 Jahre alt und so war es für mich unerträglich in dieser Aufmachung in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Aber wieder fand ich kein Gehör bei meinem Vater und ich musste die Sache einfach durchstehen. Diesmal ging es nicht so gut, denn meine Kopfdekoration war viel zu hoch und rutschte immer hin und her. Schlimmer war jedoch, dass mich meine Klassenkameraden erkannten und sich über mich, dem „Singvögeli“, lustig machten.
(6) ....und als Singvogel am Sängerfest
Als auch meine Schwester alt genug war um an der Fasnacht teil zu nehmen, musste auch sie mitmachen. Sie hatte sich bis anhin viel energischer gegen Vaters Fasnachtsprojekte wehren können. Aber diesmal gab es für sie keinen Vorwand mehr nicht mit dabei zu sein. Mein Vater hatte nämlich zwei grosse Micky Maus Köpfe gemacht, einen männlichen und einen weiblichen, also für uns Beide. Da man uns in dieser Verkleidung nicht erkennen konnte wehrten wir uns nicht. Allerdings hatte die Innenkonstruktion des „Grindes“ einige Tücken, denn unsere Köpfe hatten keinen guten Halt im innern der Maske. So baumelte der „Grind“ oft in Richtungen die man nicht erwartete und kontrollieren konnte. Auch in anderen Jahren wurden wir für den Fasnachtsumzug aufgeboten. So mussten wir einmal einen Wagen mit einem riesigen Glarner-Zigerstöckli ziehen. Diesmal hatten wir Larven und waren grün wie das Zigerkraut angezogen. Da das Zigerkraut damals nur in Lachen wuchs, hiess es auf dem Wagen: z’Aroma kunnt vo Lache“.
Während den offiziellen Fasnachttagen mischten sich auch immer „Negerli“ unter das Maskentreiben. Es waren meistens Mädchen die sich als Afrikanerinnen verkleidet hatten und um Almosen für die aus der March stammenden Missionare baten. Allerdings trugen sie keine Maske, sondern hatten das Gesicht sowie den Hals total schwarz geschminkt. Zur Verkleidung gehörten nur eine krause, schwarze Perücke und knallrot geschminkte Lippen. Damals hatte man im Dorf noch nie Afrikaner gesehen. Als ich den schwarzen Mädchen deshalb zum ersten Mal begegnete, glaubte ich wirklich, dass man sie aus Afrika hatte kommen lassen. Sie sahen so unglaublich echt aus, dass es viel brauchte um mich zu überzeugen, dass die Mädchen eigentlich aus dem Dorf waren. Die Sammlung für Missionare war von Frauen aus katholischen Vereinen organisiert. Aber eigentlich konnte man das ganze Jahr für Missionare spenden, denn in den Klassenzimmern stand immer irgendwo ein kleines, viereckiges Kästchen auf dem ein „Negerli“ stand und das beim Einwurf einer Münze eifrig nickte. Die ganze Aktion war für mich sehr exotisch und ich fragte mich schon damals, was mit dem Geld in Afrika tatsächlich geschehen wird?
Erst viel später, als ich schon erwachsen war, begann ich die Fasnacht zu geniessen. Zusammen mit Kollegen gingen wir maskiert ins Dorf und liebten es Bekannte zu „intrigieren“. Einmal bekam ich durch eine Bekannte, die in einer Papierfabrik arbeitete, eine WC-Rolle mit einem Durchmesser von fast einem halben Meter. Da ich bei den Fasnachtsartikeln meines Vaters einmal eine riesige Schere von etwa einem Meter Länge gesehen hatte, entschieden wir uns damit WC Papier zu schneiden und den Leuten auf der Strasse um den Hals zu binden; meistens mit dem Rat, dass diese Art von Behandlung von Ärzten gegen Verstopfung verschrieben werde. Gleichzeitig erzählten wir den Leuten allerhand Blödeleien und amüsierten uns dabei köstlich. Maskiert hatte ich auch keine Hemmungen mehr in die vielen Gaststuben und Beizen zu gehen und die Gäste dort zu unterhalten. Dabei bewunderte ich vor allem die meist aufwendigen und fantasievollen Fasnachtsdekorationen, die ja in der ganzen Gegend und bis nach Zürich bekannt waren. Sie inspirierten mich so stark, dass ich mich entschloss selbst auch so etwas zu kreieren. Ich fragte Frau Michel, die Wirtin des Ecksteins, ob ich das Säli für eine Party benutzen dürfe. Sie war einverstanden und so kleidete ich den ganzen Raum mit Papier aus. Das Motto der Party war „In der Höhle“ und so wurde zusammen mit Freunden gemalt und dekoriert was das Zeug hielt. Wir bastelten sogar eine Baar wo wir unsere Getränke geniessen konnten. Es war eine unvergessliche, private Fasnachts-Party und zu meinem Erstaunen halfen mir meine Freunde am nächsten Tag beim Abräumen.
Noch während der Fasnacht, also am 2. Februar, wurde das „Fest der Darstellung des Herrn“ oder auch „Maria Lichtmess“ gefeiert. Man sagte, dass diese Tradition einen biblischen Ursprung hat und dass er mit einem Besuch von Maria, Josef und ihrem Kind im Tempel zu tun hat. Am darauffolgenden Tag, am 3. Februar, wurde der „Sankt Blasius“ gefeiert. Er wird als Schutzpatron gegen Halsleiden und Husten seit dem neunten Jahrhundert verehrt. Der Blasiussegen soll die Gesegneten vor Halskrankheiten schützen. Natürlich wollte ich mir eine solche Segnung nicht entgehen lassen und diese religiöse Prophylaxe auch bekommen. So mischte ich mich an diesem Tag unter meine Klassenkameraden und ging mit ihnen in die katholische Kirche. Ich hatte Bedenken, dass mich jemand sehen könnte um dann mit Schande aus der Kirche gejagt zu werden. Aber nichts dergleichen geschah und so ging es nach Beten und Singen in Einerkolonne nach vorne wo der Priester mit zwei riesigen Kerzen stand. Ohne mich zu fragen wer ich war, kreuzte er zwei Kerzen, berührte damit meine beiden Ohren und sprach das Fürbittegebet. Ja und dann war schon wieder der nächste Knabe an der Reihe. Ich aber war erfüllt mit dem Gefühl nun für ein Jahr lang vor gesundheitlichem Ungemach geschützt zu sein und zudem auf eine gewisse Art glücklich von den Katholiken akzeptiert worden zu sein. Und jeweils am 5. Februar feierte die katholische Kirche das Fest der Heiligen Agatha, dessen Namen aus dem Griechischen kommt und „die Gute oder die Sanfte“ bedeutet. Der Heiligen Agatha werden vier Patronate zugeschrieben, nämlich jenes der Glockengiesser, gegen Krankheiten, sowie gegen Erdbeben und Unwetter. Insbesondere ist sie aber Schutzpatronin gegen Feuergefahr und damit auch Patronin der Feuerwehr. An diesem Gedenktag gab es „Agathabrötchen“ die zur Segnung vorher in die Kirche gebracht worden waren. Die Wirkung des Agathebrotes ist vielfältig. So sagt man, dass das Aufbewahren von ein bis zwei Stücken dieses Brotes eine Familie während des ganzen Jahres bewahre ohne Brot zu sein.
Am Aschermittwoch gab es einen ähnlichen Brauch in der Kirche. An diesem Tag streute der Priester geweihte Asche als Symbol für das Leben in Kreuzform auf die Häupter der Gläubigen. Das Aschenauflegen erinnerte an die Vergänglichkeit des irdischen Daseins so wie es in der Bibel (Genesis 3.19) steht: „Gedenke Mensch, dass Du Staub bist und wiederum zum Staub zurückkehren wirst!“ Die Asche wurde morgens nach der Schülermesse ausgeteilt und so kamen meine Klassenkameraden immer mit Asche auf dem Kopf in die Schule. Wir Protestanten hatten keinen solchen Brauch und so fühlten wir uns ohne Asche auf dem Kopf an diesem Tag etwas ausgegrenzt und vor allem ungesegnet in der Schule. Aber da ich mich immer fragte woher wohl all die Asche herkam und dazu nie eine Antwort bekam, konnte ich mich nie entscheiden so wie am St. Blasius Tag zusammen mit meinen Klassenkameraden auch am Aschermittwoch in die Kirche zu gehen.
Der Aschermittwoch, an dem das närrische Treiben vorbei ist, markiert zugleich den Beginn der Fastenzeit, die immer bis an Ostern dauert. Nach der üppigen (fetten) Fasnachtszeit, kamen nun die Wochen der Entbehrung und der Zeit wo man uns aufforderte die armen und mittellosen Leute nicht zu vergessen (Fastenopfer). Wenn ich mich aber an meine Jugend erinnere, dann brauchte es damals keine grossen Anstrengungen zur Entbehrung. Im Keller gingen anfangs Jahr immer die Vorräte an ausgekeimten Kartoffeln, schrumpligen Äpfeln, Konfitüre mit Schimmelpilzbefall und vielem Anderem langsam aus. Tiefkühlschränke und Treibhäuser gab es damals noch nicht und frisches Gemüse war ja erst wieder im Frühling erhältlich. Also waren die Mütter gezwungen punkto Menuplan mit viel Pragmatik und Fantasie zu kochen um nicht immer nur „Chabis und Härdöpfel“ aufzutischen müssen. Ich hatte immer das Gefühl die Kirche hätte die Fastenzeit nur eingeführt um der Bevölkerung diese oft sehr harte Zeit ertragbarer zu machen. Erst heute wo alles immer im Überfluss erhältlich ist, würde die Fastenzeit für echt Gläubige eigentlich zur wirklichen Herausforderung und Prüfung.
Am fünften Sonntag in der Fastenzeit, dem Passionssonntag, findet immer das Kapellfest statt. Es ist der eindrücklichste religiöse Brauch weit herum und ich konnte jeweils kaum warten bis es wieder soweit war. Der Ursprung dieses Festes ist eine wundersame Heilung und dem anschliessenden Bau der Kapelle zur „Schmerzhaften Mutter im Ried“ im Jahre 1684. Die Kapelle wurde anschliessend von Pilgerzügen und später von Bittwoch-Kreuzgängern besucht. Seit über 300 Jahren findet nun das Kapellfest statt so wie es heute gefeiert wird. Am Samstagmorgen wurde nach einer Messe das Allerheiligste (Corpus Christi in der Monstranz) und die schwarz gekleidete Statue der „Schmerzhaften Mutter Gottes“ in einer Prozession von der Pfarrkirche zur Kapelle im Ried gebracht. Als kleine Buben folgten wir der Prozession und als alle Leute weggegangen waren bestaunten wir die Statue, die im Kapellhof abgestellt worden war. Sie war entzückend schön und zum Betrachten so viel näher als in der Pfarrkirche. Sie war so nahe, dass ich in die Versuchung kam sie zu berühren. Erst als mich ein unbeschreibliches Gefühl erfüllte merkte ich, dass ich ihr Kleid berührt hatte. Und dann überkam mich plötzlich die hemmungslose Neugier zu wissen was sie unter ihrem kostbaren Kleide trug. Ohne weiter zu überlegen hob ich den Saum des Kleides und guckte darunter! Und was bekam ich da zu sehen: nichts als ein banaler Holzpfahl und sonst gar nichts! Zuerst war ich von der trostlosen Leere unter dem Kleid enttäuscht und dann total konsterniert, weil dies gar nicht zu der göttlichen Bekleidung passte. Bestürzt rannte ich nach Hause um meiner Mutter zu erzählen, dass die Katholiken keine leibhaftige Maria, sondern eine Holzfigur, so wie die Heiden in Afrika, anbeten würden. Zuerst machten sie mein kindliches Erlebnis sowie mein treuherziges Geständnis fassungslos. Aber dann flehte sie mich an, das eben Gesehene niemals jemandem zu erzählen. Sie schien grosse Angst zu haben, dass meine sündhafte Tat viele Katholiken erzürnen könnte und für die Eltern damit wichtige Kunden verloren gehen könnten.
Ich selbst fühlte mich von der „Schmerzhaften Mutter Gottes“ für die unzüchtige Tat nicht gepeinigt, denn sie hatte meine Vorfreude auf die Prozession am Sonntagabend nicht getrübt. Während am Morgen des Passionssonntags in der Kapelle eine feierliche Messe zelebriert wurde, folgten am Nachmittag die Ehrenpredigt und das Miserere am Abend. Ja, und dann kam das für mich immer grösste und eindrücklichste Erlebnis des Jahres: die wunderbare Lichter-Prozession von der Kapelle im Ried zurück in die Pfarrkirche. Ich hatte schon am Vortag mit viel Interesse der Errichtung des Lichterbogens über der Kapellstrasse bei der Sägerei Oberli beim Mühlebächli mitverfolgt. Einmal errichtet, wurden mit viel Sorgfalt die vielen Gläser mit den Kerzen bestückt und auf dem Bogen bis ganz oben verteilt. Und so genoss ich am Abend nicht nur die wunderbare Lichter-Pracht des Bogens, sondern auch die Lichter auf der ganzen Prozessionsroute. Während einige Fenster mit bunten Transparenten bespannt waren, die religiöse Motive zeigten, wiesen brennende Kerzen auf den Fenstersimsen den Weg zur Kirche. Meine Eltern begleiteten mich immer an das von mir intensiv geliebte Fest, blieben aber immer ein bisschen im Hintergrund. Ich aber wollte die Prozession ganz nahe erleben und drängte mich nach vorne. Es gab ja so viel Aussergewöhnliches zu sehen, zum Beispiel die Erstkommunikanten. Die Mädchen erschienen in weissen Kleidern und mit einem Kommunion-Kränzchen auf dem Kopf. Dann kamen die verschiedenen Vereine mit ihren farbigen Fahnen, der singende Kirchenchor, die Harmoniemusik mit ihren glänzenden Instrumenten, die Behörden mit ihren ernsten Mienen, die militärische Ehrenwache mit furchterregenden, aufgesteckten und funkelnden Bajonetten, das Allerheiligste das ein Priester unter einem goldenen Baldachin trug und natürlich die Statue der Schmerzhaften Muttergottes, die mir bei der erneuten Begegnung meine unreife Tat des Vortages mit einem imaginären Augenzwinkern vergab. Ganz verzückt kehrte ich nach Hause zurück und träumte noch Tage vom Gesehenen. Vor allem aber imitierte ich als kleiner Bub das Gehörte mit: „Bim Bam“ für die Glocken der Pfarrkirche, „Rmmrmrmrm“ für die Betenden und „Pumpum“ für die Pauke der Harmoniemusik!
Erst als ich etwas älter wurde erfuhr ich, dass man dieses religiöse Fest ganz entweihend auch „Schätzelifäscht“ nannte und dass sich Verliebte nach der Prozession in der Dunkelheit der Seeanlagen verirrten. Zudem war es Tradition an diesem Fest frische, im Ried gefangene Froschschenkel, zu verspeisen; und dies obwohl es Fastenzeit war. Aber vielleicht ass man damals während diesem Fest Froschschenkel, weil ein Frosch so wenig Fleisch an den Schenkeln hat und die Speise deshalb als Fasten-Mahlzeit zugelassen war. Ausser der offiziellen Fastenzeit gab es aber auch die sogenannten Fast- und Abstinenztage. Bei den Abstinenztagen wurde auf Fleisch verzichtet, so zu Beispiel am Freitag. Obwohl wir keine Katholiken waren, gab es auch bei uns am Freitag nie Fleisch, sondern eine Käse- oder Zwiebelwähe mit einem grünen Salat und dann meistens noch eine Wähe mit Saisonfrüchten. Aber meinem Vater, der ja streng arbeiten musste, war diese Mahlzeit oft nicht nahrhaft genug. Er beklagte sich, dass er jeweils um 3 Uhr nachmittags bereits wieder Hunger habe. Neben dem religiösen Hintergrund eines Abstinenztages fand meine Mutter aber schon damals, dass Fleisch mit Vernunft genossen werden muss und sich ein fleischloser Tag nur positiv für das Verdauungssystem auswirken kann.
Nach dem sechsten und letzten Sonntag der Fastenzeit kam der Palmsonntag, der Tag an dem an den Einzug von Jesu Christi in Jerusalem gedacht wird. Während die Katholiken an diesem Tag Zweige von Stechpalmen zur Segnung in die Kirche brachten, fand in den protestantischen Landeskirchen die Konfirmation für Jugendliche im Alter von 15 oder 16 Jahren statt. Damals fand die feierliche Segnungshandlung in der evangelischen Kirche Siebnen statt und markierte gleichzeitig den Übertritt ins kirchliche Erwachsenenalter. Für mich war es kein besonders beeindruckender Anlass gewesen. Mir fehlten die menschliche Wärme und eine eindrückliche Inszenierung so wie ich es in der katholischen Kirche beobachtet hatte, eine kraftvolle Handlung an die man sich das ganze Leben lang gerne erinnert hätte. So war ich auch an diesem speziellen Tag wie immer froh die sterile Kirche wieder verlassen zu dürfen. Zudem freute ich mich auf das gemeinsame Essen mit meinen Eltern und Gästen. Etwas war allerdings ganz speziell an diesem Tag: endlich konnten wir unsere kurzen Hosen und die „Gegelfänger“ auf die Seite legen und wie Erwachsene lange Hosen tragen!
Die Karwoche, oder auch Heilige Woche genannt, war immer auch eine stille Woche. Gemäss einem jahrhundertealten Brauch schwiegen die Glocken in allen katholischen Kirchen aus Trauer um das Leiden und Sterben von Jesu Christi vom letzten Abendmahl am Abend des Gründonnerstags bis zum „Gloria“ in der Feier der Osternacht. Als Ersatz wurden Ratschen genutzt um die Gläubigen an die Gebets- und Gottesdienstzeiten zu erinnern. Man sagte uns Kindern, dass während diesen stillen Tagen alle Glocken der Kirche nach Rom zur Segnung gereist waren.
Am Karfreitag, dem wichtigsten Feiertag für Portestanten, gab es bei uns zum Mittagessen immer gebackene Dorschfilets, Salzkartoffeln und grünen Salat. Da es damals kein einziges Geschäft im Dorf gab, das frische Fische verkaufte, konnte man bei der Molkerei Röthli für diesen Tag ausnahmsweise auch Dorschfilets bestellen. Ich freute mich jedes Mal auf dieses schmackhafte und einmalige Festessen. Natürlich gab es am Karfreitag auch eine katholische Tradition in unserem Dorf, eine Tradition die meine Mutter immer sehr ärgerte, ja sogar erzürnte. Die Bauern behaupteten, dass wenn man an diesem speziellen Tag das Güllenloch leere und die Jauche auf das Feld bringe, dann würde während dem ganzen Jahr alles besser gedeihen. Diese alte Tradition gab eigentlich keinen Anstoss für Unmut. Es war viel mehr der Transport der Jauche der Missmut schürte. Komischerweise mussten an diesem Tag alle Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern mit ihrer Jauche immer durchs ganze Dorf fahren. Die Güllenwagen hatten oft undichte Ventile und besprühten so nicht nur die Felder, sondern alle Strassen im Dorf die sie benutzten. Und so durfte man den ganzen Tag Güllenluft geniessen und musste beim überqueren der Strasse aufpassen wo man hintrat. Da meine Mutter am Flumserberg aufgewachsen war konnte sie diese Tradition wohl verstehen, aber dass man dabei das ganze Dorf einen ganzen Tag lang verschmutzen und verpesten musste, konnte sie nicht verstehen. Sie empfand diesen Tag immer als Schikane gegen die Protestanten im Dorf.
Aber dann kam Ostern und der Ärger war schon wieder vergessen. Am Karsamstag wurden die Ostereier gekocht und gefärbt. Wir Kinder durften immer mit dabei sein und helfen. Anfangs brauchte meine Mutter noch künstliche Farben, doch mit dem steigenden Bewusstsein über deren Gefahren und Risiken, wollte sie bald nichts mehr davon wissen. Sie holte sich kleine Blumen aus der Natur (Veilchen, Schlüsselblumen, etc.) und fixierte sie mit einem Faden am Ei. Dann wurde das Ei mit Zwiebelschalen umwickelt und 8 -10 Minuten lang gekocht. Es war eine kreative Arbeit die einem viel Freude breitete und einem sogar je nach dem Gelingen des Kunstwerkes auch stolz machte. Diese Ostereier fand ich schliesslich viel schöner und vor allem persönlicher. Am Osternmorgen suchten meine Schwester und ich in der ganzen Wohnung das Osternest. Meine Eltern hatten es immer am Vorabend irgendwo versteckt. Wie jedes Jahr waren in diesem Nest kleine Zuckereier und in der Mitte ein Osterhase aus Schokolade. Um 10 Uhr gingen wir in die Kirche nach Siebnen und damit war das Osterfest für mich eigentlich bereits vorbei.
Schon am ersten Sonntag nach Ostern folgte ein weiterer Festtag, diesmal der „Weisse Sonntag“. Für die katholischen Kinder im Alter von ungefähr neun Jahren war an diesem Tag immer ein grosses Fest angesagt: die Erstkommunion. Zum ersten Mal durften die Buben und Mädchen zusammen mit den Erwachsenen die heilige Kommunion empfangen. Zu diesem Anlass trugen damals die Knaben kurze, dunkle Hosen, einen Kittel mit einer künstlichen weisen Blume im Revers und Wollstrümpfe. Die Mädchen erschienen, so wie am Kappellfest, in einen weissem Kommunionskleid und einem weissen Kränzlein auf dem Kopf.
Im Mai fand in der Pfarrkirche oder in der Kapelle jeweils abends die „Maiandacht“ statt. Die Andacht war ein Gottesdienst zu Ehren Mariens und so wurde der Mai, neben Wonnemonat, auch „Marienmonat“ genannt. Die Maiandachten fanden ihren Ursprung in rheinischen und fränkischen Diözesen und galten als Frömmigkeitsform und Bittandacht um gute Witterung und schliesslich eine gute Ernte („Maigebet“). Während der Himmelsfahrtwoche, oder auch Bittwoche genannt, gab es an den ersten drei Tagen Flurprozessionen, am Montag nach Altendorf, am Dienstag nach Galgenen und am Mittwoch zur Kapelle im Ried. Am Donnerstag folgte dann die Christi Himmelfahrt, der Tag an dem die Aufnahme des Herrn als Sohn Gottes zu seinem Vater im Himmel gefeiert wird. Das Fest findet immer 40 Tage nach Ostern statt und fällt immer auf einen Donnerstag, an dem damals auch die ganztägige Bittprozession von Lachen nach Einsiedeln stattfand. Da wir Protestanten in unserer Kirche keine religiösen Prozessionen kennen, hätte ich schon lange gerne an so einem Bittgang teilgenommen. Als mir dann unverhofft Schulkameraden anboten mich mitzunehmen, sagte ich natürlich sofort zu. Meine Eltern hatten nichts dagegen und so freute ich mich doppelt auf das Erlebnis. Schon früh am Morgen trafen wir uns vor der Pfarrkirche und warteten bis der Priester aus der Kirche kam. Dann gliederten wir uns nach den erwachsenen Leuten in die Prozession ein und marschierten los. Es war viel weniger sakral als ich mir vorgestellt hatte und eigentlich eher wie eine normale Wanderung, aber mit Kreuz und Fahne. Es war herrlich durch die taufrische Natur zu ziehen und die Umgebung in aller Ruhe zu geniessen. Der Weg führte uns auf dem Jakobsweg hinter der Johannisburg hinauf zum Etzel und zur St. Meinrad Kapelle. Unterdessen war es wärmer geworden und wir begannen zu schwitzen. Bevor es dann auf dem Jakobsweg weiter hinunter zum Sihlsee ging, wurde daher ein kurzer Halt eingeschaltet. Kurz vor der Teufelsbrücke hielt die Prozession nochmals an, diesmal beim Geburtshaus von Paracelsus. Er war Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph. Mit nur fast 50 Jahren starb er am 24. September 1541 in Salzburg. Wie Hippokrates glaubte Paracelsus an eine Behandlung, die vom Körper als einem Ganzen ausgeht und schliesslich an die Heilkraft des Körpers selbst. Von diesem ganz speziellen Ort war es nicht mehr weit bis zu unserem Ziel, dem Kloster Einsiedeln. Nach dem Segen in der Kirche ging es dann am Nachmittag mit dem bekannten Wallfahrtsgebäck im Rucksack, dem Schafbock, wieder zurück nach Lachen. Für mich war es eine einzigartige Erfahrung gewesen, denn ich hatte viel gesehen und gelernt. Zudem war ich am Abend nicht nur todmüde, sondern auch überglücklich an diesem katholischen Brauch mit dabei gewesen zu sein. Und da wir damals noch keine komfortablen Wanderschuhe hatten, humpelte ich währen den ersten Tagen der folgenden Woche mit Blasen an den Füssen herum.
Kaum waren die Füsse wieder wanderfähig stand schon das nächste Kirchen-Fest vor der Türe. Mit dem 50. Tage nach dem Ostersonntag endete die offizielle Osterzeit und damit kündigte sich bereits das Pfingstfest an, ein Fest das von Katholiken sowie Protestanten gefeiert wurde. An diesem Hochfest wird dem von Jesus angekündigten Kommen des Heiligen Geistes gedacht. Im 2. Kapitel der Apostelgeschichte wird der Ursprung wie folgt beschrieben:
„Als sich die Jünger zum jüdischen „Schawuot“-Fest in Jerusalem versammelt hatten, wurden sie plötzlich vom Heiligen Geist erfüllt. Vom Himmel herab kam ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daher fährt, und erfüllte das ganze Haus in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“
All dies klang für mich immer sehr mystisch und abstrakt. Auch bei der Predigt in der Kirche schien mir all dies viel zu intellektuell und schwer begreiflich. Ich konnte auch nicht verstehen wieso Zungen wie Feuer auf den Häuptern der Jünger erschienen und niemand konnte mir dafür eine plausible Erklärung geben. Schliesslich gab ich das Grübeln auf und genoss jeweils den freien Pfingstmontag bei Ausflügen zusammen mit meinen Eltern. Durch meine religiösen Tanten erfuhr ich später von der Pfingstbewegung, einer Bewegung die zum Christentum gehört und ausser den allgemeinen biblischen Lehren auch die Erfahrung der Ausgiessung des Heiligen Geistes lehrt. Aber auch dies half mir bei meiner Suche nach plausiblen Erklärungen nicht.
Am ersten Sonntag nach Pfingsten wurde in katholischen Gegenden, so auch in der Pfarrkirche in Lachen, das Dreifaltigkeitsfest gefeiert. 10 Tage nach Pfingsten folgte dann Fronleichnam, ein Feiertag der auch Hoher Donnerstag genannt wird. Es ist das Hochfest im katholischen Kirchenjahr, mit dem die leibliche Gegenwart von Jesus Christus im Sakrament der Eucharistie gefeiert wird. Gleichzeitig wurde auch um Segen und für gute Ernten gebeten. Nach der Messe in der Pfarrkirche folgte immer eine eindrucksvolle, feierliche Prozession durchs Dorf, die an den vier Bruderschaftskreuzen im Dorf einen Halt machte. Schon sehr früh am Morgen wurden an diesen Stationen eindrucksvolle Altare aus Holz aufgestellt und mit vielen Blumen geschmückt. Auch gegenüber unserem Haus, an der Ecke zum Restaurant Adler, war ein solches Kreuz aus Granitstein. Jedes Jahr wurde auch hier ein Altar aufgebaut, und zwar von der Marie, der Magd von Herrn Diethelm im „Schlössli“. Für diese aufwendige Arbeit hatte sie immer starke Helfer organisiert, die nicht nur den Altar aufbauten, sondern auch die vielen, schweren Holzteile jeweils aus dem Keller im „Schlössli“ holten und wieder zurückbrachten. Schon vor Tagen hatten Marie und ihre Bekannten auf den Feldern sowie im Ried Blumen gesammelt und diese in Metalleimer in der kühlen Waschküche aufbewahrt. Bis an Fronleichnam hatten sich hier erstaunlich viele Feldblumen, vor allem aber Margeriten, gelbe und blaue Ilgen, Gladiolen, Astern, Pfingstrosen, etc. angesammelt. Mit diesen wurde dann nicht nur der Altar, sondern auch den Zugang von der der Strasse dorthin geschmückt. Mit dieser Blumenpracht war dieser Altar für mich jedes Jahr der Schönste und Eindrücklichste von allen im Dorf. Es war einfach ein wunderbarer Altar. Besonders spannend war für mich aber immer das Aufstellen und Dekorieren des Altars und so half ich immer begeistert mit. Bis zur Ankunft der Prozession rannte ich unaufhörlich mit Blumenvasen von der Waschküche im „Schlössli“ zum Altar und dann wieder zurück. Sobald die Arbeit vollendet war verschwanden alle Helfer im „Schlössli“ und ich ging zurück nach Hause. Hinter den Fensterläden verfolgte ich dann die eindrucksvolle Prozession. Obwohl ich damals nicht verstehen konnte wieso man wegen einem Leichnam so ein wunderbares Fest organisierte, war es für mich jedes Jahr erneut ein ganz besonderes Erlebnis. Nach der religiösen Handlung am Altar und dem Segen mit der Monstranz zog die Prozession dann weiter. Sofort rannte ich wieder hinunter zum Altar und half Marie die vielfältige Blumenpracht wieder in die kühle Waschküche zu tragen. Ich musste mit den Blumen sehr vorsichtig sein, denn am darauffolgenden Sonntag wurde der Altar für eine verkürzte Prozession nochmals aufgestellt und wenn noch frisch, mit den gleichen Blumen erneut dekoriert.
Nach diesem Feiertag näherte sich die Ferienzeit und so gab es während den Sommermonaten keine grossen religiösen Festtage oder Bräuche mehr. Einzig die Hochzeiten und damit ein alter Brauch hielten sich nicht an ein fixes Datum, sondern konnten irgendwann während des Jahres und sogar während den Ferien stattfinden. Wir Buben wussten immer wann eine Hochzeit stattfand und so trafen wir uns bei einem solchen Anlass mit Vorliebe bei der Kappelle im Ried zum „Spannen“. Vorher hatten wir Schnüre gesucht und sie zu einer langen Leine zusammengeknöpft. Dann warteten wir mit anderen Buben, die auch zum „Spannen“ gekommen waren, vor der Kappelltüre. Sobald sich die Türe öffnete und das Brautpaar aus der Kappelle trat spannten wir unsere Schnüre sodass ihr Weg versperrt war. Nachdem der Bräutigam uns einen Batzen gegeben hatte, liessen wir die Schnüre fallen und machten den Weg frei. Dann schrieen wir „Füürschtei“, „Füürschtei“ und bald waren wir im Regen von Hochzeitsbonbons die wir hastig vom Boden auflasen. Die Hochzeitsbonbons oder „Füürstei“ waren auf der Innenseite der farbigen Wickel mit traditionellen Sprüchen und Weisheiten bedruckt. Eigentlich waren wir uns damals über den Sinn dieser Tradition gar nicht bewusst. Erst später erfuhren wir, dass der alte Brauch „Seil vor der Kirchentür“ eigentlich nur Freunden des Brautpaares vorenthalten war. Indem der Bräutigam für einen freien Weg einen Tribut zahlte, kaufte er sich von seinen Jugendsünden frei und hatte gleichzeitig das Wegerecht aus der Kirche. Eine andere Version sagt, dass das Seil die erste Zerreissprobe der Ehe darstellt. Das Seil soll nicht das Brautpaar aufhalten, sondern die bösen Geister. Auch waren wir uns nicht bewusst, dass wir damals mit dem „Spannen“ eigentlich Erpresser waren, denn schliesslich gaben wir den Weg erst nach einer Gegenleistung frei. Wie dem auch war, wir amüsierten uns jedes Mal bestens und freuten uns, wenn jeder von uns mit einem Batzen im Hosensack nach Hause gehen konnte.
(7) Gratulationswünsche an das frisch vermählte Pfarrerehepaar vor der Türe der Kirche in Siebnen.
Ein anderer religiöser Akt der das ganze Jahr stattfinden kann ist die Taufe. Ich fühlte mich ausserordentlich geehrt als mich meine Freunde Werner und Margit fragten ob ich Pate für ihre Tochter Claudia sein möchte. Es war damals fast undenkbar, dass ein Protestant als Götti eines katholischen Kindes in Frage kam. Berührt von dem Vertrauen sagte ich natürlich gerne und mit grossem Stolz zu. Allerdings wollte ich sicher sein, ob die katholische Kirche das überhaupt zulässt. Doch die Eltern von Claudia hatten keine Bedenken und meinten, dass man mir meine Religion nicht ansehe und die Kirche keine Personalien von den Paten verlange. So trafen sich die Eltern mit den zwei Paten und der kleinen Claudia an einem grauen, regnerischen Morgen vor einer Seitentür der Kirche. Man sagte mir man müsse hier auf den Pfarrer warten. Als mich die kalte Seeluft zu stören begann, fragte ich wieso wir eigentlich nicht vor dem Hauptportal auf den Pfarrer warten dürfen, also auf der Seite wo wir vor der kalten Seeluft geschützt gewesen wären. Stumm winkten alle ab und insistierten, dass man vor dieser speziellen Türe warten müsse. Endlich öffnete sich die Seitentüre und der Priester trat aus der Kirche. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er uns nach der langen Wartezeit in die Kirche bitten würde. Doch er schloss die Türe hinter sich und begrüsste uns freundlich. Das irritierte mich, denn ich fragte mich ob die Taufe wohl im Freien stattfinden würde. Sanft aber bestimmt erklärte der Priester, dass das Neugeborene als unreines Wesen nicht die die Kirche gelassen werden kann. Mit einem religiösen Ritual befreite er die unschuldige Claudia von der Erbsünde, der Sünde der Wollust, der Dämonen und weiteren bösen Geistern. Mit Weihrauch wurde das Ritual noch sichtbar unterstützt. Erst jetzt wurde die Seitentüre wieder geöffnet und wir wurden, zusammen mit dem nun „reinen“ Kind in die Kirche gelassen. Als Protestant wurde vor meiner Taufe kein solches Ritual angewendet und so war ich verblüfft, dass ich als unreines Wesen ohne weiteres die Kirche betreten durfte. Irgendwie fand ich das gegenüber Claudia ungerecht und absurd. Aber nun waren wir ja in der Kirche und ich hatte keine Zeit zum Grübeln. Wir waren ja nicht alleine in der Kirche, denn die Freunde und Bekannten waren durch das Hauptportal gekommen und sassen schon lange an der Wärme auf ihren Bänken. Es war eine schöne, harmonische und festliche Taufe. Nun war Claudia getauft und ich war mir bewusst, dass ich damit nicht nur Götti wurde, sondern gleichzeitig auch eine Mitverantwortung übernommen hatte, eine Pflicht die ich später, wenn immer möglich auch wahrnahm. Aber die Episode vor der Kirche beschäftigte mich später trotzdem noch lange. Leider fand ich nie eine plausible Logik für dieses absurde kirchliche Ritual.
Für die Katholiken blieben einige kirchlichen Pflichten auch während den Ferien bestehen. Schon um 06.00 Uhr früh war täglich die Frühmesse, dann um 07.30 Uhr Jugendgottesdienst, um 09.00 Uhr das Amt, jeden Sonntag um 13.30 Uhr die Christenlehre und dann um 17.00 Uhr noch eine weitere Messe. Zudem gab es Andachten oder Messen bei Beerdigungen, nach dem 30sten Todestag, dem Jahrestag eines Verstorbenen, etc. Da hatten wir Protestanten es viel einfacher, denn wir hatten keine solchen religiösen Vorschriften, keine Sittenlehre und Zwänge. Ich wusste auch, dass viele meiner Schulkameraden heimlich auf unsere Freiheit neidisch waren, denn zum Beispiel die Christenlehre am Sonntag nach dem Mittagessen, machte ihre Freizeitwünsche oft unerfüllbar. Manchmal hatte ich mit ihnen Bedauern, denn es kam mir vor als wäre ihr Leben ausschliesslich von der Kirche bestimmt, begleitet mit Angst etwas zu tun was gegen die kirchlichen Gesetze verstossen würde. Später aber wurde mir klar, dass bei Katholiken die Sünde gar kein so grosses Problem war wie ich es mir vorgestellt hatte. Erstens hatten die Katholiken ja die Beichte, bei der alle Misstaten vergeben wurden und zweitens gab es ja den Ablass, einen von der Kirche geregelten Gnadenakt. Es gab Teilablässe oder vollkommene Ablässe, die Gläubigen unter, von der Kirche bestimmten Bedingungen, erlangen könnten und die den Lebenden und den Verstorbenen zugewendet werden konnten. Der Handel mit sogenannten Almosenablässen, für deren Gewinnung als Ablasswerk ein Geldbetrag gespendet werden musste, war unter gut betuchten Gläubigen ein verbreiteter Missbrauch, der schon von den Reformatoren angeprangert worden war. Dass man sündige Taten einfach mit Geld wieder gut machen konnte blieb mir unverständlich und so fand ich diesen Gnadenakt äusserst widerlich; besonders weil arme Leute diese Möglichkeit oft nicht hatten und so ausweglos und „gnadenlos“ dem Schicksal des Fegefeuers oder der Hölle ausgeliefert waren. Zudem gab es den Brauch gegen Entgelt für Verstorbene Heilige Messen lesen oder stiften zu lassen, dies um ihre Zeit im Fegefeuer zu verkürzen. Man nannte diesen Brauch auch „Fürbitte“ oder „Intention“. Ausser für Verstorbene dienten solchen Messen auch für Anliegen des bäuerlichen Lebens (Wetter, Ernte, Gesundheit des Viehs, etc.) oder für gesundheitliche und familiäre Angelegenheiten. Der zu entrichtende Geldbetrag für eine solche Messe wurde „Stipendium“ genannt. Die Leute gaben also ein „Stipendium“ damit in einem bestimmten Anliegen die Eucharistie gefeiert wurde und diese Intention in das priesterliche Gebet eingeschlossen wurde. Da ich mich als Protestant immer selbst mit meinen Sünden auseinandersetzen musste, wäre mir so ein „out-sourcing“ damals auch oft willkommen gewesen. Obwohl mir bewusst war, dass das sogenannte „Messstipendium“ damals für den Lebensunterhalt des Priesters wichtig war, störte mich die Verknüpfung von Geld und Glauben ausserordentlich. Ich war deshalb froh zu wissen, dass der protestantische Pfarrer nicht nur von unserer Kirchgemeinde gewählt war, sondern auch von ihr entlöhnt wurde. Natürlich hütete ich mich damals meine Meinung, mein Unverständnis und meine persönliche Missbilligung der Öffentlichkeit Preis zu geben, sonst wäre ich dann am Ende selbst zum hoffnungslosen Sündigen geworden und hätte eine Fürbitte gebraucht!
Viel später, als ich schon lange erwachsen war, erfuhr ich von verschiedenen Bekannten, dass sie beim Beichten gelogen hatten. Zum Beispiel erzählte mir eine sehr alte Frau, dass sie jeden Sonntag mit ihrem Vater zur Kirche musste und auch gleichzeitig zur Beichte gedrängt wurde. Da sie nicht wusste was sie gesündigt hatte, erfand sie jeweils eine Übeltat und erzählte dem Beichtvater, dass sie dem Vater fünf Franken entwendet habe. Dafür musste sie 5 „Vaterunser“ beten. Am folgenden Sonntag beichtete sie wieder die gleiche erfundene Sünde und bekam 10 „Vaterunser“ als Strafe. Am dritten Sonntag musste sie für die gleiche Sünde 15 „Vaterunser“ zur Strafe beten. Und so wiederholte sich die absurde Situation jeden Sonntag bis der Beichtvater sie schliesslich zur Rede stellte und dem unaufhörlichen Lügen im Beichtstuhl ein Ende setzte! Später erzählte mir eine Afrika-Missionarin, dass auch sie während der Kindheit von ihrer stockkatholischen Mutter am Sonntag regelmässig zur Beichte gedrängt wurde. Doch sie erfand dazu keine Lügen, sondern leierte einfach den von der kirchlichen Obrigkeit „empfohlenen“ Standardsatz „Ich habe Unkeusches getan in Gedanken, Worten und Werken“ herunter. Was dieser Satz genau bedeutete wusste sie nicht. Damals war ja nebst fluchen, stehlen und lügen, auch nur ein Gedanke an das andere Geschlecht, an einen Kuss oder sogar an Sex, unzüchtig und somit eine Sünde. Mit Ihrer „Standard Beichte“ erhoffte sie, dass damit nicht nur alle verbalen und körperlichen Sünden abgedeckt waren, sondern auch unbewusste gedankliche Vergehen. Dies hatte auch den Vorteil, dass man sich bei der Beichte nicht in Details verlor und man ihr danach einfach die entsprechende Standard Anzahl „Vaterunser“ oder „Ave-Maria“ zur Busse gab. Natürlich gab es Beichtväter die sich damit nicht abfanden und nach Details fragten. Mit dem Beichten von „Geheimnissen“ wurde der Gläubige so unausweichlich an die Kirche gebunden und diese baute sich mit diesem Wissen gleichzeitig ihre Macht aus. Ich habe meine Verfehlungen auch bedauert, bereut und gebüsst, aber nicht durch einen Zwischenagent, sondern direkt mit dem Chef im Himmel und auf diese Art war es erst noch gratis.
Am 15. August wurde das Hochfest Maria-Himmelfahrt gefeiert. Dieses Fest erinnert an die Aufnahme Marias mit Leib und Seele in den Himmel, eine Feier die im 4. Jahrhundert erstmals in Syrien begangen wurde. Für mich bedeutete dieser Tag aber immer die Untrüglichkeit, dass wir am Ende der Sommerferien angekommen waren und wir wieder zurück in die Schule mussten. Nach den Ferien merkte man bald, dass die Tage wieder kürzer wurden und der Herbst vor der Türe stand. Aber damit wusste man auch, dass bald wieder Kirchweih oder Chilbi war. Die Tage vor der Kilbi waren für mich interessanter als die Chilbi selbst, denn der Auf- und Zusammenbau der verschiedenen Karussells faszinierten mich immer sehr. Ich konnte stundenlang den Arbeiten zusehen. Als dann die Kilbi los ging war ich natürlich auch dabei, denn ich wollte ja sehen ob und wie schliesslich alles funktionierte. Mit meinen Ausgaben an der Kirchweih wurden die Schausteller und Marktfahrer allerdings nicht reich, denn mit den paar Kilbi-Batzen die ich von meinen Eltern erhielt war mein Kilbi-Vergnügen sehr beschränkt.
Pünktlich jedes Jahr erschien auch ein mysteriöser Schaustellerwagen der seinen Platz immer diskret zwischen zwei Karussells hatte. Es war der Wagen der „Dicken Berta“. So wie Paparazzi, versuchten wir Buben sofort nach ihrer Ankunft möglichst in der Nähe ihres Wagens zu verweilen. Wir hofften immer sie würde einmal unverhofft herauskommen, aber sie kam nie! Darum meinten einige Leute, dass es gar keine „Dicke Berta“ gab und ihre Schau nur eine Illusion war! Trotzdem ermutigte ein Ausrufer die Leute unablässig die dicke Frau leibhaftig im Wagen zu sehen. Aber der Eintrittspreis war für mich unerschwinglich. Zudem war uns Buben der Zutritt in den Wagen gar nicht erlaubt. Und genau diese Einschränkung machte uns Buben nur noch neugieriger und nur zu gerne hätten wir, wie alle anderen Schaulustigen, diese Frau gerne mit den eigenen Augen gesehen. Gleichzeitig schien mir aber das zur Schaustellen einer fettleibigen Frau demütigend und widerlich. Dies fanden wohl viele Leute, denn man erfuhr nie von niemandem der die Schau tatsächlich besuchte und diese Frau je gesehen hatte.
Am 25. September wurde in der Pfarrkirche dem Einsiedler Niklaus von Flüe, oder „Bruder Klaus“ gedacht. Allerdings war es kein ein offizieller Feiertag. Ein offizieller Feiertag hingegen ist im September immer der Eidgenössische Dank-, Buss und Bettag. Dieser überkonfessionelle Feiertag wurde von allen christlichen Kirchen und der Israelitischen Kulturgemeinde gefeiert. An diesem Tag ging immer die ganze Familie in die Kirche. Obwohl sich meine Eltern nicht speziell religiös gaben, war dieser Tag für sie wichtig um gegenüber dem „Allmächtigen“ Dankbarkeit für den Frieden im Land zu bekunden. Der Tag war ja nicht allein konfessionell begründet, sondern auch staatspolitisch orientiert. Nach dem zweiten Weltkrieg sollte er vor allem Respekt vor politisch- und konfessionell Andersdenkenden fördern, ein Anliegen das heute mehr den je von Aktualität ist. Schade nur, dass dies mit einem Kirchengang alleine nicht erreicht werden kann!
Der Oktober verlief ohne kirchliche Feste und nur zu schnell war man wieder im stillen und nebligen Monat November. Am 1. November, an Allerheiligen, gedachten die Katholiken aller Heiligen und tags darauf, an Allerseelen, all jener bereits von uns geschiedenen Mitmenschen. Die Tradition wollte es, dass man an Allerheiligen die Gräber der Eltern, Verwandten und Bekannten aufsuchte. Oft kamen an diesem Tag auch auswärtige Verwandte ins Dorf zurück um die Gräber der Verstorbenen im engsten Familienkreis zu besuchen. Für uns Protestanten war Allerheiligen kein religiöses Fest, denn wir kennen ja keine Heiligen. Trotzdem war für uns ein Gang zu den Gräbern an Allerseelen nicht ausgeschlossen. Dafür war für uns der Reformationstag wichtig, der auch immer am ersten Sonntag im November gefeiert wird. Der Ursprung dieses Gedenktages geht auf den 31. Oktober 1517 zurück, den Tag als Martin Luther seine Thesen an seine Lehrer verschickte. Darin prangerte er die Praxis des Ablasshandels an und rief zur Behebung verschiedener Missstände auf. Dies brachte in gewisser Weise die Reformation in Gang, durch welche viele Menschen heute zur evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde gehören.
(8) Aus dem Zeichnungsheft der 4. Klasse (1951)
Am 6. Dezember kam bei uns der „Samichlaus“ ins Haus. Erstaunlicherweise hatte ich weder vor dem „Samichlaus“ noch vor dem „Tüsseler“ Angst. Im Gegenteil, schon wenn ich sie im Treppenhaus aufsteigen hörte, machte ich die Wohnungstüre auf und hiess den Besuch willkommen. Mein furchtloser und spontaner Empfang amüsierte meine Eltern immer wieder neu und wie man mir später sagte, hatte sogar der (bestellte) Samichlaus jeweils Mühe seine ernste Mine zu behalten. Natürlich hatte er das Sünden-Buch in dem ausführlich von meinem Ungehorsam, von Streichen und anderen Übeltaten geschrieben war bei sich, aber sie waren nie so arg, dass sie ein Züchtigungsinstrument (Rute oder Fitze) rechtfertigten. Und so bekam ich immer einen Sack gefüllt mit Nüssen und Süssigkeiten. Heute kann ich mir gar nicht vorstellen wie damals der „Tüsseler“ einem bösen Kind Angst machen konnte oder sogar mit der Rute eins auf den Hintern geben konnte. Heute würde er samt dem Heiligen Nikolaus sofort wegen Kindsmisshandlung oder sogar Pädophilie verklagt und eingekerkert. Darum sind wohl die ursprünglichen Samichläuse fast total verschwunden und die heutigen Kopien aus Angst vor zivilrechtlichen Klagen nur noch stundenweise an gewissen Tagen vor Weihnachten in den Einkaufszentren zu sehen; heutzutage natürlich gegen alle möglichen Klagen versichert und geschützt.
Den Gedenktag an Sankt Nikolaus wird im gesamten Christentum mit zahlreichen Volksbräuchen begangen. Erst viel später erfuhr ich, dass der Heilige Nikolaus in der ersten Hälfte des 4° Jahrhunderts als Bischof von Myra wirkte, ein Dorf das heute in der Türkei liegt. Über den Niklaus von Myra gibt es unzählige Legenden die immer von seinem Wirken und seinen Wundern erzählen und die, mit der hauptsächlich verbalen Überlieferung, gegenwärtig je nach Land variieren. Heute pilgern vor allem Russen, Kroaten und Serben nach Myra um ihren Schutzpatron zu ehren.
Am 8. Dezember begeht die römisch-katholische Kirche das Fest Mariä Empfängnis oder auch „Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“ genannt. Die unbefleckte Empfängnis ist ein Dogma der Glaubenslehre, nach dem die Gottesmutter Maria vor jedem Makel der Erbsünde bewahrt wurde. So kurz vor Weihnachten war dieser Feiertag für meine Eltern immer eine willkommene Gelegenheit um in Zürich Lieferanten zu besuchen und um Einkäufe zu machen. Im protestantischen Kanton Zürich war ja nicht Feiertag und so freute ich mich immer mit meinen Eltern in die Stadt zu fahren, denn meistens wurden wir von den Vertretern eines Lieferanten zum Mittagessen eingeladen. So durfte ich wie ein Erwachsener in einem grossen Restaurant essen, was damals nicht jedes Kind durfte und konnte. Und wenn es dunkel wurde bewunderten wir die Weihnachtsbeleuchtung in den Strassen der Stadt. Es war für mich immer ein aufregender und magischer Tag, auch wenn ich dann abends immer todmüde ins Bett fiel.
(9) Aus dem Zeichnungsheft der dritten Primarklasse (1951)
Der 24. Dezember war für meine Eltern ein ganz normaler Arbeitstag, aber gleichzeitig der Tag wo wir abends Weihnachten feierten. Mit dem Stress vor Weihnachten, der täglichen Arbeitslast und den Vorbereitungen für den Abend gab es an diesem Tag fast immer Spannungen in der Familie. Die Nerven lagen oft blank und meine Mutter meinte dann, dass an Weihnachten immer der Teufel losgelassen werde. Oft hatte ich den Eindruck, dass sie Recht hatte. Als kleine Kinder durften wir nachmittags nicht in die Stube und man sagte uns, dass das Christkind im Hause sei. Schon anfangs Dezember hatten wir unsere Briefe an das Christkind geschrieben und vor die Balkontüre gelegt. Ich staunte immer, dass die Briefe tatsächlich am Morgen nicht mehr da waren. Ob unsere Wünsche wohl erfüllt wurden? Und als es schon ganz dunkel war ertönte plötzlich ein kleines Glöcklein. Es kündigte an, dass das Christkind wieder entschwunden war und wir in die Stube gehen durften. Wir machten die Türe auf und da stand der Christbaum mit seinen vielen Kerzen die den ganzen Raum erhellten. Unter dem Baum sah man Pakete in vielen verschiedenen Farben. Aber wir durften sie nicht berühren bevor wir die bekannten Weihnachtslieder sangen oder später, als wir grösser waren, sie mit Geige und Blockflöte vorspielten. Und dann gab mein Vater das Zeichen für die „Bescherung“, so wie wir es damals nannten. Meistens erhielt ich die gewünschten Spielsachen und so war ich zufrieden und glücklich. Nach der „Bescherung“ gab es immer ein im Teig gebackenes „Schüfeli“. Ich fand dies nie ein passendes Essen für Weihnachten, aber es war nun einfach Tradition und so fand ich mich damit ab. Am Weihnachtsmorgen bewunderten wir nochmals all die Geschenke am Tageslicht und entdeckten oft noch viele Details die wir am Vortag gar nicht gesehen hatten. Aber bald schon mussten wir uns anziehen und dann ging es in die Kirche nach Siebnen. Da hatte es immer einen riesigen Christbaum der bis fast an die Decke reichte. Oft fragte ich mich wie der Baum wohl in die Kirche gekommen war. Es war immer ein schöner Weihnachtsgottesdienst und ich langweilte mich weniger als sonst. Der Hintern tat mir aber genauso weh auf den harten Holzbänken. Zurück zu Hause machte meine Mutter immer ein feines Mittagessen; meistens geräucherte Kalbszunge, Kartoffelstock mit Erbsen und runden „Rüebli“ aus der Büchse. Manchmal hatte sie noch Tante Hanni zum Mittagessen eingeladen. Sie lebte alleine und nahm die Einladung deshalb immer gern an. Kaum waren die schönen Weihnachtstage vorbei zog der Alltag wieder ein und die Leute gingen ihrer Arbeit nach. Wir Kinder aber hatten noch bis am Dreikönigstag schulfrei und so faulenzten wir zu Hause oder genossen die Wintertage draussen im Schnee.
(10) Prot. Kirchgemeindehaus
Ausser den religiösen Feiertagen gab es manchmal auch ganz spezielle und einmalige Festlichkeiten, so zum Beispiel die Einweihung des Kirchgemeindehauses der Evangelisch-Reformierten Kirchgemeinde der March. Diese Gemeinschaft entstand erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts als sich Zürcher Industrielle mit Webereien und Spinnereien in der March niederliessen. Dies und die erlangte Niederlassungsfreiheit brachten damals Protestanten in die katholische March. Im Jahre 1900 bestand die Kirchgemeinde bereits aus 481 Mitgliedern. Bald entstand das Bedürfnis ein eigenes Gotteshaus zu haben und so wurde die Kirche in Siebnen gebaut. Die Protestanten die in Lachen wohnten wurden jeden Sonntagmorgen mit einem kleinen Bus nach Siebnen zum Gottesdienst und wieder zurück nach Hause gefahren. Da in den darauffolgenden Jahren sich immer mehr Protestanten auch in Lachen ansiedelten, entschied man sich da ein Kirchgemeindehaus zu bauen. Es sollte ein Ort werden wo nicht nur religiöse Handlungen, sondern auch kulturelle Anlässe möglich waren und somit auch Katholiken Zugang hatten. Dieser Offenheit wurde anfangs mit grossem Misstrauen begegnet und es gab sogar Katholiken, die schworen das Kirchgemeindehaus niemals zu betreten. Zudem konnten einige nicht verstehen, dass katholische Handwerker bereit waren am Bau des Kirchgemeindehauses Arbeiten auszuführen. Diese kamen dann, so wie ein einheimischer Dachdecker, für viele Kunden nicht mehr in Frage und wurden nachher sogar von ihren engsten Angehörigen gemieden. Trotzdem wurde im Jahre 1948 der Neubau fertig gestellt, feierlich eingeweiht und später so genutzt wie es ursprünglich vorgesehen war: konfessionsübergreifend!
(11) Transport der Glocke
Ein Teil der festlichen Einweihung war der Aufzug der Glocke auf das Türmchen auf dem Dach. Ich war damals erst 7 Jahre alt, durfte aber trotzdem wie alle Kinder am Hanfseil mitziehen bis die Glocke oben war. An diesem Tag war ich besonders stolz auf meinen Vater, denn er hatte nicht nur den Hahn auf dem Turm entworfen, sondern ihn auch selbst angefertigt. Er wurde ganz aus Kupfer hergestellt und so verfolgte ich seine Entstehung bereits schon in unserer Werkstatt meines Vaters. Als der Hahn dann auf dem Turm montiert wurde, durfte ich mit dabei sein. An diesen speziellen Moment erinnerte ich mich später jedes Mal, wenn ich ihn stolz drehend auf dem Dach sah. Der Hahn war ja nicht nur ein religiöses Symbol, sondern hatte auch die Funktion einer Wetterfahne, wobei eine perfekte Drehmechanik meinen Vater besonders gefordert hatte. Der Hahn steht für Christus, und der Hahnenschrei, der aus dem Schlaf reisst, steht für den Ruf des Erlösers, der die Menschen einmal aus dem Schlaf des Todes wecken wird.
(12) Mein Vater mit dem selbstgefertigten Wetterhahn, bereit für die Montage auf dem Dach des Kirchgemeindehauses.
Trotz der Einweihung des Kirchgemeindehauses fand man sich weiterhin in Siebnen für die Gottesdienste zusammen. Nur ausnahmsweise wurde ein Gottesdienst in Lachen abgehalten. Wir Kinder hatten es aber besser, denn die „Sonntagsschule“ mit Fräulein Meier fand nun im Kirchgemeindehaus statt. Ich liebte diesen illustrativen Unterricht am Sonntagmorgen. Zu jeder Geschichte erhielten wir jeden Sonntag ein Bildchen, das man in ein Heft mit Text einkleben konnte. So konnte man sich zum Beispiel die Geschichte von „David und Goliath“ oder die „Tempelreinigung“ viel besser vorstellen und verstehen. Die Bildchen spornten uns an fleissig jeden Sonntag im Kirchgemeindehaus zu erscheinen und um weitere illustrierte Geschichten zu hören.
Meistens machte ich den Weg mit Edith die am Kreuzplatz wohnte. Sie wartete vor unserem Haus und dann gingen wir zusammen die Mittlere Bahnhofstrasse hinauf um beim Restaurant Biergarten die zweite Edith, die Tochter des Wirtes, abzuholen. Meistens liess sie uns auf sich warten oder kam gar nicht aus dem Haus. Sie war unbekümmert und selbstsicher, blieb aber unnahbar. Sie wusste immer was sie wollte und genau das gefiel mir an ihr. Komischerweise schien sie meine Sympathie weder zu bemerken noch zu erwidern zu wollen. Nach der „Sonntagsschule“ folgte später der Religionsunterricht. Dieser Unterricht wurde von Pfarrer Türing persönlich gegeben. Im Februar 1956, also über die offiziellen Fasnachtstage, organisierte er ein Skilager auf der Ohrenplatte bei Braunwald. Schon bei der Ankunft zeigte das Thermometer 20 Grad unter Null an und so kalt blieb es auch während dem ganzen Aufenthalt. Trotzdem waren wir den ganzen Tag im Freien und genossen das prächtige Winterwetter. Am Abend wurden wir immer super unterhalten. Allerdings hatte ich mit dem äusserst trockenen und kalten Wetter meine Stimme total verloren und konnte vor lauter Halsweh kaum mehr schlucken. Die Tage waren trotzdem unvergesslich. Das Ziel des Skilagers war die Förderung des Zusammenhangs zwischen Protestanten gewesen und war Teil der Vorbereitung auf die Konfirmation.
Am Palmsonntag (14. April 1957) wurden wir von Pfarrer Ed. Schäubli konfirmiert und damit offiziell in die Evangelisch-Reformierte Kirchgemeinde der March aufgenommen. Meine persönlichen Sprüche zur Konfirmation waren:
Dann folgte noch der traditionellen Konfirmanden-Ausflug der uns am 22. April 1957 auf den Uetliberg führte. Am Wochenende vom 15./16. Juni machte ich mit der „Jungen Kirche“ zusätzlich eine Wanderung über den Segnes-Pass (2627 m.ü.M.). Die Route führte von Lachen, Ziegelbrücke, Schwanden, Elm nach Niedern wo wir im Heu übernachteten. Am anderen Tag führte uns eine wilde, steinschlaggefährdete Tour durch das berühmte Martinsloch in den Tschingelhörnern zum Segnes-Pass und dann zur Segneshütte. Nach einer kurzen Rast ging die Wanderung weiter, diesmal hinunter nach Flims wo wir mit dem Postauto nach Chur kamen und dort mit der Bahn nach Lachen zurückfuhren. Es war eine anstrengende aber sehr eindrückliche Tour gewesen.
In den Jahren 1953/54 wurde die katholische Kirche renoviert. Mit der Renovation wollte man gleichzeitig das gesamte Glockengeläut erneuern. So wurde gesammelt und gespart bis man vier neue Glocken bei der Erdinger Glockengiesserei in Bayern bestellen konnte. Zwei der alten Glocken, die Älteste und die Grösste wurden nur umgestimmt. Schon im Mai 1955 wurde dieses Thema in der Schule aufgegriffen und dann während Wochen in allen Details behandelt. So schrieb ich einen illustrierten Aufsatz mit dem Titel „Wie wird eine Glocke gegossen?“ der schliesslich 4 Folgen hatte. Am Schluss als die Glocke fertig gegossen war schrieb ich: „Bald wird sie ihren gewohnten Lebenslauf beginnen und uns in Leid und Freud begleiten“. Und so war es!
Die Glockenweihe fand am 17. Juli 1955 im Beisein des Bischofs von Chur auf dem Seeplatz neben der Turnhalle statt. Zuerst wurden die vier neuen Glocken gewaschen und getrocknet um sie von Dämonen und bösen Geistern zu befreien. Dann schlug als Erster der Bischof mit einem Holzhammer die Glocken an. Anschliessen taten dies auch die folgenden Paten:
Für die Schutzengel-Glocke Frau Annemarie Theler
Herr Josef Kafader-Ziltener
Für die Marien-Glocke: Frau Witwe Katharina Stählin
Gemeinderat Willi Romer
Für die Friedens-Glocke: Frau Berta Deuber-Giger
Herr Friedrich Michel-Diethelm
Für die Heiligkreuz-Glocke: Frau Maria Züger-Tanner
Herr Fritz Sager-Risi
Auf den alten Glocken:
Heiliggeist-Glocke (1575) KVM HEILIGER GEIST
ERFVL DIE HERTZEN DINER GLÖVBIGEN
VUN ENZVND INEN DAS FVR DINER LIEBE 1575
Wetter-Glocke (1876) VIVOS VOCO MORTUOS
PLANGO FULGURA FRANGO
Auf den neuen Glocken:
Heilig-Kreuz Glocke (1955) O KREUZ, GEWEIHT IN JESUS CHRIST
HÜT UNS VOR SATANS MACHT UND LIST
Friedens-Glocke (1955) LANDESVATER BRUDER KLAUS
BEHÜT IN FRIEDEN LAND UND HAUS
Marien-Glocke (1955) MARIE MAGD UND KÖNIGIN
SCHÜTZ UNSER DORF MIT MUTTERSINN
Schutzengel-Glocke (1955) HEILIGER SCHUTZENGEL MEIN
LASS ALLE DIR EMPFOHLEN SEIN
(13) Die sechs gesegneten Glocken der katholischen Kirche in Lachen
Anschliessend gingen alle Leute wieder in die Kirche und später wurden dann die Glocken eine nach der anderen mit der Hilfe von uns Kindern mit langen Seilen auf die Türme gezogen. Die Seile waren so lang, dass sie von der Pfarrkirche bis weit in die Hintere Bahnhofstrasse hinaufreichten. Natürlich war ich auch dabei und zog wie wild an dem Seil. Und tatsächlich, die Glocken schwebten in die Höhe verschwanden dann im Fenster unter dem Zifferblatt. Natürlich ging es noch eine Weile bis das ganze Glockengeläut installiert war. Aber dann eines Tages war es soweit und ich war über die Harmonie und den Klang der 6 Glocken begeistert. Wir hatten ein wunderbares Geläut bekommen das jedes Mal eine tiefe Emotion in mir hervor rief. Besonders die Wetter-Glocke mit ihrem warnenden Klang war beeindruckend. Aber auch die 6250 kg schwere Heilig-Kreuz-Glocke mit ihrem tiefen Ton (die Schwerste des Geläutes) hat mich immer fasziniert. Normalerweise war es diese Glocke die als Letzte das Geläute beendete und dann ihren dumpfen Nachklang noch lange wie eine beschützende Hand über dem ganzen Dorf einwirken liess. Dies war immer ein wunderbares Erlebnis, allerdings nur wenn man die Gabe hatte es zu hören und zu erleben!
Neben den sechs erwähnten Glocken gab es noch eine siebte Glocke, das „Toten-Glöcklein“ oder auch Josef’s-Totenglocke genannt. Es wurde nur geläutet, wenn jemand im Dorf verschieden war. Es war eine Glocke die aufschreckte und immer sehr traurig läutete. Es läutete einmal bei einem Kind, zweimal bei einer Frau und dreimal bei einem Mann. Trotzdem wollten die Leute sofort wissen wer denn wohl gestorben sei und man spekulierte wie wild. Aber eigentlich war dies war gar nicht nötig, denn die traurige Nachricht machte bald Runde unter den Nachbarn oder dann konnte man sie später durch den „March-Anzeiger“ erfahren. Eine weitere kleine Glocke darf man trotz seiner Stummheit nicht vergessen. Es ist das Chor/Evangelienglöcklein im Chorturm, das aber heute nicht mehr geläutet wird.


Mit 6 Jahren begann im Jahre 1947 meine Schulzeit mit dem Kindergarten, der sich im „Alten Adler“ zwischen der „Sonne“ und dem Konsumverein beim Rathausplatz befand. Damals kamen alle Kinder zu Fuss und ohne elterliche Begleitung zur Schule. Für mich war der Weg nicht weit und führte vom elterlichen Haus gerade die Marktstrasse hinunter bis zum Rathaus. Zu jener Zeit gingen alle Mädchen zu den „Schwestern vom Heiligen Kreuz“ in die Schule. Ihr Mutterhaus befindet sich noch heute in Menzingen/ZG und so wurden sie auch einfach “Menzinger Schwestern“ genannt. Diese Schwestern gaben aber auch den Buben bis und mit der 1. Klasse Schul-Unterricht und nahmen sich den Kleinen im Kindergartenalter an. In meinem Kindergarten war es die Schwester Konstanzia die uns auf die richtige Schule vorbereitete. Zum Glück liess sie uns meistens einfach Kinder sein und versuchte uns nicht schon in diesem zarten Alter mit dem Alphabet oder Rechnen zu bedrängen. So liess sie uns einfach spielen. Manchmal gab sie uns Anweisungen für Bastelarbeiten, die wir nachher nach Hause nehmen durften.
(1) Mütze aus Tapetenpapier (Orginal)
Es war eine sehr liebe Schwester die ich sehr schätzte und ich glaube sie mochte mich auch gut. Ein Beweis dafür schien mir die Tatsache, dass ich von ihr „Heiligen Bildchen“ erhielt, wenn ich ganz brav gewesen war. Ich liebte diese Bildchen unermesslich, denn sie waren ja im Prinzip nur für brave katholische Buben vorenthalten. Dass ich als Protestant so ein Bildchen überhaupt erhielt, schätzte ich ausserordentlich und ich verwahrte sie deshalb wie ein grosser Schatz oder wie ein Schutz vor Bösem. Eines der Bildchen schätzte ich ganz besonders. Es war farbig und zeigte eine liebliche Landschaft mit einer Kirche und einem Bächlein. Man sah darauf auch die Maria und einige Kinder spielen. Was ich aber nie vergass war der Vers auf dem Bildchen:
Eia, wären wir da,
Wo die Englein singen,
Wo die Glöcklein klingen,
Wo die blauen Blümlein stehn
Und die Kinder spielen gehen!
Der Vers versetzte mich in eine Traumwelt und so träumte ich vom Paradies oder einer Welt wo alles in Frieden und in Harmonie mit der Natur lebt. Ich blieb das ganze Leben ein Träumer und hoffe noch heute einmal in einer solchen Traumwelt leben zu dürfen.
(2) Das Heiligenbildchen, das ich bis heute mit Wertschätzung aufbewahrte.
Eines Tages hatte Schwester Konstanzia einige Herze aus weissem Paper zugeschnitten und befestigte das Erste mit einem Reissnagel an die Holzwand. Dann erklärte sie uns, dass wir alle mit einem so weissen Herz wie das Papierherz geboren wurden. Anschliessend fixierte sie ein zweites Herz and die Wand. Diesmal mit einigen schwarzen Flecken. Sie sagte, dass diese Flecken die täglichen Sünden bedeuteten. Danach kamen weitere Herzen an die Wand, jedes Mal mit mehr schwarzen Flecken. Am Schluss befestigte sie ein ganz schwarzes Herz an die Wand und erklärte, dass dies das Resultat vieler Sünden sei. Um das Herz wieder rein und weiss zu machen hätten die Katholiken aber das grosse Glück der Beichte, während die Protestanten in das Fegfeuer kämen! Erstaunlicherweise, löste ihre Lehre bei mir keine Angst aus, dafür aber Fragen wie das geschehen soll? Wie konnte man ein Herz mit so vielen Sünden mit einer einzigen Beichte wieder weiss machen? Aber mit meinem Zweifel hatte ich ja bereits wieder gesündigt und mein Herz dabei noch schwärzer gemacht. Aus lauter Angst, dass mich jemand als einen Ungläubigen entlarven könnte, war es ausgeschlossen meine fragenden Gedanken mit meinen Klassenkameraden zu teilen. Viele Jahre später fragte mich ein damaliges „Gspänli“ ob mich diese und weitere Erfahrungen mit Katholiken traumatisiert hätten. Nein, sagte ich, diese Zeit in der Minderheit hat mich gestärkt und so blieben mir nur gute Erinnerungen. Natürlich sagte ich ihr nicht, dass ich noch heute „Heiligen Bildchen“ aus dieser Zeit habe und dass sie mir damals wie heute Kraft geben. Und daran glaube ich ohne zu sündigen
Nur zu schnell war das Kindergartenjahr zu Ende und so begann mein erstes Schuljahr im Frühling 1948 im alten Schulhaus neben der Kirche. Ich hatte schon an Weihnachten einen Schulsack, eine Holzdose für Bleistifte, Farbstifte und Federhalter, einen Bleistiftspitzer und eine Schiefertafel mit Schwamm bekommen. Eigentlich war es kein Sack, sondern eine Art Tornister den man wie ein Rucksack auf dem Rücken trug. Er war aus Leder gefertigt, rechteckig und der Deckel mit einem grauweissen Seehundfell bezogen. Da es wetterfest und wasserdicht war, schätzte man dieses Fell sehr. Aber niemand schien sich damals zu fragen woher das robuste Fell kam und auf welch brutale Art die sympathischen Meerestiere nur wegen ihrer Haut das Leben lassen mussten. Allerdings hatte es einige Buben deren Schulsäcke anstatt mit Seehundfell mit einem Kuhfell bespannt waren. Vielleicht hatten deren Eltern schon damals von der Robben-Kontroverse gehört? Meine Eltern schienen jedenfalls nichts davon gewusst zu haben und so trug ich meinen neuen Schulsack mit dem virilen Fell jeden Tag mit Stolz und ohne schlechtes Gewissen zur Schule.

(1) Der erste Schultag (Foto aufgenommen neben dem Warenaufzug auf dem Dach)
Auch in der ersten Klasse wurden wir von einer Menzinger Schwester unterrichtet, der Schwester Elisabeth. Sie war streng und scheute sich nicht uns zu schelten und sogar „Tatzen“ zu geben. Wir sassen auf Holzbänken die mit dem Pult fest verbunden waren. Während es auf der oberen Seite der Tischplatte eine Halterung für ein eingebautes Tintenfass hatte, war die untere Seite hochklappbar. Darunter hatte es eine Ablage für Bücher und Schulmaterial. Man schrieb mit Bleistift oder mit einem Federhalter, einer Feder und Tinte. Das Schreiben mit einer spitzen Feder war anfangs alles andere als einfach und man brauchte seine Zeit bis man es „erlickt“ (kapiert) hatte. Eine falsche Bewegung und schon hatte man Tintenspritzer auf dem Blatt und musste den ganzen Text neu schreiben. Wir füllten ganze Seiten mit gleichen Buchstaben und alles musste perfekt sowie schön geschrieben werden. Später kamen dann noch die Zahlen dazu. Auch sie mussten sehr schön und sauber geschrieben werden, sonst musste man zur Strafe noch eine weitere Seite damit füllen. Das Tintenfass befand sich unter einer Schiebevorrichtung, die vor dem Austrocknen der Tinte schützen sollte. Aber gerade diese Vorrichtung war für uns Buben immer wieder von Interesse. Mit unserer jugendlichen Neugier versuchten wir das Tintenfass aus seiner Halterung zu holen. Dies endete meistens mit einem Unglück wobei nicht nur die Hefte auf dem Pult mit blauer Tinte gefärbt wurden sondern auch unsere Kleider, was unsere Mütter gar nicht schätzten.
(2) Das Steinschrift Heftchen der ersten Primarklasse für das Fach "Rechnen"
Trotz diesen spannenden Experimenten war es eher ein langweiliges Jahr und so war ich oft unaufmerksam. Einmal zeigte mir mein Banknachbar, der Ruedi, unter dem Bankdeckel einen Hühnerfuss. Er hatte diesen Fuss nach dem Schlachten eines Huhnes mit in die Schule genommen um mir zu zeigen wie man mit der Sehne den Fuss und die Krallen bewegen konnte. So was Interessantes hatte ich natürlich noch nie gesehen und war deshalb völlig abwesend. Plötzlich war die Schwester Elisabeth neben uns und entdeckte was uns vom Unterricht abhielt. Sie schien so entsetzt, dass wir beide sofort eine „Tatze“ bekamen. Ich musste annehmen, dass sie die Mechanik eines Hühnerfusses auch noch nie gesehen hatte, sonst hätte sie nicht so unkontrolliert mit dem Stecken auf unsere Hände eingeschlagen und die Situation benutzt um uns ein bisschen Zoologie beizubringen. Es tat wirklich weh und Ruedi hatte nachher nie mehr Lust Hühnerfüsse mit in die Schule zu nehmen. Zu Hause sagte ich nichts von dem Vorfall, sonst hätte mir mein Vater gleich noch eine zweite Ladung gegeben, diesmal auf den Hintern. Vom „Recht des Kindes“ oder gar einem Verbot Kinder zu schlagen sprach damals niemand. Und wenn solche Gesetze damals tatsächlich existiert hätten, wäre niemandem in den Sinn gekommen gegen eine ehrwürdige Lehrperson zu klagen. Zudem hätte man auch gar kein Geld für einen Anwalt gehabt. Trotz diesem Abenteuer hatte ich am Ende des Schuljahres ein ausgezeichnetes Zeugnis: Sitte 1, Betragen 1 und Ordnung und Reinlichkeit 1! Bei den Schlussnoten bekam ich für alle 11 Unterrichtsfächer eine 1, ausser der Sprachlehre.
(3) Mein erstes Zeugnis (1. Primarklasse)
Da es keinen Spielplatz gab, verbrachten wir die Pausen bei schönem Wetter immer draussen und zwar zwischen dem alten Schulhaus und der Kirche am See. Meistens machten wir „Fäh“ oder „Fangis“. Neben der Kirche war ein Friedhof der ziemlich vernachlässigt war und so wurde auch er Teil unsers Spiel-Reviers. Eines Tages war ich wieder einmal auf dem Friedhof unterwegs und rannte über die vielen Gräber einem Schulkameraden nach. Doch an diesem Tag war es feucht und so rutschte ich auf einer Mauer aus. Ich hatte das Schienbein angeschlagen, doch ich rannte sofort, ohne mich um das Bein zu kümmern, weiter. Erst nach einiger Zeit fragte mich ein Klassenkamerad was ich wohl am Bein hätte. Erst dann entdeckte ich zu meinem Schrecken, dass das Schienbein etwa 12 cm aufgeschlitzt war. Man sah den weissen Knochen, von Blut aber keine Spur. Bei diesem Anblick wurde es mir übel, schaffte es aber trotzdem nach Hause, wo mich meine Mutter zum Arzt brachte. Danach vermied ich Sprünge und Rennen auf Friedhöfen, denn ich wollte keine Toten mehr in ihrer Ruhe stören und anschliessend dafür bestraft werden!
Ab der zweiten Klasse wurden alle Primarschulklassen im Neuen Schulhaus neben der Turnhalle unterrichtet. Man nannte es auch 36er-Schulhaus, weil es im Jahre 1936 gebaut wurde. Zum ersten Mal unterrichtete uns nun ein Lehrer, Herr Emil Stamm, ein molliger, netter Mann der Stumpen rauchte, der aber wegen seinen heftigen „Tatzen“ und „Kopfnüssen“ auch gefürchtet war. Auch in dieser Klasse ging es mit „Schönschreiben“ weiter. Wieder füllten wir ganze Seiten mit Buchstaben, dem ABC und Zahlen. Ich hatte schon das Gefühl, das Kalligraphie das Hauptfach war, doch dann begannen wir endlich Wörter, Zahlen und Namen zu schreiben. Der Unterricht wurde interessanter und so wurde uns der Unterschied zwischen d und t, b und p, f und v erklärt. Es gab Aufgaben mit Haupt- oder Dingwörtern, Geschlechtswörtern, Eigenschaftswörtern, Tunwörtern und Wörter mit tz, ck, eu, äu, etc. Dann wurden auch die Silbentrennung und Einzahl sowie Mehrzahl geübt, also erste Schritte in Grammatik. Gleichzeitig begannen wir mit Rechnen: zuzählen, abzählen, teilen und vervielfachen. Neu war auch eine Stunde „Zeichnen“, was ich immer sehr gern machte. Bis zur vierten Klasse bekamen wir aber dafür noch keine Noten.Wie in der ersten Klasse kam ich immer mit sehr guten Noten nach Hause, aber ich war nicht sicher ob meine Eltern damit überhaupt zufrieden waren.
(4) Aus dem Zeichnungsheft der 2. Primarklasse (1949)
Das Schulhaus war neu und komfortabel, aber die Schulhaustüre wurde immer erst geöffnet nachdem die katholischen Schüler auch da waren. Diese mussten ja jeden Morgen zuerst zum Kindergottesdienst in die Kirche und kamen dann später in Zweierkolonne zum Schulhaus wo auch da zuerst wieder gebetet wurde. Oft war zu dieser morgendlichen Stunde gleichzeitig eine Abdankung in der Kirche und so mussten die Kinder zusätzlich für die verstorbene Person singen. Dies verlängerte den Aufenthalt in der Kirche und so mussten wir Protestanten vor dem geschlossenen Schulhaus warten bis alle aus der Kirche entlassen wurden. Obwohl dabei immer Schulstunden verloren gingen, schien sich an diesem religiösen Brauch niemand zu stören. Wir Protestanten wurden am Vortag nie von Beerdigungen und möglichen Verspätungen informiert und so hatten wir keine andere Wahl als zu warten und dies bei jedem Wetter. Im Winter war es besonders demütigend, denn bei starker Bise und Schnee froren wir auf der Treppe vor dem Schulhaus bis zu einer Stunde im Freien. Es war unerklärlich wie die Lehrerschaft und der Schulrat eine solche Situation damals überhaupt ignorieren konnten. Und da unsere protestantischen Eltern sich nicht trauten sich gegen solche Gepflogenheiten zu wehren, war es ihnen vielleicht ganz einfach nicht aufgefallen wie wir in der Kälte litten. Von Zeit zu Zeit gab es manchmal, obwohl uns die Lehrer im Prinzip den Katholiken gleichstellten, noch weitere seltsame Situationen. Es kam vor, dass wir Protestanten plötzlich grundlos das Schulzimmer verlassen mussten. Als wir wieder reingelassen wurden wollten wir natürlich wissen wieso man uns ausgeschlossen hatte oder was besprochen worden war? Doch keiner von den Klassenkameraden hätte uns je verraten was ihnen während dieser Zeit unterrichtet worden war. Wenn wir insistierten rief manchmal ein Vorwitziger „Reformiert mit Dreck verschmiert“, aber interessanterweise beleidigte mich dieses miese Verhalten meiner Klassenkameraden nie. Schliesslich lästerten sie auch über die Italiener und nannten sie „Tschinggen“ und vieles mehr. Zudem sagte mir meine Mutter andauend, dass unser Geschäft hauptsächlich dank katholischen Kunden existiere und dass wir etwelche Beleidigungen einfach wegstecken müssen. Und dies beherrschte ich schliesslich das ganze Leben.
Auch in diesem neuen Schulhause gingen Knaben und Mädchen getrennt in die Schule. Das Schulhaus hatte zwei Eingänge, der Linke für Mädchen und der Rechte für Knaben. Die Mädchen wurden ausschliesslich von den Menzinger Schwestern unterrichtet. Es war nicht erlaubt in der Pause mit den Mädchen zu sprechen und wenn einmal ein Knabe den Versuch machte, waren die Schwestern sofort zur Stelle um sie zurück zu weisen. Es gab auch bei diesem Schulhaus kein eigentlicher Spiel- oder Pausenplatz. Man tummelte sich in der Pause auf dem Vorplatz oder dann in der Abfalldeponie oder „Güselhafen“, wie man damals nannte, der sich damals nur wenige Meter hinter dem neuen Schulhaus befand. Immer wieder entdeckten wir neue „interessante“ Sachen, die wir aber nicht ins Schulhaus nehmen durften. Damals gab es ja kein Trennen von Abfall und so machten wir unsern Pausenspaziergang wie Akrobaten über alte Ölfässer, kaputte Möbel, Essensresten, Plastik-Behälter und vieles mehr. Es wimmelte hier von Ratten und Mäusen. Eines Tages kamen ein paar Soldaten, die in der Gegend den „WK“ absolvierten. Alle hatten reihenweise Ratten an den Gewehren aufgehängt, die sie irgendwo in der Gegend geschossen hatten. Sie sagten die zur Schau gestellten Ratten gäben eine köstliche Mahlzeit, aber jeder wusste, dass für jeden Rattenschwanz eine Prämie offeriert wurde im Dorf.
Später wurde diese Abfall-Deponie einfach mit Schutt überdeckt und darauf ein Sportplatz geschaffen. Niemand schien sich damals Sorgen über eine mögliche Grundwasserverschmutzung zu machen. Gleichzeitig wurde ein neuer „Güselhafen“ beim Bootsbau der Firma Kalchofner & Co. eröffnet, also ganz in der Nähe wo die Wägitaler Aa in den See mündet. Mit der Einwilligung der Genossame hatte sich die KIBAG früher mit einem Baggerschiff fast frevelhaft vom See her ins Agrarland rein gefressen, sodass beim Fussweg ein steiles Ufer entstanden war, das immer wieder in den See abrutschte. Nun wollte die Genossame Lachen das verlorene Land mit einer Abfalldeponie wieder zurückgewinnen. Man erstellte draussen im See einen Damm und schaffte damit ein grosses Becken, das wieder für manche Jahre unseren Müll aufnehmen konnte. Wie im alten „Güselhafen“ warf man die Abfälle einfach ins Wasser uns liess sie dort langsam vermodern, oxidieren und verrotten. Nach der Erstellung der Verbrennungsanstalt (KVA Linth) in Niederurnen im Jahre 1973 wurde auch diese Grube zugeschüttet und geschlossen. Die Zukunft wird zeigen ob sich die Natur für diese einfache Lösung rächen wird und was das gedankenlose, geldgierige Tun einmal für Folgen haben wird.
Am See war es nicht viel sauberer, denn damals warf man alles was man nicht mehr brauchte entweder in die Bäche oder direkt in den See. Einmal sah ich ein totes Schwein an der Seeoberfläche. Später hatte jemand Konkurs gemacht und aus Frustration seine ganze Buchhaltung in den See geworfen. Seit ich all diese Abfälle friedlich auf dem See schwimmen gesehen hatte, war mir die Lust im See zu baden für lange Zeit vergangen. Heute würden solche „Entwicklungsland-Zustände“ zu Protesten führen, aber damals machte sich niemand Sorgen um die Umwelt. Es war ja immer so gewesen und diese Zustände hatten bis anhin niemandem geschadet.
Auch in der dritten Klasse unterrichtete uns der Lehrer Stamm. Wieder verbrachten wir viele Stunden mit „Schönschreiben“ und wieder füllten wir viele Seiten mit schönen Buchstaben und Zahlen. Die Grammatik wurde mit den 4 Fällen des Dingwortes erweitert: Werfall, Wesfall, Wemfall und Wenfall. Dann lernten wir die drei Zeiten: die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft. Schliesslich kamen dann noch die Verkleinerungsform, die Steigerung des Eigenschaftswortes, die Dehnungen (Paar, Saal, Haare, etc.) und die Schärfungen (Himmel, Gummi, Schwamm). Dann wurden die 12 Monate thematisiert und die ersten Aufsätze gemacht, die ich gerne mit Bildern illustrierte.
Dieses Jahr hatten wir einen Schüler mehr in der Klasse. Er hiess David Faux und wohnte bei seiner Grossmutter, der Frau Heer, die das Restaurant Johannisburg auf dem Burghügel oberhalb Altendorf führte. Von diesem Hügel hat man eine sagenhafte und aussergewöhnliche Aussicht über den oberen Zürichsee sowie das umliegende Bergpanorama. Die Mutter von David, also die Tochter von Frau Heer, war mit einem Engländer verheiratet der bei SINGER Nähmaschinen in Kalkutta in Indien arbeitete. Die Eltern von David hatten Zweifel an der Qualität der Schulen in Indien und so schickten sie ihn in die Schweiz zur Ausbildung. David war sehr scheu und etwas verloren in unserer Klasse. Da er bis anhin hauptsächlich Englisch sprach, hatte er anfangs Schwierigkeiten mit dem Schweizerdeutsch. Bald merkte ich, dass er in der Klasse mit seiner exotischen Herkunft als Ausländer angesehen wurde und dann unter dem blöden Vorwand er sei halt „Altendörfler“ gemieden wurde. Für mich war David aber ein äusserst interessanter Junge, denn schliesslich hatte er in Indien gelebt und genau das beeindruckte mich. Irgendwie tat er mir aber auch leid, denn er musste zum Mittagessen zu seiner Grossmutter auf die Johannisburg und hatte so gezwungenermassen viermal pro Tag einen mehr als halbstündigen Schulweg. Dies war besonders im Winter sehr hart.
(5) Die Kapelle St. Johann auf dem Burghügel oberhalb Altendorf
Bald lernten wir uns besser kennen und so kam er manchmal zu mir nach Hause. An den freien Mittwochnachmittagen trafen wir uns dann ab und zu bei ihm auf der Johannisburg. Da erzähle er mir von seiner Kindheit in Indien und das gerade dies faszinierte mich. Er wusste aber auch viel über die Geschichte der Johannisburg und dass früher auf dem Hügel eine Burg stand und dass Altendorf ursprünglich Rapperswil, dann Alt-Rapperswil hiess. Weiter sagte er, dass gemäss Urkunde von 697 der Ritter Raprecht als Stammvater der berühmt gewordenen Burg St. Johann war, die einst Raprechtswil, später Rapperswil hiess. Als etwa 1220 Neu-Rapperswil am gegenüberliegenden Seeufer gegründet wurde, nannte man Altendorf Vetus-Villa, d.h. altes Dorf. Der Burghügel von Alt-Rapperswil mit der St.-Johann-Kapelle und ihren drei prächtigen gotischen Altären erinnern noch heute eindrücklich an die Vergangenheit. Die Johannisburg war für mich deshalb ein magischer Ort. Man sagte ja, dass die Kapelle St. Johann auf den Ruinen der im Jahre 1350 durch Stadtzürcher Truppen unter Bürgermeister Brun zerstörten Stammburg gebaut worden war. Während der gotische Bau der Kapelle weitgehend aus dem ausgehenden 15.Jahrundert stammt, ist die Errichtung der beiden gotischen Seitenaltäre im Jahre 1476 belegt. Es gab aber auch Gerüchte, dass es auf einer Felsrippe noch Überreste der zerstörten Burg gäbe und dass es früher ein Tunnel von der Burg hinunter bis zum einstigen Fischerdörfchen „Seestatt“ gab. Genau dies wollten wir erforschen. Wir kämmten den ganzen Hügel und den Wald nach möglichen Zugängen zu diesem Tunnel ab. Und tatsächlich fanden wir eine Stelle die uns sehr erfolgversprechend erschien. Es war eine riesige Steinplatte die gegen einen steilen Hang im Walde angelehnt schien. Wir redeten uns ein, dass nach der Zerstörung der Burg der Tunnel damals mit dieser Platte versiegelt wurde. Also versuchten wir die Platte vom Hang zu lösen. Aber wir waren noch zu klein und hatten die nötigen Werkzeuge nicht, doch wir versuchten es jeden Mittwochnachmittag erneut. Eines Tages fand David eine grosse Eisenstange und mit dieser gab die Platte dann schliesslich nach. Doch wir hatten sie nicht unter Kontrolle und so rollte sie zu unserem Schrecken sofort unkontrolliert und rasant den Hang hinunter um auf dem Feld eines Landwirtes hinter dem Hügel zu landen. Dieser schien ebenfalls überrascht und so hörten wir ihn anschliessend empört und heftig schimpfen. Leider fanden wir hinter der Platte nur Erde, Wurzeln und Gestein. Die Enttäuschung war deshalb entsprechend gross. Zudem wurde uns bewusst, dass die hinuntergefallene Platte nicht ungefährlich gewesen war und wir schliesslich grosses Glück hatten, nichts Schlimmes angerichtet zu haben. Von da an wagten wir uns nicht mehr an archäologische Forschungen oder Ausgrabungen. Während den Sommerferien reiste David zu seinen Eltern nach Kalkutta und von da schickte er mir dann regelmässig eine Ansichtskarte. Ich schätze seine Aufmerksamkeit sehr und hob diese Karten später noch viele Jahre wie ein kostbarer Schätz auf. Schliesslich war eine solche Karte damals eine Seltenheit und so war ich stolz sie überhaupt zu besitzen. Anhand der Illustration auf der Karte und der Briefmarke versuchte ich mir sein Leben dort vorzustellen. Plötzlich verliess David unsere Klasse und musste seine weitere Schulzeit in Internaten verbringen, was mir sehr leidtat. Nach seinem Wegzug verloren wir den Kontakt und trafen uns erst mehr als vierzig Jahre später wieder. Durch einen Zufall erfuhr er auf einer Party in Jakarta, dass ich für eine UNO Mission ebenfalls im Lande war und dies erlaubte uns schliesslich unsere Freundschaft bis zu seinem Tode im Jahre 2017 weiter zu pflegen.
In der vierten Klasse hatten wir einen neuen Lehrer, den Herrn Robert Kümin. Eine schöne Schrift war immer noch das grosse Thema und neben der Note für die Prüfungsdiktate wurde immer auch noch separat die Schrift bewertet. Der Lernstoff hatte sich stark verändert und die Noten nun für folgende Unterrichtsfächer gegeben: Fleiss, Lesen, Gedächtnis-Übung, Schönschreiben, Rechtschreiben, Sprachlehre, Aufsatz, Kopfrechnen, Zifferrechnen, Geschichte, Geographie, Gesang, Zeichnen, Turnen, Sitte, Betragen, Ordnung und Reinlichkeit. Wie immer schrieb ich gerne Aufsätze und erwähnte schon damals den Schutz der Natur. Aber Anstand und korrektes Benehmen schien mich besonders zu beschäftigen, so zum Beispiel in diesem Text:
Wie benehme ich mich am Tisch ? (4.Klasse)
- Ich wasche vor dem Essen die Hände.
- Ruhig und lautlos sitze ich an den Tisch.
- Ich denke an den Herrgott und bete: „Gib uns heute unser tägliches Brot.“
- Ich schlurfe die Suppe nicht hinunter, sondern nehme sie geräuschlos ein.
- Ich darf nur kleine Portionen herausnehmen.
- Bei vollem Munde darf ich nicht sprechen.
- Ich rede nur wenn Erwachsene mich fragen.
- Mit den Mitschülern darf ich nur gedämpft eine Unterhaltung führen.
- Ich kaue mit geschlossenem Munde (gut gekaut ich halb verdaut).
- Ich sitze aufrecht und halte die Hände auf dem Tisch.
- Nach dem Essen lege ich das Besteck kreuzweise auf den Teller.
- Nachher danke ich dem Herrgott für Speise und Trank und verlasse ruhig und anständig den Tisch.
Lachen, 28. Mai 1951
Ausser der Sprachlehre, den Aufsätzen, dem Kopfrechnen, für die ich ein 1 bis 2 erhielt, hatte ich für alle anderen Fächer eine 1 bekommen und zwar bei den Sommer-, Winter- und Schlussnoten. Neben all den neuen Fächern wurde die Geographie mein Lieblingsfach. Zuerst lernten wir die Himmelsrichtungen und die geographischen Grundbegriffe. Dann begannen wir den Bezirk March näher kennen. Wir durften die Wappen der March und von Lachen zeichnen. Damals hatte das Lachner Wappen noch einen blauen Grund. Zudem durften wir die Aufsätze mit Zeichnungen und Landkarten illustrieren, was ich besonders gerne tat.
In diesem Jahr hatten wir zum ersten Mal nicht nur einen Spaziergang zur Kapelle St. Johann auf der „Johannisburg“, sondern eine richtige Schulreise, und zwar auf die Rigi. Ich war ganz aufgeregt und freute mich besonders auf die Bahnfahrt. Ausnahmsweise bekam ich von meinen Eltern ein Sackgeld und so kaufte ich mir auf der Rigi Kulm zu erstem Mal in meinem Leben ein „Coca-Cola“. Wir Schüler nannten das Getränk „Goggi“ oder „Negerbrunz“. Zu Hause hätte ich „Coca-Cola“ niemals trinken dürfen, denn meine Mutter war gegen alles was aus Amerika kam. Sie sagte immer, dass alles aus diesem Land des Teufels sei. Nachdem ich das braune Wasser getrunken hatte bekam ich starkes Bauchweh. Da ich gegen den Willen meiner Mutter gehandelt hatte bekam ich Schuldgefühle und nahm an, dass sie mit ihrer Abneigung gegen dieses Getränk wohl recht gehabt hatte. Wahrscheinlicher war jedoch die Tatsache, dass ich das Getränk zu schnell und eiskalt getrunken hatte. Auf alle Fälle vergingen viele Jahre bis ich mich wieder getraute ein „Coca-Cola“ zu trinken, aber es wurde nie mein Lieblingsgetränk. Im Hotel Felchlin gab es eine Mittagsverpflegung und dann ging es bei schönstem Wetter zu Fuss runter zum Rigi-Känzeli und Rigi Kaltbad. Mit dem Rest des Sackgeldes kaufte ich mir zum ersten Mal eine Ansichtskarte und zwar sogar ein Farbige von der Rigi. Zu Hause versteckte ich dieses Andenken erst an einem sicheren Ort und klebte sie später in mein Tagebuch wo ich „Es war eine schöne Schulreise gewesen“ daneben schrieb.
(6) Meine erste Postkarte, gekauft auf der Rigi mit meinem mageren Sackgeld.
In der fünften Klasse unterrichtete uns Herr Josef Hegner und sogar in dieser Klasse machten wir immer noch Übungen um eine schöne Schrift zu pflegen. Die Aufsätze wurden viel anspruchsvoller und enthielten, unter anderem, auch wieder die 10 Gebote für das Benehmen bei Tische! Aber auch technische Themen wurden besprochen, zum Beispiel wie ein Thermometer funktioniert oder geschichtliche Ereignisse. Neu im Lehrplan waren Geschäftsbriefe, zum Beispiel Bestellungen, Beschwerden oder Mahnungen. In der Grammatik wurden die Vorwörter, die Hilfszeitwörter, die Vorgegenwart und die Vorvergangenheit thematisiert. Ich begann die deutsche Grammatik sehr kompliziert zu finden. Auch das Rechnen wurde anspruchsvoller, denn nun mussten wir uns mit Längen, Flächen und Volumen befassen. In diesem Jahr war die Schulreise dafür ein grosses Erlebnis gewesen, ja vielleicht sogar die Schönste bis anhin. Wir fuhren von Lachen nach Klosters und dann mit der Seilbahn bis zur Bergstation-Gotschna Grat auf 2281 Meter über Meer. Auf dem Parsenn-Höhenweg hatten wir eine wunderbare Aussicht auf das Silvrettatal.
Schliesslich kam ich in die sechste Klasse wo uns Herr Louis Bisig, der Mann mit Schnauz, Brille und Melone unterrichtete. Was ich bei ihm unter anderem schätzte waren Aufsätze über Lebenseinstellung, Gesinnung und Denkweise der damaligen Zeit. Sie wurden meist in der Form von Gleichnissen geschrieben. Der folgende Aufsatz, prägte mich ganz speziell und blieb mein Leitgedanke:
Die zwei Pflugscharen.
In einer Werkstatt verfertigte man zwei Pflüge, von demselben Eisen. Der eine kam in die Hand eines Bauern, der andere wurde in einen Schopf geworfen. Hier darbte er 8 - 9 Monate dahin bis er ganz mit Rost bedeckt war. Endlich brachte man ihn wieder einmal ans Licht. Wie staunte dieser, als er seinen ehemaligen Bruder erblickte und mit sich selbst verglich. Denn dieser war hell und spiegelglatt, ja, er war fast noch glänzender als er am Anfang gewesen war. „Wie ist das möglich?“ rief er erstaunt aus. „Früher waren wir doch einander gleich! Was hat dich so herrlich erhalten, während ich in der glücklichsten Ruhe so verunstaltet worden bin? „Da antwortete der blanke Pflug: „Eben diese Ruhe war verderblich. Mich haben Arbeit und Mühe so schön erhalten. Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich dich jetzt an Schönheit übertreffe!“
Damals wurde in der Schule mit Feder, Federhalter und Tinte geschrieben. Im Schulpult eingebaut hatte jeder sein eigenes Tintenfass, das regelmässig aufgefüllt werden musste. Darüber hatte es sogar einen Schiebverschluss, sodass die Tinte nicht austrocknete. Das Schreiben mit einer Feder war anfangs nicht einfach und mit einer ungeschickten Bewegung konnte es sein, dass die Feder die Tinte über ein fein und fertig geschriebenes Blatt spritzte. Also musste alles erneut geschrieben werden. Man durfte auch nicht vergessen die frische Schrift jeweils mit einem Fliessblatt zu trocken, sonst hatte man ungewollte Flecken auf dem Blatt. Kugelschreiber gab es damals bereits, waren aber verpönt und verboten in der Schule. Ich glaube, dass gerade dies uns zwang bewusst und langsam zu schreiben, was schliesslich auch eine schöne Schrift erlaubte. Im Nachhinein muss ich staunen wie schön die Aufsätze und sogar die Diktate geschrieben wurden. Die Schrift ist so schön, dass ich an Kalligraphie denken muss, eine Kunst die ich später in speziellen Fällen sogar bewusst anwendete. Mit der Feder ist ja so einiges möglich was mit einem Kugelschreiber schlecht aussieht.
(7) Auf eine schöne Schrift wurde sogar in der 6. Primarklasse viel Wert gelegt.
Auf dem Lehrplan war weiterhin das Schreiben von Geschäftsbriefen, zum Beispiel eine Anfrage an den Berufsberater, oder für die Bewerbung um eine Lehrstelle. Gleichzeitig machten wir schriftliche Sprachübungen und Diktate, natürlich immer sehr schön geschrieben. Neu in diesem Schuljahr war die Naturkunde. Ich liebte dieses Fach ausserordentlich, denn man konnte den Lehrstoff mit Zeichnungen ergänzen, was das Verstehen viel einfacher machte. Dazu kamen Beobachtungen in der Natur, zum Beispiel die Metamorphose einer Raupe in einen Schmetterling. Weiter bekamen wir Zinnien Samen um sie zu Hause in einen Blumentopf zum Spriessen zu bringen und sie dann bis zur Blüte beobachten und pflegen zu können. Im Rechnen übten wir nun Dreisatzrechnungen, das bürgerliche Rechnen und erweiterte Flächenrechnungen. Neu dazu kam die Buchhaltung, ein Fach mit dem ich keine Mühe hatte und das mich immer mit guten Noten belohnte.
Ein ganz spezielles Erlebnis war in diesem Jahr ein Konzert des Männerchors im protestantischen Kirchgemeindehaus. Auf dem Programm war der Gefangenenchor aus dem dritten Akt der Oper “Nabucco“ von Giuseppe Verdi. Der Chor der Hebräer, die in Babylonien gefangen sind, beklagt das ferne Heimatland und ruft Gott um Hilfe an. Unter der Leitung unseres Lehrers durften wir Buben mit unseren jungen Stimmen den Männerchor in diesem Konzert unterstützen. Das Auftreten vor einem grossen Publikum war ein ganz spezielles Erlebnis und war schliesslich der erste Kontakt mit klassischer Musik. Diese Erfahrung motivierte mich im erwachsenen Alter diese Oper im Theater in verschiedenen Interpretationen zu sehen und förderte mein Interesse für die klassische Musik im Allgemeinen.
(8) Schulreise 1953 mit Herr Lehrer Bisig
Dieses Jahr war die Schulreise nicht vor den Sommerferien, sondern im Herbst. Unser Lehrer Bisig hatte sich eine Reise mit dem Postauto ins Appenzellerland und St. Gallen ausgedacht. Sie führte von Lachen über den Ricken nach Wattwil, dann nach Neu St. Johann, Urnäsch, Appenzell, Altstätten und St.Gallen. Nach einem Rundgang in der Stadt ging es über Herisau, Lichtensteig und Ricken zurück nach Lachen. Mit dem Ende des sechsten Schuljahres endete die Primarschule. Schliesslich war neben Geographie das Zeichnen eines meiner Lieblingsfächer geworden. Dafür hasste ich das Kopfrechnen, denn mein Hirn arbeitete viel zu langsam um die schnell gesprochenen Zahlen zu registrieren. Ich war jedes Mal mit mir selbst enorm frustriert und schämte mich gegenüber den superschnellen Rechnern in der Klasse. Schon in der Primarschule hatten wir Geschichts-Unterricht, und auch hier wurde mir aus demselben Grund dieses interessante Fach zur Qual. Es kam mir vor, dass es bei diesem Fach eigentlich nicht um die Vergangenheit der Schweiz ging, sondern nur um das Auswendiglernen von Jahreszahlen all der berühmten Schlachten. Und so war ich in der Geschichte nicht nur eine Nulle, sondern fand sie auch äussert bedeutungslos. Wenn man die Geschichte schon damals mit Anekdoten illustriert hätte, wäre für mich das Lernen sicher einfacher, motivierender und einprägender gewesen.
Natürlich waren wir trotz der strengen Disziplin in der Schule nicht immer Engel. Lumpereien und unüberlegte Dummheiten gehörten einfach zur Tagesordnung. Wir neckten einander und versuchten andere zu provozieren. All dies gehörte einfach zur natürlichen Entwicklung eines Buben und um sich später im harten Leben verteidigen zu können. Manchmal kauften sich Buben mit ihrem Sackgeld sogar Scherzartikel im Kaufhaus, zu denen auch „Stinkbomben“ gehörten. Es waren kleine Ampullen die man einfach am Bodern zertreten konnte und sofort verbreitete sich ein unerträglicher Gestank von faulen Eiern. Alle lachten sich halbtot und machten sich jeweils so schnell als möglich aus dem Staub. Gehänselt oder sogar verspottet wurde jeder der damals zusammen mit Mädchen gesehen wurde. Auch mir ging es nicht besser, wenn ich manchmal vor unserem Haus ein Mädchen aus dem Oberdorf traf und dann mit ihr den Schulweg teilte. Sofort wurde ich als „Meitlischmöcker“ ausgelacht und behauptet wir seien ein Paar. Natürlich störte mich ihr Geplapper, aber die Gespräche mit diesem Mädchen waren kurzweiliger als ihr läppisches kritisieren. Das Mädchen hat sich nie darüber geäussert und so musste ich annehmen, dass sie genau so dachte wie ich. Für mich war es keine Sünde sich mit einem Mädchen zu unterhalten, sondern ganz natürliche Akzeptanz und Gleichstellung des weiblichen Wesens. Aber vielleicht war es lediglich Eifersucht die sich bei meinen Schulkameraden mit meinem unbekümmerten Umgang mit Mädchen entfachte.

(1) Klassenfoto der ersten Sekundarklasse
Im Jahre 1954 kam ich in die Bezirksschule. Ich freute mich auf die neue Umgebung, auf die neuen Fächer und dass ich es überhaupt in die Sekundarschule geschafft hatte. Obwohl ich immer unter den drei Besten in der Klasse gewesen war, hatte ich mir zuvor grosse Sorgen gemacht. Diese angeborene, ständige Besorgtheit konnte ich leider das ganze Leben lang nicht loswerden. Mit dem Eintritt in die Sekundarschule hatte sich auch die Zusammensetzung der Schüler in der Klasse verändert, denn einige hatten es ja nicht in die Sekundarschule geschafft. Dafür setzte sich die Klasse nun nicht nur aus Lachner zusammen, sondern auch mit Schülern aus Galgenen, Wangen, Tuggen und Altendorf. Aus diesem Grund wurde die Klasse viel grösser und schliesslich in Klasse 1a und 1b aufgeteilt. Da die nötigen Schulzimmer nicht vorhanden waren, musste unsere Klasse nach 5 Jahren im neuen Schulhaus wieder zurück ins alte Schulhaus, zurück in die alten Holzbänke. Dafür hatten wir keine Schulsäcke mehr, sondern Mappen die wir mit Stolz zur Schau stellten. Jetzt hatten wir auch neue Lehrer. Ich war in der Klasse 1b und freute mich wie vorher auf Aufsätze, Geographie, Geometrie und Zeichnen.
Schon in der ersten Stunde machten wir Bekanntschaft mit dem berüchtigten Lehrer Fritz Hegner. Mein Vater nannte ihn „Stratosphären-Galöri“. Sofort wies er uns in die Bänke, ohne dass wir die Plätze wählen durften und verteilte das Geometrie- und Naturkundebuch. Zudem gab er strikte Anweisungen in Bezug auf das Betragen in der Schule. Dann kam Professor Schätti und verteilte die Geographie-Bücher und einen Atlas. Nachher gab es eine Einführung in die Buchhaltung. Eine Stunde später kam Herr Dr. Alex Heussler der uns die französische Sprache beibringen und unser Wissen im Rechnen erweitern sollte. Die Französisch-Stunden waren wegen der Aussprache etwas schwierig, doch dank seiner sanften aber klaren Ausdrucksart fand ich mich bald ziemlich sicher. Er war körperlich behindert, hinkte und ging deshalb an einem Stock. Trotzdem hatte er uns immer total unter Kontrolle. Ich schätzte diesen Lehrer ausserordentlich, denn er redete nicht viel, war streng aber gerecht. Und wenn er einmal seinem Unmut Luft machen musste, dann erlöste er sich mit einem seufzenden „Sarah Bernharth“!!! Warum er diesen Namen brauchte hat man nie erfahren. Vielleicht aber ersuchte er die berühmte, französische Schauspielerin Sarah Bernhardt im Jenseits um Hilfe und Linderung seines Ärgers mit uns Buben.
Auch in der Bezirksschule, oder Sekundarschule wie man damals sagte, hatten wir eine Schulreise und wieder fand sie erst im Herbst statt. Diesmal reisten wir mit Professor Vogel, der uns auf eine Rundreise über die Holzegg begleitete. Die Reise führte uns per Bahn bis nach Sattel und dann mit der Sesselbahn aufs Hochstuckli auf 1566 Meter. Von dort ging es zu Fuss weiter auf die Haggenegg und entlang den beiden Mythen bis zur Holzegg auf 1400 Meter über Meer. Hier war vor ein paar Jahren eine hübsche, neue Kapelle gebaut worden, die dann am 17. Juli 1949 auf den Namen des Bruder Klaus eingesegnet worden war. Nach einer verdienten Mittagsrast im Schatten von riesigen Tannen ging es dann den Fussweg entlang hinunter nach Alptal. Nach dem langen Marsch waren alle froh mit dem Postauto nach Einsiedeln fahren zu dürfen. Von Einsiedeln ging es dann mit der SBB zurück nach Hause.
(2) Bruder Klausenkapelle auf der Holzegg
(3) Die Reiseroute unserer Schulreise im Jahre 1954
Im Jahre 1955 kam ich in die 2. Sekundarklasse und wieder musste unsere Klasse das Schulhaus wechseln, diesmal ins Gemeindehaus am See. An seiner Stelle stand anfänglich das Susthaus. Lachen war früher der Ausgangspunkt der Säumer und so wurde der Seehafen hauptsächlich von Ledischiffen benutzt. Im Sustgebäude war damals auch das Zeughaus untergebracht. Im Jahre 1866 wurde das alte Susthaus abgebrochen und ein Jahr später das aktuelle Gebäude erstellt. Im Jahre 1928 wurde im Erdgeschoss die Gemeindekanzlei eingerichtet. Im oberen Stockwerk befanden sich die Knabensekundarschule und die Lehrerwohnung. Im Jahre 1958 zügelte dann die Schule in das neu erbaute Sekundarschulhaus in den Seeanlagen. Das alte Susthaus und Schulhaus war auch die Geburtsstätte des Komponisten Joseph Joachim Raff, dessen Vater damals Lehrer an der Landesschule war. Dies war ein Grund warum wir fast ehrfürchtig dieses Gebäude betraten. Das Schulzimmer war heller und ich fühlte mich dort sofort sehr wohl. Wieder schrieb ich viele Aufsätze, allerdings mit anspruchsvolleren Themen. Zum Beispiel über Friedrich dem Grossen, wie Glocken gegossen werden, über das Grosse Welttheater in Einsiedeln, die Schlacht am Morgarten, der Brand zu Glarus, etc. In der Sprachlehre ging es um grammatikalische Bezeichnungen wie „abstrakt“, „Attribut“, „Epilog“, „objektiv“, Prädikat, etc. Auch hier illustrierte ich das Lehrmaterial mit meinen Zeichnungen die es mir erlaubten den Lehrstoff besser aufzunehmen. In den Französisch-Stunden büffelten wir Konjugationen und schrieben die ersten Aufsätze in dieser fremden Sprache. In diesem Jahr hatte Dr. Heussler einen Unfall und verliess bedauerlicherweise das Dorf Lachen nach seiner Genesung. Die „Franz-Stunden“ wurden anschliessend von Herrn Rohner übernommen, ein Lehrer der es mit uns Schüler sehr schwierig hatte. Wir respektierten ihn kaum, „spickten“ während den Prüfungen und machten uns arglos über ihn lustig. Mit dieser Tatsache machte ich während diesem zweiten Jahr kaum Fortschritte in der französischen Sprache.
Dafür faszinierte mich beim provokativen Fritz Hegner die Geometrie immer mehr. Oft brütete ich zu Hause stundenlang an Aufgaben und vergass dabei, dass es schon spät in der Nacht war. Irgendwie wollte ich ihm einfach zeigen, dass ich die oft schwierigen Aufgaben selbst lösen konnte. Ausser Geometrie gab Lehrer Hegner auch Turnstunden. Mitten im Winter führte er uns einmal ins Ried, wo ein grosses Feld mit frisch geschnittenem Schilf war. Es war alles pickelhart gefroren. Nun befahl er uns die Schubkarren-Übung zu machen. Das heisst ein Schüler musste auf den Boden liegen und der andere Schüler hob seine Beine von hinten. Dann ging es los, wir mussten so schnell wie möglich über das Gelände und nach einem Wechsel zurück rennen. Da er seit anfangs Jahr im Militär den Grad eines Majors innehatte, glaubte der grosse und imposante Mann die gleichen harten Praktiken in der Schule anwenden zu können. Die Übungen gelangen, aber wir kamen alle mit zerschnittenen und blutenden Händen ins Schulzimmer zurück. Die Schilfstoppeln waren eben kein weiches Gras gewesen! Während der folgenden Stunde mussten wir einen Aufsatz schreiben. An Inspiration hätte es ja nach dieser Übung nicht gefehlt, doch die blutenden Hände machten dies zu einer weiteren Tortur und von „Schönschreiben“ war schon gar nicht mehr zu reden! Als mein Vater davon erfuhr war er wütend und sagte, dass man von ihm eben nichts Gescheiteres erwarten konnte. Aber niemand beschwerte sich offiziell beim Schulrat. Am 27. Mai wurde er zu meinem Erstaunen sogar mit grossem Mehr in den Gemeinderat gewählt.
(4) Aus dem Zeichnungsheft der fünften Klasse (1953)
Im Sommer wurde die Turnstunde vom gefürchteten Turnlehrer manchmal in die „Badanstalt“ verlegt. Eigentlich war das eine gute Idee und wir freuten uns an heissen Tagen eine Stunde in der „Badi“ zu verbringen. Neben Distanzschwimmen und anderen Disziplinen im Wasser übten wir auch Sprünge vom Sprungturm, meistens nur vom 1-Meter Brett. Aber eines Tages verlangte er, dass wir alle von ganz zuoberst des Sprungturmes springen sollten. Da ich bisher noch nie von dieser Höhe gesprungen war, bekam ich Todesangst. Ich schaute in die Tiefe und bekam zittrige Beine. Aber schliesslich wollte niemand als Weichling oder Angsthase ausgelacht werden und so sprangen alle und zwar mit einem „Chöpfler“. So sammelte auch ich allen Mut den ich hatte und sprang in die Tiefe. Es ging alles gut bis ich im Wasser aufschlug. In diesem Moment hörte ich einen Knacks im Rücken und spürte sofort einen extrem starken Schmerz. Er war so intensiv, dass ich mich einem Moment nicht mehr bewegen konnte und glaubte ich müsste nun ertrinken. Schliesslich gelang es mir aber wieder an die Oberfläche zu kommen und mit Schmerz ans Land zu schwimmen. Es war mir Übel vor lauter Schmerz, aber niemand von der Lehrerschaft schien das zu interessieren. Wir Burschen mussten doch damals fähig sein Schmerz zu ertragen. Am Meisten verfolgte mich dieser Schmerz später in den Gesangstunden während denen man früher nicht sitzen durfte. Der Schmerz ist mit der Zeit abgeklungen, hat sich aber das ganze Leben immer wieder bemerkbar gemacht. Erst im Erwachsenenalter erwähnte ein Arzt, dass ich in der Jugend die Scheuermann-Krankheit gehabt hätte und dabei zwei Wirbel zusammengewachsen seien.
In den Geographiestunden mit Prof. Vogel lernten wir die verschiedenen Länder in Europa kennen und erfuhren mehr über ihre Landwirtschaft und Bodenschätze. Auch die Naturkunde war bereichernd, denn nun erfuhren wir in viel ausgeprägter Weise mehr über Pflanzen und Tiere. Diese Fächer waren für mich eine grosse Bereicherung und so kam bald der Drang mehr Einzelheiten zu erfahren. Dieser Wissensdrang hat mich schliesslich mein ganzes Leben begleitet und geprägt. Gegen Ende dieses Schuljahres, im Februar 1956, erschien zum ersten Mal unsere Schülerzeitung „SEEBUEB“. Es war eine Zeitung von Schülern für Schüler. Nach langem hin und her wurde man über die Gestaltung der Titelseite einig. Es sollte mit dem alten Schulhaus, der Kirche, einigen Bäumen und fliegenden Möven das Dorf repräsentieren und mit einem Linolschnitt gedruckt werden. Das Original wurde spiegelbildlich als Negativmuster in eine Linolplatte geschnitten. Anschliessend wurde die gewünschte Farbe mit einer Rolle oder Walze auf die Linolplatte aufgetragen, sodass man damit das Titelblatt auf Papier drucken konnte. Der Druck von Hand gelang, aber die Qualität war nicht hervorragend. Dafür war der Inhalt der Zeitung sehr abwechslungsreich und enthielt eigene Gedichte, Kurzgeschichten, Gratulationen, Sport, Rätsel, Humor, Inserate und sogar eine Rubrik „Schandpfahl“. Auf dieser Seite wurden Lumpereien, rüpelhaftes Benehmen gegenüber Mädchen, Unordnung im Klassenzimmer und Gefahren in der Natur veröffentlicht. Dabei konnte man unter anderem folgendes lesen: „Auch wir in der March wollen doch galante Knaben sein!“ Diese Zeitung war für mich nicht nur eine schriftliche Art zu kommunizieren, sondern gab auch einen ersten, praktischen Einblick in die Druckerkunst.
(5) Die Schülerzeitung der Bezirkschule Lachen
Dieses Jahr organisierten unsere Lehrer Fritz Hegner und Professor Vogel die traditionelle Schulreise. Das Ziel war der Rheinfall bei Neuhausen und eine Weidling-Fahrt auf dem Rhein. Ein Weidling ist ein längliches Boot aus Holz, das normalerweise mittels Ruder oder Stachel den Rhein hinaufgefahren wird. Eine der grössten Gefahren sind die im Fluss befindlichen Verkehrszeichen, die „Wiifen“ genannt werden. Viele Boote sind schon an ihnen zerbrochen. Wir jungen Burschen aber sahen keine Gefahren und freuten uns auf die abenteuerliche Flussfahrt, die wir dann in vollen Zügen genossen. Am Schluss waren wir aber doch froh das Ufer wieder sicher erreicht zu haben. Nachher ging es auf eine 3 ½ stündige Fusswanderung von Tössegg nach Kloten wo wir den Flugplatz besuchten. Es war ein ausserordentlich interessanter Tag gewesen.
Plötzlich zirkulierte im Dorf das Gerücht, dass Professor Vogel mit uns Schüler unzüchtig sei. Professor Vogel war für mich ein sehr netter Mensch, immer fröhlich und ein guter, geduldiger Lehrer. Zudem war er Vikar und so somit auch Seelsorger. Meine Eltern machten trübe Gesichter als sie von der Geschichte hörten und ich wusste eigentlich gar nicht um was es ging. Erst als Schüller einzeln vor dem Schulrat antreten mussten wurde mir der Ernst der Lage bewusst. Auch ich wurde gefragt ob der Professor mich unsittlich berührt hätte. Ich war erstaunt über eine solche Frage und erwiderte negativ. Doch die Räte drängten mich bewusst und wollten mehr von mir wissen. Aber ich wusste einfach nicht mehr und verneinte alle Fragen. Etwas verloren erzählte ich schliesslich den Herren, dass mich Professor Vogel immer gut behandelt habe und mir sogar manchmal an der Kletterstange half. Da ich an der Stange nicht der Schnellste war, schubste er manchmal meinen Hintern, sodass ich einen Meter höher kam, wo die Stange weniger glitschig war. Aber das war doch nichts Böses oder Unanständiges gewesen? Erst zu Hause wurde mir bewusst, dass ich den Professor mit meiner gut gemeinten Aussage vielleicht belastet haben könnte. Ich bekam Gewissenbisse und machte mir Sorgen um den Professor. Aber schliesslich wurde die Anschuldigung fallen gelassen. Der Professor durfte wieder Schule geben und ich war erleichtert! Nachher hörte man im Dorf, dass die Geschichte von einem einzigen Widersacher in unserer Klasse erfunden worden war.
Für mich hatte die Geschichte aber trotzdem Folgen. Schon nach den Vorfällen mit Herrn Major Hegner hatten meine Eltern den Eindruck, dass die Qualität der Sekundarschule abgenommen hatte und dass ich zu wenig lerne. Und nun kam noch der Fall „Professor Vogel“ dazu. Nach all diesen Vorfällen fanden meine Eltern, dass ich nach dem Abschluss der 2. Sekundarklasse die Bezirkschule in Lachen verlassen müsse. Meine Mutter informierte sich und fand eine Privatschule in Cressier mit Fachrichtung Bank, Versicherungen und Administration, natürlich alles auf Französisch. Mein Vater war dagegen und meinte, dass für eine Spenglerlehre ein Welschland-Aufenthalt nicht nötig sei und das Internat zudem unerschwinglich sei. Er selbst hätte ja auch nie ein Jahr im Welschland verbringen können um französisch zu lernen. Aber meine Mutter wehrte sich und kämpfte für das Welschlandjahr. Als mein Vater immer noch nicht einwilligen wollte, entschied sie sich den Aufenthalt mit ihrem persönlichen Ersparten zu berappen. Für die damalige Zeit war meine Mutter eine sehr avantgardistische, emanzipierte und kämpferische Frau. Ich habe ihr sehr viel zu verdanken!

Schon bald nach der Entscheidung die Schule in Lachen zu verlassen, kaufte meine Mutter einen „Übersee-Koffer“ und bestellte Stoffetiketten mit meinem Namen. Diese Etiketten nähte sie dann an alle meine Kleider, sodass sie nicht mit denen von anderen Schülern verwechselt werden konnten. Einerseits freute ich mich auf das Welschland-Jahr, aber auf der anderen Seite hatte ich ein sehr mulmiges Gefühl. Schliesslich hiess dieser Entscheid, dass ich für ein ganzes Jahr das geraute Heim verlassen musste. Ich las in die Broschüre der Schule, dass ein Herr und Frau Alfred Quinche das Institut im Jahre 1859 gegründet hatten und es dann immer wieder auf die Nachkommen übertragen hatten. Es hiess auch, dass mit seiner guten Tradition den Schülern Komfort und angenehme Behaglichkeit in heimeliger Atmosphäre geboten wird. All die Information war interessant, aber so richtig konnte ich mir das neue Leben doch nicht vorstellen. So zog ich es vor mit meiner Mutter die gewünschten Kleider zusammen zu tragen und machte mir keine weiteren Sorgen.
(1) Das Hauptgebäude des Institut "Clos-Rousseau"
Am 21. April 1956 brachten mich meine Eltern mit unserem Peugeot 203 nach Cressier und übergaben mich dem Direktor Ehepaar Monsieur et Madame Pierre Carrel. Er war eine sehr gepflegte Erscheinung und hatte ein spezielles Hobby: er war Autorennfahrer und machte jeweils am internationalen Bergrennen in St. Ursanne-Les Rangiers mit, was mir natürlich sehr Eindruck machte. Er zeigte uns die Schule und die Schlafgemächer. Mir wurde ein Bett in einem Viererzimmer zugewiesen, also musste ich zum ersten Mal in meinem Leben das Schlafzimmer mit anderen Knaben teilen. Schon am ersten Abend in diesem Zimmer passierte etwas äusserst Schockierendes: der Bursche mit dem Bett neben der Türe legte sich nackt ins Bett. Sofort wurde der Aufseher gerufen und der Bursche aufgefordert sein Pyjama anzuziehen. Aber der Arme hatte gar kein Pyjama bei sich. Er sagte, dass seine ganze Familie immer nur nackt schlafen würde und dass dies für ihn eben normal sei. So etwas „unsittliches“ war natürlich in diesem Internat nicht geduldet und seine Eltern mussten ihm sofort ein Pyjama kaufen und zusenden. Gleich neben unserem Zimmer war ein Raum mit den Lavabos, den Duschen und den WCs. Im Erdgeschoss waren ein grosser Speisesaal und die Schulzimmer der Klasse B und C. Bei der Treppe zum Obergeschoss, wo sich das Schulzimmer der Klasse A befand, war eine Glocke die bei Schulbeginn geläutet wurde. Als sich meine Eltern schliesslich verabschiedeten wurde mir bewusst, dass ich nun alleine war, sehr alleine! Es brauchte einige Tage bis ich die neue Situation mental verarbeitet hatte, trotzdem dauerte das Heimweh noch eine Weile an. Es war halt alles so anders und fremd. Zudem waren die paar Wörter die ich bei Professor Schätti in der „Franz-Stunde“ aufgeschnappt hatte einfach zu dürftig um sich sofort in einer französisch sprechenden Umgebung zu Recht zu finden.
Am nächsten und ersten Schultag wurden die Lehrer vorgestellt. Für Französisch hatten wir drei Lehrer, Herr. R. Sudan, Herr Montandon und Herr Cavadini. Arithmetik unterrichtete Herr A. Kurrer, Deutsch Herr H. Brütsch und Sport Herr Ch. Hensch. Dann wurden die Schüler vorgestellt. Wir waren total 45 Schüler: 43 kamen aus der Schweiz, einer aus Italien und ein anderer sogar aus Uruguay. Anschliessend gab es eine Aufnahmeprüfung. Diese Prüfung entschied in welche der drei Klassen man eingeteilt wurde. Zu meiner Überraschung wurde ich in die Klasse „A“ eingeteilt. Also war ich trotz meinen miesen Französisch Kenntnissen unter den besten Schülern der Schule. Im Gegensatz zur Schule in Lachen waren die Klassen klein und deshalb die Lektionen viel intensiver. Auch konnte man nicht mehr „spicken“. Die Buchhaltung war wieder mein Lieblingsfach. Rechts neben mir auf der Zweierbank sass Ludwig Herman. Ich sass auf der Korridor-Seite. Er faszinierte mich, weil er sehr intelligent war, gut aussah und ausgezeichnet zeichnen konnte. Mit ein paar schnellen Strichen konnte er Köpfe aufs Papier zaubern. Aber er konnte auch äusserst eigenwillig sein und mich plötzlich, unerwartet und ohne Grund gewaltsam aus der Bank in den Korridor katapultieren. So landete ich auf dem Boden worauf die ganze Klasse lachte; ich aber getraute mich nicht darauf zu reagieren oder mich zu beklagen. Obwohl auch die Lehrer meine unsanften „Landungen“ bemerkt hatten, unternahmen sie nie etwas um ihn von seinen Angriffen abzubringen. Es zirkulierte damals das Gerücht, dass seine Tante die bekannte Sopranistin Lisa della Casa sei (gestorben im Dezember 2012). Dies machte ihn natürlich noch exklusiver und unzugänglicher für mich. Ich fühlte mich minderwertig neben ihm und so sassen wir ein ganzes Jahr nebeneinander, teilten aber ausser den gemeinsamen Stunden auf der Schulbank nichts miteinander. Natürlich war dieser Zustand für mich oft unerträglich, aber ich wusste einfach nicht was ich dagegen tun konnte. Ich konnte ihn ja nicht zwingen mit mir zu sprechen. Erst viel später erfuhr ich, dass er eigentlich auch sehr einsam, scheu und zudem unglücklich gewesen war, dies wegen seiner Wortkargheit mir aber nicht mitteilten konnte.
(2) Die Schüler der drei Klassen mit dem Direktor Pierre Carrel (zweiter von links) und den Lehrern.
Mit einer Grösse von 170 cm, einem Körpergewicht von 60 kg und einem Brustumfang (ausgeatmet) von nur 88 cm war ich zu dieser Zeit noch ein hagerer Bursche. Bei Gruppenfotos bat man mich deshalb immer mit den Kleinsten in der vordersten Reihe zu stehen. Folglich benahm ich mich scheu und unauffällig. Zudem hatte ich den Eindruck, dass die meisten Schüler aus wohlhabenden Familien kamen und so fühlte ich mich als Sohn eines Spenglers noch isolierter. Ich war daher froh als ich eines Tages einen Knaben aus Küsnacht am Zürichsee kennen lernte. Er hiess Heinz und war der Schüler, der von der Direktion auserkoren war das ganze Jahr die Glocke beim Eingang zu läuten. Es gab Gerüchte, dass seine Eltern „Neureiche“ seien und dieses Privileg beim Direktor gekauft hätten. Natürlich war ich auch der Meinung, dass es ungerecht war nur einen einzigen Schüler für diese Aufgabe erkoren zu haben, war aber schliesslich froh, dass es nicht meine Pflicht war jeden Tag pünktlich bei der Glocke zu sein! Aber vielleicht war gerade dieses Privileg eine gewollte Strategie der Eltern um Heinz die Pünktlichkeit beizubringen? Da wir Beide vom Zürichsee kamen, also aus der gleichen Gegend, hatten wir nie einen Mangel an Gesprächstoff. Er überraschte mich immer wieder mit neuen Dingen die ich nicht kannte. Zum Beispiel verkaufte er Kugelschreiber die farbig schreiben konnten, was damals eine Sensation war. Aber es blieb nicht bei den Kugelschreibern, er kam immer wieder mit neuen Produkten die mich verblüfften. Eines tags zog er mich in eine Ecke und zeigte mir einen kleinen, viereckigen Plastikbeutel. Er fragte ob ich einen „Pariser“ kaufen wolle. Ich hatte keine Ahnung von was er sprach und dachte an einen Mann aus Paris. Dann aber erklärte er mir was er da verkaufte und ich wusste nicht wie ich reagieren sollte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass so etwas existierte und konnte mir auch nicht vorstellen was ich in meinem Alter damit anfangen sollte. So ein Skandal, da verkaufe ein Schüler Kondome an Minderjährige und an Knaben die in der Pubertät waren. Ich wurde rot im Gesicht, hielt mit weiteren Fragen inne und zog mich verwirrt und beschämt ins Zimmer zurück. Nach einer Weile der Besinnung war die Entrüstung verschwunden und ich fand, dass ein Knabe der schon mit 15 Jahren Handel treibt, sicher ein erfolgreicher Kaufmann werden wird. Die Direktion des „Clos-Rousseau“ kam ihm bald auf die Schliche und machte seinem Treiben ein Ende. Aber es ging nicht lange, da hatte er schon neue Verkaufs-Strategie ausgeheckt.
Heinz war im Zimmer nebenan einquartiert. Seine Mitbewohner waren bald bekannt für ihre Streiche und Übeltaten und ihr Zimmer bekam verschiedene Übernahmen. Einmal war es das „Sexzimmer“, dann „Banditenhöhle“, etc. Jedenfalls musste man dieses Zimmer nach einem „Zwischenfall“ einmal neu streichen (zu Lasten der Eltern natürlich). In unserem Zimmer sorgten die Vier auch einmal für Aufruhr. Nachdem die Lichter schon gelöscht waren stürmten sie in unser Zimmer, rissen uns die Bettdecken weg und zogen uns die Pyjamahosen runter. Ihre Absicht war es uns die Selbstbefriedigung beizubringen. Natürlich gab es sofort eine riesige Balgerei und wir wehrten uns wie die Wilden. Zu Glück hörte die Nachtwache unsere hysterischen Schreie und machte dem üblen Spiel ein jähes Ende. Natürlich wollte der Vorgesetzte wissen was geschehen war, doch komischerweise wollte sich niemand über das Geschehene äussern. Aus Angst vor Rache wollten wir vor allem unsere unberechenbaren Nachbarn nicht mit Aussagen belasten und verärgern. Und so war es wie immer: ohne Klage keine Strafe für die Übeltäter.
Unser Französisch Lehrer, Monsieur Sudan, war ein hagerer, ernster Herr mit Schnauz und Brille. Er unterrichtete ein klassisches, ja fast literarisches Französisch das für uns oft keinen Sinn zu machen schien. Auch büffelten wir „Gallicismes“ von denen leider viele heutzutage wohl kaum mehr gebraucht werden. „Gallicismes“ sind Redewendungen die aus einem Wort oder auch aus ganzen Sätzen bestehen können. So zum Beispiel „à bâtons rompus“ = ohne Zusammenhang, „être en train de…“ = im Begriffe sein etwas zu tun, oder „réveiller un chat qui dort“ = eine alte Geschichte aufwecken. Das Wörterbuch der Gallizismen hatte 387 Seiten, aber mit meiner Gedächtnisschwäche sind, ausser solchen die man täglich braucht, nicht viele im Hirn registriert geblieben. Monsieur Sudan war schüchtern und hatte keinen Humor. So provozierten wir ihn immer wieder um ihn aus der Fassung zu bringen oder ein Lächeln in sein Gesicht zu zaubern; doch meistens ohne Erfolg. Einmal suchten wir in unseren Wörterbüchern provozierende Ausdrücke um ihn zu provozieren. So fragten wir ganz unschuldig und naiv was das Wort „piner“ bedeute, wir hätte es auf der Strasse gehört? Er wurde ganz rot im Gesicht und wollte nicht antworten. Schliesslich meinte er, wir wären viel zu jung um das Wort zu verstehen. Als wir insistierten, sagte er es sei etwas das gemacht würde, über das man aber nicht spreche. Wir taten so als wären wir ratlos und enttäuscht über seine Antwort, aber als er uns den Rücken zudrehte lachten wir uns halbtot. Wir hatten ihn bedrängt, er aber liess sich nichts anmerken und blieb beherrscht wie immer.
Unser Sportlehrer, Monsieur Hensch, war ein hünenhafter, immer braungebrannter Muskelprotz, was er uns immer gerne vorführte. Nebst den gängigen Turnübungen war auch „Polochon“ sehr oft auf dem Programm. Es handelte sich im Prinzip um eine Art Kissenschlacht aber mit dem Unterschied, dass der Kampf auf einem glitschigen Rundholz stattfindet. Das Rundholz-Gestell sah aus wie ein „Rodeo“ Pferd und hatte auch vier Beine, sodass man sich wie ein Viehhirt auf einer Weide in Südamerika vorkam. Den zwei Kämpfern gab man eine Art Beutel (anstatt Kissen) in die Hand und mit diesem musste man den Gegner seitlich genau so treffen, dass er das Gleichgewicht auf dem Rundholz verlor und auf den Boden fiel. Ich verstand nicht, dass ein solches Spiel als Sport bezeichnet wurde und fand es deshalb äusserst einfältig. Aber vielleicht war ich frustriert, weil ich mich einfach nicht auf dem Rundholz festhalten konnte und weshalb ein Kampf mit mir immer sehr schnell entschieden war. Der Sport- und Fussballplatz der Schule befand sich auf der anderen Seite der Bahngleise von Cressier. Ein bis zweimal pro Woche brachte uns Monsieur Hensch zu diesem Feld um Sport zu treiben und Fussball zu spielen. Fussball war auch nicht mein Lieblingssport, aber ich wollte ja nicht kneifen so wie einer der Schüler, der Jorge aus Bern. Immer wenn er keine Lust zum Fussball spielen hatte, dann beklagte er sich plötzlich über „Damaskus“. Natürlich verursachte eine solche Ausrede jedes Mal für ein allgemeines Gelächter, was ihn oft so wütend machte, dass er sofort schimpfend ins Institut zurück rannte. Wir erklärten ihm immer wieder, dass er nicht an „Damaskus“ leide, sondern an Meniskus. Aber da er nicht zuhörte und nur weiter simulierte, liessen wir ihn schliesslich in Ruhe.
Die Direktion hatte die Eltern beim Eintritt in die Schule motiviert den Schülern ihre Fahrräder mitzugeben. So waren wir öfters mit unseren Velos unterwegs. Einmal ging es nach Landeron, dann nach La Neuveville zum Baden oder einfach zu einer Rundfahrt in der Region. Ein paar Mal machten wir einen Ausflug bis nach Neuenburg. Dort hatten wir „Ausgang“ und durften ganz alleine die Stadt erkunden. Es war aufregend, denn alles war neu und interessant. Einmal gingen wir ins Kino und sahen den Film „L’Oiseau bleu“ ein US-amerikanischer Fantasyfilm aus dem Jahr 1940 unter der Regie von Walter Land. Es war das erste Mal, dass ich in einem Kino sass und so waren die Eindrücke überwältigend. Beim Film handelte es sich um ein Märchen das, wie es sich gehört, wunderbar endete. Für mich aber war die Musik ausserordentlich prägend und ich könnte sie noch heute nachsummen.
In den Sommerferien durften wir nach Hause und so auch an Weihnachten. Und während diesen festlichen Tagen fragte mich mein Vater plötzlich was ich im Frühling, also nach dem Abschluss der Internat Schule, wohl zu lernen gedenke. Ich sagte ihm, dass ich sehr gerne Architektur studieren würde. Sofort erwiderte er mir, dass ich in einem solchen Fall das Studium selber berappen müsse. Als meine Mutter dies hörte wurde sie bleich. Etwas aufgebracht erwiderte ich ihm: „Du weisst genau, dass ich kein Geld habe, also wieso fragst Du mich was ich erlernen möchte? Mit Deiner Antwort lässt Du mir zudem keine Wahl und es bleibt mir nichts anderes übrig als den Spengler Beruf zu erlernen“. Und damit war meine Hoffnung auf eine akademische Laufbahn beerdigt. Ich musste mich damit abfinden einen handwerklichen Beruf zu erlernen, was ich aber später nie bedauerte. Ich akzeptierte die Situation, schwor mir aber nach dem Erreichen der Volljährigkeit mein Leben selbst in die Hände zu nehmen und es nach meinen Träumen zu gestalten.
Nach den Festtagen ging die Schule in Cressier wie immer weiter, aber in diesem letzten Trimester wurde mehr auf Anstand und Benehmen geachtet. Schliesslich wurden wir auf öffentliche Institutionen vorbereitet und dazu gehörten eben auch korrekte Umgangsformen, auch am Tisch. Meine Eltern begrüssten dies sehr, aber als sie erfuhren, dass in Zusammenarbeit mit dem Mädchen-Institut „Les Pervenches“ ein Tanzkurs dazu gehörte, waren sie entsetzt. Sie wehrten sich und liessen es schliesslich nicht zu, dass ich an diesem Kurs teilnehmen konnte. Das Argument war, dass ich erst 15 Jahre alt war, noch nicht konfirmiert sei und somit ein Kontakt mit Mädchen nicht in Frage komme. Da konnte Monsieur Carrel noch so besänftigen und beschwören, dass die Tänzer immer unter Aufsicht seien. Für mich aber gab es noch ein weiteres Hindernis um daran teil zu nehmen. Als fast Einziger trug ich im Sommer immer noch kurze Hosen und im Winter Knickerbocker (auch «Gegelfänger» genannt), eine wadenlange Überfallhose mit weiten Beinen. Da fast alle anderen Schüler bereits schon lange Hosen trugen, hätte ich auch gerne solche gehabt. Aber auch da blieben meine Eltern stur und meinten, dass man lange Hosen erst zur Konfirmation bekomme and erst ab diesem Tag getragen werden dürften. Allerdings war ich mit dieser „Behinderung“ nicht alleine und wir „Hinterwäldler“ wurden natürlich von den anderen Schülern belächelt. Und da man am Schlussball nur lange Hosen tragen durfte, waren wir sowieso vom Tanzkurs und dem Rest der Schüler ausgeschlossen. Dafür benutzten wir „Einzelgänger“ die Tanzstunden der anderen Schüler um im leeren Haus unseren Spass zu haben und allerlei Schabernack zu treiben, alles Sachen die die anderen Schüler schliesslich versäumten. Aber am Tag des Schlussballs, als alle Schüler fein gekleidet erschienen und wir nicht mit an den Ball durften, packte uns „Zurückgebliebenen“ trotz allem ein schmerzlicher Katzenjammer. Schliesslich verpassten wir einen rauschenden und unvergesslichen Ball!
Im April 1957 ging das Welschlandjahr zu Ende und alle Schüler bekamen ein offizielles „Certificat“ mit den erreichten Schluss-Noten. Mit 5 x 5,5, 7 x 5 und nur 4 x 4,5 war ich mit meinen Noten zufrieden, dies besonders weil ich ausser Deutsch alle anderen Fächer auf Französisch meistern musste. Eine Note von 5,5 hatte ich für Arithmétique commerciale, Dessin technique, Allemand, Conduite und Ordre erhalten (im Institut war die 6 die beste Note). Die ersten zwei Fächer waren später während meiner Spengler-Lehre von grossem Nutzen.
Die Direktion bat uns die Koffer, die nun ein ganzes Jahr im Estrich ausgeharrt hatten, wieder herunter zu holen. So holte auch ich meinen Überseekoffer und füllte ihn mit meinen Kleidern. Heinz wollte plötzlich wissen wie ich wieder nach Hause fahre. Ich sagte ihm, dass mich meine Eltern wohl wieder mit dem Auto abholen würden. Da wir ja Beide am Zürichsee wohnten, schlug er mir vor mit seinen Eltern zu fahren. Da war allerdings noch eine kleine Hürde zu bewältigen. Als sie erfuhr, dass meine Eltern im katholischen Lachen wohnten, war sie alles andere als begeistert mich mitzunehmen. Erst als er ihr versichert hatte, dass ich Protestant war, willigte sie schliesslich ein. Die Überseekoffer und das Fahrrad wurden mit der Bahn spediert und ich genoss es ausserordentlich in einem schönen, grossen Auto bis vor unser Haus geführt zu werden. Damit war für mich die obligatorische Schulzeit abgeschlossen.

Neben all den verschiedenen Arbeiten zu Hause, oder „Pösteli“ wie man sie damals nannte, mussten nach der Schule natürlich zuerst einmal die Hausaufgaben erledigt werden. Da aber meine Eltern meistens beschäftig waren, konnten sie mir bei den Aufgaben selten helfen. So blieb mir nichts anderes übrig als die Lösungen selbst zu finden; was mir gleichzeitig half willensstark zu werden. Allerdings gab es Momente bei denen ich keine Lösung fand und so die Gelegenheit benutzte aus dem Haus zu schleichen und draussen mit Nachbarkinder zu spielen. Fussball kam allerdings nicht in Frage, denn meine Eltern fanden es ausserordentlich debil einem Ball nachzurennen. Zudem hätte ich meine Schuhe dabei abgenutzt und meine Eltern infolgedessen immer wieder neue Schuhe kaufen müssen. Dafür erlaubten sie mir der Jugendriege beizutreten. Zu diesem Anlass bekam ich ein paar nagelneue, blaue Turnschuhe. Die Turnstunden wurden von Mitgliedern des Turnvereins geleitet und eine perfekte Ergänzung zu den Turnstunden in der Schule.
Jede Woche ging ich pünktlich in die Turnhalle am See und folgte den Anleitungen des Jugendriegenleiters Guido Heuberger. Eines Tages sagte er uns, dass wir am Jungturnerfest in Altdorf teilnehmen werden. Natürlich freute ich mich riesig auf diesen Anlass, denn es erlaubte mir eine andere Gegend kennen zu lernen. Leider war an diesem Wochenende das Wetter so mies, sodass die Freiübungen nicht abgehalten werden konnten. Trotz Regen liefen wir stolz mit unserer neuen Fahne durchs Dorf und erkundigten nachher das Dorf. Das Unvergesslichste war neben dem Festbetrieb und der Reise schliesslich das Tell-Denkmal selbst zu sehen.
(1) Zentralschweizerischer Spiel- und Stafettentag im Sommer 1960 in Baar.
Damals fehlte das Geld nicht nur bei mir, sondern auch bei den Vereinen. Um die finanzielle Situation der Vereinskassen ein bisschen aufzubessern, gestattete die Gemeinde monatlich eine „Papiersammlung“. Um Ungerechtigkeit zu vermeiden, konnte jeder Verein im Turnus einmal im Jahr diese Sammlung durchführen. Natürlich hatte auch der Turnverein das Anrecht auf einen Sammeltag und die Jugendriege durfte dabei auch immer mitmachen. Die „Papiersammlung“ war für uns Buben immer ein ganz spezieller “Plausch“. Schon früh am Morgen traf man sich beim „Schaggi Küng“, dem Alteisen- Altpapier und Lumpenhändler bei dem mein Vater Altmetall verkaufte und Putzfäden bezog. Ein Lastwagen war meistens schon da und es konnte losgehen. Auf einer Route, die durchs ganze Dorf führte, wurde nun nach Altpapier Ausschau gehalten. Natürlich waren wir interessiert möglichst viel Altpapier zusammen zu bringen um am Abend die Kasse entsprechend klingen zu hören. Die Bevölkerung war schon Tage zuvor auf die Sammlung aufmerksam gemacht worden. Papier und Karton mussten fein gebündelt und geschnürt vor den Häusern deponiert sein, sonst wäre das Aufladen zu mühsam gewesen. Damals brauchte man die Zeitungen im Winter vor allem um das Feuer in den Öfen anzumachen, die nassen Schuhe damit auszustopfen und natürlich damit auch WC-Papier zu schneiden. Somit konnte man nicht so wie heute mit Bergen von Altpapier rechnen und war zufrieden mit den wenigen Zeitungen und Heftli die auf der Strasse bereitlagen. Und so verbrachten wir den ganzen Samstag im Sammelfieber ohne, dass sich jemand beklagt hätte oder die Übung von Eltern als „Ausnützung“ der Jungend angeprangert wurde. Das Gegenteil war der Fall, die freiwillige Arbeit wurde von den Leuten geschätzt und wir wurden für unsere Arbeit gelobt.
Schon als kleiner Bub wünschte ich mir zu Weihnachten immer ein „Globi-Buch“. Die Abenteuer und Erlebnisse von Globi beglückten mich dann das ganze Jahr bis ich an Weihnachten einen neuen Band erhielt. Die „Globi-Bücher“ waren ja eigentlich mehr Bilderbücher und so brauchte ich niemand um mir den Text zu erklären. Gleichzeitig sammelte meine Mutter alle Punkte die es gab um Kinderbücher zu illustrieren oder etwas dafür eintauschen zu können (SILVA, AVANTI, BEA, MONDO, Maestrani, JUWO, etc.) Mit den Punkten von Kaffee HAG konnte man sich sogar Hefte mit Schweizer Gemeindewappen erwerben. Die damals beliebtesten Klebebilderalben waren aber die von Chocolats Peter, Cailler, Kohler & Nestle (N.P.C.K.) Anfangs bestellte meine Mutter vor allem die Bände „Schöne Schweizer Sagen“ oder „N.P.C.K erzählt“ die mich ausserordentlich faszinierten und von denen es immer wieder neue Folgen gab. Gewisse Geschichten mussten mir meine Mutter immer wieder neu erzählen und gewisse Details ausdeuten.
Als ich später selbst lesen konnte, interessierten mich anspruchsvollere Bände von N.P.C.K. wie „Wissenschaft, Entdeckungen, Forschungen und Abenteuer“, “Die Natur und ihre Geheimnisse“, „Die Jahreszeiten im Schweizer Volksbrauch“, „Mein Bastelbuch“ und “Wunder aus aller Welt“. Gleichzeitig bekam ich von meinen Eltern jedes Jahr den Pestalozzi Kalender. Ich las auch regelmässig die Kinderzeitschrift „JUNIOR“, die im Jahre 1951 vom Schweizer Hans-Rudolf Hug erfunden wurde. Der Anstoss für die kleinformatige Zeitschrift war ein Gegenpol zu den aufkommenden Comics zu setzen und gleichzeitig den Händlern als Geschenk für Kinder zu dienen. Die Schwerpunkte der ersten Ausgaben waren Bildung, Erziehung und Moral. Da es damals noch kein Fernsehen gab, verschlang ich den „JUNIOR“ immer mit grossem Vergnügen. Da man ihn nicht in jedem Geschäft erhielt, musste ich oft mehrere Läden abklopfen um die Zeitschrift zu ergattern. Jeden Monat wurde im „JUNIOR“ ein Wettbewerb ausgeschrieben. Ich versuchte immer mein Glück und so gewann ich einmal den 1. Preis. Die Aufgabe verlangte ein Puzzle aus Verpackungsteilen verschiedener Markenartikel zu gestalten Ich zeichnete zuerst einen grossen Ball mit einem Clown darauf. Dann schnitt ich farbige Schnitzel aus den gesammelten Verpackungen sodass man den Namen des Markenartikels sah und klebte sie dann auf die Zeichnung. Das Resultat war ein perfektes Puzzle, ansprechend und vor allem farbenfroh. Ich war sehr stolz auf meinen Erfolg und meine Auszeichnung.
Neben dem „JUNIOR“ begann ich Bücher zu lesen die man sich in der Schulbibliothek ausleihen konnte. Bald entdeckte ich die Fliegerabenteuer von Biggels (James Biggelsworth), der bekannte Held in einer Serie von 98 Bücher; zum Beispiel „Biggels im Dschungel“, „Biggels in grosser Mission“ oder „Biggels fliegt in die Kalahari“. Es waren alles Bücher in denen hauptsächlich traditionelle Werte, Tapferkeit, Ehrlichkeit und Fair Play bekräftigt wurden. Der Autor, Captain W.E. Johns, schrieb 167 Bücher und starb im Jahre 1968. Jedes Jahr wünschte ich mir auf Weihnachten ein neues Buch mit neuen Abenteuern von Biggles. Später wurden seine Bücher immer mehr in Comic-Form veröffentlicht, was aber die Vorstellungskraft des Lesers nicht mehr so förderte wie früher. Natürlich las ich auch Mark Twains Romane „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ und „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Aber irgendwie konnten sie mich nicht fesseln und die Abenteuer der beiden Freunde Huckleberry Finn und Tom Sawyer schienen mir fremd.
Ich las Bücher gerne im Bett. Da aber meine Mutter dies nicht schätze, geschah dies meistens mit der Nachttischlampe unter der Bettdecke, oft bis Mitternacht. Es war die Zeit wo sich die Pubertät bemerkbar machte und so kam es vor, dass ich manchmal anstatt zu lesen meinen sich ändernden Körper ergründen wollte. Ganz überraschend kam meine Mutter einmal nachts in mein Zimmer. Sie wusste sofort, dass ich nicht gelesen hatte und sagte mir ich solle aufhören mit dem „Ding“ zu spielen, es sei ungesund, ich solle sofort das Licht löschen und schlafen. Obwohl ich mich schämte auf frischer Tat ertappt zu werden und im Bewusstsein, dass ich wahrscheinlich gesündigt hatte, bat ich sie mir doch einige Fragen über meinen Körper und die menschliche Fortpflanzung zu beantworten. Doch sie schien genau so geniert zu sein wie ich und blieb einfach stumm. Als ich merkte, dass meine Mutter Mühe damit hatte, sagte ich verständnisvoll sie solle mir doch wenigstens ein Buch über die Aufklärung geben. Sie nickte und verliess das Zimmer, aber ich bekam später weder ein Buch noch eine entkrampfte Aufklärung von meinen Eltern.
Eine Freizeit-Beschäftigung die ich liebte, die aber etwas Konzentration brauchte, war die Fertigung von Mini-Modellen bekannter Gebäude in der Schweiz. Die verschiedenen, farbigen Gebäudeteile waren auf einem Ausschneidebogen aus feinem Karton erhältlich und mussten zuerst sorgfältig ausgeschnitten werden. Dann wurden die Teile gefalzt und nach Anleitung zusammengeleimt. Je nach Objekt brauchte dies sehr viel Geduld und Fingerfertigkeit, zum Beispiel für die „Drachenburg“ in Gottlieben mit ihren Erkern. Diese Bastelarbeit war nicht nur interessant, sondern man lernte dabei auch die Schweiz und bekannte Bauwerke kennen.
Bei schlechtem Wetter traf ich mich oft mit Kari Benz. Seine Eltern führten das Hotel Bären und so konnte man dort immer Interessantes erleben. Einmal, als es so richtig vom Himmel schüttete, stiegen wir alle Stockwerke des Hotels hinauf bis in den Estrich. Dort fanden wir Fahnen, die bei Festlichkeiten herausgehängt wurden und die bis fast zum Erdgeschoss reichten. Kurz entschlossen liessen wir die Fahnen an der Fassade runter so wie an Festtagen. Plötzlich tauchte Maria auf, die Gouvernante, und sah mit Entsetzen was wir da machten. Sofort mussten wir die Fahnen wieder einziehen und aufrollen. Dann jagte sie uns energisch aus dem Estrich.
Aber nicht nur der Estrich war interessant im Hotel Bären, sondern auch der Saal und die dazugehörige Bühne. Da gab es Requisiten und Kulissen die man herum schieben konnte und mit denen man immer wieder neue Bühnenbilder gestalten konnte. Allerdings musste man aufpassen, dass sie nicht umkippten und dabei wenn möglich beschädigt wurden. Auch der Vorhang fesselte mich und so konnte ich ihn nicht genug öffnen und schliessen, manchmal so schnell, dass die beiden Teile mit Wucht zusammentrafen. Vorne bei der Bühnenkante befand sich der Souffleurkasten und darunter der Schminkraum. In dieser Theaterwelt war ich immer so berauscht und entzückt, dass ich alles um mich herum vergass. Aber auch hier wurde man nicht lange in seiner Phantasiewelt gelassen, denn immer tauchte plötzlich Vater oder Mutter Benz auf. Nur selten hatten wir Zeit den „Tatort“ zu verlassen ohne Schimpfereien anhören zu müssen.
Kari hatte einen Bruder der hiess Werni. Er spielte Klavier und übte oft am Sonntagnachtmittag im Säli. Da wir nicht weit vom Hotel Bären wohnten, hörte ich seine Melodien im Sommer bis in unsere Wohnung. Da bei uns sonntagnachmittags am Radio ausschliesslich Ländermusik zu hören war, flüchtete ich oft zu Werni und genoss die schönen Melodien und Töne des Klaviers. Oft spielte er am Flügel und da schien mir die Musik noch viel melodiöser. Diese „Privatkonzerte“ erweckten in mir den innigen Wunsch einmal selbst Klavier zu spielen. Immer wieder bat ich meine Eltern ein Klavier zu kaufen. Doch leider war unsere Wohnung dazu viel zu klein und zudem fehlte auch das nötige Geld. Dafür überraschten mich meine Eltern an einer Weihnacht plötzlich mit einem Streichinstrument, einer nagelneuen Geige. Natürlich war dies eine Überraschung, aber keine die mich zu einem Freudeschrei animierte. Ich hatte ja gar nie eine Geige gewünscht und konnte mir auch nicht vorstellen ein solches Kratzinstrument überhaupt spielen zu wollen. Aber meine Mutter meinte, dass man auch mit einer Geige schöne Musik machen könne und dass eine musikalische Ausbildung einfach zu einer Grundausbildung gehöre. Dann organisierte sie beim „Giigeli-Marti“ Violinstunden, und zwar immer am Samstag um 15.00 Uhr. Damit war für mich der ganze Nachmittag futsch. Es war im Sommer wie im Winter die unmöglichste Stunde des Tages. Am Schlimmsten war es im Sommer, wenn ich bei grösster Hitze mit meiner Geige auf der Seidenstrasse zu Herrn Marti unterwegs war und dabei anderen Buben begegnete die auf dem Weg zu Seebad waren. In solchen Situationen wurde mir erst recht bewusst, was mir meine Eltern für ein wunderbares Hobby aufgedrängt hatten.
Natürlich erlernte ich die Noten und sogar einfache Melodien zu spielen, aber es war halt einfach nicht mein Wunschinstrument. Meine Schwester spielte Flöte, leider ebenfalls mit geringer Begeisterung. An Weihnachten mussten wir Beide immer Weihnachtslieder spielen. Einmal an Weihnachten vergass ich meine Geige in meinem ungeheizten, gefrorenen Zimmer. Als ich aufgefordert wurde mit meiner Schwester „Oh du Fröhliche“ zu spielen, holte ich meine Geige eiligst in die überheizte Stube und begann zu spielen. Natürlich fiel mir auf, dass meine Geige sofort „schwitzte“, aber darüber machte ich keine weiteren Gedanken. Nach ein paar Sekunden Spiel zerriss eine Saite und gleich dann noch eine zweite. Die beiden Saiten hielten dem plötzlichen Temperaturunterschied nicht stand. Da ich keine Saiten auf Vorrat hatte, war das Konzert für diesen Abend beendet und damit auch der Traum einer Karriere als Violinsolist. Ich kaufte keine neuen Ersatz-Saiten mehr und liess meine Violine für immer in ihrem Kasten ruhen. Derweil blieb das Klavier immer ein Instrument das ich gerne hörte, aber leider nie selber spielen lernte.
Da ich nun kein eigenes Instrument mehr spielte, genoss ich halt die Musik am Radio. Am Liebsten hörte ich Melodien aus Südamerika, denn sie waren so fröhlich, leidenschaftlich und rassig. Unser Radio stand auf einem kleinen Möbel neben dem Holzofen in der Stube. Wenn ich alleine war, dann konnte ich die Musik in voller Lautstärke geniessen. Sobald aber jemand in die Stube kam musste ich den Knopf zurückdrehen und konnte die Musik nur noch mit dem Ohr am Radio lauschen. Auch wenn mein Vater wütend aus seinem Büro in die Stube stürmte wusste ich was ich zu tun hatte. Er wollte bei seiner Arbeit nicht gestört werden. Das gleiche Los erfuhr ich, wenn Kunden oder Besuche in der Stube waren. So kniete ich halt vor dem Radio auf den harten Boden und hielt mein Ohr an den Lautsprecher um trotzdem einige Noten aufzuschnappen; wir hatten ja keinen zweiten Radio. Natürlich war das nicht mehr der gleiche Genuss und zudem schmerzten mich die Knie schon nach kurzer Zeit. Neben der Musik liebte ich Hörspiele wie der „Ueli de Chnächt“ über alles und wollte deshalb keine einzige Folge verpassen Das Spezielle beim Radiohören war damals, dass sich jeder Zuhörer die Ereignisse des Hörspiels ganz individuell nach seiner Fantasie vorstellen durfte und dass genau dies alles noch interessanter und spannender machte. Beim Fernsehen ging dies später leider verloren, man brauchte die Fantasie nicht mehr!
In der Freizeit gingen wir Buben manchmal auf der Feldstrasse hinaus bis zur Bretterhalle der Firma Möbel-Stählin. Das gedeckte Lager war riesig gross und unendlich hoch. Bretter aus allen möglichen Ländern wurden hier gelagert. Um eine gute Lagerung zu garantieren wurde zwischen die Bretter Latten gelegt. Der entstandene Abstand erlaubte eine natürliche Lüftung. Trotz der Grösse des Lagers mussten oft Bretter zusätzlich ausserhalb des gedeckten und eingezäunten Lagers aufbewahrt werden. Und genau diese „Brätterbeigen“ (Stapel von Brettern) benutzten wir Buben für Kletterübungen (damals gab es ja keine Kletterwände). Wir kletterten vertikal am Stapel hinauf und konnten uns dabei mit den Händen nur an den Bretterrändern festhalten. Es brauchte viel Mut und Geschicklichkeit, aber einmal oben unter der Abdeckung hatten wir es geschafft und fühlten uns in Sicherheit. Aber wir blieben auf der Hut, denn wir waren ja nie sicher ob uns jemand von der Fabrik aus verfolgt und beobachtet hatte. Nachträglich musste ich mich fragen wie es uns jedes Mal gelang bei diesen Stapeln sicher und ohne Unfall hinauf und besonders wieder runter zu klettern, denn dies war an den senkrechten Stapel schwierig und riskant!
Damals trieben zwei Räuber, Ernst Deubelbeiss und Kurt Schürmann, ihr Unwesen und machten die ganze Schweiz unsicher. Irgendwie inspirierte uns Buben diese Jagd nach den Übeltätern und so begannen wir anstatt dem normalen „Droffäh“ (ein Fangspiel), nun „Räuber und Poli“ zu spielen. Ein Teil der anwesenden Buben wurde zu Räubern und die andere Hälfte zu Polizisten. Das Spiel war immer sehr spannend, denn immer wieder entdeckten wir neue Verstecke und Schlichwege. Einmal fanden wir Räuber wie per Zufall das Gittertor im Durchgang zwischen dem Kleidergeschäft Krähmann und der Bäckerei Schriber offen. Sofort schlichen wir hinein und entdeckten einen schmalen, wild bewachsenen Weg der hinter der ganzen Häuserreihe parallel zur Marktstrasse bis zur Villa von Dr. Steinegger führte. Wenn es dort sicher war, sprangen wir über den Hag und verliessen durch dessen Garten unseren geheimen Weg. Aber das Versteck blieb nicht lange unser Geheimnis und bald wussten alle von dem bis anhin unbekannten und mysteriösen Verbindungsweg.
Irgendjemand hatte uns gesagt, dass eine böse Bande aus Wangen oder Galgenen uns Buben angreifen wollte. Das hiess für uns Mobilmachung und sofort breiteten wir uns auf den Dorfkrieg vor. Da die meisten Väter damals in der Holzindustrie arbeiteten, war es einfach Material und Väter zu finden die uns unterstützten. Und so hatten wir kurzer Zeit Schwerter, türkische Säbel, Speere, usw. in unserem „Waffenlager“. Ich selbst hatte mir aus Sperrholz ein Schild geschreinert und es farbenfroh bemalt. Als alles bereit war, rekrutierten wir noch Krankenschwestern; man konnte ja nie wissen? Meine Schwester und eine Schulkollegien waren bereit mit uns in den Krieg zu ziehen.
Natürlich musste man vorher rekognoszieren, so wie im Militär. Da die Gefahr aus dem Osten kam, ging ich zum „Griesammler“, der Einrichtung am Spreitenbach wo das bei Unwetter herab geschwemmte Kies aufgefangen wurde. Der Kiessammler war ein Ort wo sich die Buben zu allerlei Spielereien trafen, und von wo aus man das Gelände gegen Galgenen gut überwachen konnte. Da keine Feinde in Sicht waren, setzte ich mich auf die Bank beim kleinen Bahnübergang und genoss die Sicht gegen das Dorf. Plötzlich tauchte ein etwas älterer Bube aus dem Oberdorf auf und setzte sich neben mich. Er begann zu plaudern, aber da ich etwas beunruhigt war verstand ich nichts von dem was er sagte. Plötzlich fragte er mich ob er mein „Pfifeli“ sehen dürfe. Das hatte mich noch niemand gefragt und so war ich noch mehr verwirrt. Er machte hemmungslos meinen Hosenladen auf und suchte bis er fand was er sehen wollte. Mit meinem Intimsten am Sonnenlicht kamen meine Sinne plötzlich wieder zurück und so bat ich ihn weitere „Untersuchungen“ zu unterlassen, was er dann auch tat. Beim etwas abrupten Abschied bat er mich doch wieder einmal zum „Griesammler“ zu kommen. Ich sagte nichts und rannte so schnell ich konnte nach Hause. Doch zu Hause wusste ich nicht was ich mit diesem Vorfall anfangen sollte. Würde ich nun dafür bestraft und war dies nun eine Sünde gewesen? Natürlich erzählte ich meinen Eltern nichts von diesem Burschen, denn sie hätten ganz sicher sofort die Polizei angerufen. Dies wollte ich aber instinktiv nicht, denn schliesslich war der Bursche nicht gewalttätig gewesen und eigentlich nur „gwundrig“. Oder war er doch einer der berüchtigten Pädophilien auf die man im Dorf zeigte. Ich wusste es nicht und niemand hatte bis anhin über ihn gelästert. Ich sah ihn noch oft im Dorf und er grüsste immer freundlich, doch wenn möglich versuchte ich ihm immer auszuweichen.
Schliesslich kam der Tag des Angriffes. Alle Soldaten waren bereit und die Krankenschwestern hatten sogar weisse Häubchen mit einem roten Kreuz auf dem Kopf. Und so gingen wir im Trabschritt in Richtung „Griesammler“. Wir waren alle nervös, aber überzeugt, dass wir die Feinde mit unseren Waffen besiegen würden. Als wir auf der Kante des „Griesammler“ ankamen, sah alles sehr friedlich aus. Wir gingen vorsichtig weiter durchs Gebüsch und über den Bach. Auf der anderen Seite erschien wie aus dem Nichts ein grosser Bursche mit einem riesigen, rundlichen Knüppel in der Hand. Ohne uns den Krieg offiziell zu erklären stürzte er mit einem Riesengeschrei auf uns los und schlug auf unsere schönen, wertvollen und mit viel Liebe gebastelten Waffen ein. In kurzer Zeit war alles nur noch Kleinholz und er verschwand so wie er gekommen war. Unsere Armee war in Schock und brauchte eine Weile um sich davon zu erholen. Als wir zurückmarschierten und zu den Krankenschwestern kamen, konnten sie nicht verstehen was geschehen war. Da es keine schwer Verletzte gegeben hatte brachen wir die Übung ab und schlichen geschlagen und deprimiert zurück nach Hause. Nie mehr wagten wir uns Buben aus Nachbardörfern zu provozieren.
Manchmal gingen wir Buben auch is Horä usä. Es ist die Gegend wo die Wägitaler Aa in den Oberen Zürichsee fliesst und wo man keine bösen Banden fürchten musste. Diese damals wilde Gegend war für uns Buben ganz speziell interessant und ein Anziehungspunkt für abenteuerliche Entdeckungen. Zum Beispiel mussten wir, so wie unsere Eltern, den Genuss und die Nachwirkungen des Rauchens der „Niele“, oder Waldrebe, testen und erleiden. Das Resultat war meistens Übelkeit und Rauchabstinenz für lange Zeit. Manchmal kam ich sonntags auch mit meiner Mutter in diese Gegend, allerdings gingen wir dann weiter bis zum „Nuoler-Riet“ beim Flugplatz Wangen-Lachen. Diese Gegend war ein Paradies für verschiedene seltene Vogelarten. Als Mitglied des Vogelschutzvereins „Singdrossel“ war das Beobachten dieser Vögel für sie eine erholsame Abwechslung nach der vielen Arbeit während der Woche. Im Frühling, wenn die Vögel brüteten, war dies besonders interessant. Sie holte mich schon sehr früh aus dem Bett und ich musste sie dann bei ihren Erkundigungen begleiten. Auf dem Land wo sich heute die Flugpiste befindet war es einfach nach Kiebitzen und Brachvögel Ausschau zu halten. Da die Kibitze ihre Nester direkt auf dem Boden bauten, musste man immer aufpassen, dass man nicht in eine Brut trat. Pater Heim aus dem Kollegium Nuolen hatte eine aus Stroh gefertigte Beobachtungsstation gebaut und konnte so die Vögel ungestört beobachten und überwachen. Manchmal trafen wir ihn persönlich und so konnte meine Mutter all ihre Fragen bei ihm loswerden. Pater Heim machte sich Sorgen um die Zukunft dieser schönen Vögel denn mit dem geplanten Bau einer asphaltierten Piste waren sie in Gefahr. Meine Schwester und mein Vater kamen nie mit uns und zeigten auch kein Interesse an morgendlichen Exkursionen. Ich fand das schade, denn die Natur war in dieser Gegend so wunderschön am Morgen.
Zur gleichen Zeit überredete mich der ältere Sohn von Kafader’s mich einer ornithologischen Gruppe anzuschliessen. In regelmässigen Treffen lernten wir die verschiedenen Vogelarten in der March kennen und machten auch Beobachtungen in der Natur. Im Sommer, nach der Nistzeit, reinigten wir die offiziell registrierten Nistkästen an den Bäumen entlang der Wägitaler Aa. Da die Nistkästen meistens sehr hoch angebracht waren, brauchten wir die nötige Leiter um an sie heran zu kommen. Also musste immer auch das nötige Gerät mitgeschleppt werden. Obwohl ich in dieser Gruppe viel lernte, gab ich diese Freizeitbeschäftigung nach einer gewissen Zeit auf.
Der Vogelschutzverein machte jedes Jahr einen 2-tägigen Ausflug. Da mein Vater nach der harten Arbeit während der 6-Tage Woche keine Lust auf Wanderungen hatte und sich meine Schwester immer stur gegen die Ideen meiner Mutter stellte, hatte ich keine andere Wahl als sie zu begleiten. Im Jahre 1951, als ich 10 Jahre alt war, machten wir eine Bergwanderung ins Kärpfgebiet. Aber ich bereute es nicht, denn es war ein einmaliges Erlebnis. Am ersten Tag ging es von Schwanden nach Mettmen wo wie übernachteten. Zum ersten Mal erlebte ich da, hoch in den Bergen, einen Alpsegen. Die Abendstimmung, die friedliche Natur ringsum und dazu der Alpsegen berührten mich schon damals ausserordentlich. All dies öffnete mir die Augen und ich begann mich für die Natur zu interessieren. Schon früh am nächsten Morgen wanderten wir den Berg hinauf um Gämsen zu beobachten. Dann ging’s zurück ins Hotel zum Frühstück. Um 10 Uhr war die Feldpredigt, die Herr Pater Heim hielt. Dann ging die Wanderung durch eine wunderbare Landschaft weiter und nach dem Mittagessen wieder den Berg hinunter wo wir Murmeltiere und einen Steinadler sahen. Schliesslich erreichten wir Matt im Sernftal und reisten von da über Schwanden wieder zurück nach Hause. Zu Hause fand ich schade, dass meine Schwester diese eindrücklichen Ausflüge nicht mitmachen wollte und so die wunderbare Natur nicht kennenlernen konnte.
(2) Berggasthaus Mettmen auf 1650 Meter ü. M.
(3) Stausee Garichte ob Schwanden
Später machte die „Singdrossel“ eine Bergwanderung auf den Rossberg (Wildspitz 1’583 Meter über Meer). Am ersten Tag ging es mit der Bahn über Pfäffikon nach Sattel und von hier zu Fuss zum Hotel „Rossberg-Kulm“, wo wie übernachteten. Am Morgen früh, vor dem Morgenessen, ging es zur Absturzstelle. Am Rossberg sind in historischer und vorhistorischer Zeit diverse Bergstürze niedergegangen. Der bekannteste ist der Bergsturz von Goldau aus dem Jahre 1806, der unterhalb des Gnipen abbrach und die Dörfer Goldau und Röthen fast vollständig zerstörte. Nachher ging es hinunter zum Alpli wo wir das Mittagessen einnahmen. Dann ging es weiter zu Fuss dem Aegerisee entlang bis zurück nach Sattel. Das Wetter war an beiden Tagen sehr heiss und schön gewesen. Zu dieser Wanderung waren mein Vater und meine Schwester ausnahmsweise einmal mitgekommen.
Wenn es mir zu Hause langweilig wurde, was sehr selten war, ging ich gerne auf den Balkon wo ich durch die Lücken der Querbretter des Geländers diskret und unbemerkbar die ganze Nachbarschaft beobachten konnte. Auf der Markstrasse direkt unter dem Balkon war immer etwas los, besonders am Sonntagabend. Da kamen alle Sonntags-Ausflügler aus den Bergen zurück. Es sah sich an wie eine endlose Auto- und Töff-Parade. Ich versuchte mir die verschiedenen Kantonszeichen zu merken oder sogar aufzuschreiben. Im Sommer schleppten alle Riesenmengen von Alpenrosen nach Hause. Vor allem die Motorräder waren immer extrem mit Alpenrosen-Sträussen behangen und ich fragte mich ob in den Bergen wohl noch etwas übriggeblieben sei. Aber auch die Schützenhausstrasse, der Schlössliweg und natürlich das „Schlössli“ hatte ich immer unter Kontrolle. An der Chilbi hatte ich einmal eine Plastik-Wasserpistole erhalten und so machte es mir auch immer ein Riesenspass vom Balkon mit dieser Pistole die Schönheiten des Dorfes beim Vorbeigehen zu bespritzen. Auch meine Schwester liebte diesen Scherz und amüsierte sich köstlich, wenn die betroffenen Mädchen mit ihren damals modischen „Obsi-Frisuren“ die Schirme aufspannten, weil sie glaubten der Regen hätte eingesetzt und die Haartürme könnten Schaden nehmen. Aber auch nachts war der Balkon ideal um Leute zu beobachten, besonders diejenigen die uns um 1 Uhr nachts mit Gejohle aus dem Schlaf geschreckt hatten. Einmal wollte ein Besoffener seinen nicht weniger alkoholisierten Kollegen im Streit auf den spitzen Gartenhag von Frau Züger aufspiessen. Meine Mutter holte mich sofort ins Bett und wollte nicht, dass ich mit solchen Szenen traumatisiert würde. Am Interessantesten war es aber auf dem Balkon am Samstagabend, besonders wenn das im ganzen Dorfe bekannte „Goldschwänzli“ mit ihrem Liebhaber erschien. Man konnte sie in ihrer extravaganten Aufmachung und dem üppigen Gold-Schmuck nicht übersehen. Das Letztere hatte Ihr schliesslich diesen Übernamen verschafft. Dann kamen aber auch die geschniegelten, jungen Männer aus dem Oberdorf mit ihren glänzenden „Entenfüdli“-Frisuren und ihren „Schätzen“ am Arm um mit ihnen den Samstagabend in den Seeanlagen zu verbringen. Meine Eltern sah ich nie, nicht einmal an Wochenenden, so wie andere Leute Arm in Arm einen Spaziergang machen. Sie hatten keine Zeit, denn als selbstständig Erwerbende hatten sie immer noch bis spät in der Nacht viel im Hause und im Büro zu erledigen. Ich musste erkennen, dass es die Arbeiter und Angestellten der verschiedenen Fabriken im Dorf mit ihrer fixen Arbeitszeit viel besser hatten als meine Eltern, die sich ja nicht einmal richtige Ferien leisten konnten. Die Eltern taten mir leid und schon als kleiner Knirps fand ich diese Situation ungerecht. Um mehr Lebensqualität zu erreichen schwor ich mir das Geschäft nie zu übernehmen und als Arbeitnehmer mein Leben zu bestreiten.
Nur selten gönnten sich meine Eltern eine Abwechslung zur täglichen Routine. Doch an einem Samstagabend wollte mein Vater mit meiner Mutter ins Kino gehen (damals hatten wir ja noch ein Kino im Dorf). Aber meine Mutter stellte sich quer und wollte nicht so „blöde Filme“ sehen. Zudem gab sie vor, dass sie noch viel zum Putzen, Flicken, Nähen, Stricken und Aufräumen habe. Mein Vater meinte dann, dass man das alles später auch noch verrichten könne. Aber damit war meine Mutter nicht einverstanden, es musste alles noch am Samstagabend erledigt werden. Und so ging halt schliesslich mein Vater alleine ins Kino. Allerdings hatte ich bemerkt, dass er enttäuscht, traurig und ohne Worte aus der Wohnung ging. Dann hatte ich Bedauern mit ihm und konnte nicht verstehen wieso meine Mutter ihn nicht begleiten wollte und sich so störrisch gab? Zum Glück war mein Vater im Männerchor und hatte jede Woche Probe. Das half ihm die Probleme des Betriebes ein wenig zu vergessen. Er war auch immer gerne dabei, wenn der Chor kleinere Ausflüge oder sogar kurze Reisen organisierte. Dabei entwickelte sich eine solide Freundschaft unter Sängerkameraden, die für ihn äussert wichtig war.
Später als meine Schwester älter war, machten meine Eltern im Sommer manchmal eine Autofahrt. So besuchten wir einmal das Rütli, die Höllgrotten in Baar, das Winzerfest in Neuenburg oder im Jahre 1954 die HOSPES, die Schweiz. Fremdenverkehrs- und internationale Kochkunst-Ausstellung in Bern. Diese Ausstellung war für mich besonders beeindruckend. Manchmal machten wir auch eine Passfahrt vom Kanton Glarus über den Klausen in den Kanton Uri oder einfach über die Sattelegg. Hier machten wir meistens einen Halt und suchten einen geeigneten Platz um uns auszuruhen. Wir Kinder suchten Beeren und Pilze und assen dann etwas Mitgebrachtes. Einmal als wir schon wieder zu Hause waren schrie meine Mutter plötzlich äusserst hysterisch und bewegte sich wie wild auf alle Seiten. Auf der Sattelegg hatte sich eine Eidechse in ihre Unterwäsche verirrt und auf diesem Weg mit uns nach Hause gekommen. Natürlich war der Schreck kurz und die ganze Familie lachte noch lange darüber. Manchmal fuhren wir an einem Sonntag mit der Familie Kälin und ihren drei Buben zum Baden an den Aegerisee, aber eben erst nach der Christenlehre.
Ich war mir bewusst, dass mich meine Klassenkameraden um meine eigentlich sehr seltenen Sonntags-Ausflüge mit meinen Eltern und vor allem wegen dem Auto beneideten. Sie konnten ja nicht wissen, dass für mich diese Ausflüge Pflichtübungen (Familienschlauch) waren und meistens gar keine Freude auslösten. Vor einer solchen Ausfahrt war immer viel Spannung im Haus. Neben der vielen Arbeit musste meine Mutter am Vortag noch das Picknick vorbereiten. Mein Vater wäre mit einem Sandwich wohl nicht zufrieden gewesen und so machte sie Bohnen-, Tomaten- und Kartoffelsalat, kochte Eier und liess panierte Schnitzel in der Bratpfanne brutzeln. Dann wurde Pfefferminztee gekocht und Früchte bereitgestellt. Schliesslich wurde alles säuberlich eingepackt und neben Wolldecken, Sonnenschirm, etc. für den folgenden Tag bereitgestellt. Während diesen Vorbereitungen war es immer besser für uns Kinder aus der Küche zu verschwinden. So konnte man unnötige Konflikte und Spannungen vermeiden. Am nächsten Tag war die Lage nicht entspannter. Das Auto musste aus der Garage im Ried geholt werden, was immer einige Zeit in Anspruch nahm. Dann mussten alle Fenster und Fensterläden geschlossen werden, alle Lichter gelöscht und alle Apparate ausgeschaltet werden. Wenn das Auto dann vor dem Hause stand mussten alle helfen den Proviant herunter zu tragen, die gehässigen Bemerkungen wurden häufiger und der Stress näherte sich dem Höhepunkt. Als dann alle Türen in der Wohnung geschlossen waren und alle im Auto sassen, kam dann meiner Mutter meistens noch in den Sinn, dass sie vielleicht den Herd nicht abgestellt hatte. So rannte sie zurück in die Wohnung. Wieder zurück im Auto musste meine Schwester plötzlich auf die Toilette. Wieder musste meine Mutter zurück in die Wohnung um meine Schwester zu begleiten. Das Ganze verlangte natürlich immer ein Auf- und Zuschliessen aller Türen, inklusive Nachkontrolle! Nach einer strengen 6-tägigen Arbeitswoche war dieses Schauspiel für meinen Vater eine gewaltige Geduldsprobe. Als wir dann endlich fahren konnten merkte mein Vater, dass wir zuwenig Benzin hatten. Also nochmals eine Verspätung, die dann allerdings meiner Mutter auf die Nerven ging. Wieso konnte man nicht am Vortag den Benzintank füllen, war der Vorwurf. Aber schliesslich begann die wundervolle Autofahrt doch noch. Schon bald langweilten wir uns auf den hinteren Sitzen. Man sagte uns wir sollten stillsitzen und die Gegend geniessen, was wir ja auch taten. Aber die Gegend schien uns immer die Gleiche: Häuser, Wiesen, Kühe, etc. Plötzlich klemmte mich meine Schwester ins Bein und ich klemmte zurück, was schliesslich in einer Zankerei endete. Total gestresst schlug mein Vater während dem Fahren blind nach hinten und wie immer bekam ich den Schlag. Meistens hatte ich dann eine blutende Nase und meine Mutter beschimpfte meinen Vater wegen Gewalt. Aber dann war es tatsächlich ruhig im Auto und die Fahrt ging weiter. Nach unendlichen Kurven waren wir endlich in den Bergen und am Ziel angelangt. Sofort wurde die ganze Ausflugsausrüstung ausgeladen und ein „schönes Plätzli“ zwischen Silberdisteln, Kuhfladen und Steinen gesucht. Die Wolldecken wurden ausgebreitet und das Essen angerichtet. Bald schon merkten wir, dass wir nicht die Einzigen an diesem „schönen Plätzli“ waren und dass wir ihn mit Wespen, Ameisen, „Brämen“ und anderen „Berg-Bewohnern“ teilen mussten. Die Stiche der Brämen waren die Lästigsten und viel schmerzhafter als die der Mücken. Etwas zerknirscht ass jeder was er gerne hatte oder einfach was vorhanden war. Am liebsten hatte ich immer den Bohnensalat den meine Mutter mit eigenen Bohnen zubereitet hatte, er war einfach super. Die Spannung hatte sich unterdessen gelegt, mein Vater machte ein Schläfchen und meine Mutter packte den Rest des Pick-Nick wieder ein. Natürlich hatte man die Sonnenschutz-Creme vergessen und so hörte man wieder Vorwürfe. Meistens hatte ich dann den Drang auszureissen und davon zu laufen, dies auch wegen den Brämen die mich besonders liebten. Unter dem Vorwand meine Blase zu leeren, verliess ich oft meine Familie und machte ganz alleine eine Wanderung. Meistens zog es mich einfach in die Höhe und so stieg ich oft ziellos den Berg hinauf und genoss die Ruhe, die Natur und die Aussicht. Natürlich machten sich meine Eltern bald Sorgen und wollten, dass sich sofort zurückkehre. Aber meistens liess ich mir Zeit und sammelte auf dem Rückweg Blumen um meine Mutter mit einem schönen Alpenblumenstrauss zu überraschen und um gleichzeitig eine Rüge zu vermeiden. Und so versuchte ich jedes Mal aus dem mühsamen Ausflug, auf den andere eifersüchtig waren, für mich das Beste herauszuholen. Aber einen Sonnenbrand hatte ich mir trotzdem geholt und musste am anderen Tag mit einem verbrannten Gesicht und Armen in die Schule.
Ein paar Schüler unserer Klasse waren damals in der „Pfadi“. Sie hatten eine eigene Pfadihütte draussen im Peterswinkel neben der Wäggitaler-Aa und waren an Wochenenden mit Beobachtungen und allerlei Fertigkeiten beschäftigt. Natürlich wäre auch ich gerne Pfadfinder geworden denn ich wusste, dass ihr Ziel der Förderung und Entwicklung junger Menschen galt und um sie für Verantwortung in der Gesellschaft vorzubreiten. Zudem erschaffte man sich als Pfadfinder auch eine ideale Grundlage für eine spätere Karriere im Militär. Aber sichtlich ging es damals auch zum Aufbau einer zukünftigen Elite im Dorf, denn es entging mir nicht, dass die meisten Eltern der Pfadfinder im Dorf wohlhabend waren und ich als Kind eines Spenglers wohl kaum dazu passte. Eigentlich sollte die Erziehungsbewegung religiös und politisch unabhängig sein, doch in unserem Dorf wurde sie damals vor allem von katholischen Kirchenträgern geführt. Deshalb, aber vor allem aus finanziellen Gründen, waren meine Ambitionen einmal Pfadfinder zu sein bald erloschen. Ich musste meinen Pfad selber suchen und finden, was ich später auch immer tat. Für die Mädchen gab es den „Jungwacht Blauring“, der ebenfalls mit der katholischen Kirche verbunden war. Somit blieb auch für meine Schwester ein Betritt zu einer Jugendorganisation ein Wunschtraum. Aber meine Eltern fanden trotzdem einen Weg um mich und meine Schwester für das Überleben in der Gesellschaft vorzubereiten. Der Evangelisch-Reformierte Kirchenverband der Zentralschweiz (Diaspora), der Ende 2002 aufgelöst wurde, organisierte damals jedes Jahr Ferienaufenthalte im Tessin. Meine Eltern wussten, dass so ein Aufenthalt nicht nur religiös begleitete Ferien waren, sondern dass von den Kindern gleichzeitig Disziplin, Gehorsam, Anstand, Zusammenleben, Toleranz und vieles mehr verlangt und gelernt wurde, alles Dinge die den Charakter stärken sollten und fürs Leben so wichtig waren.
Als ich in die 5. Primarklasse kam und 11 Jahre alt wurde fanden meine Eltern, dass ich nun alt genug sei um an einem solchen Ferienlager teilnehmen zu können. Sie meldeten mich bei der Diaspora an und so durfte ich zum ersten Mal alleine für drei lange Wochen in die Ferien. Am 27. Juli 1952 brachte mich meine Mutter mit unserm Peugeot 230 nach Goldau. Dort trafen wir Pfarrer Bühler, der die angemeldeten Kinder aus der Zentralschweiz in Empfang nahm und uns dann mit der Bahn ins Tessin und nach Arcegno begleitete. Als wir wegfuhren und ich meine Mutter alleine auf dem Bahnsteig sah wurde ich plötzlich unsicher und traurig. Ich kannte ja niemand von all den Kindern im Zug und so sass ich still an meinem Platz und betrachtete die vorbeiflitzende Gegend. Bald waren wir im Kanton Uri und Pfarrer Bühler machte uns auf die drei Ausblicke auf die Kirche von Wassen aufmerksam. Und dann kam der lange Tunnel wo wir fast im Dunkel sassen. Wie immer war ich scheu unter fremden Menschen und so hatte ich bis anhin noch mit niemandem ein Wort gesprochen. Aber als wir wieder im Tageslicht und im Kanton Tessin waren wurden die Kinder gesprächig. Mit dem Anblick der ersten Palmen spürte man endlich Ferienstimmung. Das Eis war gebrochen und jeder wollte nun wissen woher der andere kam. Alle Knaben und Mädchen kamen entweder aus Luzern, Zug oder dem Kanton Schwyz. Aus der March war ich aber der Einzige.
(4) Kirche Sant’Antonio Abate in Arcegno
Am Nachmittag kamen wir im „Campo Enrico Pestalozzi“ oberhalb von Arcegno an. Das Feriendörfchen befand, und befindet sich heute noch, inmitten schattiger Kastanienwälder, unweit von Locarno und Ascona. Das Centro wurde 1929 auf Initiative des Luzerner Pfarrers Julius Kaiser gegründet und war in jugendlicher Fronarbeit entstanden. Es bestand damals aus einfachen Holzbaracken wie sie im Militär gebraucht wurden. Nur das Haus des Verwalters Herr Baumann und die „Burg“ waren solide Behausungen.
(5) Eine der Schlafbaracken
(6) Administration und Haus des Lagerwarts
Sofort wurden wir gruppenweise auf die Baracken und die verschiedenen Zimmer (Schläge genannt) aufgeteilt. Dann wurde die Zimmerordnung verlesen um allen klar zu machen, dass hier trotz Ferien auch Ordnung und Disziplin gefragt war. Die „Schläge“ waren einfache Massenlager wo wir in Schlafsäcken schliefen. Für die Diaspora standen zwei Baracken zur Verfügung, eine für Burschen und eine für Mädchen. Die anderen Baracken waren durch weitere Jugend-Gruppen aus der Schweiz besetzt. Natürlich hatte die Diaspora auch eine Küche wo Frauen feiwillig während den drei Wochen Ferien für uns kochten. Man ass im Freien unter den Bäumen des Waldes an fest montierten Tischen und Bänken. Das Essen war immer sehr einfach und in der frischen, sauberen Luft immer sehr schmackhaft. So gab es am ersten Abend zuerst eine Suppe, dann Hörnli mit Gurken/Tomatensalat und Tee. Am zweiten Abend gab es Mais mit gekochten Birnen, also immer leicht verdauliche, meist fleischfreie Menüs.
Da es ein sehr heisser Sommer war, marschierten wir schon am zweiten Tag hinunter zur Melezza um zu baden. Auch während den folgenden Tagen waren wir immer zu Fuss unterwegs. Einmal nach Ronco, am nächsten Tag hinauf bis auf den Nordost Grat von Maia, dann eine Wanderung über den Corona die Pinci und schliesslich via Ronco bis nach Brissago. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich so nahe an der Schweizer Grenze und schon fast in Italien. Da wir dort eine kurze Ruhepause hatten, konnte ich nicht anders als kurz die Zollschranke zu ignorieren um auf der anderen Seite einen farbigen Sombreo zu kaufen. Das Abenteuer war für mich damals ein ausserordentliches Erlebnis. Zurück in der Schweiz ging es dann mit dem Schiff auf die Brissago Inseln, die mich mit ihrer Pflanzen- und Blumenvielfalt ganz speziell faszinierten. Ein anderes Mal ging es per Bahn nach Gubiasco von wo wir eine Wanderung bis nach Tesserete machten. Nach dem Mittagessen fuhren wir dann mit der Tesserete-Bahn hinunter nach Lugano und gleich weiter auf den Monte Bré. Ein paar mal gingen wir nach Intragna zum baden. Es war dort wild romantisch und man konnte von den Felsen ins kühle Nass springen. Natürlich durften wir auch bis nach Ascona ins Strandbad „Lido“. Dort hatte es immer viele Leute aber man durfte sich nicht im Freien umziehen wie in Intragna, sondern man musste dies in einem Umkleideraum tun. Einmal beim Umziehen schubste mich mein Nachbar und deutete nach links. Da sah ich einen Mann der offensichtlich grosse Mühe hatte um seine Badehosen hochzuziehen. Es hinderte ihn etwas das horizontal aus der unteren Bauchgegend ragte und so aussah wie eine grosse, lange Zigarre. Dabei schaute er uns ungeniert an, zeigte uns schliesslich ganz stolz das grosse Objekt und streichelte es sogar zärtlich. Obwohl mir während einer Geographiestunde mein Banknachbar einmal ganz verschmitzt seinen «Bimmel» zur Schau gestellt hatte, war mir nicht klar was ich da sah. Mein Kollege sagte der Mann hätte eine eindrucksvolle Erektion. Da schaute ich nochmals hin, verstand immer noch nichts und konnte einfach nicht glauben, dass ein „Pfifeli“ so gross werden konnte. Plötzlich wurde mir unheimlich und wir verliessen schleunigst den Umkleideraum. Aber nun wussten wir nicht was wir tun sollten. Da wir noch fast Kinder waren wussten wir nicht ob es für Männer normal war sich in einem Unkleideraum nackt zu zeigen oder ob es unsere Pflicht war das Gesehene dem Lagerleiter zu melden. Gleichzeitig hatten wir aber Bedenken uns bei den anderen Kameraden damit lächerlich zu machen. So entschieden wir das Geschehe der Welt zu verschweigen und das habe ich bis jetzt auch gemacht.
Natürlich gab es auch Tage ohne Ausflüge und an denen wir im Lager Spiele machten, Brombeeren fürs abendliche Birchermüsli sammelten oder Theater spielten. Daneben wurde immer eine Olympiade organisiert. Es war so eine Art Quiz wo Fragen aus dem Leben beantwortet werden mussten. Zum Beispiel: Nenne heilige Städte wo Jesus gewesen war oder wie nennt man Schiffe die Flugzeuge, Panzer oder Kanonen transportieren? Für die 1. August-Feier suchten wir Holz im Wald und sangen am Abend Lieder am Feuer. Es war also immer etwas los und man hatte gar keine Zeit um Heimweh zu bekommen. Inzwischen hatte ich ein paar Kumpels gefunden, den Wäffi, die Susle und den Rugel, alle aus Luzern. Zusammen machten wir in der Freizeit Entdeckungs-Spaziergänge und hatten es immer lustig. Ein Lieblingsort war die Höhle wo wir auch manchmal Feuer machten und Kartoffeln grillierten.
Nur zu schnell waren die drei Wochen Lagerleben jeweils vorbei und schon mussten wir wieder die Koffer packen. Aber vorher musste das Feriendorf, die Baracken und die „Schläge“ noch sauber gereinigt werden. Alle mussten mithelfen denn darauf wurde viel Wert gelegt. Auch die „Qualitäts-Kontrolle“ blieb nicht aus und das galt natürlich auch für die Toiletten. Schliesslich kamen meist noch am gleichen Tag neue Gruppen ins Lager und die wollten doch auch alles sauber vorfinden. Zu meiner Überraschung trafen schon am Freitagnachmittag meine Eltern mit meiner Schwester im Lager ein. Sie übernachteten in der Burg auf dem Hügel und blieben bis am Sonntagmorgen. Am Samstag wollten meine Eltern die Brissago Inseln besuchen und so machte ich diesen Ausflug zum zweiten Mal. Es machte mir nichts aus, die Inseln ein zweites Mal zu besuchen, denn der Ort war ja so wunderschön im Sommer. Am Sonntag war es aber dann definitiv und mein Ferienaufenthalt fand ein Ende. Zusammen mit meinen Eltern verliess ich Arcegno und fuhr mit ihnen via den San-Bernardino-Pass zurück nach Hause. Meine Eltern waren von dem Konzept des Ferienlagers, der offenen Atmosphäre, der Ruhe und naturnaher Umgebung so überzeugt, dass ich auch in den drei darauffolgenden Jahren einen Teil meiner Sommerferien in Arcegno verbringen durfte.
Wahrscheinlich waren auch andere Eltern vom Campo überzeugt, denn jedes Jahr gab es ein Wiedersehen mit Kindern die ich bereits kannte. Das erleichterte die ersten Tage des Lagerlebens jedes Mal sehr. Obwohl die Tagesabläufe immer etwa dieselben blieben, waren die Wander- und Ausflugs-Ziele jedes Jahr ein bisschen anders. So lernten wir immer wieder neue Orte wie Gandria, Morcote, Monte Salvatore, etc. kennen. Im Jahre 1954 war auf dem Weg vom Lager zur Burg ein hübscher Glockenturm gebaut worden. Im darauffolgenden Jahr, also während meinem vierten Ferienaufenthalt in Arcegno, wurde ich zu meiner grossen Überraschung und Ehre während meinem ganzen Aufenthalt als Glöckner auserkoren.
(7) Der Glockenturm des „Campo Enrico Pestalozzi“
In diesem Jahr wurde auch ein farbiger Dokumentarfilm über das „Campo Enrico Pestalozzi“ gedreht. Einige Kinder, und so auch ich, wurden beim Tagesablauf gefilmt. Das war natürlich für alle Lagerteilnehmer eine riesige Sensation und es wurde uns gesagt, dass der Film später unter dem Titel „E viva il Campo“ gezeigt werde. Allerdings hatte bei einigen Kameraden mein Privileg jeden Abend die Glocke läuten zu dürfen eine gewisse Eifersucht erweckt. Dass ich nun aber auch noch bei diesem Film mitmachen durfte und somit „Filmstar“ wurde, konnte scheinbar mein immer fröhlicher Freund „Rugel“ nicht verkraften. Dabei hätte ich mir nie vorstellen können, dass gerade er mich am Meisten beneidete. Eines abends als ich fertig geläutet hatte, bemerkte ich ihn unterhalb des Turmes im Gras lauern. Er rief mir zu und befahl mir zu ihm hinunter zu kommen. Da ich dies nicht sofort tat begann er mich zu anzuschreien. Als ich schliesslich bei ihm war stiess er mich gegen die Mauer, begann meine Hosen aufzureissen und in meine Intimgegend zu greifen. Er benahm sich wie ein Tier und ich fragte mich was in den gemütlichen „Rugel gefahren war und was er eigentlich wollte. Ich wehrte mich so gut ich konnte, aber er war viel stärker als ich. Wie ein Wunder erschien plötzlich sein Bruder, der sofort in den Kampf eingriff und mich befreite. Natürlich hatte ich nach solch einem Betragen mein Vertrauen in meinen Freund „Rugel“ verloren und wir blieben für den Rest der Ferien auf Distanz. Gerne hätte ich mit ihm über die Motive seiner Tat gesprochen, aber dazu kam es nie. Auch hatte ich Angst sein abwegiges Benehmen dem Lagerleiter zu melden oder es später meinen Eltern zu erzählen. Damit hätte ich wohl ihr Vertrauen in die Lagerleiter und das „Campo Enrico Pestalozzi“ total zerstört und Ferien in Arcegno wären für mich dann nie mehr in Frage gekommen. Diese Erfahrung hatte mich aber aus der kindlichen Naivität geweckt und mir bewusstgemacht, dass eben sogar unter besten Freunden Eifersucht entstehen kann.
Nach dem 2. Weltkrieg kam der kalte Krieg und der Ostblock wurde zum neuen Feindbild. Das war für uns Buben allerdings irrelevant, denn die Politik war in unseren Augen Sache der Erwachsenen. Doch eines Tages sah ich ein Plakat mit einem Henkersknoten und darunter den Text: „Wir liefern die Stricke mit denen wir erhängt werden, Stopp dem Export in die Ostblockstaaten!“. Scheinbar war das Plakat eine Reaktion auf eine kürzlich Bemerkung von Lenin gewesen. Während einem Gespräch soll er nämlich gesagt haben, dass die Kapitalisten in ihrer Einfalt und Geldgier fähig wären sogar Stricke für ihre eigene Erhängung zu liefern. Als Bube beeindruckte mich diese Aussage ausserordentlich und so hatte ich plötzlich den Drang diese mit allen Leuten im Dorf zu teilen. Ich besorgte mir solche Plakate um sie dann in allen Geschäften aufzustellen. Natürlich hatte ich verstanden, dass man mit diesen Plakaten den Osthandel untersagen wollte, doch ich hinterfragte die Sache nicht weiter und wurde damit, ohne es zu wollen, zu einem politischen Aktivisten. Erst als ich merkte, dass ich nicht überall auf die gleiche Überzeugung stiess, wurde mir bewusst, dass ich von irgendeiner Organisation benutzt worden war und dass ich eigentlich gar nicht wusste wer hinter diesen Plakaten steckte oder für wen ich Freiwilligenarbeit geleistet hatte. Viele Jahre später konnte ich persönlich sehen wie in gewissen Ländern, arme, naive, ahnungslose Kinder und junge Leute für gewisse Handlungen oder Ideologien beeinflusst, mental manipuliert und sogar in den Krieg geschickt werden. Ich hatte Glück gehabt, denn ich löste mich schnell von dieser Aktivität und konzentrierte mich wieder voll auf meine Schulausbildung.


Im Lehrvertrag wurde festgehalten, dass der Lehrling für seine Arbeitsleistung folgenden Lohn erhält:
- Lehrjahr 1.50 pro Tag,
- Lehrjahr 2.50 pro Tag,
- Lehrjahr 3.20 pro Tag und
- Lehrjahr Fr. 4.20 pro Tag.
Zudem wurde vereinbart, dass das Mittagessen an ganzen Arbeitstagen vom Lehrmeister übernommen wird und dass der Lehrling im ersten Lehrjahr Anrecht auf 10 Tage, im zweiten und dritten Lehrjahr 18 Tage und im vierten Lehrjahr 17 Tage Ferien hat. Ausserdem wurde erwähnt, dass der Lehrling bei der Krankenkasse KONKORDIA für Pflege und ärztliche Behandlung versichert sein muss und die Bezahlung der Prämie vom gesetzlichen Vertreter übernommen wird. Einen Teil des Lohnes musste ich jeden Monat meiner Mutter für Kost und Logis abgeben. Es war ein symbolisches Entgelt, das hauptsächlich aus erzieherischen Gründen verlangt wurde. Meine Eltern wollten mich auf die Realität des Lebens vorbereiten und mir damit klarmachen, dass ihre Unterstützung geschätzt werden soll, eine Lektion die heute vielen verwöhnten Jugendlichen vorenthalten wird.
Herr Schneebeli war ein älterer, sehr netter und etwas rundlicher Herr. Allerdings konnte er sehr resolut sein, was er aber eigentlich selten war. Meistens rauchte er Stumpen sodass man immer wusste wo er sich befand. Bei meinem Antritt in der Werkstatt meinte er ganz beiläufig, dass man in seinem Betrieb jeden Morgen mit vollem Bauch, sowie leerem Darm und Blase zur Arbeit erscheinen soll. Dann stellte er mich der ganzen Belegschaft vor und zeigte mir den Betrieb. Meine erste Arbeit war die Herstellung von „Haften“. Zuerst wurden etwa 6 cm breite Blechstreifen geschnitten. Davon schnitt man etwa 4 cm breite Stücke, die dann auf der Abbiegemaschine gefalzt wurden. Einmal gefalzt wurden in die „Hafte“ mit einer Lochstanze drei kleine Löcher gemacht. Es war eine einfache Arbeit die mich ins Handwerk des Spenglers einführen sollte. Die Werkstatt war etwa gleich gross wie die meines Vaters und war kaum fortschrittlicher eingerichtet, was mich anfangs ein bisschen enttäuschte. Sie hatte Fenster auf drei Seiten, was ein angenehmes Arbeiten mit natürlichem Licht erlaubte. Dafür hatte das Lager, das auch als rudimentärer Umkleideraum diente, keine Fenster und war bei Stromausfall deshalb stockdunkel. Die einzige Toilette, ohne Handwaschbecken, befand sich in der Mitte des Magazins zwischen den Gestellen mit GF Fittings und anderem Kleinmaterial. Alles war äusserst eng und das WC genauso unappetitlich und unhygienisch wie das im „Eckstein“ bei uns zu Hause. Wieder konnte ich nicht verstehen, dass der Berufsstolz eines Lehrmeisters es nicht zuliess auch im eigenen Haus ein präsentables WC zu installieren. Ich fand die Situation beschämend, aber ausser mir dies schien niemand zu stören.
Dann wurde ich meinen Arbeitskollegen vorgestellt: Zuerst Herr Eigenmann, ein eigensinniger und ruppiger Mann der oft eine schlechte Laune hatte, meistens schlecht rasiert war und seinem Namen alle Ehre machte. Er hatte eine Brille mit runden Gläsern und machte vor allem Spengler Arbeiten. Als Spengler-Lehrling war ich deshalb oft mit ihm zusammen und arbeitete trotz seinem unberechenbaren Charakter immer gerne mit ihm. Andererseits hatte er öfters Spannungen mit Herr Schneebeli der seine ungehobelte Art gar nicht schätzte, aber vor allem wenn er mit einer „Fahne“ zur Arbeit kam. Natürlich war ein alkoholisierter Mitarbeiter nicht nur ein Risiko auf dem Bau, sondern auch für mich, besonders wenn an einem solchen Tag an einem grossen Bauernhaus Dachrinnen ersetzt werden mussten. Damals arbeitete man ohne Baugerüst und so wurde zuerst die grosse Auszugs-Leiter an den Dachrand gestellt, dann ging man ohne Sicherheitsseil aufs Dach, entfernte auf der ganzen Länge die Ziegel, demontierte die alte Rinne, ersetzte sie mit einer Neuen und deckte das Dach anschliessend wieder zu. Während der ganzen Arbeit balancierten wir auf dem Dachrand wie Akrobaten im Zirkus. Allerdings durfte man nicht an Schwindel leiden und sich nicht fragen in was für einem Zustand die hölzernen Balken und Querlatten waren. Heute würde diese Arbeit niemand mehr ohne Baugerüst machen, aber dazumal gab es keine Sicherheitsvorschriften und die Bauern hätten das Geld für ein Gerüst nicht ausgeben wollen. Einmal mussten wir am Kirchturm in Wädenswil eine Reparatur machen. Ohne Bedenken stiegen wir in dem sehr spitzen und steilen Turm ganz hinauf bis zu einer kleinen Lukarne. Dort zwängten wir uns hindurch und liessen uns aussen an einem Seil bis zum Turmvorsprung hinunter, also zu dem Ort wo die Reparatur gemacht werden musste. Man hatte eine wunderbare Aussicht über Wädenswil und den See. Natürlich musste man aufpassen, dass man die Werkzeuge immer fest in den Händen hatte. Ich arbeitete immer mit der Angst, dass mir bei einer ungeschickten Bewegung etwas aus der Hand gleiten könnte. Das Werkzeug wäre dann in die Tiefe gefallen und hätte dabei vielleicht eine vorbeigehende Person treffen können. Damals wurde das Gelände darunter nicht abgesperrt. Erst später wurde mir bewusst wie gefährlich diese Arbeiten immer waren und dass mich ein Schutzengel während der ganzen Lehrzeit beschützt haben musste.
Ein weiterer Arbeiter war Herr Kälin. Er war ein ruhiger und besonnener Mann denn ich sehr schätzte. Er kam ursprünglich aus Einsiedeln und so hatten wir etwas gemeinsam: wir kamen aus dem gleichen Kanton, dem Kanton Schwyz. Er war geduldig mit mir, war bereit für Dialoge und so habe ich mit ihm sehr viel gelernt. Allerdings war da etwas das ihn ausserordentlich irritieren konnte. Immer wenn er jemand französisch sprechen hörte begann er über diese „blöden Welschen“ zu schimpfen und zu fluchen. Oft fragte ich ihn oft wieso er eine solch heftige Aversion gegen französisch sprechende Leute habe. Aber ich erhielt nie eine klare Antwort, er konnte sie einfach nicht ausstehen. Vielleicht war es einfach nur Frust, weil er sie nicht verstehen konnte. Auch mit ihm machte ich meistens Spengler Arbeiten, oft auf Bauernhöfen ausserhalb von Wädenswil. Eine grosse und interessante Baustelle war das Hotel Au, wo wir alle Spengler-Arbeiten machen durften. Meistens fuhren wir mit unseren Fahrrädern auf die Baustelle, was im Sommer immer eine herrliche Abwechslung war. Einmal aber war ich mit ihm auf einer winterlichen Baustelle. Wir mussten an einem Neubau auf dem Hirzel Dachrinnen montieren. Es war Dezember und es hatte in der Nacht geschneit. Das Dach war mit Schnee bedeckt und auch auf dem Gerüst hatte es etwa 20 cm Schnee. Aber der Auftraggeber verlangte, dass die Arbeit noch vor Weihnachten abgeschlossen sein musste. So machten wir uns an die Arbeit. Aber es war nicht nur kalt, sondern äusserst gefährlich. Man musste aufpassen, dass man nirgends ausrutschte und bald konnten wir mit den halb erfrorenen Fingern kaum mehr etwas arbeiten. So entschied Herr Kälin die Werkzeuge einzupacken und nach Hause zu fahren. Ich war froh über seine vernünftige Entscheidung und seinen Mut die Arbeit abzubrechen. Zurück in der Werkstatt musste auch Herr Schneebeli gestehen, dass es bei solchen Witterungsverhältnissen unverantwortlich war auf ein Gerüst zu steigen und damit einen Unfall zu riskieren.
Schliesslich war da noch ein weiterer Arbeiter, einen den ich überhaupt nicht ausstehen konnte. Er war Sanitär Installateur und so hatte ich eigentlich nichts mit ihm zu tun. Doch manchmal musste ich trotzdem mit ihm auf den Bau. Einmal waren wir auf einer Baustelle und installierten galvanisierte Rohre für eine Kaltwasserleitung. Er wollte, dass ich unten im Keller an der Werkbank seine „Bestellungen“ ausführte, also Rohre auf Mass zuschneiden und mit den jeweiligen Fittings bereit zu stellen. Er zeigte mir keine Montagepläne und weihte mich auch nicht in die Arbeit ein. Nach einer Weile kam ich mir wie ein Roboter vor und so getraute ich mich ihn zu fragen wo die Rohre installiert würden. Gehässig erwiderte er, dass mich dies nichts angehe und ich gefälligst weiter Rohre nach Mass zuschneiden soll. Da packte mich eine so unsagbare Entrüstung, dass ich das Werkzeug hinlegte und mit dem Fahrrad in die Werkstatt zurückfuhr. Sofort ging ich zum Lehrmeister und sagte ihm, dass ich mit diesem Arbeiter nicht mehr zusammenarbeiten möchte. Ich unterstrich, dass ich weder ein Roboter noch der Handlanger dieses Arbeiters sei, sondern eine Lehre absolviere und somit wenigstens das Recht habe zu wissen für was ich die Rohre vorbereitete. Zu meinem Erstaunen wurde meinem Wunsch sofort entsprochen. Damals war es nicht üblich, dass ein Jüngling in meinem Alter gegen einen Erwachsenen rebellierte und so war ich schliesslich fast ein wenig beschämt über meinen Mut. Aber ich hatte es geschafft und der Arbeiter liess mich in Ruhe.
Neben den Arbeitern gab es noch zwei weitere Lehrlinge im Betrieb. Da waren Werner, der bei meiner Ankunft die Lehre schon fast hinter sich hatte und der Fritz der etwas älter war als ich. Fritz und ich waren oft zusammen, diskutierten über alles Mögliche und hatten es lustig zusammen. An einem regnerischen Tag waren wir unterwegs zu einer Baustelle. Ich hatte einen Regenschutz und eine Mütze, doch der gute Fritz hatte nichts dergleichen und war voll dem Regen ausgesetzt. Nach einer gewissen Zeit entwickelte sich auf seinem Kopf ein dichter, weisser Schaum sodass man seine Haare kaum mehr sah. Ich fand dies seltsam und machte ihn darauf aufmerksam. Doch das Phänomen schien ihn nicht zu beunruhigen und so meinte er total entspannt, dass er am Morgen nach der Dusche wohl vergessen hätte seine Haare nach dem Waschen zu spülen. Fritz war unbeschwert und brachte mich immer wieder zum lachen. Um 12.00 Uhr stiegen wir jeweils die Treppe hinauf zur Wohnung des Lehrmeisters, wo wir jeweils im Kreise seiner Familie das Mittagessen einnehmen durften. Ich schätzte das gemeinsame Essen sehr, denn Frau Schneebeli kochte nicht nur sehr gut, sondern erlaubte Gespräche die man bei der Arbeit nicht führen konnte. Zudem hatten wir immer eine warme Mahlzeit und mussten nicht in der Werkstatt ein kaltes „Eingeklemmtes“ essen. Leider starb Herr Schneebeli ganz unverhofft während meinem 2. Lehrjahr. Frau Schneebeli und ihre Tochter führten dann den Betrieb eine Zeitlang weiter bis schliesslich Herr Samuel Blumer, ein junger, sehr netter und verständnisvoller Mann aus dem Glanerland den Betrieb übernahm. Aber nach dem Tod von Herrn Schneebeli fand das Privileg im Hause zu essen leider ein Ende und wir mussten eine andere Lösung finden. Fritz schlug vor es in der Arbeiter-Kantine der Metallwarenfabrik Blattmann an der Zugerstrasse zu versuchen. Und so fuhren wir schliesslich jeden Tag und bei jedem Wetter die Zugerstrasse hinauf und stärkten dabei unsere Beinmuskeln. Bei allzu schlechtem Wetter begnügten wir uns allerdings mit einem Joghurt und Studentenschnitten aus der MIGROS. Als Fritz die Lehre beendet hatte, kam ein neuer Lehrling dazu. Er hiess Bruno und war ein Junge der mich jeden Tag von neuem extrem nervte. Er stellte sich immer äusserst provokativ dumm und so wusste ich nie ob er wirklich so heillos blöd war oder ob er dies nur vorspielte. Da ich nun der ältere Lehrling war erwartete man von mir, dass ich mich Bruno annahm und ihm bei den Aufgaben half. Doch meistens war meine Mühe erfolglos, er kapierte nichts. Er war für mich ein frustrierender, hoffnungsloser Fall und bockig wie ein Esel.
Einmal pro Woche musste ich in die Berufsschule, die glücklicherweise auch in Wädenswil war. Bald fand ich drei Kollegen mit denen ich mich gut verstand. Wir wetteiferten zusammen und so nannten uns die anderen Lehrlinge bald „Streber“; aber das war uns egal. Da war der Claus Freiman aus Pontresina, der Bruno Knecht aus Meilen und der Hansruedi Fenner aus Zumikon. Da mich Zeichnen und Geometrie schon in der Schule begeistert hatte, waren diese Stunden für mich immer sehr bereichernd. Es machte mir grossen Spass Abwicklungen (Darstellende Geometrie) zu zeichnen, zum Beispiel von Rinnenwinkeln, Rinnenkesseln, gebogenen Fallrohren (Gliederbogen oder Schwanenhälse) und komplizierten Lüftungskanälen. Natürlich wetteiferten wir vier „Streber“ und jeder wollte jeweils als Erster mit der Aufgabe fertig sein. Jede Woche spornten wir uns erneut an und das zahlte sich auch immer mit guten Noten aus. Da Claus während der Woche nicht nach Hause konnte und seine Eltern ihm deshalb ein Zimmer in Wädenswil gemietet hatten, machten wir unsere Hausaufgaben manchmal zusammen. Einmal schlug er mir vor mit ihm ein Skiwochenende in Pontresina zu verbringen. Seine Eltern hatten ein Sportartikelgeschäft und wohnten in einem wunderbaren, alten Engadinerhaus was mich sehr beeindruckte. Ich fühlte mich geehrt bei seiner Familie und in diesem speziellen Hause ein Wochenende verbringen zu dürfen. Schon früh am nächsten Morgen starteten wir auf eine Skitour über die Fuorcla Surlej und dann hinunter nach Silvaplana. Obwohl es keine schwierige Tour war, hatte ich etwas Mühe dem trainierten Berggänger zu folgen und litt am nächsten Morgen an Muskelkater sowie Blasen an den Füssen.
Mein Weg zur Berufsschule führte mich am Musikgeschäft O. Hodel vorbei. Eines Tages sah ich im Schaufenster einen tragbaren Phonokoffer mit Verstärker der Marke „PHILIPS“ (Model AG 9146). Der Plattenspieler hatte eine sehr elegante und kompakte Form, war grau und hatte einen weinroten Plattenteller. Sofort war ich in dieses Gerät verliebt und hätte es am liebsten gleich mitgenommen. Doch leider fehlte mir das nötige Geld. So blieb mir keine andere Wahl als mit viel Geduld monatelang zu sparen und zu hoffen, dass mir während dieser Zeit niemand das Gerät wegschnappte. Endlich war es soweit, am 29. Juli 1958 hatte ich das Geld zusammen und ich konnte mir den Wunsch erfüllen. Es war meine erste „grosse“ Anschaffung und so war ich überglücklich das schöne und moderne Gerät endlich zu besitzen und ihn zu Hause meiner Familie vorzuführen. Ich hatte ihn mit dem eigenen, ersparten Geld gekauft und so war er für mich der wertvollste, schönste und beste Plattenspieler der Welt.
(1) Mein mit viel Verzicht ersparter Plattenspieler
Endlich konnte ich meine, bis anhin wenigen, Schallplatten (Schellackplatten) zu Hause anhören. Zu den ersten Schlager-Platten, die ich mir schon vorher erstanden hatte, gehörte „Diana“ von Conny Froboess, „Mit siebzehn“ von Peter Kraus, „O sole mio“ von Elvis Presley, „Pigalle (Die grosse Mausefalle)“ von Bill Ramsey, „Mustapha“ von Bob Assam, „Hirtenblues“ mit Gabriele und „Banjo Boy“ mit Jan und Kjeld. Dann erwachte mein Interesse für Jazz und so kaufte ich Songs von Louis Amstrong, Mahalia Jackson, Duke Ellington und weitere sowie den Sound Track von „Porgy and Bess“. Ich hörte mir die Platten hunderte von Malen nacheinander an, meistens sehr laut, sodass mein Vater einschritt und der Monotonie, sowie der Lautstärke, ein Ende setzte. Nach meiner Lehre und nachdem ich in Zürich einen Tanzkurs absolviert hatte, kaufte ich hauptsächlich Platten mit Tanzmusik wie Rock and Roll, Cha-Cha-Cha, Samba, Charleston (Firehouse 5 plus 2), aber auch Walzer und sogar Ländler der Kapellen „Alpengruess“, „Echo vom Matterhorn“ und natürlich „Hugo Bigi“. An Geburtsfeiern und kleinen Partys war ich mit meinem tragbaren Plattenspieler und meiner kleinen aber abwechslungsreichen „Plattensammlung“ deshalb immer gerne willkommen. Neben all der rassigen Musik fehlten aber auch die banalen, aber tiefsinnigen Lieder von Mani Matter nicht. Seine äussert fein gereimten Texte beeindruckten und faszinierten mich ausserordentlich und begeistern ja noch heute viele Leute.
Auf dem Weg entlang der Bahnlinie vom Bahnhof Wädenswil bis zur Arbeit kam ich jeden Tag bei einem Barrieren-Häuschen vorbei. Die Barriere wurde von Frau Iten, einer älteren Dame bedient. Als sie erfuhr, dass ich aus Lachen kam entstand sofort eine Art Vertrauen, denn auch sie kam aus dem Kanton Schwyz. Da man uns Schwyzer sofort an unseren Dialekt erkannte, hörte man oft die Bemerkung: „Schau mal, schon wieder einer aus dem Kanton Mord und Totschlag“. Damit wurde einem jedes Mal erneu bewusst, dass man eben kein Zürcher war. Und so freute ich mich jeden Tag sie erneut zu sehen und mit ihr ein paar Worte in unserem Dialekt zu wechseln oder unseren täglichen Frust und Ärgers los zu werden.
Die tägliche Fahrt mit der Bahn von Lachen bis Wädenswil dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Obwohl ich zu Weihnachten einen Wecker bekommen hatte, musste mich meine Mutter immer jeden Morgen noch zusätzlich aus dem Bett holen. Immer musste ich pressieren und hatte dann kaum Zeit das Frühstück in aller Ruhe zu geniessen. Oft rannte ich mit dem „Gomfibrot“ in der Hand wie ein Wilder die Treppen runter und dann die mittlere Bahnhofstrasse hinauf. Auch Evi Mächler fuhr jeden Morgen mit diesem Zug Richtung Zürich. Auch sie musste immer rennen. Wenn ich ihre wehenden Kleider an der Ecke des Restaurants Schützenhaus sah, dann wusste ich, dass es sehr spät war. Meistens wartete ich auf sie und drängte sie dann mit ziehen und stossen die Bahnhofstrasse hinauf um den Zug nicht zu verpassen. Einmal oben beim Bahnhof musste man aufpassen, denn einmal so richtig im Schuss bestand die Gefahr die erste Stufe der Treppe hinunter zur Unterführung zu verfehlen und schliesslich hinunter zu stürzen. Natürlich waren wir immer die Letzten und mussten deshalb oft auf den fahrenden Zug aufspringen.
Hatten es Evi und ich schliesslich in den Zug geschafft und sogar einen Sitzplatz auf den harten Holz-Bänken ergattert, kam der erlösende Moment um sich auszukeuchen. Dies dauerte meistens bis fast nach Pfäffikon und so waren wir während dieser Zeit kaum fähig miteinander etwas zu sprechen. Aber immer, wenn Evi ihre Handtasche schliesslich öffnete wusste ich, dass sie den Spurt überlebt hatte und wieder reden konnte. Langsam packte sie ihren Schmuck aus ihrer Tasche und begann sich mit immer noch raschem Atem fertig herauszuputzen. Zuerst kamen die Fingerringe, dann die Halskette und zum Schluss die Uhr. Das ganze Ritual wiederholte sich jeden Tag von neuem und endete erst in Horgen als es Zeit war für sie auszusteigen. Auf dem Rückweg habe ich Evi nie getroffen, dafür andere Bekannte aus dem Dorf oder Siebnen. Da wir damals noch nicht von Musik aus Kopfhörern und IPhone’s abgelenkt wurden, hatte man noch Zeit während der täglichen Fahr miteinander zu plaudern. Ich träumte schon damals von der grossen weiten Welt und so teilte ich meine Luftschlösser mit Lisbet Krieg, die ich oft im Zug traf. Auch sie hatte Träume, aber sie hatte sich damals schon fest für Australien entschieden. Wir versprachen unsere Illusionen auch wirklich umzusetzen und dies auch zu beweisen. Sie versprach mir ein Känguru und ich ihr einen Elefanten aus Afrika. Das Versprechen mit den Tieren war natürlich nur symbolisch gemeint, aber das hielt uns beide nicht davon ab unsere Träume tatsächlich zu realisieren und seither in Kontakt zu bleiben.
Ich sprang nicht nur auf die anfahrenden Züge, sondern auch jeweils von der Treppe lange bevor der Zug richtig angehalten hatte. In dieser Disziplin war ich sehr stark und so war dies immer ein echter Adrenalin-Kick. Aber einmal hätte es fast schiefgehen können. Es war an einem Abend im Dezember auf der Rückkehr nach Hause. Wieder einmal war ich äusserst spät auf dem Bahnsteig erschienen und erwischte nur noch den letzten Wagen. In meiner Hetzerei hatte ich nicht bemerkt, dass es ein Schnellzug war und dass es im letzten Wage gar kein Licht hatte. So stand ich nun total überrascht auf dem Trittbrett vor einer geschlossenen Türe. Da der Zug bereits eine gewisse Geschwindigkeit hatte und der Perron mit Schnee bedeckt war, getraute ich mich nicht mehr abzuspringen. Also hatte ich keine andere Wahl als mich bis zur nächsten Station im Fahrwind und der eisigen Kälte an die Tür falle zu klammern, wobei mir mein Schutzengel aber ohne Vorwürfe beistand. Dieses gefährliche Abenteuer hatte mich erheblich eingeschüchtert, aber mein gewohntes Verhalten immer in der letzten Minute am Bahnhof zu erscheinen, leider kaum nachhaltig verändern können.
Am Abend oder übers Wochenende half ich meiner Mutter bei den Büroarbeiten und tippte für sie die Rechnungen sowie andere Dokumente. Bald merkte ich aber, dass ich mit meinen zwei Fingern viel zu ineffizient war. So meldete ich mich spontan bei der Papeterie Schnellmann um in einem ihrer Kurse das Zehnfinger-System zu erlernen. Da ich tagsüber arbeitete, besuchte ich einen Abendkurs. Die Kurs-Schreibmaschinen hatten abgedeckte Tasten und so waren die ersten Schreib-Übungen anfangs ziemlich frustrierend. Doch das Hirn hatte die entsprechenden Tasten bald registriert und mit ein bisschen Übung beherrschte man das System eigentlich ziemlich rasch. Um zu Hause nicht immer auf der Schreibmaschine meiner Mutter üben zu müssen, kaufte ich mir dann mit meinem bescheidenen Lohn eine rote, portable „Hermes Baby“, die mir viele Jahre gute Dienste leistete und auf die ich sehr stolz war. Damals hätte ich nicht gedacht, dass mir dieser Kurs später von grossem Nutzen sein würde und mir den Einstieg in das Computer-Zeitalter sehr erleichterte.
Zu dieser Zeit ertranken immer wieder Leute im See. Darum fand ich es wichtig zu wissen was bei einem Notfall zu tun war und absolvierte einen Rettungsschwimmkurs. Dieses Wissen gab mir anschliessend den Auftrieb noch einen Samariterkurs zu machen und somit zu wissen wie man bei anderen Unfällen behilflich sein konnte. Da man immer wieder Neues dazu lernen konnte, blieb ich bis am Ende meiner Lehrzeit im Samariterverein aktiv.
Natürlich blieb ich während der Lehrzeit auch dem Turnverein treu, ging regelmässig zum Training und nahm bei Nachwuchswettkämpfen teil. Zudem kreierte ich einmal für das Turner-Chränzli einen Charleston-Auftritt zusammen mit der Damenriege, etwas das bis anhin undenkbar gewesen war. Der Turnverein bestand wohl aus Männer- und Damenriege, aber ein gemeinsames Training in der Turnhalle war einfach tabu. So mussten wir unsere Choreographie immer im Geheimen oder abends nachdem die Männerriege aus der Turnhalle verschwunden war repetieren. Natürlich war unsere Heimlichtuerei ein Risiko für die Verantwortlichen des Turnvereins und so war unser Auftritt bereits im ersten Programm-Teil des „Chränzlis“, gleich nach den „Pyramiden“ und den „Medizinball-Übungen, vorgesehen. Sollte sich unsere Nummer als eine „Niete“ herausstellen, hätte man sie einfach aus dem Programm streichen können. Aber es kam ganz anders denn schon bei der Hauptprobe rieben sich die Verantwortlichen die Augen und als uns das Publikum schon am ersten Abend mit einem riesigen Applaus beglückte, wurde unser Auftritt im Programm in den gemütlichen zweiten Teil als Schlussnummer gewechselt, also zur Krönung des Abends. Und bei diesem Auftritt überraschte uns das Geschwister Erika und Emil Mächler mit einem nicht vorgesehenen und bisher nicht offiziell geübten Sprung. Währen bis anhin die Männer die Mädchen zu Sprüngen verhalfen, übernahm Erika diese Aufgabe und schwang ihren Bruder in der Luft, sodass er sich wie ein Zirkus-Künstler über ihr in der Luft drehte. Der ganze Saal tobte vor Begeisterung. Plötzlich waren sie gefeierte Stars des Abends und wir alle genossen den Applaus unermesslich.
Emil war schon einmal ein Star gewesen und zwar im Kino Lachen als ihn ein Hypnotiseur auf die Bühne rief. Vor ihm waren schon einige Leute auf der Bühne, aber die meisten reagierten auf die Anweisungen des Hypnotiseurs nur bedingt und so schickte er sie immer wieder in den Saal zurück. Emil aber war sofort unter seiner Kontrolle und er konnte mit ihm machen was er wollte. Als er Emil sagte es sei äusserst kalt im Saal schien sich dieser tatsächlich kalt zu fühlen. Nachdem man ihm sagte es sei heiss im Raum begann er zu schwitzen und sich die Kleider auszuziehen. Dann wurde sein ganzer Körper so steif, dass man ihn wie ein Brett auf zwei Stühle legen konnte und er wie zu einer Bank wurde. Erst glaubte ich die ganze Show sei mit dem Hypnotiseur abmacht gewesen, aber Emil verneinte immer energisch.
Ich ging nicht oft ins Kino in Lachen, denn mir fehlte wie immer das nötige Geld. Dafür ging ich manchmal nach Rapperswil ins Kino „Leuzinger“. Bei meinen Ferien-Aufenthalten in Arcegno hatte ich die Tochter des Besitzers kennen gelernt und so konnte ich bei ihr immer eine kleine Reduktion auf die Eintrittskarte erwarten.
Ende 1958 schlug mir Karl Benz vor im damals Nobel-Ort Mürren Skiferien zu machen. Zuerst fand ich seine Idee absurd und dass wir zudem mit 18 Jahren noch viel zu jung für diese Art von Ferien seien. Aber dann erklärte mir Kari woher seine Idee kam. Er war ein Jahr nach mir im Institut „Clos-Rousseau“ in Cressier gewesen und hatte dort einen Freund kennen gelernt dessen Eltern das Hotel Eiger in Mürren führten. Der Hotelbesitzer offerierte uns einen „Januar-Loch-Pauschalpreis“ von 15.00 Franken pro Person und Tag im Doppelzimmer. Dies mag heute lächerlich billig scheinen, aber damals mit einem sehr kleinen Lehrlingslohn für uns doch unbezahlbar. So legten wir den Ferienplan unseren Eltern vor und baten um finanzielle Unterstützung. Mein Vater konnte sich vor Entrüstung kaum beherrschen. Er hätte sich weder als Lehrling noch später als Berufstätiger solche Ferien leisten können und überhaupt sei es eine Frechheit an Ferien zu denken bevor meine Lehre abgeschlossen sei und ich sie zudem nicht einmal selbst berappen könne. Weiter meinte er ich würde nicht so hart arbeiten wie er und somit gar keine Ferien verdienen. Deshalb war er nicht bereit uns zu unterstützen und „basta“! Bei den Eltern von Kari wurde die Idee Skiferien in Mürren zu verbringen nicht enthusiastischer aufgenommen, aber sie schienen etwas kompromissbereiter. Nachdem die Eltern des Freundes in Mürren ihnen versprochen hatten auf uns aufzupassen und für unsere Sicherheit zu sorgen, willigten die Eltern von Kari ein.
Nun blieb aber die Frage wie bezahlen. Frau Benz schlug vor, dass Kari als Gegenleistung am grossen Maskenball im Bären während der ganzen Nacht die Kaffeemaschine bedienen soll. Auch für mich hatte sie eine Arbeit. Sie schlug vor, dass ich die ganze Nacht Zigaretten verkaufen soll und damit das fehlende Geld verdienen könne. Dieser Vorschlag kam bei meinen Eltern gar nicht gut an. Diese Buben sollen während der ganzen Nacht dem unsittlichen Fasnachtstreiben ausgeliefert werden und ich zudem noch ungesundes Nikotin verkaufen? Ist das gesetzlich überhaupt erlaubt wollten sie wissen? Während mein Vater stur blieb wurde meine Mutter einsichtiger und erlaubte mir mit viel Mut das nächtliche Geldverdienen unilateral. Und so war Kari die ganze Nacht an der Kaffeemaschine und ich zirkulierte mit einer umgehängten Zigaretten Auswahl und einer grünen Mütze mit der goldenen Aufschrift „Saint Laurent“. Natürlich war diese Arbeit sehr fremd für mich, aber nach einer gewissen Zeit verlor ich die Scheu und das Geschäft lief ganz gut. Nach Mitternacht erschienen plötzlich äusserst aufgetakelte Damen. Sofort entwickelte sich Unruhe im ganzen Saal und einige schrien: „Raus mit diesem Schwulen-Pack“. In meiner Naivität wusste ich nicht was los war und musste mich erst bei Frau Benz erkundigen. Sie sagte es seien Travestien, also verkleidete Männer, aus Zürich. Ich konnte dies erst nicht glauben, denn sie sahen genauso aus wie Frauen. Zudem waren sie nicht maskiert, dafür ausserordentlich auffällig geschminkt. Erst als ich ihre tiefen Stimmen hörte wurde mir bewusst, dass Frau Benz recht haben musste. Natürlich verschwieg ich meiner Mutter diese sündige Beobachtung und legte mich am darauffolgenden Morgen mit dem Vorwand grosser Müdigkeit nach dieser Freinacht sofort ins Bett. Da wir das nötige Geld nun zusammen hatten fuhren wir am 21. Januar 1959 für eine Woche nach Mürren. Es waren herrliche Tage und ich genoss das erste Mal die Unterkunft und das Essen in einem noblen Hotel. Nur zu früh mussten wir aber nachher wieder zurück unter den Nebel zur Arbeit.
(2) Winterferien in Mürren
Anfangs Sommer 1959, also im letzten Lehrjahr, zirkulierte bei Turnkollegen plötzlich die Idee einer Velotour ins Tessin. Obwohl ich in diesem Jahr volljährig wurde, waren meine Eltern natürlich gar nicht begeistert. Irgendwie schaffte ich es aber doch sie zu überzeugen, dass wir nichts Dummes anstellen würden. Am 1. August war es dann soweit und zu fünft nahmen wir die neuntägige Reise unter die Räder (Hermann Mäder, Röbi Mächler, Tony Hüppi und ich). Zum Glück hatte ich das Training im Turnverein nur selten geschwänzt und so fühlte ich mich fit für dieses Abenteuer. Natürlich war es mit den damaligen Fahrrädern nicht so leicht wie heute und so mussten wir bei steilen Strassen halt manchmal zu Fuss gehen. Aber das machte uns nichts aus, schliesslich wollten wir in erster Linie die Schweiz kennen lernen. Es war erstaunlich wie schnell wir das Tessin erreicht hatten. Da der Sommer sehr heiss war hatte ich nach der Ankunft auf einem Zeltplatz bei Maroggia, in der Nähe von Melide, keinen anderen Wunsch als sofort ein Sprung in den kühlen Luganer See. Und so sprang ich ohne etwas zu überlegen ins Wasser. Leider war an dieser Stelle der See nur ungefähr 30 cm tief und so endete mein Sprung sofort auf dem Grund. Gleichzeitig schaufelte ich mit meinem offenen Mund wie ein Bagger Kies und Erde vor mir her. Als ich auftauchte spuckte ich erst einmal den ausgehobenen Seegrund aus dem Mund und merkte dabei, dass ich an der Oberlippe sehr blutete. Beschämt über meine Dummheit kehrte ich zum Zelt zurück und zeigte meinen Kollegen die grosse Schnittwunde. Sie meinten ich müsse sofort zum Arzt gehen und die Wunde nähen lassen. Eigentlich hatten sie ja recht, aber leider war bei mir das nötige Geld nicht im Geldsäckel. Und so blieb ich die nächsten Tage mit einem grossen Pflaster im Gesicht der grossen Zeltplatz-Masse fern. Als wir uns von den vielen Kilometern und dem schmerzenden Hintern ein bissen erholt hatten, schloss sich noch Otto Feldmann unserer Gruppe an. Er war mit seinem Töff über den Gotthard ins Tessin gefahren. Dann zogen wir zusammen weiter nach Brusino und schlugen unsere Zelte schliesslich in Riva S. Vitale auf. Dort hatten wir drei ausserordentlich nette und hübsche Mädchen als Zeltnachbarn, die Evi, Gabi und Susi.
(3) In Riva S. Vitale
Vielleicht wollten wir sie mit unserer Männlichkeit beeindrucken, denn wir entschlossen spontan von da noch zusätzlich eine Tages-Rundfahrt via Varese nach Como zu machen. Diese Fahrt war viel anstrengender als wir erwartet hatten und so konnten wir sie am Abend nicht in jubelnder Frische begrüssen. Da die Ferien zu Ende gingen blieb uns nichts anderes übrig als am nächsten Morgen die Zelte abzubauen und mit müden Beinen die Heimreise anzutreten. Die Motivation war damit allerdings weit nicht mehr so gross wie am Anfang der Reise und so entschlossen wir zu prüfen ob das restliche Feriengeld noch für die Bahn durch den Gotthard reichen würde. Und es reichte und damit endete unsere Reise ins Tessin, trotz kopflosem „Chöpfler“ in den Luganer See, mit vielen schönen Erinnerungen.
(4) Auf dem Weg ins Tessin
Schon in der Sekundarschule wurde man ermutigt sich körperlich zu betätigen und die Sport-Kurse des Vorunterrichts zu besuchen. Der Vorunterricht war die Schweizer Institution für freiwillige, militärisch-sportliche Körperertüchtigung zwischen der obligatorischen Volksschule und der Rekrutenschule, also für männliche Jugendliche im Alter zwischen 16 und 20 Jahren. Natürlich war ich auch da jede Woche beim Training dabei. Meine persönlichen, sportlichen Leistungen wurden regelmässig geprüft und im „Eidgenössischen Leistungsheft“ eingetragen. Ich hatte immer gute Leistungen (die in Punkten gewertet wurden) und so bekam ich im Jahre 1959 von der kantonalen Amtsstelle für Vorunterricht in Schwyz sogar eine Silberne Auszeichnung. Die Grundschule des Vorunterrichts bestand aus Laufen, Springen, Werfen und Klettern oder Reckturnen. Dazu kamen Wahlfachkurse wie Wandern, Schwimmen, Skifahren und Orientierungsläufe. Die Orientierungsläufe, die ich besonders liebte, fanden nicht nur in unserer Gegend statt, sondern auch als Wettkämpfe in Schwyz, Wädenswil und Zürich statt. Mit dieser Erfahrung hatte ich es später bei Übungen im Militärdienst natürlich viel einfacher.
(5) Die Leistungshefte der körperlichen Ertüchtigung
Anfangs Januar 1960 wurde auf der Rigi-Scheidegg/Kräbel ein kantonales Vorunterrichts-Skilager abgehalten, für das sich 47 Burschen angemeldet hatten. Ich freute mich riesig auf die paar Tage im Schnee. Mit der Rigi-Bahn ging es schon am 1. Januar von Goldau bis zur Station „Kräbel“ und von dort in 8 Minuten mit der Schwebebahn zur „Kräbel-Scheidegg“. Die Schneeverhältnisse waren ausgezeichnet, doch zu meiner Enttäuschung gab es damals weder eine Ski-Piste noch Skilifte und das Gelände zum Ski fahren eigentlich sehr limitiert. Zudem war die SJH-Hütte nicht bezugsbereit und so verbrachten wir in die erste Nacht in einer äusserst improvisierten Unterkunft, die wir „Lufthütte“ oder „Moulin Rouge“ nannten. Der behelfsmässige Unterschlupf gehörte einem Fabrikanten aus Zürich, der nebenan sein Ferienhaus hatte. Er war sich offensichtlich des notdürftigen Nachtlagers bewusst und spendierte uns grosszügig so viel Bier, dass sich einige total betranken. Da die Leiter des Kurses bei der Sauferei voll dabei waren, fragte ich mich bald ob dies wohl auch zur Körperertüchtigung gehörte? Aber vielleicht war es einfach eine Möglichkeit gewesen um uns die miese Schlafstelle und die dort herrschende Kälte erträglicher zu machen. Am nächsten Tag wurde dann ein Teil der Gruppe in die Jugendherberge „Rigihüsli“ umquartiert und erst am dritten Tag konnten alle ins Berggasthaus umziehen wo uns ein Massenlager zur Verfügung stand. Jede Nacht schneite es sehr stark und so musste jeden Morgen erneut eine Piste erstellt werden. Bei einer Fahrt im tiefen, schweren Schnee verlor ich die Kontrolle über meine Skier. Nachdem ich wieder aufrecht stand und weiterfuhr, bemerkte ein Lager-Kollege, dass Blut aus meinem rechten Ski schuh floss. Ich hatte beim Umfallen mit der Kante des linken Skis gegen mein rechtes Schienbein geschlagen und dabei nicht nur die Hosen durchschnitten, sondern alles auf dem Weg bis zum Knochen. Obwohl ich stark blutete, hatte ich keine Schmerzen. Trotzdem wurde ich sofort in die Seilbahn verfrachtet und zum Arzt in Goldau gebracht. Dieser nähte die Wunde und meinte anschliessend ich sollte wegen den aufkommenden Schmerzen sofort nach Hause fahren. Doch ich folgte seinen Weisungen nicht und zog es vor zurück auf den Berg zu fahren. Schliesslich wollte ich kein Feigling sein und den Schlussabend des Lagers fröhlich zusammen mit meinen Kollegen verbringen. Aber der Arzt hatte Recht gehabt, nach der Rückkehr auf dem Kräbel begannen die Schmerzen fast unerträglich zu werden und so verging mir die Lust mit den anderen übermütig zu feiern.
Gegen das Ende der Lehrzeit organisierten die Gewerbeverbände der Bezirke Horgen und Meilen einen Lehrlingswettbewerb. Natürlich wollte ich daran teilnehmen und hatte mich für die Kreation eines Schirmständers aus Kupfer entschieden. Er sollte die Form einer „Milchtanse“ (Taussä) haben, der Rand wellenförmig sein und mit unserem Familienwappen veredelt werden. Obwohl die Masse mit Sorgfalt gewählt waren und ich vorher sogar eine „Abwicklung“ gezeichnet hatte, überraschte mich schliesslich die Grösse des Objektes. Die Arbeit war plötzlich viel schwieriger als ich mir vorgestellt hatte. Als dann der Schirmständer Form angenommen hatte und ich ihn aufstellen wollte, stellte sich heraus, dass die Bodenfläche im Verhältnis zum Umfang der Öffnung zu klein bemessen war. Mit ein paar Schirmen beladen wurde er unstabil und kippte um. Um ihn feststehend zu machen musste sein Boden viel schwerer sein. Um dies zu erreichen erstellte ich ein Tropfwasser-Auffanggeschirr, das ich zur Hälfte mit geschmolzenem Blei füllte. Eingesetzt auf dem Boden des Schirmständers war die nötige Stabilität dann erreicht. Leider hatte ich durch die zusätzliche Arbeit viel Zeit verloren. Obwohl ich das Wappen bereits angefertigt hatte, gelang es mir nicht mehr unser Familienwappen darauf zu ziselieren und so montierte an dessen Stelle eine in aller Eile hergestellte, hässliche Rose. Damit war für mich der Schirmständer nichts anderes mehr als ein halbfertiges Werk, auf das ich nicht stolz konnte. Als ich dann zu all dem Übel noch bemerkte, dass meine Konkurrenten ähnliche Schirmständer der Wettbewerbskommission präsentierten, machte ich mir keine Hoffnungen mehr auf einen Preis. Aber ich hatte mich geirrt! Zu meiner grossen Überraschung wurde meine Arbeit mit dem 1. Preis ausgezeichnet und ich bekam eine Urkunde mit der Bemerkung „Sehr gut“.
(6) Mit dem eleganten Schirmständer den ersten Preis gewonnen
Im Herbst 1960 bestand ich die Lehrabschlussprüfung mit der Durchschnittsnote von 1.1. Trotz dieser Bestnote war ich nicht sicher ob sich mein Vater darüber freute, denn damals zeigte man seine Emotionen nicht.
(7) Zeugnis der Lehrabschlussprüfung als Spengler

(1) Unsere Santäre Klasse vor den Lehrwerkstätten Bern
Mit dem Fähigkeitszeugnis als Bauspengler in der Hand war ich nun kein Lehrling mehr. Als ausgebildeter Berufsmann hätte ich nun eine Stelle mit einem angemessenen Lohn suchen können, aber ich hatte ein anderes Ziel. Ich wollte so wie mein Vater anschliessend noch eine Zusatzlehre als Installateur für Gas und Wasser machen. Mein Vater hatte sich schon umgeschaut und eine ideale Lösung gefunden. Es war eine einjährige Zusatz-Lehre die teils aus einer praktischen Ausbildung bei der Firma Gerbrüder Jost in Bern und sechs Monaten intensiver Ausbildung in den Lehrwerkstätten der Stadt Bern bestand. Da mein Vater früher die Lehrwerkstätten auch besucht hatte, war er mit dieser Lösung sofort einverstanden. Laut Lehrvertrag mit der Firma Jost erhielt ich einen Stundenlohn von Fr. 1.80, was für mich im Vergleich zur Entlöhnung während der Lehre als Spengler, ein ganz stattlicher Betrag war.
Auch die Eltern von Hansruedi Fenner hatten sich für ein solches Arrangement entschieden und so beschlossen wir in Bern zusammen ein Zimmer zu mieten. Mit viel Glück fanden wir eine Unterkunft bei einer älteren Dame an der Zieglerstrasse. Sie wohnte alleine in einem grossen Haus und hatte zwei Hunde der Rasse „Spaniel“. Leider waren die Hunde ungepflegt und stanken meist penetrant, was oft unausstehlich war. Da man aber von ihrem Haus zu Fuss zur Arbeit gehen konnte, hatten wir keine Lust eine andere Unterkunft zu suchen. Es war das erste Mal, dass ich mich alleine behaupten musste und war daher froh, mit einem Kollegen zusammen zu wohnen. Am Freitagabend fuhren wir immer mit der Bahn nach Hause und kamen erst am Sonntagabend zurück. In Bern tranken wir auf dem letzten Stück Weg bis zu unserer Unterkunft meistens noch ein Bier im „Viktoriahall“ (Figähall), wobei der Grund des Wirtshausbesuches eigentlich immer nur die wunderschöne Serviertochter war. Später während der Ausbildung in den Lehrwerkstätten trafen wir auf der Rückfahrt am Bahnhof Zürich meistens Schulkollegen und so fuhren wir zusammen nach Bern. Auch mein Vetter Alfred und seine Freundin Vroni arbeiteten während der Woche in Bern und nahmen meistens den gleichen Zug für die Rückfahrt. Sonderbarerweise machte er nie den Vorschlag miteinander zu fahren und weil ich die beiden Verliebten nicht stören wollte fand ich keinen Anlass ihn dazu zu drängen.
Da unsere „Schlummermutter“ kein Essen im Haus anbot, mussten wir uns während der Woche immer in Restaurants verpflegen. Mein Lieblingsrestaurant war das „Bärenhöfli“ an der Zeughausgasse. Es war günstig und man konnte nachmittags immer herrliche „Oepfuchüechli“ essen. Das Frühstück machte jeder für sich im Zimmer. Beide hatten Wasserkocher (Tauchsieder) und so konnten wir uns morgens wenigstens einen heissen Tee oder am Abend eine Suppe zubereiten. Auch die Gewerbeschule besuchten wir zusammen und wurden erneut „Streber“ genannt. Zudem waren wir ja keine Berner und deshalb immer ein bisschen isoliert. Im Sanitär-Betrieb gab es solche Ausgrenzungen nicht und wir verstanden uns alle bestens. Herr Jost war Berner Burger und immer sehr freundlich mit allen. Einmal durfte ich sogar mit seiner Familie an einen „Burger“-Anlass im Casino. Das war für mich ein ganz spezielles Erlebnis und ich fühlte mich ausserordentlich geehrt in der noblen Gesellschaft.
Mein Vater erzählte mir von Verwandten die in Bern wohnten und riet mir sie nach meiner Ankunft zu kontaktieren, was ich dann auch tat. Sofort wurde ich freundlich in die grosse Familie aufgenommen und sogar an den 80. Geburtstag von Vater Schölly im Volkshaus eingeladen. An diesem Anlass lernte ich viele neue Leute kennen die mir den Aufenthalt in Bern anschliessend sehr angenehm und leicht machten. Besonders bei der Tante Hedy, die einen Schönheits-Salon führte, ging ich nach der Arbeit oft vorbei. Sie war immer fröhlich und wir hatten es lustig zusammen. Diese Familie machte es aus, dass ich mich in Bern nicht einsam fühlte.
Einer der Lehrlinge kam aus Kandersteg und hiess Peter. Im Januar 1961 lud er mich und einen weiteren Kollegen zu einer Skiwanderung über die „Rote Totz Lücke“ ein. Ich sagte sofort zu und freute mich auf das Wochenende in den Bergen. So ging es am Morgen des 15. Januar zuerst mit der Luftseilbahn von Kandersteg auf die Sunnbüel und von da in leichter Steigung Richtung Schwarenbach und Gemmi. Das Wetter war nicht besonders gut, der Himmel war teilweise bedeckt und es war sehr kalt. Trotzdem hielt Peter an seinem Plan fest. Doch bald wurde ihm bewusst, dass diese Wanderung zu dieser Jahreszeit ungeeignet war und so entschied er sich den Weg zur Lücke abzukürzen. Doch damit wurde der Aufstieg so steil, dass wir die Skier tragen mussten um uns im tiefen Schnee vorwärts zu bewegen. Es war so kalt, dass meine Handschuhe gefroren und ich meine Finger nicht mehr normal bewegen konnte. Als wir dann halb vereist die Lücke endlich erreichten, sahen wir vor uns eine flache Ebene. Ich freute mich, dass der äusserst mühsame Aufstieg endlich hinter uns war und dass es nun abwärtsging. Peter fuhr auf den Ski voraus und wollte, dass der etwas unsichere, zweite Kollege gleich hinter ihm fuhr und ich den Schluss machen sollte. Nach einigen Minuten fiel ich ohne Grund in den Schnee und hörte wie mein rechter (gefrorener?) Unterschenkel wie ein Eiszapfen brach. Peter wollte dies nicht glauben und sagte ich solle doch wieder aufstehen. Das machte ich dann auch und versuchte weiterzufahren. Doch mein rechtes Bein war nicht mehr stabil und gab knirschende Töne von sich und so war das schwächste Glied der Gruppe plötzlich ich. Erst fuhren wir zu dritt neben einander, ich mit angewinkeltem rechtem Bein in der Mitte und mich mit beiden Armen an sie klammernd. Doch dann wurde es plötzlich steil und diese Art von Transport war nicht mehr möglich. Zudem begann es zu schneien, es wurde Nacht und die Sicht wurde immer schlechter.
Nie in meinem Leben zuvor hatte ich mich so hilflos der Natur ausgeliefert gefühlt. Man konnte schreien wie man wollte, aber niemand konnte uns hören. Wir waren total alleine im Hochgebirge. Der Wind pfiff uns eisig kalt um die Ohren und alles war weiss um mich herum. Ich wollte sterben. Peter setzte mich windgeschützt hinter einen grossen Felsen und ging rekognoszieren. Nach einer Weile kam er zurück und meldete, dass er weiter unten am Hang eine Hütte entdeckt habe. Und so rutschten wir zu dritt, ich in der Mitte, auf unseren Hintern den Hang hinunter. Alles schien plötzlich noch weisser und man sah keine Konturen mehr. Man wusste nicht mehr wo man sich hinbewegte und die Situation wurde offensichtlich gefährlich. Ich war verzweifelt und schwor mir nie mehr in die Berge zu gehen, ja am besten sofort in ein Land zu ziehen wo alles flach war. Schliesslich erreichten wir die erspähte Hütte, aber sie war geschlossen. Nach langer Mühe hatten meine beiden Freunde die Türe aufgebrochen. Endlich waren wir in Sicherheit. Die Hütte gehörte scheinbar dem Militär und so fand man Brennmaterial um den Ofen zu heizen und Lebensmittel um uns zu stärken. Komischerweise hatte ich keine Schmerzen und so hörte ich meine Freunde immer wieder sagen ich hätte nichts gebrochen und simuliere nur. Sie kochten Suppe und heizten wie die Wilden den schlecht isolierten Raum. Mir schien als sei der Ofen glühend während ich vor Kälte auf dem harten Boden schlotterte. Da es damals keine Handys gab, konnten wir niemanden benachrichtigen und mussten einfach unser Schicksal abwarten.
Nach Mitternacht hörten wir Stimmen und tatsächlich näherten sich Leute der Hütte. Es war der Vater von Peter mit weiteren Bergführern. Sie hatten sich Sorge gemacht und schliesslich gehofft uns in dieser Hütte zu finden. Der Vater war übelgelaunt und beschuldigte Peter unüberlegt eine Frühlings-Tour mitten im Winter gemacht zu haben. Da ich keine Schmerzen hatte, waren auch sie überzeugt, dass ich nichts gebrochen hatte, und wenn ja, dann höchstens das Wadenbein. Schliesslich legten sich alle zur Ruhe. Erst am anderen Morgen wurde mir bewusst welchem Risiko wir ausgesetzt waren und dass uns ein Schutzengel vor Schlimmerem bewahrt hatte, denn neben der Hütte ging es steil hinunter. So wurde ich auf eine Bahre gebunden und mit Seilen von vier Bergführern langsam den Hang hinuntergelassen. Ich glaube es war gut, dass ich gut eingepackt war und die heiklen Stellen während dem Transport gar nicht sehen konnte. Im Tal wurde ich sofort vom Arzt untersucht und geröntgt. Bald wurde bestätigt, dass ich nicht nur das Wadenbein, sondern auch das Schienbein gebrochen hatte. Ich bekam einen Gips der vom Oberschenkel bis zu den Füssen reichte. Die Familie von Peter wollte einen Spitalaufenthalt vermeiden und mich bei sich zu Hause haben bis ich transportfähig wurde. Und so verbrachte ich einige Tage bei ihnen, eine Zeit die mich vor allem an viel Herzlichkeit und unbeschwerten Dialogen erinnern. Schon nach ein paar Tagen wollte ich nicht mehr in ein total flaches Land wie Holland auswandern und konnte es nicht erwarten bis meine Knochen wieder zusammen gewachsen waren um dann erneut in den Berge gehen zu können. Und tatsächlich machte ich noch im gleichen Jahr meine erste Hochgebirgstour und zwar auf das Doldenhorn mit seinen 3752 Meter ü.M. Diesmal hatte Peter aber einen erfahrenen Bergführer organisiert und die Tour der Jahreszeit entsprechend auf ende September geplant.
(2) Beim Aufstieg zum Doldenhorn im Herbst (meine erste Hochgebirgstour)
Irgendwie schaffte ich es alleine mit der Bahn nach Lachen zu meinen Eltern. Ich hatte das Gipsbein am Aschenbecher des seitlichen Tisches beim Fenster mit einer Schnur befestigt und so ging der Transport ganz passabel. Durch diesen Unfall musste ich sechs Wochen zu Hause bleiben und konnte nicht arbeiten. Schlimmer noch war die Tatsache, dass ich genau während der Fasnachtszeit ans Bett gebunden war und ich mir vorzustellen musste, was ich im Dorf alles verpasste…! Während meines Unfallaufenthaltes in Lachen überraschte mich plötzlich Heinz, mein Schulkamerad aus dem Welschland, mit einem Besuch. Nach der gemeinsamen Rückkehr nach Hause hatten wir uns manchmal telefoniert und so freute ich mich auf das Wiedersehen. Plötzlich aber unterbrach meine Mutter ganz aufgeregt unser Gespräch und meldete ein „goldiges“ Auto vor dem Haus, eines wie das von James Bond. Neugierig zusammengekommene Leute spekulierten, dass dies eine sehr teuere Limousine sein musste, machten Fotos und sahen sofort einen Zusammenhag mit unserer Familie. Etwas kleinlaut gestand Heinz schliesslich, dass es sein neues Auto der Marke ALVIS war. Das Auto wurde damals von dem Unternehmen ALVIS Car and Engineering Company Ltd. in Coventry, England produziert. Das protzige Gefährt vor unserem Hause störte meine Mutter ausserordentlich und so bat sie Heinz das nächste Mal ein bisschen diskreter zu sein und es gefälligst anderswo im Dorf zu parkieren.
(3) Während der Fasnacht im Bett, aber mit einer erträumten Reise um die ganze Welt über mir.
Aber ich hatte nicht nur die Fasnacht verpasst, sondern bedeutend wichtiger auch viele Stunden der Gewerbeschule Bern, die ich nun bis zum Eintritt in die Lehrwerkstätten der Stadt Bern am 4. April nachholen musste. Aber irgendwie schaffte ich auch diese Hürde und das Zeugnis liess sich trotzdem sehen. Die kommenden sechs Monate in den Lehrwerkstätten waren sehr wertvoll, vor allem der theoretische Teil und die Experimente mit neuartigen Abwasser-Leitungs-Systemen am Versuchsturm auf dem schuleigenen Gelände faszinierten mich. Zu dieser Zeit begann man Hochhäuser zu erstellen, für die man das bisherige Abwassersystem anpassen musste. Ein Beispiel: wenn der Inhalt eines Spülkastens im 12. Stockwerk in die Tiefe stürzt, ist es wahrscheinlich, dass die Luft im Rohr zusammengepresst wird. Durch diesen Druck konnte unter Umständen das Abwasser in die Anschlüsse der untersten Stockwerke gedrückt werden und damit in den Badezimmern oder Küchen austreten. Um dies zu verhindern wurden neuartige Formstücke (Gabeln) entwickelt und dann am Versuchsturm ausprobiert. Während der HYSPA (Ausstellung Gesundheit, Gesundheitspflege, Turnen und Sport) wurde eine reduzierte Version des Versuchsturms auf dem Ausstellungsgelände erstellt und wir Schüler durften den Besuchern die Test-Versuche erklären, sowie die neu entwickelten Spezial-Formstücke aus Stahl zeigen. Der Kontakt mit dem Publikum war sehr interessant und wir waren stolz unsere Arbeit dem Publikum zugänglich zu machen.
(4) Präsentation neuartiger Formstücke (Gabeln) während der HYSPA in Bern.
Neben dem normalen Schulbetrieb besuchte ich abends Weiterbildungskurse (Kunststoffkurs I, Werkstattkurs I und Berufskunde I). Um das warme Zimmer zu verlassen, brauchte dies im Winter oft sehr viel Überwindung. Die sechs Monate waren bald vorbei und ich musste zurück zur Firma Gerbrüder Jost um den Rest der Zusatzlehre zu absolvieren. Trotz Unfall und 35 fehlenden Stunden in der Gewerbeschule bestand ich die Abschlussprüfung mit Bestnoten und bekam damit das Fähigkeitszeugnis als Installateur für Gas und Wasser. Damit endete meine Berufsausbildung.
(5) Zeugnis der Lehrabschlussprüfung als Installateur Gas und Wasser

Nachdem ich die Lehre als Sanitär Installateur beendet hatte kehrte ich nach Lachen zurück. Ich wollte die kurze Zeit bis zum Beginn der Rekrutenschule zu Hause verbringen und im Betrieb meines Vaters arbeiten. Zudem wollte ich etwas nachholen was ich während dem Welschlandjahr im Clos-Rousseau in Cressier nicht durfte: richtig tanzen lernen! So besuchte ich in Zürich einen Tanzkurs für damals moderne Tänze wie Jive, Charleston, Raspa, Rock ’n’ Roll und natürlich Cha-Cha-Cha mein Lieblingstanz. Ich hätte diesen Tanzkurs wohl besser nicht an kalten Winterabenden machen sollen, denn trotz heisser Musik aus Lateinamerika blieben die Teilnehmer äusserst reserviert und die Stimmung meistens eisig. Ich war froh, als ich den Kurs endlich hinter mir hatte. Aber nun wusste ich wenigstens wie man den Cha-Cha-Cha richtig tanzt. Bald fand ich in Lachen eine Tänzerin, die Gerda, mit der ich diese Tänze üben konnte. Sie tanzte ausgezeichnet und so träumten wir schon an einem Tanzturnier teilnehmen zu können. Einmal tanzten wir ohne Pause den ganzen Sonntagnachmittag in der Stube ihrer Eltern. Es war schon dunkel als ich mit meinem tragbaren, „überhitzten“ Plattenspieler und müden Beinen, aber glücklich, nach Hause kam. Leider teilten meine Eltern meine Glückseeligkeit überhaupt nicht und überschütten mich mit Vorwürfen. Sie waren überzeugt, dass es eine Frechheit von mir war so lange bei einem Mädchen zu bleiben und ihre Eltern an einem Sonntag mit lauter Musik zu stören. Und dann kam der obligate Satz: „Was denken wohl die Leute von dir und schliesslich von uns?“ Damit war unser Traum mit Tanzen einmal berühmt zu werden bereits beerdigt.
Schon während der Lehrzeit begann man zu „karisieren“ und so stellte man sich vor, bei den Mädchen als guter Tänzer viel mehr Erfolg zu haben. Bei modernen Tänzen fühlte ich mich total entspannt, aber bei enger „Schmusermusik“ wurde es für mich peinlich. Nicht das körpernahe Tanzen war mir unangenehm, sondern der riesige Schlüssel der Haustüre in meinem Hosensack! Dieses harte Ding hätte ja bei Mädchen unkeusche Gedanken erwecken können. Zudem graute mir als unbeherrschter, geiler Saukerl beschimpft zu werden und dabei in aller Öffentlichkeit vielleicht sogar eine Ohrfeige zu riskieren. Oft versuchte ich den Schlüssel irgendwo bei den Leitern links ausserhalb des Hauses zu verstecken. Aber dann hatte ich Bedenken, dass jemand mich sehen könnte und das Versteck dann kennen würde. Damit hätte ich ja alle Bewohner in unserem Haus in Unsicherheit gebracht. Also musste eine andere Lösung gefunden werden. Als mein Vater einmal einen ganzen Tag abwesend war, was äusserst selten war, ging ich zur Eisenhandlung Weibel (vormals Grünigner) und kaufte dort ein modernes Sicherheitsschloss mitsamt dem nötigen Montagewerkzeug. So bohrte ich in die alterehrwürdige Haustüre ein Loch und installierte das Schloss. Endlich hatten wir einen Schlüssel den man im Geldbeutel mitnehmen konnte und für den man hinter dem Haus kein Versteck mehr suchen musste. Aber ich hatte meinen spontanen Entschluss dem Übel ein Ende zu setzen leider ohne die Bewilligung meines Vaters gefasst. Als er die Tat entdeckte wurde er grauenhaft wütend und sagte ich sollte mich schämen ein Loch in das wunderbare, alte Holz der Türe gemacht zu haben. Ich versuchte ihn von den Vorteilen zu überzeugen und unterstrich zudem, dass ich das Schloss aus eigener Tasche berappt hatte. Er beruhigte sich nur langsam. Aber es schien mir, dass er den Komfort des kleinen Schlüssels im Geheimen bald auch zu schätzen wusste. Vielleicht aber war sein Aufbrausen auch nur eine Reaktion auf meine spontane Art gewesen. Vielleicht hatte er sogar erkannt, dass er eigentlich selbst auf eine so einfache Lösung hätte kommen müssen. Aber so etwas gesteht man dem eigenen Sohn doch nicht.
Zurück in Lachen hatte ich wieder mehr Zeit für meine Kumpel und so wurde das Thema „karisieren“ plötzlich Top aktuell. Die Meisten hatten schon „Schätze“ und so kam ich mir wie ein „Spätzünder“ vor. Sie zeigten mir wie und wo man Mädchen kennen lernen konnte. Ein sehr versprechender Ort war das Bezirkspital. Sie sagten, dass Krankenschwestern viel leichter zu haben seien als andere Mädchen im Dorf. So verbrachten wir halbe Abende vor dem Spital und pfiffen sofort, wenn in einem Angestelltenzimmer ein Licht anging. Dann warteten wir in der Kälte bis die Krankenschwestern Schichtwechsel hatten und versuchten sie dann beim Ausgang zu treffen. Für mich schien der Aufwand viel zu gross und zu mühsam. Ich wäre lieber zu Hause in der warmen Stube geblieben, aber was machte man nicht alles um seine Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Ganz überraschend und zum Neid meiner Kollegen lernte ich eines Tages ein nettes Mädchen kennen. Wir gingen zusammen den Spreitenbach entlang und plauderten über belanglose Sachen. Schliesslich berührten wir uns vorsichtig. Dann zog sie mich an sich und küsste mich auf die Lippen. Natürlich gestand ich ihr nicht, dass dies mein erster Kuss war und tat so als ob ich Erfahrung hätte. Aber dann stiess sie ihre Zunge in meinen Mund, sodass diese meine Zunge berührte. Das sei ein „französischer Kuss“ sagte sie schliesslich mit erregter Stimme und dabei hatte ich meine Stimme verloren. Für mich war das komische, nasse Zungenspiel äusserst unappetitlich, denn man konnte ja sofort erfahren was sie zuletzt gegessen hatte oder ob sie Raucherin war. Da ich noch nie mit einem Mädchen einen so intimen Kontakt hatte, wurde mir plötzlich sehr äusserst bange. Ich löste mich von ihrer innigen Umarmung und lief verwirrt nach Hause. Die ganze Nacht blieb ich wach und hatte Gewissenbisse. Es überfiel mich Frage um Frage: war dies nun eine sündige Tat gewesen, ist sie jetzt durch meinen Speichel schwanger geworden und war dies nun bereits Sex gewesen? Natürlich konnte ich meine Ängste und Verwirrung mit niemandem teilen, schon gar nicht mit meinen Kollegen oder den Eltern. Ach, wenn ich nur so wie die Katholiken auch hätte beichten können! Aber was hätte mir der Priester wohl für eine Antwort gegeben? Hätte er mich vielleicht sogar bestraft für meine infame Tat oder umgekehrt noch mehr Details erfahren wollen?
Meine Mutter hatte bald bemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmte und wollte wissen was geschehen war. Da es im Dorf keine Geheimnisse gab, erfuhr sie bald, dass ich mich mit einem Mädchen „karisiere“. Als man ihr dann noch sagte, dass es sich um eine Krankenschwester handelte, dass sie in Galgenen wohnte und erst noch katholisch sei, versuchte sie alles um mich von ihr abzubringen. Da ich keinen Streit mit meinen Eltern wollte entsprach ich ihrem Willen. Aber damit fühlte ich mich nur noch miserabler, besonders weil ich nie den Mut hatte mit dem Mädchen darüber zu sprechen und meine Situation sowie meine Verwirrung zu erklären. Diese erste Erfahrung mit „karisieren“ hatte mich arg traumatisiert und ich war deshalb froh als ich am 5. Februar 1962 in die Rekrutenschule nach Bülach musste.

Am 5. Februar 1962 begann die Rekrutenschule in Bülach. Da ich bereits ein ganzes Jahr fern von zu Hause verbracht hatte, hatte ich keine Mühe mich der neuen Situation anzupassen und nach strenger Tagesordnung zu leben. Die ersten Wochen bestanden überwiegend aus Grundausbildung, zum Beispiel militärische Formen, den Umgang mit der persönlichen Waffe und Ausrüstung. Dann folgten Kenntnisse in der Automechanik sowie der verschiedenen Militärfahrzeuge, und natürlich viele Lehrfahrstunden auf den Lastwagen und anderen Fahrzeugen. Wie es das Dienstreglement der Schweizerischen Armee verlangt, mussten wir auch Nachtmärsche, Schiessübungen, Orientierungsläufe und Manöver absolvieren. Eine besondere Abwechslung war die „Demonstrations-Woche“ in Bern, wo wir unsere Fahrzeuge und Funkstationen zur Schau stellten. Eine ganze Woche in der Ausgangs-Uniform den Besuchern Auskunft geben war sehr angenehm und fast so etwas wie Urlaub.
Einmal musste ich nach einer Nachtübung die Truppe zurück in die Kaserne fahren. Wir waren alle müde, doch dies war kein Grund die Motorfahrer von der Rückfahrt zu dispensieren. Auf der Ladebühne des Lastwagens sassen meine Kameraden und schliefen. Da mein Beifahrer auch schläfrig war, wurde nichts gesprochen. Mit der Dunkelheit, der Stille in der Kabine und dem monotonen Motorenlärm hatte auch ich grosse Mühe die Augen offen zu halten. Plötzlich gab es einen Knall. Ich war zu nahe am Strassenrand gefahren und hatte einen Pfosten gestreift. Sofort war ich hellwach und versuchte den Lastwagen auf der kurvenreichen Strasse wieder korrekt auf die Fahrbahn zu bringen. Es war nichts geschehen und meine schläfrigen Kollegen hinten auf der Ladefläche schienen nichts gemerkt zu haben. Trotzdem beschäftigte mich dieser Vorfall noch wochenlang und es graute mir nur schon beim Gedanken, dass ich mit meiner menschlichen Fracht beinahe in den dunklen Abgrund gestürzt wäre. Immer wieder dankte ich meinem Schutzengel und flehte ihn an mich ja nicht zu verlassen und mich weiter vor Unheil zu beschützen.
Ich wusste, dass die Schule auch zur körperlichen und mentalen Stärkung beitragen sollte, doch sinnlose militärische Übungen im strömenden Regen fand ich eher absurd. Auch die Anstrengungen der Offiziere für rigorose Disziplin und Ordnung im Zimmer konnte ich verstehen, denn einige Burschen hatten diesbezüglich von zu Hause nicht viel mitgebracht. Allerdings schienen mir einige Vorschriften doch eher lächerlich. So konnte ich mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass wegen einer Zahnbürste im Glas über dem Bett, die nicht ordnungsgemäss nach rechts gerichtet war, die Schweiz einen Krieg verlieren würde. Auch die tägliche Hygiene wurde gefördert, etwas das für einige Burschen total unbekannt schien. So hatten wir zum Beispiel zwei Walliser in unserem „Schlag“ (Schlafraum) die es jeden Morgen schafften der Dusche zu entgehen. Einige vermuteten Hemmungen mit anderen nackt zu duschen oder sogar religiöse Gründe. Jedenfalls war wegen ihrer Ausdünstung und der penetranten Fuss-Schweiss die Luft im Raum oft unerträglich Da es sich für die Beiden oft nicht lohnte während dem Wochenende nach Hause ins Wallis zu fahren, blieben sie während dieser Zeit meistens in der Kaserne. So kam es, dass wir an einem Sonntagabend, als wie von unserem Urlaub zurückkamen, wieder ein äusserst grässlich stinkendes Zimmer vorfanden. Ich hielt mir die Nase zu und rannte sofort ans Fenster um es zu öffnen. Während dem Wochenende hatten die Beiden das Zimmer nie gelüftet. Doch sie protestierten sofort und meinten mit einem offenen Fenster würde es zu kalt im Zimmer. Doch diesmal bestanden alle anderen Rekruten auch auf frische Luft und forderten sie zudem auf unter die Dusche zu gehen. Doch die Beiden gingen auf unser Begehren nicht ein und blieben uneinsichtig. So kam einer der Rekruten auf die Idee den Beiden ihre Intimgegend mit Militärschuhwichse einzuschmieren und sie damit zu zwingen sich endlich zu waschen. Natürlich stäubten sie sich energisch, doch da wir in der Überzahl waren gelang es uns sie so lange festzuhalten bis die Arbeit getan war. Doch unsere Mühe war umsonst gewesen. Beide verschwanden sofort wieder trotzig unter der Militärwolldecke und verweigerten weiterhin eine Dusche. Doch am nächsten Morgen entkamen sie unserem Verlangen nicht mehr. Eskortiert drängten wir sie in den Duschenraum und fegten sie brutal mit einer Scheuerbürste sauber. Damit war die Luft im Zimmer für eine gewisse Zeit wieder erträglich.
(1) Auch wenn man in einen Graben gefahren war, konnte man dabei noch Spass haben und eine dramatische Szene vorgeben.
Die gute Kameradschaft unter den Rekruten hatte wegen diesem Vorfall nicht gelitten, denn wir verstanden uns erstaunlicherweise gut. Es war immer unterhaltsam im Zimmer, es wurde viel gelacht und gescherzt. Einmal überraschten wir den Korporal bei „Lichterlöschen“ mit einem „Gasmasken-Ballett“. Nur in den Unterhosen, dafür aber mit Gasmaske, Bajonett, „Gamelle“ und Besen produzierten wir uns vor den Kollegen. Zum Glück hatte der Korporal auch Humor, lachte und verlangte nur endlich Nachtruhe.
(2) Gasmaskenballet
Einmal bei einer Geländeübung fuhr ich einen „Dodge CC“, ein unmögliches, offenes Fahrzeug das wir nur „WC“ nannten. Es war schwierig zu fahren und so geschah es, dass ich auf dem Gelände eines Bauernhofes einmal in einen Graben rutschte. Das Ganze sah äusserst tragisch aus, doch da wir immer Lumpereien im Kopf hatten gestalteten wir die Szene noch etwas dramatischer. Wir setzten uns in das Fahrzeug und liessen uns wie Tote aus dem Führerstand hängen. Dabei hatten wir einen Riesenspass, machten Fotos und zogen dann das Fahrzeug ohne Probleme mit einem anderen „WC“ wieder aus dem Morast. Auch der Bauer war mir nicht böse und klagte nicht wegen Landschaden. Bei gemeinsamen Übungen mit den „Telefönlern“ oder den „Funkern“ fuhren wir auch Spezialfahrzeuge wie Funkstationen. Meistens konnten wir sie nach Absprache mit dem Bauern unter dem Vordach des Stalles stationieren. Allerdings war mir lieber, wenn man die Funkstation im Stall unterbringen konnte, denn in diesem Fall mussten wir sie nicht mit Netzen und Blachen tarnen. Nachdem die „Telefönler“ mit den Kabelrollen auf dem Rücken die Leitungen in der ganzen Gegen verlegt hatten, blieben wir manchmal einige Tage am gleichen Ort und verbrachten die Nacht oft im Heu oder Stroh. Im Gegensatz zu den „Übermittlern“, die meist während 24 Stunden ununterbrochen arbeiten mussten, genossen wir Motorfahrer die Zeit auf dem Lande.
(3) Bei einem Bier in der „Stützlifüfzg-Beiz“
Fast jeden Samstagmittag hatten wir „Abtreten“ und mussten erst wieder am Sonntagabend um 24.00 Uhr in der Kaserne sein. Das erlaubte mir jedes Wochenende zu Hause zu sein und meine Kollegen zu sehen. Gleichzeitig brachte ich meiner Mutter meine schmutzige Wäsche. War dies einmal nicht der Fall, dann wurde die Wäsche per Militär-Sack hin und her geschickt. Während der Woche war ein abendlicher „Ausgang“ eher selten. Wenn dies der Fall war, dann fuhren wir manchmal zur „Stützlifüfzg-Beiz“, dem heutigen Gasthof Hecht in Winkel bei Bülach. Da wirtete seit dem 2. Weltkrieg Frau Hedy Meier, eine lustige, echte Gastwirtin die sich immer gut mit dem Militär verstand. Die Beiz war deshalb bekannt und abends sehr gut besucht. Da sich die Soldaten damals kaum mehr als 3 Bier zu je 50 Rappen leisten konnten, sagte sie beim Einkassieren einfach „äs Stützli füfzg». Und so schien der Preis für drei Bier nicht mehr übertrieben. Der Name „Stützli füfzg“ übertrug sich dann auf das ganze Wirtshaus und ist heute noch als „Stützli“ bekannt.
Die Zeit verging schnell und so auch die Rekrutenschule. Nach dem kalten Winter mit der seltenen „Seegfrörni“ war es unterdessen Frühling geworden und man freute sich nach Hause und ins berufliche Leben zurückzukehren. Dank guter Kameradschaft unter den Rekruten und konfliktfreier Beziehung mit den Vorgesetzten war es eine gute und abwechslungsreiche Zeit gewesen. Ich hatte nicht das Gefühl während den drei Monaten wertvolle Zeit meines Lebens verloren zu haben. Zudem war es sicher auch die damalige Sinnesart der Schule die einen Jüngling später prägte und ihn auf dem Weg zu einem selbständigen Mann unterstützte und förderte. Ausserdem habe ich gelernt wie man morgens das Bett richtig macht, wie man das Leintuch und die Wolldecke am unteren Ende der Matratze richtig faltet und anschliessend darunter verschwinden lässt.
Nach der Rekrutenschule blieb ich vorerst zu Hause bei meinen Eltern in Lachen und machte mit ihnen Ausflüge, zum Beispiel auf den Gantrisch und das Schwefelbergbad. Gleichzeitig schmiedete ich zusammen mit meinen Turnkollegen Peter Kälin, Willi Clerc und Josef Zweifel Ferienpläne. Wir entschieden uns für ein paar Tage am Genfersee und zwar im Zelt auf dem TCS Campingplatz „La Colline“ in Nyon. Von da machten wir Ausflüge und besuchten mit dem Schiff sogar Evian in Frankreich. Für den „Ausgang“ hatten wir uns entschlossen immer sehr elegant mit weissen Schuhen, weissen Hosen, weissem Hemd und Strohhut zu erscheinen. Das weisse Quartet war nicht zu übersehen und erntete viel Lob und Bewunderung bei den Mädchen. Aber auch im einfachen Trainings-Anzug des Turnvereins Lachen blieben wir auf dem Zeltplatz nicht unbemerkt, denn mit den weinroten, kurzen Hosen und dem blauen Oberteil mit weissen Streifen konnte man sich sehen lassen. Neben den vielen Zeltnachbarn hatten wir einen kleinen, ganz speziellen Camping-Freund, den „Hug“. Trotz den sprachlichen Schwierigkeiten blieb er immer in unserer Nähe und wollte immer mit uns spielen. Aber auch die schöne und kurzweilige Ferienzeit hatte bald ein Ende und wir mussten alle zurück in den normalen Alltag.

Während der Zeit In den Berner Lehrwerkstätten war unter den Lehrlingen ein Tessiner der Luciano Märki hiess. Er sprach wohl Schweizerdeutsch, aber bei technischen Begriffen hatte er Mühe. So bat er mich immer wieder um Hilfe und kam auch bei schwierigen Aufgaben zu mir. Da sein Vater eine ziemlich grosse Sanitär- und Heizungsfirma in Muralto hatte, bot er mir am Ende des Schuljahres eine Stelle als Sanitär-Installateur an. Diese für mich sehr attraktive Offerte liess mich nicht mehr los. Eigentlich hätte mich mein Vater nach der Lehre lieber im eigenen Geschäft gesehen, doch mit dem Argument erst anderswo noch Erfahrung zu sammeln willigte er schliesslich ein. Möglicherweise um zu sehen ob ich bei der Firma Märki gut aufgehoben sei, brachten mich meine Eltern mit dem Auto nach Locarno. Zu meiner grossen Überraschung wurden wir von den Märki’s sehr herzlich begrüsst und sogar zum Mittagessen eingeladen, was meine Eltern natürlich sehr beeindruckte. Die Firma hatte für mich ein schönes Zimmer gemietet und das erleichterte den Anfang am neuen Wohnort sehr. Doch Luciano zeigte sich nie und ich habe komischerweise auch während der ganzen Zeit im Tessin sowie später nie mehr etwas von ihm gehört. Ich musste einsehen, dass er während der Zeit in Bern ausschliesslich von mir profitierte und nun meine Hilfe nicht mehr brauchte. Da ich in naiver Weise geglaubt hatte er sei ein Freund, verletzte mich sein unverständliches Verhalten. Aber schliesslich war diese Erfahrung wohl nötig um mir für die Realität des Lebens die Augen zu öffnen.
(1) Die Baustelle des „Centro Commerciale“ gegenüber dem Bahnhof Locarno
Sofort wurde ich auf der Baustelle des „Centro Commerciale“ gegenüber dem Bahnhof Locarno eingesetzt. Die unteren Stockwerke waren für Geschäfte vorgesehen, darüber das mehrstöckige Hotel „Muralto“ und auf dem Dach eine Attika-Wohnung des Besitzers des Bekleidungsgeschäftes „Feldpausch“. Es war eine ziemlich monotone Arbeit. Wir installierten die Abwasserleitungen aus Guss-Rohren. Die Fugen mussten mit Stricken abgedichtet und anschliessend mit flüssigem Blei ausgegossen und dann rundum „gestemmt“ werden. Das Gebäude hatte noch keine Fenster und so war der Arbeitsplatz ständig dem Durchzug ausgesetzt. Im Sommer war dies kein Problem, doch als es Winter wurde musste man sich warm anziehen. Mein Vorarbeiter war Deutsch-Schweizer und hiess Moser. Alle anderen Arbeiter kamen aus dem Tessin oder dem Centovalli in Italien. Wir hatten es gut zusammen und ich hatte mich bald an ihr Temperament gewöhnt.
Doch am Feierabend gingen alle nach Hause zu ihren Familien und ich war alleine in meinem gemieteten Zimmer bei der „Schlummer-Mutter“. Über das Wochenende nach Hause zu fahren kam nicht mehr in Frage, denn das Billet war zu teuer und so konnte ich mir diesen Luxus nur ab und zu leisten. Sofort suchte ich Kontakt mit anderen Deutsch-Schweizern und trat der protestantischen Jugendgruppe „Junge Kirche“ (JK) bei. Dort lernte ich sofort gleichaltrige Leute kennen die später sehr gute Freunde wurden. Diese schlugen mir auch vor, anstatt immer nur schnell etwas Kaltes zu verschlingen oder im Restaurant zu essen, mit ihnen in ihrem Jugendheim, dem "Casa Lydia", zu essen. Es handelte sich eigentlich um ein Mädchenheim der Stadtmission, doch der Leiter war schliesslich bereit mich und eine deutsche Zahnärztin als externe Kostgänger aufzunehmen. So radelte ich jeden Tag zu diesem Heim und genoss nicht nur die echt schweizerische Kost, sondern vor allem auch die Gesellschaft meiner JK-Kolleginnen.
(2) Das Jugendheim "Casa Lydia" oberhalb des Zentrums von Locarno
Wir hatten es immer sehr lustig und lachten wegen jedem Blödsinn am Tisch. Wie es sich für ein religiöses Haus gehörte, betete der Leiter vor und nach dem Essen. Oft kicherten die Mädchen auch während dem Gebet weiter, was den Leiter natürlich irritierte. Als ich einmal bei seinem andächtigen Gebet zu ihm hinüberschaute merkte ich, dass er gar nicht so konzentriert betete wie ich glaubte und uns dabei immer wieder beobachtete. Einmal ging ich mit zwei Kolleginnen nach dem Nachtessen auf ihr Zimmer. Wir hatten etwas zu besprechen, das wir unten am Esstisch nicht mit allen teilen wollten. Ich wusste, dass Männerbesuch in diesem Haus eigentlich verboten war, doch die Mädchen insistierten. Nach einer kurzen Weile riss jemand mit aller Gewalt und ohne anzuklopfen die Türe auf. Erschreckt schauten wir hin und sahen den Leiter des Heimes im Türrahmen stehen. Aus seinem Gesichtsausdruck konnte man sehen, dass er uns bei unsittlichem Treiben überraschen wollte. Da wir aber weit auseinander im Zimmer herumsassen, entstand ein Moment der Verwirrung beiderseits. Als er seinen Misserfolg einsah, befahl er mir das Zimmer sofort zu verlassen. Dieser Vorfall machte mich nachdenklich. Ich fragte mich wieso dieser Mann so reagiert hat und wieso er überhaupt auf solche Hintergedanken gekommen war. Ich hatte so meine Vermutungen, aber die Bestätigung bekam ich erst viel später als ich erfuhr, dass er das Heim wegen Unzucht verlassen musste.
Als die Leiterin der „Jungen Kirche“ aus Locarno wegzog, wurde ich überraschend an ihrer Stelle gewählt. Eigentlich hatte ihr Führungsstil mir nie so richtig zugesagt. Er war zu religiös und die gemeinsamen Abende konzentrierten sich einzig auf das Lesen der Bibel. Mir fehlte der Kontakt zur Realität. Da sich in der Gruppe einige Junge aus schwierigen Familienverhältnissen befanden, entschied ich mich die Abende anders zu gestalten und zusätzliche Aktivitäten zu schaffen. Ich suchte Tätigkeiten die exponierte Junge besser in einer Gruppe integrierten und vor schlechten Einflüssen schützen sollten. So beschlossen wir eine Theateraufführung in der Deutschen Schule aufzuführen. Das Stück hiess „Seilkameraden“ und war irgendwie symbolisch mit meinem Ziel zusammen etwas zu schaffen. Ich versuchte alle Mitglieder irgendwie an diesem Stück zu beteiligen, auch solche die keine Theater-Rolle übernahmen. Aus diesem Grund wurden die Kulissen selbst gebastelt und bemalt. Auch die elektrische Installation wurde von Mitgliedern ausgeführt. Wir hatten ja Maler, Elektriker, etc. in unsere Gruppe. Die Aufführung ende November 1962 wurde ein grosser Erfolg und ich war nachträglich erstaunt wie begeistert die Gruppe war und wie sich alle für das Projekt eingesetzt hatten.
Aber damit war ich noch nicht zufrieden, es musste noch mehr getan werden um den jungen Leute Lebensfreude und Sicherheit zu vermitteln. So organisierte ich an Sonntagen begleitete Ausflüge oder Wanderungen, zum Beispiel nach Indemini, hinauf zur Cardada, nach Brione oder einfach nur zum „Ronco-Stein“. Als es kälter wurde versammelten wir uns an Samstagabenden in der „Casa Olando“ in Losone zu einem Fondue. Das Lokal mussten wir beim Kirchenvorstand immer vorher reservieren. Es gab keine laute Musik dafür Kerzenlicht und tiefe Gespräche. Es wurde bald klar, dass einige der Jugendlichen das Bedürfnis hatten ihre Probleme offen zu diskutieren und dass sie Verständnis sowie Hilfe suchten. Die Zeit verging immer sehr schnell und es wurde oft, ohne es zu merken, ziemlich spät, aber nie zu spät um mit einem öffentlichen Verkehrsmittel nach Hause zu kommen. Leider schienen die Verantwortlichen der Kirche kein Interesse an unseren Diskussionen und dem friedlichen Zusammensein zu haben. Derweil verbreiteten sie bald das Gerücht, dass wir anstatt zu beten im Kerzenlicht schmusen würden und wollten uns deshalb das Lokal nicht weiter zur Verfügung stellen. Das konnte ich nicht akzeptieren und verlangte Beweise für die Beschuldigungen. Nachdem diese nicht geliefert wurden, meldete ich mich bei den Verantwortlichen und bedauerte, dass der unbekannte Überwacher der Kirchgemeinde bei uns keinen Augenschein genommen hatte. Wir hätten es nämlich geschätzt, wenn diese Erwachsenen, religiösen Menschen anstatt unbegründeter Anschuldigungen, unsere Fragen und Sorgen mit uns diskutiert hätten und uns gleichzeitig mit ihren Lebenserfahrungen beigestanden wären. Mit dieser Verteidigung war der Zwist vorderhand aus dem Weg geräumt und wir durften uns weiterhin in diesem Lokal treffen.
(3) Im Deutschschweizer Schulhaus versuchte ich die Pantomime des bekannten Schweizer Clowns Dimitri zu imitieren.
Aber dann wagte ich nochmals eine Neuheit die von gewissen Leuten der Kirchgemeinde weder akzeptiert noch verstanden wurde. Zuerst organisierte ich im Deutschschweizer Schulhaus einen Fasnachtsabend mit Schnitzelbank und Pantomime. Unsere Jugendgruppe hatte ja das Theater von Dimitri besucht und so versuchte ich den grossen Künstler auf unserer Bühne selbst zu imitieren. Und dann ging ich mit der Gruppe offiziell an die Fasnacht. Für die Kirche war die Fasnacht ja das Fest des Teufels, der Versuchung und der Lust, also war mein Vorgehen ein Skandal. Allerdings hatte ich mir die begleitete Teilnahme an der Fasnacht vorher reiflich überlegt und gerade wegen Bedenken eine solche Entscheidung getroffen. Mir war nämlich bewusst, dass wenn ich den Mitgliedern die Fasnacht verweigerte, sie aus Neugier trotzdem gehen würden und dann eben wo möglich mit üblen Gestalten in Kontakt kommen würden. Genau dies wollte ich auf alle Fälle vermeiden. Am Nachmittag trafen wir uns auf der Piazza und genossen das Risotto-Essen, den farbenfrohen Fasnachts-Umzug, sowie die Konfetti-Schlacht. Alle waren zufrieden und fröhlich, etwas das allen guttat. Als dann später einige noch tanzen wollten, führte ich sie in ein Lokal wo ein Maskenball war. Aber um 23.00 verliessen wir das Lokal und gingen zusammen zurück ins Zentrum. Bei der „Funi-Station“ versicherte ich mich, dass diejenigen aus Orselina die letzte Bahn nicht verpassten und um sicher zu sein, dass alle wirklich nach Hause gingen. Meine Vorkehrungen hatten gewirkt und alle kamen gut nach Hause. Trotzdem musste ich erneut harte Kritik von seitens der Kirche einstecken. Aber ich diesmal nahm ich sie gelassen, denn mit den vielen zufriedenen Mitgliedern fühlte ich mich mit meiner Strategie bestätigt und richtig entschieden zu haben. Um junge Leute auf guten Wegen zu behalten genügen das Lesen der Bibel und das Abschirmen vor Gefahren nicht. Ich wollte mit ihnen zusammen das Leben so erfahren wie es ist; gefährlich und unberechenbar. Mit gemeinsamen Erlebnissen und anschliessenden, tiefen Gesprächen, auch auf religiöser Ebene, wollte ich sie auf das reale Leben ertüchtigen und gleichzeitig ihre persönliche Verantwortung stärken.
(4) Das Risotto-Essen sowie der Fasnachts-Umzug und Konfetti-Schlacht in Locarno.
Zwei Mädchen in der Jugendgruppe kamen aus „Chäs u Brot“, einer Siedlung im Berner Quartier Oberbottigen. Sie hiessen Erika und Anna, arbeiteten beim „Jelmoli“ als Verkäuferinnen und hatten ihre kleine Wohnung mit Blick auf die Piazza gleich nebenan. Beide hatten „Schätze“, die Erika einen Tessiner, den Carlo und die Anna einen Berner, den Gerhard. Sie waren immer fröhlich und so hatten wir es oft sehr lustig zusammen. Ein Freund von Carlo, der Antonio, spielte Orgel und so lud er uns einmal zu einem Orgelkonzert ein. Es war Winter und so war dies eine willkommene Abwechslung. Antonio übte normalerweise in einer Kirche im Maggiatal und so fuhr er uns in ein mir unbekanntes Dorf. Er hatte wohl die Schlüssel von der Kirche, fand aber leider den Lichtschalter nicht. Während Erika, Carlo und ich uns auf eine Kirchenbank setzten, suchte sich Antonio in der Dunkelheit den Weg durch das Kirchenschiff und hinauf zur Orgel. Erwartungsvoll sassen wir unten in der leeren, eiskalten Kirche und hörten wie sich Antonio an der Orgel zu schaffen machte. Und plötzlich war es soweit, wunderbare Töne begannen langsam die stockdunkle Kirche zu erfüllen. Die Melodien versetzten mich in eine Phantasiewelt und ich vergass die Kälte und alles andere in der Kirche. Die Orgelmusik eroberte die leere Kirche bis in die letzte Ecke und ihr Klang war ausserordentlich intensiv und eindrücklich. Es war ein magischer Moment den ich seither nie vergass. Seit diesem nächtlichen Erlebnis wurde die Orgelmusik etwas ganz Spezielles für mich und ich besuchte später Orgelkonzerte, wenn immer sich die Gelegenheit bot. Aber so magisch wie in der dunklen Kirche im Maggiatal waren sie nie mehr. Ganz spezielle Momente wie dieses Orgelkonzert waren das Fundament für eine Freundschaft die uns schliesslich das ganze Leben begleite und bis anhin nicht erloschen ist. Ich durfte sogar an der Hochzeit von Erika und Carlo dabei sein. Sie waren das allerschönste Hochzeitspaar der ganzen Welt. Nach der Ausbildung zum Gärtnermeister übernahm Carlo das Geschäft seines Vaters in Ponte Brolla. Anna und Gerhard hingegen hatten die Berufung als Missionare tätig zu sein und so verbrachten sie die grösste Zeit ihres Lebens in Äthiopien.
Ende Herbst erschien einmal ganz unerwartet Herr Märki auf der Baustelle. Während einem kurzen Gespräch fand er, dass ich mit meiner Ausbildung wohl zu anspruchsvollerer Arbeit als nur immer Ableitungen montieren fähig sei. Er schlug mir deshalb vor in seinem technischen Büro zu arbeiten. Sein Angebot war eine riesige Überraschung und begeisterte mich sofort. Mit der Bedingung, dass er mir vorher Zeit gewährt um meine Italienischkenntnisse entsprechend zu verbessern (im Tessin spricht man ja einen Dialekt), sagte ich sofort zu. Da er mit meiner Bedingung einverstanden war, suchte ich eine Sprachschule in Italien. Bald war ich fündig geworden und gestand meinen Eltern mein neuster Entschluss. Doch mein Vater war entsetzt und sofort dagegen. Er sagte der vornehme Herr Märki sehe die ehrbare Arbeit auf dem Bau als minderwertig und setze mir überhebliche Flausen in den Kopf. Damit war eine finanzielle Unterstützung von meinen Eltern bereits ausgeschlossen. Doch ich wusste was ich wollte und liess mich von meinem Ziel nicht abhalten. Schliesslich hatte ich mir ja geschworen mit der Mündigkeit mein Leben selbst in die Hände zu nehmen. Um genügend Geld für die Schule aufzubringen entschied ich mich für Überstunden auf dem Bau, etwas das ich während den kalten Wintermonaten eigentlich gerne vermieden hätte. Doch ich schaffte es, am 30. März nahm ich bei einem Fondue im Ristorante d’Arco Abschied von der Jungen Kirche, sowie von all den lieb gewordenen Freunden, und fuhr mit der Bahn nach Perugia.

(1) Università Italiana per Stranieri, Perugia
(2) Aula per la sezione tedesca, curso medio
Es war eine lange Fahrt nach Perugia und als ich am nächsten Morgen in der Pensione Zangarelli, (Via Brugnoli 1) aufwachte, fühlte ich mich ziemlich verloren. Wie gewohnt stand ich um halb sieben Uhr auf und ging hinunter zum Frühstück. Doch da war kein Mensch und alle schienen noch zu schlafen. Plötzlich erschien eine Frau die mich total verstört fragte ob ich krank sei. Schliesslich wurde mir klar, dass hier die Uhren anders tickten als bei uns und das Frühstück nicht vor acht Uhr auf den Tisch kommt. Gegen neun Uhr waren schliesslich alle da, sieben Studenten aus der Schweiz und drei aus Italien. Sofort verstanden wir uns bestens und hatten es am Mittagstisch immer sehr lustig. Leider hatte sich niemand der Pensionäre für den „Curso medio“ eingeschrieben und so musste ich mich am ersten Tag an der Universität alleine zurechtfinden. Zu meiner Überraschung hatte es da Studenten aus allen Teilen der Welt und jeden Alters, ja sogar solche im Rentenalter. Auf dem Lehrplan entdeckte ich, neben den anderen Lektionen, auch zwei Stunden pro Woche „Storia civile d’Italia“. Da ich in der Schule das Fach „Geschichte“ überhaupt nicht mochte, wollte ich diese Stunden anfangs schwänzen. Doch aus Neugier ging ich trotzdem hin und wurde erst einmal von dem riesigen Andrang von Studenten überrascht. Wenn man nicht mindestens 10 Minuten vorher in der Aula war, fand man keinen Sitzplatz mehr. Der Grund war der Professor, oder besser gesagt seine Art zu unterrichten. Seine Lektionen waren ausserordentlich spannend, denn er präsentierte die Vergangenheit mit so viel Gestik, dass man von seinem Auftritt einfach mitgerissen wurde. Wenn er jemand mit einem Wörterbuch entdeckte, hielt er sofort inne und verlangte es wegzulegen. Er duldete nicht wenn Studenten zum Wörterbuch griffen. Er wollte, dass die Studenten, sich einzig auf seinen Vortrag und sein Gebärdenspiel konzentrierten. Er meinte, dass der Gebrauch des Wörterbuches für ihn der Hinweis war, dass er ein schlechter Professor sei. Ich war so begeistert von seinen Lektionen, dass ich schliesslich keine Lektion verpasste und begann mich intensiver mit der Geschichte zu befassen. Die interessanten Lektionen gaben mir aber auch Gründe um mit den drei italienschen Studenten in der Pension über ihr Land zu diskutieren.

(3) Pensione Zangarelli, Via Brugnoli 1
(4) Werner, Helen, Hans, Ida, Theres, Paolo, Silvia, ? und Gianni
In der Freizeit und an offiziellen Feiertagen unternahmen wir sieben Deutsch-Schweizer alles um möglichst viel vom Lande kennen zu lernen. So mieteten wir über Ostern ein Auto und fuhren zusammen nach Rom wo wir den Vatikan und die anderen Sehenswürdigkeiten besuchten. An Wochenenden ging es nach Assis, Viterbo, Montefiascone, Bolsena und nach Tarquinia um die bekannten Etrusker Nekropolen zu sehen. Als wir durch unsere italienischen Tischnachbarn vernahmen, dass in Gubbio „una Festa die Ceri“ (ein Fest der Kerzen) stattfindet, mussten wir aus Neugier natürlich auch dabei sei. Weiter machten wir Ausflüge an den See von Trasimeno, nach Firenze, Pisa und Siena. Auf diesen Ausflügen hatten wir es immer sehr kurzweilig und genossen die schöne und unbeschwerte Zeit in Italien.
Am 31. Mai war die Schule bereits zu Ende, doch ich hatte keine Lust sofort in die Schweiz zurückzukehren. Ich wollte noch mehr von Italien sehen und hegte den Plan bis nach Sizilien zu reisen. Doch meine einheimischen Tischnachbarn warnten mich und meinten ab Rom würde Italien nicht mehr existieren und ich würde Zustände wie in Afrika vorfinden. Doch sie konnten mich von meinem Vorhaben nicht abhalten. Ein Studien-Kollege, der Costas Paximadas, ein Grieche aus Thessaloniki, entschied sich mit mir zu reisen. Da wir Beide nicht viel Geld hatten, entschieden wir uns per „Auto-Stop“ den südlichen Teil Italiens zu entdecken.
Wir wollten keine Zeit verlieren und so machten wir uns nach den drei Monaten Studium sofort auf den Weg. Zuerst ging es etwas mühsam (mit 9 verschiedenen Autos) via Rom nach Napoli wo wir uns sofort im Hafen nach Palermo einschifften; in der dritten Klasse natürlich. Morgens um 07.30 Uhr kamen wir dort an und suchten uns zuerst eine günstige Unterkunft. Dann besuchten wir die Stadt und badeten sogar im Meer. Das Essen nahmen wir in der Mensa der Universität ein, denn dort war es am billigsten. Am nächsten Morgen wandelte ich noch etwas schlaftrunken zur Toilette. Doch spätestens vor der Türe zur Toilette wurde ich voll wach, denn es kam mir ein bestialischer Gestank entgegen. Als ich die WC-Türe öffnete musste ich feststellen, dass bereits alle anderen Pensionäre des Hauses die Toilette benutzt hatten und die WC-Schüssel daher bis fast an den Rand voll war. Schleunigst zog ich an der Kette des Spülkastens um die Exkremente runterzuspülen und um die Toilette sauber benützen zu können. Doch da hörte ich hysterische Schreie im Hausgang. Es war die Mama der Pension die mich beschimpfte, weil ich mir erlaubte zu spülen. Halb schläfrig hatte ich nicht bemerkt, dass eine Notiz über dem WC verlangte die Spülung wegen Wassermangels nicht zu betätigen. Die Mama schrie noch lange im Hause, aber irgendwie ignorierte ich sie. Mir war eine leere und saubere WC-Schüssel viel wichtiger. Ich hatte ja nicht gewusst, dass Wasser auf Sizilien Mangelware war und konnte anschliessend das Lamentieren der Mama auch verstehen. Ich hatte wertvolles Wasser ganz egoistisch für mich alleine vergeudet. Aber nun wusste ich, dass ich die Toilette nach Benutzung nicht spülen durfte, etwas das ich ganz sicher nicht nochmals ignorieren durfte. Dies war mein erstes Erlebnis auf Sizilien.
An diesem Tag ging die Reise dann weiter nach Agrigento und Caltanisetta, wo wir beim Dorf-Pfarrer Unterschlupf fanden. Am Morgen früh ging es weiter in Richtung Piazza Armerina. Allerdings hatten wir an diesem Morgen wenig Glück und machten einen grossen Teil des Weges bei strahlendem Wetter zu Fuss. Am Ziel angekommen besuchten wir die Villa Imperiale mit den sehr gut erhaltenen Mosaiken. Zum Glück fanden wir hier Leute die uns mit ihrem Auto bis nach Siragusa mitnahmen, wo wir in einem kleinen Hotel übernachteten. Ich hatte schon am Anfang der Reise bemerkt, dass mein Freund Costas, oder von uns auch „Biscotto“ genannt, sehr starken Fuss-Schweiss hatte. An diesem Abend erfüllte der üble Geruch das ganze Hotelzimmer und so bat ich ihn die Füsse und die Socken zu waschen. Als er nicht reagierte nahm ich kurzerhand die Socken, legte sie ins Waschbecken und wusch sie einigermassen geruchlos. Nachher hängte ich sie ans Fenster zum trockenen. Doch ich hatte nicht mir der Feuchtigkeit von Siragusa gerechnet und so waren sie am Morgen noch genau so nass wie am Abend zuvor. „Biscotto“ schätzte mein Waschfieber überhaupt nicht und da er keine Ersatz-Socken bei sich hatte, musste er ohne Socken in die Schuhe schlüpfen.
Am Morgen besuchten wir das römische Amphitheater, das griechische Theater und das „Ohr des Dionisios“, das 60 Meter lang und 23 Meter hoch ist. Die Leute, die uns am Vortag nach Siragusa mitgenommen hatten, luden uns ein sie weiter nach Catania und Taormina zu begleiten. Erfreut nahmen wir die Einladung an, denn so konnten wir unnütze Zeit am Strassenrand vermeiden. In Taormina nahmen wir dann den Bus bis nach Messina wo wir übernachteten. Schon um 05.15 Uhr mussten wir am nächsten Morgen aus dem Bett, denn wir wollten mit dem Zug um 06.10 zurück nach Napoli fahren. In Paestum machten wir einen Halt und besuchten den Tempel Poseidon. In Napoli fanden wir eine günstige Herberge und erinnerten uns erstmals an unsere italienschen Tischgenossen in Perugia. Ein Spaziergang in den Strassen der Altstadt war voll von Überraschungen und wir waren froh anschliessend wieder sicher im Hotel zu sein. Man war ja nie sicher von etwas getroffen zu werden das via ein Fenster entsorgt wurde. Von Napoli machten wir einen Tagesausflug nach Pompeji und besuchten die Überreste der römischen Stadt sowie den aktiven Vulkan von Solfatara. Am nächsten Tag ging es mit dem Schiff auf die Felseninsel Capri, eine Insel die man unbedingt einmal im Leben gesehen haben muss („Vedi Napoli e poi muori“). Am Samstag. 8. Juni, ging es mit der Bahn zurück nach Rom und von dort per „Auto-Stop“ nach Perugia. Wir hatten grosses Glück, denn sofort hielt ein Auto und der Fahrer nahm uns bis nach Perugia mit. Mit vielen schönen Erinnerungen im Gepäck und Wanzen in der Unterwäsche, kehrte ich in die Pension Zangarelli zurück, wo ich noch bis am 26. Juni blieb.
(5) Die bekannten Schkoladen-Küsse aus Perugia

Während der Zeit in Italien konnte ich meine Sprachkenntnisse sehr verbessern und fühlte mich daher sicher und bereit im technischen Büro von Märki’s zu arbeiten. Doch bald erhielt ich das Aufgebot für meinen ersten Wiederholungskurs (WK). Vom 10. bis 17. August war ich in Bülach und dann vom 6. bis 21.September in Lyss beim Brieftauben-Dienst. Kaum zurück in Locarno bat mich mein Vater um sofortige Hilfe. Er hatte den Auftrag für die sanitären Installationen im Neubau der Bank Bütschwil in Lachen bekommen und war schliesslich damit überfordert. Pflichtgetreu aber mit riesiger Enttäuschung, Traurigkeit und Frust verliess ich die Firma Märki. Alle meine Anstrengungen in Märki’s Büro zu arbeiten waren plötzlich wertlos und damit eine Illusion geplatzt. Aber auch Herr Märki schien enttäuscht und ich schämte mich ausserordentlich ihn nach all seinen Anstrengungen und nach so kurzer Zeit wieder verlassen zu müssen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mich mein Vater an sich binden wollte und dass er meine angestrebten beruflichen Ambitionen weder tolerieren noch verstehen konnte.

Sofort nach der Ankunft in Lachen half ich meinem Vater und arbeitete auf der Baustelle der neuen Bank Bütschwil. Es war keine komplizierte Installation und wir kamen zügig voran, doch das Projekt war sichtlich eine riesige Herausforderung für meinen Vater. Ich spürte, dass er mit seinen 58 Jahren schon nicht mehr so wie früher belastbar war und versuchte dies auch zu verstehen. Doch gleichzeitig fühlte ich Unmut, weil ich eine berufliche Weiterentwicklung im Tessin verpasst hatte und er dies als normale Pflicht seines Sohnes verstand. Zudem hatte ich Mühe zu begreifen warum er nicht bereit war die Werkstatt etwas zu modernisieren oder wenigstens die Arbeitsplätze angenehmer zu gestalten. Nicht einmal die wenigen Glühbirnen mit ihrem schlechten Licht wollte er mit hellen Neonleuchten ersetzen. Seine Antwort war immer dieselbe: „Wir haben es immer so gemacht und ausser dir hat sich bis anhin niemand daran gestört“. Es blieb also alles beim Alten. Damit war mir klar, dass eine gute und harmonische Zusammenarbeit im Betrieb meines Vaters aussichtslos war und dass ich mir erneut für eine Alternative umsehen musste.
Gleichzeitig träumte ich oft von der glücklichen Zeit in Locarno und Perugia. Die damaligen Freunde und Bekannten waren mir ans Herz gewachsen und so blieb ich weiterhin in Kontakt mit ihnen. Im August erhielt ich von Elisabeth Tschanz eine Einladung für ein Pizza-Weekend in Sumiswald. Zu meiner Überraschung meldeten sich fast alle ex Bewohner der „Pensione Zangarelli“ für das Wochenende vom 12./13. Oktober und so zelebrierten wir als Erstes ein fröhliches Wiedersehen. Dann gab es viel zu erzählen, Fotos anzuschauen, italienische Musik ab Schallplatte zu hören und das feine Essen zu geniessen. Am Abend versuchte ich die ganze Gesellschaft mit einer Pantomime Vorstellung (Dimitri) zu unterhalten. Etwas melancholisch mussten wir uns dann am Sonntagnachtmittag leider wieder trennten um wieder unserer Arbeit nachzugehen.
Ein Freund erzählte mir von einer Alphütte im Wägital, die man im Winter möglicherweise mieten konnte. Da kamen mir gleich die freien Tage übers Neujahr in den Sinn und dass dies eine Möglichkeit wäre um dort, ohne jemand zu stören, Silvester zu feiern. Von dieser Idee waren wir sofort begeistert und begannen den Eigentümer ausfindig zu machen. Nachdem dies gelungen war, entschieden wir uns die Hütte, das „Ahöreli“, zusammen mit dem Besitzer zu besichtigen. Da es damals keine Strasse bis zur Hütte gab, fuhren wir zuerst mit dem Auto bis zur Sattelegg und gingen dann zu Fuss bis zum „Ahöreli“. Dort trafen wir uns mit dem Bauern, inspizierten die Hütte und einigten uns schon nach kurzer Zeit. Er war sehr freundlich und erlaubte uns sie sogar bis zur Ankunft seiner Kühe im Frühling benutzen zu dürfen. Natürlich war die Alphütte nur für den Sommerbetrieb gedacht und deshalb entsprechend einfach eingerichtet. Doch das störte uns nicht und liess uns von unserer Absicht Silvester dort zu verbringen nicht abhalten. Mit dieser positiven Nachricht war der Weg frei Freunde und Bekannte von der Silvester Party zu informieren. Bald hatten sich etwas zehn Personen für den gemeinsamen Silvester gemeldet und kamen dann ende Jahr auf den gleichen Weg von der Sattelegg zu Fuss zur Hütte. Zum Glück hatte es noch fast kein Schnee und so war der Weg problemlos begehbar.
(1) "Ahöreli" im Wäggital
(2) "Ahöreli" im Wäggital
Es war eine gemischte Gruppe von Freunden aus Lachen, der Zeit in Cressier und Perugia. Da es keinen Schnee hatte genossen alle erst einmal das schöne Wetter über dem Nebel und die wunderbare Natur. Nach einem fröhlichen Silvesterabend fanden alle irgendeine Beschäftigung im Haushalt. Im Winter gab es kein fliessendes Wasser und so mussten wir uns von draussen Schnee holen und ihn in dem riesigen Kupferkessel in Wasser verwandeln. Erst dann konnten wir uns einen Kaffee kochen. Eigentlich diente dieser Kessel im Sommer für die Käseproduktion und so musste er nun ungewollten „Winterdienst“ leisten. Ausser dem Kessel gab es in der Hütte eine Art offene Küche wo ein Kochherd mit Holzfeuerung stand. Nebenan war eine kleine Stube wo wir uns zum Essen, zum Jassen und faulenzen aufhielten. Obwohl aus dem erhofften Wintersport in diesen vier Tagen nichts geworden war, genossen wir die unbeschwerten Tage und bestiegen zusammen als Alternative bei fast frühlingshaftem Wetter sogar den „Kleinen Aubrig“.
Bereits im Februar war ich wieder im „Ahöreli“, und zwar zur Verlobung von meinen beiden Freunden Margrit und Werner. Unterdessen hatte es geschneit und so konnten wir die Alp nicht mehr von der Sattelegg her erreichen. Wir mussten deshalb den Höhenunterschied von 300 Meter vom Stausee im Vordertal bis zum „Ahöreli“ zu Fuss hinaufkraxeln und dabei unsere ganze Verpflegung mitschleppen. Doch es hatte sich gelohnt, das Wetter war traumhaft schön und die Stimmung perfekt. Aber es war nicht nur Verpflegung, sondern auch eine Flasche Schnaps die ich hinauf geschleppte. Als meine Mutter per Zufall die Flasche in meinem Gepäck entdeckte wurde sie plötzlich sehr aufgebracht. Sie schien überzeugt, dass ich nun Alkoholiker geworden sei oder auf dem besten Weg sei einer zu werden. Zum Glück konnte ich ihr schliesslich versichern, dass wir den Inhalt nur zum Flambieren und Einreiben bei Stauchungen benützen würden.
Für die Verlobung hatte ich mir ein ganz spezielles Ritual ausgedacht. Um zu beweisen, dass das zukünftige Paar bereit war das ganze Leben harmonisch zusammen zu leben und zu arbeiten, mussten sie mit einer grossen Säge einen etwa 40 cm dicken Baumstamm, oder „Trämel“, gemeinsam in zwei Stücke schneiden. Der symbolische Akt war gelungen, aber scheinbar war der Baustamm nicht dick genug gewesen um ein lebenslanges Zusammensein zu garantieren. Das „Ahöreli“ war uns allen sehr ins Herz gewachsen und so nahmen wir den mühsamen Aufstieg zu Fuss bis im Frühling immer wieder in Kauf. Aber eben, auch das gute „Ahöreli“ konnte mich von meinem ständigen Drang mich beruflich zu verändern nicht abhalten. Damals war das Finden einer Anstellung kein Problem. Und so musste ich meinem Vater eines Tages erklären, dass ich meinen Traum als Sanitär-Zeichner zu arbeiten nicht aufgegeben hatte und eine Anstellung in einem Ingenieur Büro in Zürich gefunden hätte. Er war natürlich alles andere als glücklich, doch ich musste diesmal hart bleiben und meinen eigenen Weg gehen.

Anfangs Februar begann ich in diesem Büro, wo mir sofort das Projekt der sanitären Installationen im Neubau einer Grossgarage übergeben wurde. Eigentlich war es ein sehr interessantes Projekt das mich hätte motivieren müssen. Doch die Stimmung im Büro war miserabel und so fühlte ich mich von Anfang an äusserst unwohl. Es war vor allem der mangelnde Kontakt unter den Arbeitskollegen. Immer war es mäuschenstill im Raum, denn niemand sprach während der Arbeit. Am Mittag nahm jeder sein Sandwich aus der Schublade und ass es hastig um nachher sofort wieder weiter zu arbeiten. Allerdings hinderte mich dieses Benehmen nicht ganz alleine auswärts in einem Restaurant das Mittagessen einzunehmen. Doch nach zwei Woche isoliert von den anderen Mitarbeitern zu funktionieren hatte ich bereits genug. Es war mir einfach alles viel zu steif und „bünzlig“ in dieser Firma. Nach dieser erneuten, unbefriedigenden Erfahrung wollte ich nur noch eines: weg aus dieser Firma. Aber zurück nach Hause mit den Problemen im Betrieb und den Spannungen in der Familie wollte ich auch nicht mehr.
Da ich immer wieder von den genossenschaftlichen Siedlungen in Israel, den Kibbuz, gehört hatte, kam ich auf die Idee für einige Zeit dort zu leben und dabei etwas Vernünftiges und Nützliches zu tun. Ich hatte scheinbar schon damals ein gewisser Helfersyndrom. Aber dann kam mir eines Tages ein Prospekt des SCI in die Hände. Man suchte Freiwillige für eine Baustelle in Algerien. Ohne lange und genau zu überlegen auf was ich mich da eigentlich einliess, meldete ich mich sofort an und verliess die Schweiz nachdem ich eine Zusage erhalten hatte. Natürlich war mein Entscheid ein ausserordentlicher Schock für meine Eltern und sie warnten mich in ein Land zu reisen, das eben erst einen Unabhängigkeits-Krieg (zwischen dem französischen Militär und der algerischen Unabhängigkeitbewegung FLN) und einen Bürgerkrieg (zwischen den algerischen Loyalisten und der FLN) hinter sich hatte. Natürlich war ich mir bewusst, dass sie sich Sorgen um mich machten, doch ich liess mich diesmal nicht von meinem Vorhaben abhalten und wollte ihre Warnungen nicht hören.

Am 1. April 1964 sass ich im Zug nach Marseille um von dort ganz alleine mit dem Schiff nach Oran zu reisen. Obwohl ich den Sinn und Zweck des Zivildienstes verstand und die Nordafrika-Berichte des SCI gelesen hatte, war mir in diesem Moment eigentlich gar nicht bewusst auf was ich mich eingelassen hatte. Ich war ja schliesslich kein Kriegsdienstverweigerer und wusste deshalb nicht, wie man mich in einer Gruppe von Zivildienstlern aufnehmen würde. Auch wusste ich nichts über Algerien, seine Geschichte und seine Kultur. Aber das schien mir alles unwichtig zu sein. Der Drang von zu Hause wegzugehen war zu stark und so hoffte ich einfach, dass alles gut gehen wird. In Marseille war es regnerisch und schon dunkel als das Schiff Europa verliess. Es war also keine Kreuzfahrt mit Sonne und wunderbarer Aussicht auf das blaue Meer. Im Gegenteil, in der billigsten Klasse war man eingepfercht in grossen Schlafräumen und sah nichts als die weissen Innenwände des Schiffes. Zudem war starker Wellengang und so hatte ich bald mit der Seekrankheit zu kämpfen. Um zu vermeiden, dass meine Habseligkeiten nicht gestohlen wurden, hatte ich sie immer neben mir.
(1) Der absolute Kontrast : verschleierte Frauen vor der Werbung für einen Nachclub!
Bei der Ankunft im Hafen von Oran war ich erst einmal überrumpelt von dem emsigen Treiben. Es schien mir komisch, dass die Männer in einer Art weissen, langen Nachthemden, der Djellaba, und weissem Turban herumrannten, während die Frauen, auch in weiss gekleidet, aber den Kopf mit einem weissen Tuch bedeckt hatten. Sie versteckten sogar ihr Gesicht darunter und zogen die beiden Seiten des Tuches wie ein Vorhang so zusammen, sodass sich eine kleine, dreieckige Öffnung vor einem einzigen Auge bildete. Aus diesem Dreieck wurde ich, der Weisse aus Europa, diskret beobachtet. Sobald ich zu ihnen hinschaute, wurde auch diese Öffnung geschlossen. Dieser erste Eindruck war für mich etwas beklemmend und unheimlich. Zum Glück wusste ich damals nicht, dass ich mich in der Stadt befand wo am Unabhängigkeitstag, am 5. Juli 1962, also vor nur zwei Jahren, eine wütende Menge von Einheimischen ein von Europäern (Pieds-Noir) bewohntes Quartier stürmte und allen Bewohnern die Kehle durchgeschnitten hatte. Man sagt, dass das Massaker damals zwischen 1'500 und 3'500 Tote forderte, aber genaue Zahlen gab es nie. Doch die jüngste Vergangenheit interessierte mich nicht. Auch in Oran war das Wetter nicht besser als auf dem Meer. Anstatt unter gleissender, nordafrikanischer Sonne suchte ich im strömenden Regen den Autobus der mich nach Tlemcen bringen sollte. Die Männer waren erstaunlich hilfreich und begleiteten mich bis an den Ort, von wo die Busse wegfuhren. Nach all den ersten Eindrücken fühlte ich mich auf der Fahrt nach Tlemcen aber doch langsam verloren und kleinmütig. Aus diesem Grund nahm ich nach der Ankunft in Tlemcen ein Taxi, das mich zum Hauptbüro des SCI brachte. Die Empfangs-Formalitäten waren schnell erledigt und sofort wurde ich in einen Landrover verfrachtet, der mich ins „Fort“ brachte, wo die Freiwilligen untergebracht waren.
a) Das „Fort“, die Unterkunft der Freiwilligen
Das „Fort“ befand sich auf einer Anhöhe nahe der marokkanischen Grenze und etwa 47 km von Tlemcen entfernt. Da man von hier einen freien Ausblick über das ganze Tal hatte, war es strategisch gut gelegen und wurde deshalb früher von der Armee sowie der französischen Fremdenlegion benutzt. Vor ihrem Abzug wurde viel demoliert und der Rest in einem miesen Zustand hinterlassen. Sämtliche Fenster und Türen wurden verbrannt, die elektrische Installation und die Wasserversorgung zerstört und die Wellblechdächer wahrscheinlich mit Maschinengewehren total durchlöchert. Das „Fort“, was auf Deutsch Festung heisst, war deshalb eher eine Ansammlung von verlotterten Behausungen, welche die Freiwilligen des SCI inzwischen nach und nach notdürftig reparierten.
(2) Das Fort, unsere Unterkunft auf dem Hügel, früher von der französischen Fremdenlegion benutzt
Es gab wohl elektrischen Strom, aber kein fliessendes Wasser auf dem „Fort“ und so musste man fast alle paar Tage mit dem Lastwagen hinunter zum Bach fahren, um dort mit einer Pumpe Wasser in die mitgebrachten Fässer zu pumpen. Zurück auf dem „Fort“ wurde das Wasser dann von diesen Fässern in einen grösseren Wassertank an der Aussenwand der Küche geleitet. An diesem Tank befand sich ein Wasserhahn an dem sich alle Bewohner mit dem kostbaren Nass bedienten. Es war auch die Stelle, wo die Köchinnen das nötige Wasser für die Mahlzeiten holten, wo man sich die Hände wusch, die Zähne putzte, etc. Da das Wasser aus dem Bach kam, war es empfohlen, nur abgekochtes oder mit Chlor behandeltes Wasser zu trinken. Natürlich gab es auch keine Waschmaschinen, und so kam jede Woche eine Frau aus dem Dorf, um für ein kleines Entgelt unsere Wäsche zu waschen. Mit vollem Vertrauen übergab ich ihr meine Wäsche. Doch nur schon nach wenigen Malen hatten die Elastikbänder meiner Unterhosen ihre Kraft verloren. Um die Unterhosen nicht ständig hochziehen zu müssen, kürzte ich die Elastik-Bänder fast jede Woche erneut. Als ich nach der Ursache suchte, fand ich heraus, dass die gute Frau die Wäsche mit Javelwasser reinigte. Das Produkt ist zwar sicher wirksam für die Desinfektion bei Viren, Bakterien und Pilzen, doch für meine Wäsche war es sichtlich ungeeignet. Obwohl ich vom Waschen keine Ahnung hatte, entschloss ich mich selbst zu waschen. Ich begann mit meinem heiss geliebten, grünen Pullover, der so schmutzig war, dass ich mich schämte ihn zu tragen. In der Küche suchte ich mir deshalb ein geeignetes Gefäss und fand eine grosse Frittierpfanne. Ich füllte die Pfanne mit Wasser, schüttete das Waschpulver dazu und tauchte dann meinen Pullover in das Seifenwasser. Anschliessend entfachte ich eine der Flammen am Gasherd und liess das Wasser warm werden. Natürlich war es mir zu langweilig neben der Pfanne zu warten und so machte ich unterdessen etwas anderes. Als ich zurückkam war das Wasser heiss und der Pullover auf der Seite des Pfannenbodens braun geworden. Mein schöner Woll-Pullover war angebrannt! Aber mein Jammern nützte nichts, denn ich hatte keinen anderen Pullover und musste ihn deshalb trotz seinem Schönheitsfehler weiterhin anziehen. Heute wäre er sicher eine ideale Kombination mit zerrissenen und verfärbten Jeans, ja vielleicht sogar eine Inspiration für Modeschaffende!
Es gab nur drei Toiletten, die aber eher so etwas wie Latrinen waren. Die Fäkalien fielen nicht in ein tiefes Loch, sondern in jedem WC in einem Behälter der eine antiseptische Lösung enthielt. Diese Behälter mussten von Zeit zu Zeit geleert und gereinigt werden. Dabei musste man die Behälter zu zweit ziemlich weit über unwegsamem Gebiet tragen und den Inhalt dann in ein bestehendes Loch zwischen Felsbrocken leeren. Wer kein gutes Schuhwerk hatte oder nicht gut zu Fuss war, riskierte ein Missgeschick, das nicht sehr angenehm sein konnte. Ausserdem fragte ich mich wo die Jauche anschliessend eigentlich hin floss und wo sie später wieder an die Oberfläche kam.
(3) Der Hauptplatz des Fort mit der Küche und dem Aufenthaltsraum hinten in der Mitte.
Das „Fort“ war eingezäunt und die Behausungen parallel angeordnet, wobei sich dazwischen eine Art Garten befand. Sie waren alle sehr notdürftig eingerichtet und man schlief nicht in richtigen Betten, sondern in Schlafsäcken auf Feldbetten oder einfach auf einer Pritsche. Die Küche und der Aufenthaltsraum befanden sich am unteren Ende dieser Unterkünfte. Auch sie waren nur mit dem Wichtigsten eingerichtet und wenn es regnete, wurde man sich der vielen Löcher in den Wellblechdächern bewusst. Man versuchte jeweils mit Unterstellen von Eimern das Problem zu reduzieren. Etwas unterhalb dieses Gebäudes befand sich eine Dusche, die aber nur selten und nur an Wochenenden benutzt wurde. Sie war freistehend und sah aus wie eine Toilette. Auf ihrem Dach war ein 200-Liter Fass, das vor einer Dusche jeweils erst mittels eines Kunststoffschlauchs mit Wasser aus dem grossen Tank gefüllt werden musste. Von diesem Fass ging eine Leitung in die Dusche. Es wurde immer kalt geduscht, etwas das im Sommer kein Problem war, aber bei tiefen Temperaturen einigen Mut brauchte.
b) Die Umgebung.
Die Umgebung war unwirtlich und wurde vor allem von den vielen grossen, ja riesigen Felsbrocken, sowie den nahe gelegenen Bergen von bis zu 1500 Meter Höhe geprägt. Im Frühling, nach meiner Ankunft, waren die Gipfel morgens oft weiss „gezuckert“, denn es wurde immer sehr kalt in der Nacht. In der ganzen Umgebung wurden während der Kriege Tretmienen verlegt. Also verliess man weder die asphaltierte Strasse noch die Maultierpfade und riskierte auch keine gefährlichen Spaziergänge in der unberührten, wilden, aber schönen Natur. Nur der Himmel schien uns sicher und so genossen wir ihn besonders nachts. Ohne Dörfer oder Städte in der Nähe gab es keine künstliche Aufhellung des Nachthimmels oder moderner ausgedrückt: Lichtverschmutzung. Jeden Abend, aber speziell bei Leermond, war der Himmel ein unfassbares Spektakel. Millionen von Sternen schienen unaufhörlich über uns vorbeizuziehen. Oft legte ich mich auf den noch warmen Boden, um den Himmel zu beobachten und über das überwältigende Schauspiel zu staunen und zu träumen. Ich habe später nie mehr einen so schönen Himmel mit so vielen Sternen gesehen.
(4) Das kleine Dorf Khemis
In ein paar Kilometer Entfernung befand sich das kleine Dorf Khemis. Man konnte es gut und sicher zu Fuss erreichen. Die Dorfbewohner waren freundlich, aber auch zurückhaltend. Überall sah man Frauen bei der Arbeit. Sie beherrschten das Flechten von Körben und flachen, farbigen Tellern. Auf ihren einfachen Webstühlen fertigten sie wunderbare Decken und Sisal-Teppiche mit farbenfrohen Mustern. Die Männer hielten in kleinen Buden Zigaretten, Datteln und andere Kleinigkeiten feil. Obwohl man hier auch Salz, Zucker, Mehl und andere wichtige Lebensmittel fand, mussten wir für grössere Einkäufe nach Tlemcen fahren. Bei meinem ersten Besuch des Dorfes war ich sehr betroffen, ja sogar bestürzt über die Armut der Leute, ganz besonders aber beim Anblick der zerlumpten Kinder mit den schmutzigen Gesichtern. Trotz meines sehr mageren Geldbeutels kaufte ich kurz entschlossen eine Tüte Datteln und wollte diese den Kindern, so wie in der Schweiz, „ehr und redlich“ verteilen. Doch ich war naiv und hatte nicht mit der Reaktion hungernder Kinder gerechnet. Kaum hatte ich die Tüte mit den Datteln in den Händen und wollte mit der redlichen Verteilung beginnen, da wurde sie mir aus der Hand gerissen. Sofort balgte sich ein Schwarm kreischender Kinder vor mir auf dem staubigen Boden und jedes Kind versuchte eine Dattel zu erhaschen. Das Ganze dauerte nur Sekunden und ich blieb anschliessend wie versteinert noch eine Weile am gleichen Ort stehen. Es war das erste und letzte Mal, dass ich ein liebevoller Europäer sein wollte. Ich wurde mir bewusst, dass ich tatsächlich weder über das Land, seine Kultur, noch seine Religion etwas wusste. Es war höchste Zeit sich besser über Land und Leute zu informieren.
(5) Auf dem Sonntagssparziergang zum nahegelegenen Dorf Khemis
Hinter dem Dorf erhob sich steil ein Berg von wo man eine wunderbare Aussicht auf das Dorf und das Tal hatte. Auf dem Gipfel befand sich die Grabstätte eines islamischen Heiligen, bzw. eines „Marabout’s“, denn im Islam gibt es ja keine Heiligen im christlichen Sinne. Er ruhte unter einem sehr alten Baum, umzäunt von einer kleinen, mit Kalk geweissten Mauer. Marabout’s waren oft auch Mystiker und so glaubte man, dass das Berühren seines Grabes Segen bringen würde. Nach altem Brauch umrundeten die Besucher das Heiligengrab drei Mal und baten dabei meistens um Heilung bei Krankheit oder auch Beendung von Fehden zwischen Familien. Manchmal wurden auch Opfergaben zurückgelassen und immer waren Leinen über seinem Grab gespannt, an denen farbige Tücher oder Teile von Kleidern hingen. Anfangs hatten wir keine Ahnung was der Grund für die im Winde flatternde Wäsche war. Erst später erfuhren wir, dass wenn man diese Textilien über dem Grab des Heiligen mit seiner Segenskraft vollsaugen liess, man seinen Segen nachher mit nach Hause nehmen konnte. Nachdem wir dies wussten, begegneten wir dieser Grabstätte bei Ausflügen auf den Berg mit viel mehr Respekt. Im Vergleich zu Grabstätten anderer „Marabout’s“ war diese eigentlich sehr bescheiden, denn oft wurde über das Grab noch eine Art Kuppel gebaut die dann das Grab zu einem weit sichtbaren Mausoleum machte.
(6) Die Grabstätte eines islamischen Heiligen, bzw. eines "Marabouts"
Weiter unten im Tal gab es grosse Felder, wo früher wohl Getreide und Mais angepflanzt wurden. Der Boden in der niederschlagsarmen Gegend war mager und felsig. Zudem hatte es auf diesen Feldern ausserordentlich viele Steine in allen Grössen, die eine effiziente Bepflanzung schwierig machten. Obwohl eine grosse Maschine an Ort bereitstand, um die Steine maschinell zu sammeln und zu entfernen, wurde sie nicht benutzt. Wahrscheinlich war sie ein Geschenk einer Hilfsorganisation gewesen, die es unterlassen hatte die Einheimischen für dessen Gebrauch zu schulen. Während der sechs Jahre Krieg war es unmöglich gewesen, die Felder normal zu nutzen. In dieser Zeit wurde die algerische Landbevölkerung abwechslungsweise entweder von der algerischen FLN oder von den französischen Truppen unter Druck gesetzt und musste so ihre letzte Habe dem Krieg opfern. Die Folge war Mangel an Getreide, der aber meistens mit Lieferungen der USAID überbrückt worden war. Nach dem Krieg wurden die Lieferungen von Getreide eingestellt und stattdessen einmalig Saatgut geliefert. Doch mangels klarer Kommunikation wurde das Saatgut von der Bevölkerung bedauerlicherweise als normales Getreide verzehrt und die Felder als Folge nicht angepflanzt. Als dann im kommenden Frühling die Lieferung von Getreide aus den USA ausblieb, gab es einen riesigen Aufschrei und die USAID wurde beschuldigt, die armen Bauern verhungern zu lassen. Ein solcher Fall war und ist noch immer ein klassischer Fall von ineffizienter und unkoordinierter Hilfeleistung in Entwicklungsländern.
c) Das Projekt
(7)
Meine erste Begegnung mit dem Resultat eines sinnlosen Krieges.
Etwas unterhalb der Anhöhe hatten sich 37 von den ehemals 150 Familien niedergelassen, die während des Bürgerkrieges ihre Häuser verloren hatten und nun in Zelten oder Strohhütten hausten. Um sich nachts vor den wilden Tieren wie Schakale und Wildschweine zu schützen, waren diese Behausungen mit viel stachligem Gestrüpp überdeckt. Es war meine erste Begegnung mit dem Resultat eines sinnlosen Krieges. Der Anblick der Ansammlung von Strohhütten und der verarmten Leute machte mich fassungslos. Aber es gab mir gleichzeitig auch die Bestätigung, dass mein Entschluss richtig war, nach Algerien zu reisen und mit meinem Einsatz diesen Leuten eine menschenwürdige Bleibe zu verschaffen. Das Dorf der vertriebenen Leute, das früher Beni Hamou hiess, befand sich nicht weit von der improvisierten Siedlung entfernt, war aber bis zu 80% zerstört. Anfänglich war es für mich unerklärlich, wieso man dieses Dorf nicht wiederaufbaute und stellte diese Frage den verantwortlichen des SCI. Man sagte mir, dass es der Wille der algerischen Behörden gewesen sei, ein neues Dorf zu erstellen und dass der Kommandant der Armee jener Region vorgeschlagen hatte, dass sich SCI dem Bau des neuen Dorfes El Fas annehmen soll. Betroffene Dorfbewohner sagten mir allerdings später, dass der eigentliche Grund für ein neues Dorf ihr eigner Wille war. Sie wollten nicht zurück an einen Ort, wo es viele Tote gegeben hatte und deren Geist immer noch in den Ruinen weiterlebten. Die Toten durften nicht gestört werden.
(8) Das zerstörte Dorf El Fas in das niemand zurückkehren wollte.
Anfangs waren die Leute im Zeltdorf sehr misstrauisch und der Kontakt schwierig. Nach 6 Jahren Krieg hatten sie kaum mehr Hoffnung auf Hilfe und so konnte man ihre Reaktionen nur zu gut verstehen. Doch als der Bau Wirklichkeit wurde, änderte sich die Situation, denn die Dorfbewohner wurden im Projekt integriert und das verbesserte den Kontakt merklich. Da es um ihr eigenes Dorf ging, verlangte der SCI, dass die Bewohner ihre Häuser gemeinsam mit den Freiwilligen erstellten. Abwechslungsweise arbeiteten deshalb jeden Tag ein paar Männer mit uns auf dem Bau. Doch ihre Arbeitsmoral liess meistens sehr zu wünschen übrig. Sie waren nicht gewohnt, so verlässlich wie wir zu arbeiten. Um sie zu motivieren und den Kontakt weiter zu fördern, teilten wir jeden Tag das Mittagessen mit ihnen auf dem „Fort“. Dies erlaubte uns gleichzeitig in fast kollegialer Atmosphäre etwas Arabisch zu lernen. Dabei fiel besonders ein junger, fröhlicher und immer hilfsbereiter Bursche auf. Er sprach etwas französisch und hiess Milou. Er fehlte nie auf der Baustelle und wusste auch immer zu vermitteln, wenn es Probleme mit den Einheimischen gab. Da er sich sehr für das Projekt einsetzte, entschied sich der Leiter, Milou als Vorarbeiter zu ernennen. Dies verursachte aber sofort Eifersucht unter den Einheimischen, doch als er sein Können bewies, wurde er auch von ihnen in seiner neuen Rolle akzeptiert. Milou teilte dann auch öfters seine Freizeit mit uns auf dem „Fort“ und begleitete uns Freiwillige auch auf unseren Spaziergängen.
Als das Projekt von den lokalen Behörden bewilligt war, begann der SCI sofort europaweit Freiwillige für die Aufbauarbeiten zu suchen. Leider machte man dabei den grossen Fehler alle Freiwilligen, die sich für einen Einsatz verpflichten wollten, ohne Interview oder Eignungstest anzunehmen. Dies führte dazu, dass ein grosser Teil dieser jungen Leute den psychischen Belastungen gar nicht gewachsen war und zudem keine Fachkenntnisse mitbrachten. Am schwierigsten war es für die Lehrer und Akademiker unter den Freiwilligen, denn die meisten waren manuelle Arbeit gar nicht gewohnt. Nur gute Absichten um zu helfen, genügten eben bei der harten Arbeit in einem Entwicklungsland meist nicht. So ereigneten sich nach etwa drei Wochen meistens moralische und gesundheitliche Zusammenbrüche von Freiwilligen. Man nannte dieses Phänomen auch „Kulturschock“. All die unzähligen und ungewohnten Eindrücke und Erlebnisse mental zu verarbeiten war nicht einfach und so traten auch bei mir Störungen auf. Immer wieder hatte ich hohes Fieber und konnte keine Nahrung zu mir nehmen, was mich natürlich sehr schwächte. Leider gab es zu dieser Zeit niemand auf dem „Fort“ der mir und weiteren Erkrankten hätte helfen können. Eines Tages kam unerwartet „Faith“ in meine Behausung. Sie arbeitete in der Küche und hatte gehört, dass es mir nicht gut ging. Sofort benachrichtigte sie Mary, die mich mit dem Landrover nach Tlemcen in eine Klinik brachte. Dort wurde eine Blutprobe genommen und auf Typhus geprüft. Nachdem sich das Resultat negativ erwies begann man zu vermuten, dass ich nicht wirklich krank war, sondern einfach an einem Kulturschock litt. So fanden meine Kollegen, dass ich erst einmal ein paar Tage Abwechslung „in der Zivilisation“, das hiess im Hauptsitz in Tlemcen unten in der Ebene, brauchte. Es war unglaublich, wie schnell ich mich in diesem „normalen“ Umfeld erholte und wieder zu Kräften kam. Zurück auf dem Fort nahm ich mir vor, öfters über das Wochenende einen Ausflug zu machen, um der damaligen miesen Stimmung auf dem „Fort“ zu entfliehen.
(9) Die Baustelle für das neue Dorf El Fas mit den Bergen im Hintergrund
Das Problem mit den unqualifizierten Freiwilligen hatte auch einen negativen Einfluss auf den Bau der vorgesehenen 37 Häuser. Durch die vielen Fehler wurde die Bauzeit ausserordentlich in die Länge gezogen. Obwohl es das Ziel gewesen war, nach lokaler Bauart zu bauen, sahen die aus Beton gegossenen Häuser schliesslich aus wie hässliche Bunker. Dabei wurden zum Beispiel die Aussparungen für die Befestigungen der Türen vergessen. Es war auch ein Wasser-Reservoir geplant, das mit Quellwasser gespeist werden sollte. Die Dorfbewohner konnten dann den täglichen Bedarf an Wasser direkt beim Reservoir abholen. Aus diesem Grund brauchte es keine Wasserleitungen in den Häusern und mein berufliches Wissen deshalb nicht erforderlich. Dafür durfte ich die vielen nötigen Löcher für die Montage der Türen von Hand spitzen, eine Arbeit die auch ein unqualifizierter Freiwilliger oder Männer aus dem Dorf hätten machen können. Den Bauingenieur, ein Engländer, schien diese absurde Situation nicht zu stören. Erst als er durch einen jungen Ingenieur aus Schweden ersetzt wurde, gab es eine Änderung. Als dieser erfuhr, dass ich auch Bauspengler war, durfte ich die Flachdächer mit Asphalt abdichten; eine Arbeit die mir leider auch nicht viel mehr Spass machte. Bedauerlicherweise war der Bau zu diesem Zeitpunkt aber schon zu weit fortgeschritten, um elementare Änderungen zu machen oder Verbesserungen anzubringen.
(10) Ein Haus neben der Baustelle, gebaut nach traditioneller Bauweise, also ohne Zement und Beton, sowie ohne externe Hilfe.
Während wir „Experten“ aus Europa mit der Arbeit nur langsam vorankamen, beobachtete ich am Dorfrand einen jungen Dorfbewohner der sein Haus nach traditioneller Bauweise mit Lehm und herumliegenden Steinen selbst erstellte. Während in unserem Projekt nach fast zwei Jahren Bauzeit noch niemand ein Haus beziehen konnte, zog er schon nach wenigen Wochen in sein neues Heim. Dies war für mich der klägliche Beweis, dass das Projekt des SCI wohl gut gemeint war, aber zu stark nach europäischen Prinzipien geplant und mit viel zu viel idealistischen Ideen ausgeführt wurde.
(11) Dieser Zementblock wurde von Gilbert und Tony am 26.06.1964 eingefügt.
Auf der Baustelle gab es keine Toiletten, denn für die Einheimischen war es normal, sich jeden Tag irgendwo in der Natur einen Platz hinter Dornenbüschen zu suchen, um „seine Sache“ zu erledigen. Anfangs war dies für mich sehr ungewohnt und ich fühlte mich, ohne von vier Wänden umgeben zu sein, in der freien Natur irgendwie schutzlos. Auch fand ich es eine Sauerei, wenn sich jeder wahllos in der Umgebung erleichterte. Doch bald musste ich meine Meinung ändern. Da ich gut schweizerisch immer am gleichen Ort meinen Darm entleerte, entstand an diesem Ort eine Deponie von WC-Papier. Der Rest war aber auf mysteriöse Art immer verschwunden und die Stelle immer sauber und geruchlos. Eines Tages musste ich am gleichen Morgen nochmals zurück zu „meinem WC“ und musste feststellen, dass sich riesige Käfer an meinem Kot genüsslich machten. Scheinbar hatte ich ihnen vorhin ein Festmahl serviert. Damit war das Rätsel gelöst und ich wusste auch, warum ich selten in der Umgebung des Projektes auf übelriechende Rückstände von Einheimischen traf. Da sie kein WC-Papier brauchten, waren wir europäisch-stämmigen Freiwilligen somit die Einzigen, die ihr Land verschmutzten. Ihre Methode war diskussionslos 100% biologisch abbaubar und deshalb nicht zu verurteilen. Als Sanitär Installateur beschäftigte mich diese Einsicht aber trotzdem noch lange, denn als Menschen aus den hochentwickelten Staaten waren wir überzeugt, dass die Wasser-Spülung die einzig richtige Methode für die Eliminierung menschlicher Exkremente sei. Dabei wird total ignoriert, dass damit jeden Tag Unmengen von sauberem, aufbereitetem Trinkwasser verschmutzt wird und nachher als Abwasser erneut behandelt werden muss. Ein solch komplexes System ist sehr teuer und für viele Länder oft unerschwinglich. Natürlich funktioniert ihr natürliches System in grossen Agglomerationen oder Städten nicht mehr, doch die Erkenntnis wenigstens vernünftiger und sparsamer mit unserem Wasser umzugehen, ist mir geblieben. Auch bleibt mir die Hoffnung, dass eines Tages jemand ein System erfindet, dass auch für Städte ein 100% biologischer Abbau der Fäkalien erlaubt.
(12) Entlang der Grenze zu Marokko, ein Gebiet mit vielen Tretmienen.
(13) In einem Bachbett im Niemandsland, wo wir Sand und Steine für den Bau holten.
Die Beschaffung von Baumaterial war sehr schwierig. So musste zum Beispiel der benötigte Sand drei Mal pro Tag mit dem Lastwagen aus einem 20 Kilometer weit entfernten Bachbett geholt werden. Der Bach befand sich in einem Niemandsland, das heisst einem Gebiet, wo sich Marokko und Algerien seit Oktober 1963 wegen dem korrekten Grenzverlauf uneins waren. Die Streitigkeiten waren der Auslöser für den algerisch-marokkanischen Grenzkrieg. In dieser Gegend hatte es deshalb noch überall Tretminen. Eines Tages verlor der Fahrer, der Günter aus Österreich, die Kontrolle über den Lastwagen und kam von der Strasse ab. Einer der Freiwilligen, der Ruedi aus der Schweiz, der sich auf der Brücke des Lastwagens befand, wurde dabei auf das Feld hinausgeschleudert. Da er bewusstlos am Boden lag, musste man ihn zurück zum Lastwagen transportieren. Wohl bewusst der Gefahr der vorhandenen Tretminen, machte sich der hünengrosse Österreicher auf den Weg. Ganz vorsichtig bewegte er sich vorwärts und konnte den Bewusstlosen schliesslich aufheben und ihn auf seinen Armen zurücktragen. Doch auf dem Rückweg explodierte plötzlich eine Mine, die er nicht gesehen hatte. Nun lagen zwei Verletzte am Boden. Dem Österreicher hatte es ein Bein abgerissen und der Schweizer war voll gespickt mit Minensplittern. Weitere Freiwillige und Männer aus dem Dorf, die auf dem Lastwagen waren, holten die Verletzten aus dem verminten Feld und brachten sie aufs „Fort“, von wo aus sie ins Krankenhaus nach Tlemcen gebracht wurden. Es war ein furchtbarer Schock für uns alle.
d) Das Leben auf dem “Fort“
Mein erster Eindruck vom “Fort“ war nicht berauschend. Bald musste ich feststellen, dass das ganze Projekt von Engländern geführt wurde und man das „Fort“ deshalb auch „Camp“ nannte. Der Verantwortliche, der Bauführer, die Köchinnen und Krankenschwestern, alle waren Engländer. So auch Matthew, der scheinbar krank war und seinen Bretterverschlag an der Aussenwand der Küche während meines ganzen Aufenthaltes nie verliess. Man brachte ihm das Essen und er wurde von seinen Landsgenossen sehr umsorgt, aber niemand konnte je erfahren, was ihm eigentlich fehlte. Und so lebten halt die Engländer isoliert von den restlichen Bewohnern auf dem „Fort“. Neuankömmlingen so wie ich, die nicht aus dem UK kamen, wurden vom Verantwortlichen des Camps ignoriert und nicht einmal begrüsst. Die Begründung war, dass wir für sie „green horns“ seien und erst beweisen müssten, dass wir unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt arbeiten und leben könnten! Natürlich waren wir „green horns“, naiv und total unerfahren, aber das war ja kein Grund, um uns bei unseren Anfangsschwierigkeiten nicht beizustehen. Manchmal hatte ich das Gefühl in einer englischen Kolonie oder einem Protektorat angekommen zu sein. Die Stimmung auf dem „Fort“ und auch bei der Arbeit war deshalb anfangs sehr deprimierend, ja unerträglich, was schliesslich Auswirkungen auch auf meine Gesundheit hatte. Allerdings hatte ich manchmal das Gefühl, dass die beiden gutmütigen Köchinnen mit der „englischen Führung“ nicht einverstanden waren, denn sie waren die Einzigen, die immer sehr nett und zuvorkommend mit uns Neuen und auch zu den Einheimischen waren. So erlaubten sie den Kindern des Flüchtlingsdorfes jeden Morgen aufs „Fort“ zu kommen, wo sie mit warmer Milch und einem Biskuit versorgt wurden. Es war immer sehr erfrischend die fröhlichen und lebensfrohen Kinder zu erleben; sorgenfreie Nachkommen mittelloser Eltern, die sich gar nicht bewusst waren, in welcher Armut sie aufwuchsen.
(14) Kinder vom Nachbardorf die auf eine Tasse Milch und ein Biskuit warten
(15) Anne im Aufenthaltsraum beim Ausschenken von Milch an die Kinder des Dorfes Khemis.
Die Gutmütigkeit unserer Köchinnen änderte allerdings nichts an ihren kulinarischen Künsten in der Küche, die ausgesprochen „British“ geprägt war. Ob man es liebte oder nicht, es gab jeden Morgen zum Frühstück Porridge (Haferbrei), Toastbrot, Margarine, Marmelade und Kaffee. Gegessen wurde wie im Militär aus verbeulten Tellern und getrunken aus verbeulten Tassen, beide aus Aluminium. Das Mittagessen war einfach, aber monoton und oft ungenügend, um unsere hungrigen Mägen zu sättigen. Am Abend gab es oft nur ein paar Sardinen aus der Büchse und dazu ein Stück Brot. Da es ein grosses Angebot an guten und günstigen Nahrungsmitteln in Algerien gab, schlug ich den Köchinnen vor, zur Abwechslung einmal einen Früchtekuchen zu backen. Zu meiner Überraschung wurde mein Vorschlag positiv aufgenommen. Schon nach ein paar Tagen wurde der Ofen angeheizt und ich freute mich auf eine feine Aprikosenwähe. Doch als ich sah, dass der Teig mit Aprikosensteinen belegt wurde und ohne Früchte gebacken wurde, wurde mir bewusst, dass das Resultat wohl nicht meinen Erwartungen entsprechen konnte. Als der Kuchenboden gebacken war, öffnete die Köchin eine Dose Aprikosen-Konfitüre und verteilten den Inhalt darauf. Es war eine ungewöhnliche Wähe, wobei das Essen viel Geschick erforderte. Kaum hatte man ein Stück abgeschnitten lief die Konfitüre nach allen Seiten und tropfte auf den Tisch. Eine der Köchinnen schien zudem eine Künstlerin zu sein, denn sie konnte gleichzeitig kochen, lesen und rauchen. Sie kreierte sehr innovative Gerichte, so zu Beispiel Zitronensuppe, Orangensuppe and dergleichen! Als eine Glarnerin, wir nannten sie das „Müggli“, zu unserer Gruppe stiess, hatte ich bald eine Verbündete. Wir baten die Projektleitung an unserem Nationalfeiertag, dem 1. August, die Küche übernehmen zu dürfen und ein echt schweizerisches Gericht als Tagesmenu zu servieren: Rösti, Spiegelei und Tomatensalat. Natürlich meinten die Engländer, das sei ja nichts Weiteres als „Mashed Potatoes“, doch ihre Meinung war uns nicht wichtig. Die Hauptsache war, den anderen Freiwilligen eine Abwechslung zu bieten, ein Versuch der sehr gut ankam und von allen sehr geschätzt wurde. Die Rösti war auch mit den algerischen Kartoffeln wunderbar geraten.
Bei meiner Ankunft musste ich auch feststellen, dass niemand eine Unterkunft für mich vorbereitet hatte. Zum Glück war da ein Schweizer, der mich während der ersten zwei Wochen in seiner Behausung aufnahm. In der Zwischenzeit musste ich mir aber in der Freizeit selbst eine der verlotterten Behausungen bewohnbar machen. Und wieder war niemand da, um mir dabei behilflich zu sein. Zum Glück kamen bald nach meiner Ankunft weitere „Kontinental-Europäer aufs „Fort“ und so wurde das Leben erträglicher. Zum Beispiel der Gilbert aus Belgien, Rolf aus Deutschland, Heinz und Günther aus Österreich. Zudem besuchten uns nun regelmässig zwei Ärztinnen und zwei Krankenschwestern, die in der Umgebung Gesundheits-Zentren bedienten. Sie waren immer eine willkommene Abwechslung und stärkten unser Bewusstsein gegenüber den sturen Engländern. Besonders Ina, die Krankenschwester aus Deutschland, lockerte die Stimmung jedes Mal auf. Sie versuchte auch unseren Aufenthaltsraum ein bisschen freundlicher zu gestalten. Eines Tages entschied sie spontan, Lampenschirme für die grellen Glühbirnen über den Tischen im Wohnraum zu basteln. Sie nahm runde, leere Weichkäse-Schachteln, A4 Blätter und fertigte mit Wasser und Mehl einen Leim. Dann wurde es schwieriger und so half ich ihr beim Aufkleben der weissen A4 Blätter auf die leeren Schachteln. Am anderen Tag war der Leim getrocknet und wir konnten die hausgemachten Lampenschirme montieren. Mit so wenig Material und Aufwand war der Aufenthaltsraum besonders abends gemütlicher geworden. Ina hatte auch bemerkt, dass es mir oft nicht super zu Mute war und so wiederholte sie jedes Mal: „Hänschen, lass Dich nicht runterkriegen!“ Dieser Satz half mir später oft aus schwierigen Situationen und ist mir das ganze Leben lang in meinen Ohren geblieben.
(16) Der Eingang zu meiner Behausung war die zweite Türe links vom Wasserturm (der ausser Betrieb war)
Da meine Behausung die Belegung einer zweiten Person erlaubte, wurde Gilbert nach seiner Ankunft bei mir einquartiert. Natürlich wurde es dadurch etwas eng im Raum, aber ich war froh nicht mehr alleine zu sein. Bald kaufte er sich einen farbigen Sisalteppich, den er an die Wand hängte. Dies machte den Raum sofort viel schöner und gemütlicher. So wie alle anderen musste auch er im Turnus eine Woche lang früh am Morgen Porridge zubereiten. Doch er nahm seine Aufgabe nicht ernst und rührte den heissen Porridge nur von Zeit zu Zeit. Währenddessen suchte Gilbert etwas „Richtiges“ zu Essen, denn er hatte immer Hunger. Aber der Kühlschrank war mit einer Kette umgeben und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Niemand konnte etwas naschen und seinen nächtlichen Appetit stillen. Er sagte mir auch, dass in Belgien der Porridge an die Schweine verfüttert würde und er deshalb lieber das Endprodukt, das Schwein, geniesse. Allerdings hatte seine Nachlässigkeit Folgen, denn wenn der Porridge nicht ständig gerührt wurde brannte er an. Während einer Woche hatte die Lieblingsspeise der Engländer deshalb einen „verbrannten“ Beigeschmack, etwas das sie überhaupt nicht schätzten und welches ihnen schliesslich den ganzen Tag verdarb. Eine Woche später war es meine Aufgabe diese Leibspeise zu kochen. Dazu musste man schon am Vorabend die verschiedenen Getreidesorten abwägen und im Wasser einweichen. Bei dieser Vorbereitung entdeckte ich im Getreide überall krabbelnde Würmer. Sofort meldete ich dies dem Teamleiter. Doch der lachte nur und sagte, ich soll bitte mit meiner Arbeit weitermachen, denn Würmer seien Proteine und deshalb eine Anreicherung des Frühstücks. Da ich ihn scheinbar etwas verwirrt anschaute, meinte er weiter, dass die Würmer ja durch das Kochen zu Grunde gehen und deshalb ohne Probleme gegessen werden können. Und so war es dann auch, allerdings wusste nur ich, mit was der Porridge verfeinert war.
Schon ein paar Wochen nach meiner Ankunft entwickelte sich an meinem linken Oberschenkel ein riesiger Abszess. Er wurde immer grösser und tat außerordentlich weh. Damals waren wir auf dem „Fort“ medizinisch noch schlecht versorgt und so entschloss ich meinen Abszess selbst aufzuschneiden. Ich hatte nicht erwartet, dass es in der Schwellung eine so riesige Menge Eiter hatte und dass ich nachher mit einer Vertiefung an dieser Stelle leben musste. Einige Wochen später erwickelte sich ein weiteres Eitergeschwür unter dem linken Arm. Es wurde bald so gross, dass ich den Arm nur mit Mühe senken konnte. Als der Schmerz so unerträglich wurde und ich deshalb kaum mehr arbeiten konnte, beschloss die Brigitte, unsere Ärztin aus Wien, mit mir zur bulgarischen Klinik in Tlemcen zu fahren. Sie hatte das Aufschneiden des „Furunkels“ auf dem „Fort“ als zu riskant beurteilt. Doch mit den starken Schmerzen war die holperige Ausfahrt zur Klinik kein Genuss. Es folgten dann später noch weitere „Eissen“, die aber weniger gross wurden. Ich fragte mich natürlich immer wieder wieso ich unter solchen Eitergeschwüren litt. Vielleicht lag es am Trinkwasser das wir uns fast jeden Tag aus dem Bach besorgten? Er führte ja nicht immer kristallklares Wasser und man hatte keine Ahnung wer sich darin schon gebadet hatte oder was im Bach alles entsorgt worden war. Ausserdem gingen wir ja selbst manchmal im Stausee oder dann im kühlen Bach unten bei Dorf Khemis baden. Aber es hätte ja auch das unausgeglichene Essen sein können? Eine klare Ursache für meine Furunkel konnte ich leider nie herausfinden.
(17) Gemeinsames Singen am Abend
Mit der Ankunft von weiteren Freiwilligen waren die Engländer plötzlich in der Minderheit. Zudem waren die Neunankömmlinge meist Fachleute, die wussten was sie machten und das wirkte sich dann auch sehr positiv auf das Projekt aus. Die Stimmung verbesserte sich damit nicht nur auf dem „Fort“, sondern auch auf der Baustelle. Wir „Neuen“ pflegten einen ganz anderen Kontakt zu einander, sowie zu den Einheimischen und versuchten das harte Leben auf verschieden Arten erträglicher zu gestalten. Wir sassen abends oft zusammen, diskutierten oder sangen Lieder. Einmal machten wir ein Lagerfeuer und genossen den wunderbaren Sternenhimmel, etwas, das vorher nie möglich gewesen wäre. Aber die Engländer gesellten sich nicht zu uns. Etwas später am gleichen Abend entdeckte jemand ein ungewöhnliches Licht hinter dem Aufenthaltraumes. Als wir zur Erkundung hinliefen, entdeckten wir ein zweites Lagerfeuer, das den Himmel erhellte. Die Engländer hatten ihr eigenes Feuer entfacht und sassen genau so wie wir nun im Kreise. Da wir eine solche Trotzreaktion nicht verstehen konnten, kehrten wir sehr konsterniert zu unserer Feuerstelle zurück und versuchten ihren Eigensinn mit einem Glas Bier zu vergessen.
An einem Abend als es schon dunkel war, fuhr ein Militärlastwagen in den Hof. Sehr skeptisch näherten wir uns dem Fahrzeug und entdeckten auf der Ladebrücke ein riesiges Wildschwein. Da für Mohammedaner der Verzehr von Schweinefleisch verboten ist, hatten die Soldaten die gütige Idee ihre Jagdbeute uns zu überlassen. Aber die Übergabe musste sehr diskret geschehen und vor Einheimischen geheim gehalten werden. Zum Glück war kürzlich ein Franzose auf dem „Fort“ angekommen, der von Beruf Metzger war. Sofort hängte er das Tier an der Decke auf, öffnete den Bauch und nahm die Eingeweide heraus. Wegen der sommerlichen Hitze musste alles sehr schnell gehen und so wurde auch entschieden, die Leber noch am gleichen Abend zu verspeisen. Bis spät in die Nacht zerschnitt er das Schwein fachgerecht in handliche Stücke. Da unser Tiefkühler viel zu klein für diese Menge Fleisch war, legte er einen Teil davon in Salz ein. Das Fell und die Schlachtabfälle wurden sofort weggebracht und an einem Ort deponiert, wo sich nachher Schakale und andere Tiere noch am Festmahl beteiligen konnten. Nun hatten wir endlich auch einmal Fleisch auf dem Menuplan. Leider gibt es in Entwicklungsländern keine Geheimnisse, denn schon am nächsten Morgen kamen aufgebrachte Arbeiter zu uns. Irgendwie hatten sie von dem nächtlichen Geschenk erfahren und behaupteten, dass nun die Küche, die Teller, das Besteck und das ganze Fort unrein geworden seien. Sie wollten deshalb nichts mehr zu sich nehmen, was aus unserer unreinen Küche kam. Die Situation war sehr angespannt und so blieben sie für ein paar Tage dem „Fort“ und dem Mittagessen fern. Auch die Kinder kamen nicht mehr zum morgendlichen „casse-croute“ zu uns aufs „Fort“. Die Spannung löste sich nur langsam, aber schliesslich normalisierte sich der tägliche Ablauf wieder. Leider habe ich nie erfahren, wie die Arbeiter und ihre Familien beschwichtigt werden konnten.
Wir hatten ja nur jedes zweite Wochenende frei und so war ich anfangs selten unterwegs. Doch der neue Geist auf dem „Fort“ motivierte mich und die Anderen die Gegend und das Land ein bisschen besser kennen zu lernen. Die erste Reise war organisatorisch bedingt, denn ich musste mich auf der Botschaft in Algier melden. Da sich Ruedi, der zweite Schweizer, der dies bis anhin unterlassen hatte, entschieden wir uns zusammen zu fahren. Für die Reise per Autostop brauchten wir viel mehr Zeit als angenommen. Das erlaubte uns aber die Gegend in Ruhe zu geniessen. Im Gegensatz zu den Bergen in der Gegend von Tlemcen, war hier alles flach und sehr fruchtbar. Kilometerweit hatte es Orangen, Zitronen und Feigenbäume. Dazwischen gab es riesige Ländereien mit Weintrauben und Gemüse; in diesem Frühling vor allem Lauch und Artischocken. Dann war ich vor allem überrascht wie modern und sauber Algier war. Auf der Strasse kamen wir ins Gespräch mit Studenten. Sie wollten wissen wieso wir in „ihrem Land“ weilten. Als wir den SCI erwähnten meinten sie argwöhnisch, dass diese Organisation ausländische Lehrer in abgelegenen Orten einsetze um dort den Kindern europäische Werte beizubringen. Sie schienen zu ignorieren, dass diese Lehrer freiwillige Arbeit leisteten und zudem in äusserst notdürftigen Unterkünften lebten. So fragte ich diese intellektuellen Jungen wieso nicht sie an Stelle der Ausländer in den abgelegenen Dörfern unterrichten würden und die mühsame Arbeit anderen überliessen? Arabisch sprechende Lehrer wären doch eigentlich logischer? Doch davon wollten sie nichts wissen und wiesen auf ihre Berufskarriere in urbanen Gegenden hin. Ich hätte gerne noch weiter mit ihnen argumentiert und diskutiert, doch leider war unsere Zeit sehr limitiert und wir mussten wieder zurück aufs „Fort“.
Ein anderes Mal wurde uns erlaubt, mit dem Lastwagen nach Béni-Saf ans Meer zu fahren. Béni-Saf, liegt in der Provinz Ain Temouchent, etwa 80 km südwestlich von Oran entfernt. Nach all den erlebten Widerlichkeiten war dieses Wochenende eine willkommene Abwechslung und Erholung für alle. Wir badeten, sonnten uns oder faulenzten einfach am Strand. Es war eine Bucht wo früher wohlhabende Franzosen ihr Wochenendhaus hatten. Nun standen alle leer und ausgeplündert am Strand. Wir beschlagnahmten ein Haus und liessen uns dort für die zwei Tage nieder. Am Abend machten wir ein Feuer am Strand und sangen im hellen Mondschein Lieder, bis wir uns dann müde in die Schlafsäcke zurückzogen.
(18) Der Strand von Beni Saf mit den verlassenen Ferienhäusern.
(19) Ein verdientes und entspannendes Wochenende zusammen am Strand von Beni Saf.
Einmal wollte Gilbert übers Wochenende das Dorf El-Aricha in der Wüste besuchen. Natürlich war ich sofort bereit mit ihm zu fahren. Unsere Autostop Route führte uns zuerst nach Sebdou und dann weiter nach El-Aricha. Es war schon fast Abend, als wir dort ankamen. Gilbert suchte eine Möglichkeit, um die Nacht dort zu verbringen. Aber El-Aricha war damals nur eine Ansammlung von ein paar Häusern und so war ich eigentlich enttäuscht von dem Ort. Während ich es vorzog, im rötlichen Abendlicht die Wüste zu entdecken, liess ich Gilbert nach einem Nachlager Ausschau halten. Der Wüstenboden war hart, bedeckt mit Steinen und ohne jegliche Vegetation. Plötzlich merkte ich, dass sich bei jedem Schritt irgendetwas auf dem Boden bewegte. Es war als ob tausende von grossen Flöhen bei jedem Schritt vor mir herspringen würden. Da es schnell dunkel wurde, konnte ich nicht feststellen, um was für Tiere es sich handelte. Zudem erschien in der Ferne ein Tier, das wie ein Schakal aussah. Plötzlich wurde ich ängstlich und lief so schnell als möglich zurück ins Dorf. Dort meldete mir Gilbert, dass es im Dorf weder Hotel noch Herbergen gab. Er hatte aber mit dem Verantwortlichen der Krankenstation gesprochen und erreicht, dass wir dort übernachten konnten. Der fröhliche Gilbert war für einmal ganz ruhig und ich hatte das Gefühl, dass auch er enttäuscht von unserem mühsam erreichten Reiseziel war, es aber nicht zugab. Auch fand niemand eine Erklärung für meine Beobachtung in der Wüste.
Ein anderes Mal überzeugte mich Ina nach Melilla, die spanische Enklave an der nordafrikanischen Küste zu besuchen. Das Wort Enklave suggerierte irgendetwas Aussergewöhnliches, ja vielleicht sogar Abenteuerliches. Wieder war die Reise per Autostop lange und mühsam. Als wir schliesslich ankamen, war es schon fast ganz dunkel. Da wir kein Geld hatten beschlossen wir in den Schlafsäcken am Strand zu übernachten. Wir suchten uns einen trockenen Platz und legten uns auf den Sand. Eigentlich wollte Ina „Melilla by night“ sehen, doch wir waren beide zu müde, um noch in die Stadt zu laufen. Da wir ganz alleine am Strand lagen, überfiel uns plötzlich ein mulmiges Gefühl. Plötzlich fühlten wir uns nicht mehr in Sicherheit. Was war, wenn uns jemand überfällt oder beraubt? Aber wir hatten keine andere Wahl als am Meer zu übernachten. Also blieben wir am Ort und versuchten zu schlafen. Doch dies gelang uns sehr schlecht und so waren wir am nächsten Morgen alles andere als frisch und erholt. Zudem waren wir gezwungen, gleich wieder zurückzufahren, um auch wirklich zur richtigen Zeit wieder im „Fort“ zu sein. Die Anstrengung um Melilla zu sehen, hatte sich auch diesmal kaum gelohnt.
Ein weiteres Mal war ich zusammen mit Ina nach Tlemcen gefahren. Beim Bummeln durch die Altstadt sahen wir zu unserer Überraschung Milou aus einem alten Haus treten. Da uns seine Anwesenheit in der Stadt sehr überraschte, riefen wir sofort nach ihm. Doch er schien uns zu ignorieren und ging weiter. Unsere Neugier liess uns aber nicht los und so verfolgten wir ihn, bis wir ihn zu Rede stellen konnten. Er schien äusserst verlegen und wollte erst keine Antwort geben. Doch nach einer Weile erzählte er uns beschämt die Wahrheit. Er wollte in ein paar Wochen heiraten und bereitete sich nun auf die Hochzeit vor. Wir nahmen deshalb sofort an, dass er sich in Tlemcen befand, um Einkäufe für das Fest zu tätigten. Doch wir hatten uns getäuscht. Der Grund seines Besuches in Tlemcen war etwas ganz anderes, etwas das uns sprachlos machte. Er sagte, dass nach alter Tradition in seinem Dorf eine Witwe dem zukünftigen Bräutigam vor seiner Heirat das Wissen der Begattung übermitteln muss, wobei das Praktikum auch dazu gehöre. Da Milou die Witwe des Dorfes zu alt und äusserst hässlich fand, suchte er sich eine Alternative: das Wissen in einem Freudenhaus zu erwerben. Das Freudenhaus war eine weitere Offenbarung, denn wir glaubten Prostitution sei in arabischen Ländern verboten, aber scheinbar war auch da viel geduldet, solange es diskret hinter Türen stattfand. Was uns aber auch beschäftigte, war die Tatsache, dass der arme Milou einen ganzen Monatslohn für diese Unterweisung geopfert hatte. Es gibt wohl Sachen auf der Welt, die man nicht verstehen kann und die wir auch nicht verstehen müssen.
Lennart, der neue Bau-Ingenieur aus Schweden, hatte auf dem Hinweg nach Algerien in Oujda Halt gemacht und dort Freunde kennengelernt. Diese Leute wollte er besuchen und bat mich mitzukommen. Wieder war ich sofort bereit, denn das Reisen war jedes Mal eine willkommene Abwechslung. Wie immer versuchten wir per Autostop die Strecke zu bewältigen. Wir standen am Strassenrand ausserhalb von Tlemcen und warteten auf eine gütige Seele, die uns mitnehmen würde. Plötzlich kam uns der Landrover des SCI entgegen und wir hofften schon, dass er auf unser Zeichen reagieren und anhalten würde. Am Steuer sass unser Projektleiter und auf dem Nebensitz seine Freundin. Beide ignorierten uns und fuhren weiter in Richtung Marokko. Eigentlich hatten wir uns an eine solche Reaktion schon längst gewöhnt, doch in dieser Situation tat es trotzdem weh. Das Glück hatte uns aber nicht verlassen und bald nahm uns jemand sogar bis mitten in die Stadt Oujda mit. Bald schon waren wir bei den Freunden von Lennart angekommen, wo wir sehr herzlich empfangen wurden. Sie hatten für uns ein wunderbares Essen zubereitet, ein Essen, das ich sehr genoss. Zu unserer grossen Überraschung fand an diesem Wochenende ein riesiges Fest statt. Man sagte, dass es zu Ehren der Geburt des Thronfolger Mohammed VI vor einem Jahr stattfand. Die Gastgeber nahmen uns deshalb mit zu einem Rundgang in der Stadt. Es waren viele Leute aus der Umgebung in die Stadt gekommen, die meisten um die „Fantasia“ oder das Reiterspiel zu sehen. Diese Jahrhunderte alte Tradition ist etwas Ähnliches wie ein Pferderennen. Dabei galoppierten die Reiter in traditionellen weissen Gewändern, mit einer meist historischen Schrotflinte in einer Hand, auf wunderbaren Rassepferden und mit hoher Geschwindigkeit in einer geraden Linie nebeneinander. Am Ende der ca. 200 Meter langen Strecke feuerten die Reiter gleichzeitig mit ihren Flinten in die Luft, was ein unglaubliches Spektakel war.
(20) Traditioneller „El Alaoui“ Kriegstanz
Auf einem anderen Platz führten Männer, begleitet vom Rhythmus der Trommeln, den traditionellen „El Alaoui“ Kriegstanz vor. Die Männer, alle in weiss gekleidet und auch mit einer Flinte in der Hand, tanzten Arm in Arm wie zusammengeschweisst und bewegten dabei ihre Körper nach vorne und hinten. Dabei stampften sie auf den Boden, um ihre Verbundenheit, Kraft und Ausdauer zu beweisen. Früher war der Tanz auch Symbol für eine zerreissfeste Einheit im Falle von feindlichen Angriffen. Dieses Fest war für mich ein aussergewöhnliches und hinreissendes Erlebnis, das mich nahezu in Trance versetzt hatte. Dabei waren mir all die glücklichen Augen der Festbesucher nicht entgangen und so schrieb ich in einem Brief an meinen Eltern nachher folgendes:
„Ich hätte jubeln können so etwas Schönes zu sehen. Die Leute tanzten mit einer solchen Hingabe, wie ich es bis anhin noch nie gesehen habe. Die Augen glühten und der lachende Mund mit den leuchtend, weissen Zähnen bewirkte bei mir, dass mir das Wasser kalt den Rücken hinunterlief. Man muss die Leute gesehen haben, sonst kann man deren Musik nicht verstehen“.
Der Ausflug nach Oujda in Marokko hatte sich mehr als gelohnt und wir waren anschliessend auch wieder gut zum „Fort“ zurückgekehrt.
(21) Assistent von Brigitte beim Zahn ziehen.
Da auf dem „Fort“ oft Krankenschwestern oder Ärztinnen vorbeikamen, nahmen sie sich auch der Gesundheitsprobleme des Teams sowie der Arbeiter an. Einmal hatte ein Arbeiter ein Problem mit einem Zahn. Brigitte, eine der zwei Ärztinnen, entschied den Zahn zu ziehen. Doch ohne Zahnarzteinrichtung musste man improvisieren. So bat sie mich den Kopf des Arbeiters während der Prozedur so wie den Schraubstock festzuhalten. Das war meine erste „medizinische“ Erfahrung. Später durfte ich Ina einen halben Tag lang bei ihrer Arbeit in einem „Dispensaire“ begleiten. Vor der Krankenstation warteten schon unzählige Patienten bei unserer Ankunft, meistens Frauen und Kinder. Eine ältere Frau fiel mir besonders auf, denn sie schrie unaufhörlich vor sich hin und verlangte sofort eine Spritze, um ihre Schmerzen zu lindern. Ina machte ihre Arbeit ohne der Frau Aufmerksamkeit zu schenken. Als ich Ina auf das Schreien aufmerksam machte sagte sie, die Frau komme jeden Tag. Dann nahm sie eine Spritze, füllte sie mit einer Flüssigkeit und rief die Dame. Sofort nach der Injektion war die Frau wieder munter und hatte keine Schmerzen mehr. Nach so einem „Wunder“ wollte ich natürlich von Ina wissen, was sie ihr wohl gespritzt hatte? Mit ihrem verschmitzten Lächeln antwortete sie mir: destilliertes Wasser! Die Situation verblüffte mich ausserordentlich. Doch noch mehr war ich von Inas praktischer Erfahrung im Feld beeindruckt. Sie wussten wie mit Einheimischen umzugehen und bot den erkrankten Leuten eine echte und pragmatische Hilfe, ohne die eigene Motivation je zu verlieren. Jeder Freiwillige muss sich bewusst sein, dass viele Patienten nicht über das gleiche Wissen verfügen und die Kommunikation deshalb entsprechend angepasst werden muss. Auch ich war oft in Situationen wo ich kaum wusste wie reagieren. So begegnete ich eines Abends vor dem grossen Tor des „Fort“ einem älteren Mann. Wie viele im Dorf war er mit einem braunen Djellaba bekleidet. Er plauderte mit mir über die Natur und Neuigkeiten im Dorf. Beim Abschied suchte er etwas in den Taschen des Djellaba und übergab mir dann mit einem glücklichen Lächeln eine grüne Pille. Ich war gerührt über sein Zeichen des Vertrauens und bedankte mich sehr. Sicher bedeutete sie für ihn etwas Wertvolles und er war sicher lange für diese Pille in der Krankenstation angestanden. Um ihn nicht zu beleidigen tat ich so, als ob ich sie auch wirklich einnehmen würde. Aber eben, obwohl der Mann es mit mir gut gemeint hatte, konnte ich mit meinem kritischen Wissen diese Pille nicht einfach schlucken.
Am Abend oder nachts, wenn die Krankenstation geschlossen war, kamen manchmal auch Leute mit dringenden Fällen zu uns auf das „Fort“. Sie wussten ja, dass manchmal Krankenschwestern bei uns waren. Und so hörte man eines Abends jemand am geschlossenen Tor nach einem Arzt rufen. Brigitte, die zu dieser Zeit noch auf dem „Fort“ weilte, rannte sofort hin um zu sehen, was los war. Nach kurzer Zeit kam sie zurück und sagte sie müsse mit dem Fall ins Spital fahren. Da sie nachts nicht gerne alleine unterwegs war, bat sie um einen Mitfahrer. Da sich niemand meldete, war ich bereit Brigitte zu begleiten. Es handelte sich beim Patienten um einen etwa 6-jährigen Buben, dem scheinbar ein Esel in seinen Penis gebissen hatte. Aber wir glaubten seinem Vater nicht und vermuteten, dass der Unfall eher bei der Zirkumzision des Buben passiert war, aber das würde man uns natürlich niemals gestehen. Scheinbar war die Eichel fast ganz abgetrennt und das war auch der Grund wieso er einen Eingriff im Krankenhaus brauchte. Als wir ankamen, war es schon spät und keine Ärzte mehr anwesend. Brigitte wollte, dass ich auch bei der Behandlung bei ihr bleibe. Nach einer Weile kamen zwei Ärzte, die aber eher wie Nachtwächter aussahen. Durch das getrocknete Blut konnte der Knabe seine Blase nicht mehr entleeren und so war sie dem Bersten nahe. Die zwei Personen, die sich als Ärzte ausgaben, zogen sich grüne Operationsschürzen an und wollten dem Knaben deshalb vorerst ein Katheter setzen. Doch sie versuchten mit einer Grösse, die für Erwachsene gedacht war. Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen warf sie einer der Beiden einfach frustriert auf den Boden und versuchte es mit einer anderen Sonde. Doch auch diesmal hatten sie kein Glück. Schliesslich drückten sie einfach wild auf die Blase und hofften damit eine Entleerung der Blase zu erreichen. Bis anhin konnte ich dem Schauspiel geduldig zusehen. Doch plötzlich glaubte ich mich in einem Schlachthaus und hatte das Gefühl mich übergeben zu müssen. Ich rannte hinaus ins Freie, wo ich erst einmal frische Luft brauchte. Es dauerte noch eine Weile, bis Brigitte schliesslich auch zum Auto zurückkam. Auch sie schien vom Gesehenen bestürzt zu sein und sprach auf dem ganzen Heimweg fast nichts. Sie meinte nur kurz, dass es schlimmer sei als angenommen. Am folgenden Wochenende fuhren Birgitte und ich nach Tlemcen, um dem Kleinen im Krankenhaus zu besuchen. Doch leider fanden wir ihn nicht und niemand konnte uns sagen, was mit dem Knaben geschehen war. Jemand meinte er sei immer noch auf der Intensivstation, aber mehr konnten wir nicht erfahren. Die Geschichte machte mich traurig und mit dem Erlebten im nächtlichen Krankenhaus konnte ich nur hoffen, dass mich mein Schicksal und mein Schutzengel vor einem Aufenthalt in einem algerischen Krankenhaus verschonen.
Ein anderes Mal fuhr eine Camionnette (Kleintransporter) sehr lautstark in den Innenhof des „Fort“. Es war gegen Abend und so waren eigentlich alle Freiwilligen von der Arbeit zurück. Doch niemand schien gewillt nachzuschauen, denn bei solch temperamentvollen Fahrern musste man sich in Acht nehmen; der Bürgerkrieg war ja noch in allen Köpfen. Doch der Fahrer schrie andauernd „accident, accident!“ und so ging ich hinaus und wollte sehen was los war. Der Fahrer zeigte auf die Ladebrücke wo irgendetwas in einer Wolldecke eingewickelt lag. Er zog die Decke weg und da lag ein Junge ohne Beine und ohne linken Arm. Wieder war es eine Tretmine die explodiert war. Es war ein grauenhafter Anblick. Hilflos rief ich meine Kollegen um zu entscheiden, was zu tun war. Gemeinsam rieten wir dem weinenden Vater seinen Sohn nach Tlemcen ins Spital zu bringen. Selbst wenn an jenem Tag Ärzte oder Krankenschwestern auf dem „Fort“ gewesen wären, sie hätten ihm nicht helfen können. In einem solch hoffnungslosen Fall konnte man im Geheimen nur hoffen, dass der Junge auf dem Weg nach Tlemcen von seinem Schicksal erlöst wurde. Auch in diesem Fall haben wir nie erfahren, was weiter geschehen war. Die schrecklichen Resultate der Tretminen aber machten uns klar, dass sie schon längst verboten und deren Produktion definitiv eingestellt sein müssten.
Aber damit ist das Kapital Tretmine noch nicht beendigt. An einem freien Samstag sassen wir im Aufenthaltsraum am Kartenspielen als ein erst kürzlich eingetroffener Afroamerikaner eintrat. Es kam zu uns, legte eine Tretmine auf den Tisch und fragte ahnungslos, ob einer von uns wisse, was dies wohl sei. Alle sprangen auf und schrien: Eine Tretmine! Gelassen nahm der Schwarze die Mine und warf sie einfach durchs offene Fenster ins Freie. Natürlich erwarteten wir einen riesigen Knall, doch nichts passierte. Sofort rannten wir aus dem Haus um die Tretmine zu suchen, doch wir fanden sie nicht. Damit wurde auch unser Wohngebiet zur Gefahrenzone. Trotz stetiger Aufmerksamkeit wurde die Mine schliesslich nie gefunden. Der Amerikaner aber schien den Ernst der Situation nie begriffen zu haben und lächelte einfach weiter vor sich hin. Nachdem er später weitere so komische Reaktionen hatte, wurde mir bewusst, dass er geistig unberechenbar war. Aber er war nicht der Einzige auf dem „Fort“ mit psychischen oder persönlichen Problemen. Die Meisten hatten sich dem SCI nicht nur angeschlossen, um Gutes zu tun, sondern in der Hoffnung gleichzeitig ihren persönlichen Problemen entfliehen zu können, sie zu lösen oder wenigstens zu verdrängen. Irgendwie war ich diesbezüglich keine Ausnahme, denn ich verliess die Schweiz ja auch nicht nur aus Nächstenliebe oder Abenteuerlust.
(22) Arbeiten bei grösster Hitze auf den Dächern
All die Unfälle mit Tretminen beschäftigten mich immer mehr und ich begann mir fundamentale Fragen zu stellen. War es vernünftig seine Gesundheit oder sogar sein Leben zu riskieren, während die einheimische Bevölkerung unseren Helferwillen oft gar nicht versteht, ja vielleicht sogar falsch interpretiert? War der Aufbau des Dorfes durch Ausländer, und zudem oft unprofessionellen Freiwilligen, die richtige Lösung gewesen? War das von uns mit viel Einsatz Erreichte wirklich von Nutzen und auch nachhaltig? Ich wusste es nicht und werde es auch nie wissen. Aber mit meinen Fragen wurde ich plötzlich unsicher und war nicht mehr überzeugt von dem, was ich in diesem Projekt leistete. Als ich dann an einem sehr heissen Nachmittag alleine auf einem Dach die Fugen mit Asphalt abdichtete, kam die Einsicht: die Zeit war gekommen, um meinen Einsatz für den SCI zu beenden und Algerien zu verlassen. Ich hatte nämlich beobachtet, wie einige Männer vom Dorf anstatt für ihr Haus zu arbeiten, im Schatten eines Baumes ihren Tee genossen und plauderten. In diesem Moment kam ich mir vor wie ein einfältiger Esel und fragte mich, ob dies in der Schweiz wohl auch möglich wäre. Würde mir ein Algerier aus Mitleid mein Haus neu aufbauen, während ich im Schatten meinen Tee geniessen würde?
(23) Inspirierende Arbeitsmoral
Gleichzeitig war mir aber bewusst, dass ich meinen bescheidenen Beitrag für ein neues Dorf niemals mit dem vergleichen konnte, was ich nach den 4 Monaten an unvergesslichen Eindrücken, Erfahrungen und Erlebnissen mit nach Hause nehmen durfte. Die Zeit in Algerien war nicht immer einfach gewesen, aber extrem reich an Erfahrung, etwas, das uns alle gestärkt, geprägt und überlebensfähiger gemacht hat. Waren wir Freiwilligen vielleicht diejenigen, die schlussendlich durch das Projekt am meisten profitiert hatten?“ Ja, und vielleicht hatte Friedrich Nietzsche recht, wenn er einmal schrieb: „Denn, glaubt es mir! – das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit euresgleichen und mit euch selber!“ (Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, § 283).
Ich war nie Kriegsdienstverweigerer und auch der Einsatz in dem Projekt des „Service Civil International“ in Algerien konnte daran nichts ändern. Aber während der Zeit in Algerien konnte ich ganz persönlich erfahren wie viel Leid und Elend ein Krieg in einem Land verursacht. Gleichzeitig wurde mir aber auch die Motivation der Dienstverweigerer begreiflich. „Le Déserteur“, ein Lied das wir abends oft am offenen Feuer zusammen sangen, machte mich jedes Mal nachdenklich und traurig. Die klagenden Worte und die wehmütige Melodie hallen noch immer in meinen Ohren. Hier der Texte des Lieds :
Monsieur le Président
Je vous fais une lettre
Que vous lirez peut-être
Si vous avez le temps
Je viens de recevoir
Mes papiers militaires
Pour partir à la guerre
Avant mercredi soir
Monsieur le Président
Je ne veux pas la faire
Je ne suis pas sur terre
Pour tuer des pauvres gens
C'est pas pour vous fâcher
Il faut que je vous dise
Ma décision est prise
Je m'en vais déserter
J'ai vu mourir mon père
J'ai vu partir mes frères
Et pleurer mes enfants
Ma mère a tant souffert
Elle est dedans sa tombe
Et se moque des bombes
Et se moque des vers
Quand j'étais prisonnier
On m'a volé ma femme
On m'a volé mon âme
Et tout mon cher passé
Demain de bon matin
Je fermerai ma porte
Au nez des années mortes
J'irai sur les chemins
Sur les routes de France
De Bretagne en Provence
Et je dirai aux gens:
Refusez d'obéir
Refusez de la faire
N'allez pas à la guerre
Refusez de partir
S'il faut donner son sang
Allez donner le vôtre
Vous êtes bon apôtre
Monsieur le Président
Si vous me poursuivez
Prévenez vos gendarmes
Que je n'aurai pas d'armes
Et qu'ils pourront tirer

Als ich mich entschloss das „Fort“ zu verlassen, hatte auch Ina bereits im Sinn nach Hause zu fahren. Da wir Beide auf der Heimreise Marokko entdecken wollten, entschieden wir uns zusammen zu fahren. Zu zwei ist eine Reise nicht nur angenehmer, sondern in Nordafrika für Frauen vor allem sicherer. Ina war nämlich vorher einmal mit „Faith“, einer unserer Köchinnen, in Marokko unterwegs und erlebte dort sehr unangenehme Situationen. Somit wurde ich irgendwie auch ihr Beschützer auf der Reise. Allerdings war ich für ihre Sicherheit auch keine absolute Garantie. Genau während dieser Zeit wurde nämlich bekannt, dass junge Paare auf ihrer Reise durch Marokko verschwanden. Die Burschen wurden meistens umgebracht und die Mädchen verschleppt. Man sagte, dass sie vorwiegend nach Ägypten gebracht und dort an reiche Araber veräussert wurden. Sie verbrachten dann später ihr junges Leben entweder in einem Harem oder in einem Nachklub als Tänzerinnen. Da Kidnapper blonde Frauen, so wie die Ina, sicher immer im Visier hatten, waren wir unserem Risiko bewusst. Trotzdem gaben wir unsere Reisepläne nicht auf und machten uns am 1. September schon um 06.00 Uhr morgens auf den Weg. Vom „Fort“ wurden wir mit dem Landrover des SCI nach Tlemcen gebracht. Hier erledigten wir einige administrative Angelegenheiten und machten einen letzten, wehmütigen Spaziergang hinauf zur Corniche. Um 11.00 Uhr machten wir uns dann auf den Heimweg. Doch an diesem Tag wir hatten kein Glück und so mussten wir nach 3 Stunden Geduld schliesslich den Bus bis zur Marokkanischen Grenze nehmen. Von hier ging es dann per Autostopp weiter bis nach Oujda wo wir bei Bekannten übernachteten.
(1) Grab eines Heiligen (Marabout ) bei Maghnia ca. 10 km vor der Grenze zu Marokko.
Am anderen Morgen war schon um halb fünf Tagwache, denn wir hatten eine lange Reise vor uns. Wir wollten nach Figuig, eine Oase die etwa 370 km südlich von Oujda in der Wüste liegt. Ohne viel Geld in der Tasche hatten wir ein weiteres Mal keine andere Wahl als per Autostop zu reisen. An diesem Tag hatten wir aber viel Glück. Schon um 05.50 reagierte ein Franzose auf unser „Tramper-Zeichen“ und nahm uns in seinem VW bis zur Provinzhauptstadt Bouarfa mit, wo wir schon um 09.00 Uhr eintrafen. Damals wurde in dieser Gegend noch Manganerz abgebaut und so hätten wir den Ort auch per Bahn erreichen können, aber eben per Anhalter war eine Mitreise kostenlos.
Bis Bouarfa war die Strasse asphaltiert gewesen, doch nun begann eine Naturstrasse die durch eine Steinwüstenlandschaft bis zur 110 km entfernten Oase Figuig führte. Da dieser Weg nur selten befahren wurde, und wenn dann nur von überladenen Lastwagen, sassen wir nach zwei Stunden immer noch am Strassenrand und hofften auf eine gütige Seele, die uns mitnehmen würde. Nach einer Weile an der prallen Sonne kam ein Soldat und lud uns zu einer Erfrischung in ihrem Aufenthaltsraum ein. Etwas misstrauisch folgten wir ihm und waren überrascht als da noch weitere Soldaten waren. Natürlich wollten sie wissen was wir hier am Rande der Wüste suchten. Als sie erfuhren, dass wir per Autostop nach Figuig wollten, schüttelten sie ihre Köpfe und lachten. Sie erklärten uns, dass wir per Autostop nie von hier wegkommen würden und offerierten uns mit ihrer typischen Gastfreundschaft erst einmal einen köstlichen Pfefferminztee. Einer der Soldaten hatte sich inzwischen an den Weg durch die Wüste gestellt und hielt jeden Lastwagen an. Und tatsächlich fand er einen Fahrer der bereit war uns bis nach Figuig mitzunehmen. Natürlich war die Führerkabine schon mit drei Mann besetzt, doch irgendwie musste man eine Lösung finden. So entschied ich mich auf die Bedachung des Lastwagens zu klettern um dort auf einem Reserverad Platz zu nehmen und die Fahrt durch die Wüste mit Panoramasicht zu geniessen. Ina hatte das Privileg in der engen Kabine zu reisen. Unterdessen war es ja bereits sehr warm geworden, doch im Windzug auf dem Dach des Lastwagens war es für mich ganz erträglich.
(2) Zwischenhalt mitten in der Wüste
Etwa auf halbem Weg hielt der Lastwagen plötzlich mitten in der Wüste an. Ich kletterte vom Lastwagen um zu sehen was der Grund des Unterbruches war und um gleichzeitig meine steif gewordenen Beine zu bewegen.Es war eine artesische Quelle wo sich nun alle versammelten und sich erfrischten. Hier entschied Ina meinen Platz auf dem Dach zu übernehmen und den Rest der Reise im Reserverad auf dem Dach des Lastwagens zu verbringen. Dann ging es sofort wieder weiter, denn scheinbar wollte man noch vor dem Einbrechen der Nacht ankommen. Und das schaffte der Fahrer ohne Probleme und fuhr uns schon um ca. drei Uhr sogar direkt vor das Gebäude des „chef de cercle“, oder Provinzverwalter.
Scheinbar hatten die Soldaten in Bouarfa den „chef de cercle“ von Figuig aus angerufen und ihm unsere Ankunft mitgeteilt, denn ein sehr gepflegter, westlich gekleideter Herr empfing uns am Eingang des Gebäudes wie Staatsoberhäupter persönlich. Dann führte er uns in seinen Palast und wies uns zwei Gemächer mit Dusche und WC zu, einen Komfort den wir schon lange nicht mehr geniessen durften. Allerdings wurden wir wieder etwas misstrauisch und fragten uns ob diese Freundlichkeit eine Gefahr für Ina sein könnte, denn in einem Einzelzimmer konnte ich sie ja nicht beschützen. Aber da wir nicht verheiratet waren gab es gar keine andere Wahl, wir durften nicht im gleichen Zimmer die Nacht verbringen. So entschieden wir uns dem vornehmen Hausherrn zu vertrauen und bezogen unsere Zimmer. Sofort nahmen wir eine Dusche und ruhten uns von der strapaziösen Reise aus. Etwas später kam ein Diener der uns mitteilte, dass wir uns zum Nachtessen bereit machen sollten. Und da gab es erneut eine Überraschung, denn wir wurden nicht in den Speisesaal geführt, sondern gebeten in einem Jeep Platz zu nehmen. Wieder überkam uns ein komisches Gefühl und wir fragten uns was das nun soll und wohin die Fahrt wohl gehen würde. Ohne Erklärungen schien uns alles sehr mysteriös. Das Fahrzeug fuhr los und raste durch die stockdunkle Nacht. Nach einer Weile hielt es vor einem kleinen Gebäude an und wir wurden in einen, mit Petrollampen, erhellten Innenhof mit weiss gestrichenen Mauern geführt. Dort befanden sich bereits einige Männer, alle in weissen Djellaba gekleidet und mit weissem Turban auf dem Kopf. Sie sassen auf dem mit farbigen Matten ausgelegtem Boden und tranken Minze Tee. Höflich wurden wir gebeten uns zu setzen. Dann kam ein Diener mit einer Schale und einer silbernen Kanne. Er stellte sich vor uns und bat uns die Hände hinzuhalten. Dann liess er sachte Wasser über unsere Hände fliessen, sodass wir sie waschen konnten. Das schmutzige Wasser fing er mit der Schale unter den Händen auf. Anschliessen gab er uns ein Tuch um die Hände zu trocknen und verschwand dann wieder in der Dunkelheit. Dieses Ritual wiederholte sich bei allen Anwesenden, denn es wurde ja nachher mit den Fingern gegessen. Danach trugen weissgekleidete Diener grosse Platten mit wunderbaren Köstlichkeiten in den Innenhof und legten sie vor unsere Füsse. Der Anblick des Festessens und über uns der Nachhimmel mit Millionen von Sternen waren absolut überwältigend. Zudem spielte ein Mann in einer Ecke auf seiner Flöte arabische Melodien. All dies erinnerte uns an die morgenländischen Erzählungen aus „Tausendundeine Nacht“ und mit einemmal glaubten wir es wahrhaftig erleben zu dürfen. Dieser romantische Abend, der Sternenhimmel und die marokkanische Gastfreundschaft waren unvergesslich schön. Leider hatte auch dieser märchenhafte Traum ein Ende und so ging es nach dem Essen wieder äusserst rassig durch die Dunkelheit zurück nach Figuig, wo wir noch die ganze Nacht von diesem aussergewöhnlichen Erlebnis träumten.
Am anderen Morgen wurden wir zum Frühstück mit dem Hausherrn geladen. Wieder geschah dies in einem sehr gediegenen Rahmen, sodass wir uns in einem 5-Sterne Hotel glaubten. Es wurden Speisen serviert, die wir schon lange nicht mehr geniessen durften. Wir sprachen über den fabelhaften Abend am Vortag und wurden uns erneut bewusst, dass wir ein unglaubliches Privileg hatten so etwas überhaupt erleben zu dürfen. Nach dem Frühstück überliess uns der Hausherr einem Soldaten, der den Auftrag hatte uns durch die Oase zu führen. Als wir aus dem Palast traten waren wir überrascht festzustellen, dass wir uns auf einer kleinen Anhöhe befanden. Seit unserer Ankunft hatten wie die Oase ja noch nie bei Tag gesehen. Von dieser Erhebung hatte man eine grandiose Aussicht über die ganze Oase. Im rosa Morgenlicht waren die mehr als 100 000 Dattelpalmen ein äusserst überwältigender Anblick. So etwas Wunderbares hatten wir noch nie gesehen und blieben sprachlos stehen.
(3) Die märchenhafte Oase Figuig im Morgenlicht
Doch der Soldat schien unsere Faszination nicht zu verstehen und bat uns weiter zu gehen. Wahrscheinlich war das Leben der Einheimischen doch nicht so paradiesisch wie wir es uns während unserem kurzen Besuch vorstellten. Als Selbstversorger kämpften sie ja nicht nur für ihr Überleben, sondern auch für das Gleichgewicht der ökologisch sensiblen Oase. Auf einem schmalen Fussweg führte er uns dann hinunter in die Gärten. Er erklärte uns, dass die Dattelpalmen die darunter wachsenden Obstbäume wie Feigen-, Granatapfel- und Mandelbäume vor der starken Sonneneinstrahlung schützten. Diese wiederum schützten am Boden wachsende Kulturen wie Getreide, Kartoffeln, Gemüse, Kräuter usw. Meistens führte unser Weg im wohltuenden Schatten an Wasserkanälen entlang.
(4) Wasserauffang-Becken für die Bewässerung der Oase
Dabei erwähnte er, dass dieses Wasser von etwa 20 artesischen Quellen in der Gegend rund um die Oase stamme. Von diesen Quellen wurde das Wasser über Rinnen oder unterirdischen Kanälen, den Khettaras, zu den Gärten geleitet. Als Sanitär Installateur, faszinierte mich hier vor allem das geniale und ausgeklügelte Verteilsystem des Wassers, das all die verschiedenen, individuellen Felder mit dem kostbaren Nass versorgte. Das Wasser schien unaufhörlich in alle Richtungen zu fliessen und sich dabei fröhlich mit gurgeln und plätschern bemerkbar zu machen. So etwas zu sehen und zu erleben war einfach unbeschreiblich, und dies mitten in der Wüste! Ja, diese Oase war für mich das echte Paradies auf Erden.
(5) Das ausgeklügelte Verteilsystem des wertvollen Wassers
Inzwischen hatte der „chef de cercle“ die Rückfahrt nach Bouarfa organisiert, diesmal nicht mühsam hoch auf einem Lastwagen, sondern in seinem Jeep und in seiner Begleitung. Nur ungern verliessen wir nach dem gemeinsamen Mittagessen diese märchenhafte Oase. Die Rückfahrt durch die Wüste war in seinem Auto natürlich viel komfortabler als auf dem Dach eines Lastwagens und erlaubte uns auch die Gegend ohne Stress und in Ruhe nochmals zu bewundern. In Bouarfa verabschiedete sich der freundliche „chef de cercle“ und wir bedankten uns für die ausserordentlich grosszügige Gastfreundschaft. Nachher machten wir uns sofort auf die Suche nach einer günstigen Unterkunft, die wir auch bald fanden. Anschliessend besuchten wir die Manganerz-Minen wo wir sogar in den Berg hineingelassen wurden. Nach einem kleinen Imbiss legten wir uns schon früh abends zur Ruhe, denn der Bus nach Ouarzazate fuhr schon um sechs Uhr morgens weg und da er nur zwei Mal in der Woche diese Strecke fuhr, wollten wir ihn auf keinen Fall verpassen. Um Mitternacht wurde heftig an unsere Zimmertüre geklopft. Erschrocken und schlaftrunken ging ich sofort zur Türe. Als ich sie öffnete standen zwei Polizisten breitspurig vor mir und verlangten unsere Reisepässe. Respektvoll holte ich die zwei Dokumente und übergab sie ihnen. Nachdem die Beiden bemerkten, dass wir nicht den gleichen Familiennamen hatten, fragten sie uns ob wir verheiratet seien? Ahnungslos verneinte ich die Frage. Wahrscheinlich erwarteten sie nichts anderes als genau diese Antwort, denn sofort hiess es wir hätten eine Straftat begangen. Nach marokkanischem Gesetz durften damals unverheiratete Leute nicht im gleichen Zimmer die Nacht verbringen und so sagten sie uns wir wären festgenommen und dürften am nächsten Tag nicht weiterreisen. Während ich dieses Schicksal, immer noch schlaftrunken und ratlos anhörte und mich sogar schuldig fühlte, stand plötzlich Ina neben mir. Sie hatte die ganze Konversation vom Bett aus mitbekommen und stellte sich nun wie eine wehrhafte Germanin vor die beiden Staatsangestellten. Sie sagte, dass wegen des ständigen Risikos von Männern belästigt zu werden, das Alleine-Reisen für Frauen in Marokko unmöglich sei. Weiter erwähnte sie, dass sie vor einigen Wochen mit einer Freundin unterwegs gewesen sei und Beide wegen einem Versuch von Vergewaltigung mit zerrissenen Kleidern nach Hause zurückkehren mussten. Darum hätte sie mich gebeten mit ihr zu reisen und sie vor sexuellen Übergriffen vor respektlosen und giererfüllten Männern zu beschützen. Alleine hätte sie viel zu grosse Angst gehabt die Reise zu unternehmen. Und um die Sache noch ein bisschen pikanter zu gestalten fügte sie bei, dass sie wohl nach ihrer Rückkehr die Presse von dem Vorfall orientieren würde und zudem Touristinnen vor Reisen nach Marokko in Zukunft bestimmt abrate. Die Polizisten waren plötzlich kleinlaut und zogen sich mit unseren Reisepässen zurück. Nach einer Weile kamen sie zurück und gaben mir die Pässe wieder zurück. Ewas verlegen schenkten sie uns gleichzeitig eine nagelneue Militär-Feldflasche und wünschten uns eine gute Nacht, sowie für den folgenden Tag eine gute Reise. Die schlagfertige Ina hatte uns mit ihrer Geistesgegenwart vor einem Gefängnisaufenthalt in Marokko gerettet. Trotzdem schliefen wir nachher nicht mehr so getrost wie vorher und hofften nur, dass die Polizei oder das Militär ihre Entscheidung bis zu unserer Abreise am Morgen nicht doch noch ändern würde.
Sobald die Sonne aufging waren wir auf dem Platz von wo die Fern-Busse wegfuhren. Auf der Strecke hinter dem Hohen Atlas war es unmöglich mit Autostop vorwärts zu kommen und so fuhren wir mit dem regulären Bus nach „Ksar Es-Souk“ oder heute Errachidia genannt. Der Weg war äussert beschwerlich, denn die Strasse durch die Wüste war in einem sehr schlechten Zustand, ja eher ein Bachbett. Dafür war die Gegend umso faszinierender. Immer wieder hielt der Bus in romantisch-schönen Dörfern an, wo Leute in ihren traditionellen, blauen Kleidern aus- und einstiegen. Unterwegs sahen wir viele Nomaden-Siedlungen mit ihren Kamelen, Ziegen und Schafen. In Errachidia fanden wir für die Nacht einen Gratis-Unterschlupf bei „Jeunesse et Sport“.
(6) Auf dem Markt in Errachidia
Am nächsten Tag ging die Fahrt auch wieder früh am Morgen via Tinghir nach Ouarzazate weiter. Erneut war die Fahrt äusserst interessant und unbeschreiblich schön. Besonders eindrucksvoll war Tinghir mit seinen mehrgeschossigen und imposanten Lehmbauten. Das Dorf liegt auf einer Höhe von 1’340 Metern über Meer und wurde auf unfruchtbaren Böden errichtet. Damit blieben die fruchtbaren Oasen, wie fast überall im Süden Marokkos, von menschlicher Überbauung verschont.
(7) Die eindrucksvollen, mehrgeschossigen Lehmbauten in Tinghir.
In Tinghir wechselte der Busfahrer. Da der Neue französisch sprach, kamen wir bald mit ihm ins Gespräch. Als er erfuhr, dass wir in Algerien freiwillige Arbeit geleistet hatten, lud er uns nicht nur zum Mittagessen ein, sondern auch mit ihm bis nach Marrakesch zu fahren. Zudem bot er uns eine Gratis-Übernachtung in Ouarzazate an, und zwar in der Unterkunft der Buschauffeure im Areal der Buszentrale. Dies schien uns erst ein bisschen suspekt, denn nach den Erfahrungen in Bouarfa musste man auf alles gefasst sein. Doch mit unserem bescheidenen Reisebudget waren wir schliesslich froh Geld sparen zu können und willigten ein. Als sich dann nachts die Fensterläden immer wieder bewegten, wurde es uns doch etwas unheimlich. Ich konnte mir vorstellen, dass es neugierige Busfahrer waren die sich vor unserm Zimmer tummelten. Doch wir waren zu müde um die ganz Nacht abwechselnd Wache zu halten und so fielen wir bald in einen gesunden Tiefschlaf.
Am nächsten Morgen ging die Fahrt weiter nach Marrakesch. Dazu mussten wir das Gebirge des Hohen Atlas überqueren. Ab Ouarzazate kehrte die Strasse deshalb der Wüste den Rücken und führte mit vielen engen Kurven über den, auf 2’260 Meter gelegenen, Gebirgspass „Tizi n’Tichka“. Von da hätte man normalerweise einen wunderbaren Blick über die Berge des Hohen Atlas gehabt. Doch an diesem Tag hatten wir kein Glück, denn es war kalt und neblig, sodass wir es vorzogen den kurzen Halt in einem geheizten Café auf der Passhöhe zu verbringen. Während Ina und ich ein warmes Getränk vorzogen, bestellte der Fahrer ein „Coca-Cola Spécial“. Da ich noch nie von so einem Getränk gehört hatte, fragte ich ihn was an diesem Getränk so speziell sei. Er zwinkerte und sagte: Wein! Da in Marokko der Ausschank von Alkohol verboten ist, wird er diskret in einer Coca-Cola Flasche serviert. Allerdings gelingt dies in einer Coco Cola Flasche wohl nur mit Rotwein unbemerkt! Nach dem kurzen Aufenthalt ging es genau so kurvig wieder bergab bis nach Marrakesch, wo wir wieder in eine wärmere Gegend kamen. Eigentlich wollte uns der Busfahrer in der Villa eines Freundes unterbringen, doch wir zogen es vor in ein kleines Hotel zu ziehen. Da er Präsident eines Fussballclubs war, nahm er uns am Nachmittag mit an einen Match. Ich hätte lieber etwas von der bekannten Stadt gesehen und so langweilte ich mich fürchterlich. Doch wir konnten diese gute gemeinte Einladung nicht abschlagen, sonst wäre der fürsorgliche Fahrer wahrscheinlich beleidigt gewesen.
(8) Im Garten der Villa eines Freundes des Bus-Chauffeurs
Am anderen Morgen drängte uns der Fahrer erneut in die Villa seines Freundes zu ziehen. Ich war dagegen, doch Ina hatte keine Vorbehalte und sah unerwartet nochmals eine Möglichkeit Geld zu sparen. Nach langem hin und her übersiedelten wir schliesslich zu seinem Freund in eine vornehme Villa. Schon am Vortag hatte ich an den Strassenrändern Verkäufer mit Schafsköpfen gesehen. Nun musste ich nach unserer Ankunft zusehen wie der Gastgeber hinter dem Haus genau solchen Köpfen über einem Feuer das Fell abgebrannte. Noch konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese „Delikatesse“ für das Mittagessen vorgesehen war. Im Salon des Gastgebers hatte es weder Tisch noch Stühle, sondern nur Sofas entlang den vier Wänden, so wie es in arabischen Ländern meistens die Regel ist. Also bat er uns auf diesen Sofas Platz zu nehmen und uns zu entspannen. Er schaltete seinem Plattenspieler an und berieselte uns mit klassischer Musik. Am Mittag wurde dann eine Silberplatte mit den halbverkohlten Schafsköpfen in den Raum getragen und vor unseren Füssen auf den Boden gelegt. Begleitet mit klassischer Musik schien mir diese Mahlzeit total absurd und löste bei mir alles andere als Entzücken hervor. Mit Wehmut musste ich an das Nachtessen in der Wüste bei Figuig denken. Der Hunger war plötzlich weg und ich wusste nicht wie ich mich aus der widrigen Situation herausreden konnte. Ich war mir bewusst, dass es wohl eine grosse Ehre war, überhaupt Schafsköpfe essen zu dürfen, aber ich hätte an deren Stelle lieber ein Stück Brot mit Käse gehabt. Zu Glück gab es noch Beilagen die uns mundeten und es erlaubten unser Gesicht zu wahren.
Nach der Siesta fragte der Hausherr ob Ina ein Bad nehmen möchte. Da er mich offensichtlich für einen solchen Genuss nach der Strapaze durch die Wüste ausschloss, fand ich dies erneut seltsam. Doch Ina sah in diesem Angebot überhaupt kein Problem und willigte sofort ein. Unterdessen harrte ich besorgt im Salon und hätte die Zeit eigentlich lieber genutzt um Stadt kennen zu lernen. Erst gegen Abend als Ina frisch gebadet und wunderbar riechend wieder aus dem Bad kam, war der Fahrer bereit mit uns in die Stadt und die farbenfrohen Souks zu fahren. Ich hätte auch gerne gebadet oder wenigstens geduscht um mich endlich wieder einmal sauber zu fühlen. Stattdessen wurde dann in der Stadt wenigstens mein geheimer Hunger endlich mit einem fein grillierten Poulet gestillt. Und das genoss ich auch ungeduscht oder gebadet. Zurück in der Villa wurde der Salon zu einem Nachtlager umfunktioniert, denn wir schliefen in unseren Schlafsäcken auf dem Boden, das heisst auf den schönen Teppichen.
Am nächsten Morgen war plötzlich eine junge Dame mit uns im Haus. Sie gab sich als Freundin des Hausherrn aus und erklärte, dass sie zum Mittagessen ein Couscous zubereiten würde. Gleichzeitig bat sie Ina ihr in der Küche behilflich zu sein. Die neugierige Ina war natürlich sofort einverstanden und so fuhren wir Männer nochmals in die Stadt. Diesmal hatten wir genügend Zeit um herumzuschlendern und die lebendige, farbenfrohe Innenstadt zu geniessen. Am Mittag, als wir hungrig nach Hause kamen, war der Couscous noch nicht bereit und wir mussten uns schliesslich bis um drei Uhr gedulden. Wieso die Zubereitung so viel Zeit brauchte habe ich nie erfahren. Aber das Warten hatte sich gelohnt, denn das Essen war nicht nur ausgezeichnet, sondern auch reichlich. Darum brauchten wir anschliessend eine verdiente Siesta. Gegen Abend fuhren wir nochmals in die Stadt und genossen diesmal ausser dem Souk vor allem „Djemaa el Fna“, den weltberühmten mittelalterlichen Markt- und Henkerplatz. Auf diesem sehr lebendigen Platz sahen wir orientalische Geschichtenerzähler, Schlangenbeschwörer, Gaukler und vieles mehr. Die Stimmung auf diesem Platz war besonders bei Sonnenuntergang und dann nachts unbeschreiblich faszinierend.
(9) Ein Wasserverkäufer auf dem mittelalterlichen Markt- und Henkerplatz „Djemaa el Fna“.
Am anderen Tag, unterdessen war es 9. September geworden, mussten wir schon um vier Uhr früh aufstehen. Der Hausherr hatte sich nämlich bereit erklärt uns vor seinem Arbeitsbeginn noch bis nach Casablanca mitzunehmen und uns dort kurz die Stadt zu zeigen. Dann verabschiedeten wir uns herzlich von dem netten und ausserordentlich grosszügigen sowie gastfreundlichen Herrn und machten uns auf den Weg nach Rabat. Dort trafen wir ganz zufällig den Franzosen, der uns von Oujda nach Bouarfa mitgenommen hatte. Aber leider konnte er uns diesmal nicht mitnehmen. Auf der schon damals stark befahrenen Strasse nach Tanger war es nicht einfach jemanden zu finden der bereit war ein junges Paar mitzunehmen. Um nicht zu lange am Strassenrand zu warten, bat mich Ina hinter einen Baum zu stellen. Unterdessen stellte sich die blonde Ina an den Strassenrand und zeigte mit hochgezogenem Jupe ihr rechtes Bein. Dieser Köder funktionierte und sofort hielt ein Fahrer mit einem rassigen Auto an. Natürlich hatte mich der Lenker des Autos nicht bemerkt und so war er überrascht, als plötzlich noch ein Junge ins Auto stieg. Doch er sagte nichts und fuhr los. Ina und ich hatten abgemacht, dass ich immer auf dem hinteren Sitz des Fahrers Platz nehme, sodass ich ihm im Falle eines Übergriffs auf Ina sofort den Kopf hätte nach hinten ziehen können. Die Fahrt ging zügig voran, doch plötzlich schwenkte er bei einer kleinen Strasse nach rechts ab. Auf einer Naturstrasse ging die Fahrt dann weiter, vorbei an Feldern ins Unbekannte. Als ich den Fahrer fragte ob dieser Weg wirklich nach Tanger führe meinte er kurz angebunden, dass er uns zuerst noch eine Hühnerfarm zeigen möchte. Da er uns auf diesen Abstecher nicht vorbereitet hatte, wurden wir misstrauisch und sagten, dass wir kein Interesse an Hühnerfarmen hätten und am selben Abend noch in Tanger sein müssten. Doch er schien uns zu ignorieren und fuhr einfach weiter. Jetzt begannen wir heftig zu protestieren und verlangten eine sofortige Umkehr. Unsere scharfe Ablehnung schien ihn zu überraschen, denn er machte kehrt und fuhr ohne ein Wort zu verlieren zurück. Doch sobald wir wieder auf der Hauptstrasse waren, befahl er uns plötzlich auszusteigen. Erleichtert stiegen wir aus dem Wagen und fragten uns was der Mann wohl mit uns vorhatte? Obwohl sich Ina nun nicht mehr so sexy an den Strassenrand getraute, hatten wir Glück und fanden andere Fahrer die uns auf der langen Strecke sicher ans Ziel brachten. Wir hatten auch Glück in Tanger sofort eine günstige Unterkunft zu finden und legten uns nach dem langen Tag sofort todmüde ins Bett.
Am nächsten Tag beschlossen wir einen Ruhetag einzuschalten und noch einen weiteren Tag in Nordafrika zu bleiben. Wir wussten ja eigentlich gar nichts über Tanger und so wurde dieser Tag zu einer Art Unterweisung in Geschichte. Wir staunten nicht schlecht als wir erfuhren, dass der Ort schon im 5. Jahrhundert v. Chr. von den Griechen (Karthagern) gegründet worden war. Später geriet der Ort unter römische Herrschaft bevor er im Jahre 702 von den Arabern erobert wurde. Dann folgten die Portugiesen, dann die Spanier und die Briten, bis Tanger im Jahre 1684 schliesslich an Marokko übergeben wurde. Obwohl dies sehr interessant war, hatten wir aber keine Lust Spuren der Vergangenheit aufzuspüren und Stunden in Musen zu verbringen. Dafür gingen wir, wie die vielen Touristen, in die beliebte Medina (Altstadt) mit ihren Märkten, den Handwerksbetrieben und Cafés. Das emsige Treiben im Souk fanden wir viel interessanter. Was uns da besonders auffiel waren die Rif-Berber Frauen mit ihren grossen Strohhüten und den rot-weiss gestreiften Röcken. Sie sassen überall an Strassenrändern und verkauften Früchte und Gemüse oder handgefertigte Souvenirs. Diese farbenfrohe Kleidung war typisch in der Gegend von Tanger und Tétouan. Wir hatten schon während der ganzen Reise hinter dem Hohen Atlas beobachtet, dass die Frauen je nach Ort und Region verschieden gekleidet waren. Auch die Art der Kopfbedeckung änderte sich immer wieder, auch für Männer. Ein geübtes Auge konnte deshalb immer schnell erkennen woher jemand kam und zu welcher ethnischen Gruppe die Person gehörte. Eine „Dächlichappe“ oder Baseballkappe wie wir sie bei uns trugen, sahen wir nie. Wie wir dann selbst erfahren mussten, ist eine solche Kopfbedeckung in der Wüste ziemlich untauglich. Ein Kopftuch hingegen schützt nicht nur den Kopf, sondern auch das Gesicht und vor allem auch den Nacken vor Wind und Sand in der Wüste. Nur zu schnell war der letzte Tag auf afrikanischem Boden vorüber, ein Tag an dem wir wieder viel Neues gesehen und gelernt hatten.
Am folgenden Tag schifften wir uns für die Fahrt nach Algeciras ein. Die Stadt liegt noch in der Strasse von Gibraltar, allerdings schon auf der Mittelmeerseite. Wir verloren hier keine Zeit und nahmen dort sofort ein anderes Schiff, das uns nach Gibraltar brachte. Auf dem Schiff trafen wir zwei Schweizer die von ihrer Reise genau so viel zu erzählen wussten wie wir. Die Südspitze der iberischen Halbinsel steht seit 1704 unter der Souveränität des Vereinigten Königreiches, wird aber auch von Spanien beansprucht. Bei der Ankunft staunten wir deshalb über das heftige Treiben und besonders über die grosse Anzahl von verschiedenen Währungen die hier gewechselt wurden. Nach einem kurzen Rundgang in der Stadt und einem gemeinsamen Mittagessen mit unseren Reisekollegen aus der Schweiz wollten wir natürlich auch den „Fels von Gibraltar“ sehen. Wir beschlossen zusammen mit einem Taxi zu diesem Wahrzeichen der Stadt zu fahren um von dort einen Überblick auf die Gegend zu haben. Weil auf diesem Felsen freilebende Affen vorkommen, wird er auch „Affenfelsen“ genannt. Auf dem Weg zu den Aussichtspunkten kann man sie nicht verpassen, denn sie sind überall und sprangen sogar auf unsere Köpfe. Obwohl man sie freilebend bezeichnet, schienen sie uns eher wie Haustiere die regelmässig von Menschen gefüttert werden. Gibraltar ist auch durch diese Tiere ein Touristenort geworden. Wir waren den grossen Rummel in dieser Stadt nicht mehr gewohnt, blieben aber trotzdem noch eine Nacht in Gibraltar und übernachteten in einer Jugendherberge.
Am nächsten Morgen machten wir uns gegen Mittag auf den Weg nach Malaga, doch an der spanischen Grenze fand Ina ihren Pass nicht mehr. Wie ein Wunder hatte ihn jemand gefunden und so musste sie wieder zurück in die Stadt um ihn dort abzuholen. Dann nahmen wir erneut einen Anlauf um nach Malaga zu kommen, doch bei dem emsigen Verkehr war das extrem schwierig. Schliesslich hatte jemand mit uns Erbarmen und brachte uns bis ausserhalb der Stadt zu einer wichtigen Strassenkreuzung. Doch da hatte es bereits schon viele andere junge Leute die versuchten mit Autostop weiter zu kommen. Es bestand eine richtige Konkurrenz. Doch nach einer Weile Geduld hatten wir Glück und ein englischer Geschäftsmann hielt sein Fahrzeug neben uns an. Es schien froh jemand gefunden zu haben, der ihn auf seinem Weg nach Malaga begleitete. Da Ina die englische Sprache besser beherrschte als ich, unterhielten sich die Beiden auf dem ganzen Weg vortrefflich. Bei der Ankunft vor seiner noblen Absteige, dem 5 Sterne-Hotel Miramar, lud uns der leutselige Herr am Abend zu einem „Drink“ ins Hotel ein. Wie immer war ich skeptisch, doch Ina sah in seiner Einladung weder ein Problem noch eine Gefahr. Nachdem wir für uns ein günstiges Zimmer gefunden hatten und uns da ausgeruht hatten, folgten wir seinem Angebot und besuchten ihn im Hotel. Wir hatten nämlich einen Riesenhunger und hofften fest, dass er uns zum Nachtessen einladen würde. Nachdem er uns in der Lobby empfangen hatte, bat er uns in seine Suite. Wieder beschlich mich ein seltsames Gefühl, liess mir aber nichts mehr anmerken. Er war sehr galant, öffnete sofort eine Flasche Whiskey, die er vorher im Duty-Free Shop in Gibraltar gekauft hatte, und füllte drei Gläser. Ich hätte lieber einen Süssmost oder einfach ein Glas Wasser getrunken. Da wir ja seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatten knurrte mein leerer Magen schon eine Weile unaufhörlich. Daher konnte ich nur hoffen, dass es zum Whiskey wenigstens ein Aperitif-Gebäck zum knabbern geben würde und stiess mit den beiden Wohlgelaunten an. Aber es gab nichts für meinen Magen. Ina und der Engländer schienen keinen Hunger zu haben und amüsierten sich köstlich miteinander. Da ich mit meinen limitierten Sprachkenntnissen nicht mithalten konnte, fühlte ich mich zunehmend ausgegrenzt. Dafür gesellte sich der Whiskey zu mir und nahm meinen Kopf in Beschlag. Dabei wurde ich sehr müde und wollte nichts anderes als mich zur Ruhe legen. Doch Ina hörte nicht auf mein Drängen das Hotel zu verlassen und schwatze weiter bis die ganze Flasche Whiskey leer war. Beide hatten nicht bemerkt, dass es unterdessen weit über Mitternacht geworden war und damit auch der Engländer das Nachtessen verpasst hatte. Total betrunken und immer noch mit leerem Magen verabschiedeten wir uns schliesslich und verliessen torkelnd das noble Hotel.
Ab diesem Moment machte das Gedächtnis nicht mehr mit und es bleibt deshalb ungewiss wie wir zu unserer billigen Unterkunft zurückfanden und ob wir überhaupt dort übernachtet hatten. Die Erinnerungsfähigkeit kam jedenfalls erst wieder ab dem nächsten Morgen zurück und zwar bei Sonnenaufgang auf den Burgmauern des „Castillo de Gibralfaro“. Hatten wir vielleicht hier im Freien übernachtet? Jedenfalls waren wir trotz Katerstimmung und flauem Gefühl im Magen bereits wieder fähig die Aussicht über die Stadt zu geniessen. Gegen Mittag trafen wir den Engländer erneut, denn er wollte uns die Stadt zeigen und mit uns ausserhalb der Stadt ans Meer fahren. Der nette Mann gab sich wirklich sehr Mühe und wir genossen den sorglosen Morgen am Meer. Auch das Wetter machte mit und wir wären so gerne noch länger geblieben. Doch unser Reiseplan musste eingehalten werden und so machten wir uns am späteren Nachmittag, als es nicht mehr so heiss war, auf den Weg nach Granada. Auf dieser Strecke waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs und so ging unsere Reise erst beim Eindunkeln weiter. Als wir endlich in einer Art Mini Van Platz genommen hatten, entdeckten wir hinter unserem Sitz so etwas wie ein menschliches Bein. Es lag auf einem Blechgeschirr und war mit Blut verschmiert. Ina lachte und meinte es sei doch nur ein Schinken, ein „Jamón Ibérico“. Doch ein solcher Schinken wäre doch nicht so lang wie ein menschliches Bein und blutig dazu? Da wir uns mit dem Fahrer nicht verständigen konnten, wurden wir unsicher und misstrauisch. Als dann der Fahrer noch plötzlich auf einer total verlassenen Strecke anhielt, den Motor abstellte und ausstieg, bekamen wir Angst. Draussen war es stockdunkel und so wäre aussteigen und wegrennen wohl sinnlos gewesen. Während er mit einer Taschenlampe etwas am Motor hantierte, hatten wir keine andere Beschäftigung als immer wieder das blutige Bein hinter uns zu inspizieren. Ina war überzeugt, dass es kein menschlicher Körperteil war, konnte aber auch nicht sagen was es anderes sein könnte. Endlich stieg der Fahrer wieder ein und die Fahrt ging weiter. Wir bedauerten, dass wir uns mit ihm nicht verständigen konnten, denn dies hätte unsere Besorgnis sicher klären können. Nach etwa einer Stunde kamen wir sicher in Granada an. Da es schon spät war, brachte uns der Mann zu einem kleinen, günstigen Hotel. Mit dieser Geste bewies er, dass er kein Bösewicht war. Doch bevor wir uns von dem Fahrer verabschiedeten wollten wir wissen, ob das Hotel überhaupt Zimmer für unseren Geldbeutel hatte und wie es drinnen aussah. Dies führte sofort zum Dilemma wer von uns Beiden dies nun tun sollte. Da ich Ina nicht alleine mit dem Fahrer im Auto lassen wollte, schlug ich vor, dass Ina ins Hotel gehen soll. In einem Hotel konnte ihr ja nichts geschehen. Doch als sich unser Fahrer und ich fast eine halbe Stunde gedulden mussten, bekam ich Angst. Was war wohl mit ihr geschehen? Als sie zurückkam, gestand sie Belästigungen und dass man sie in ein Zimmer einschliessen wollte. Da es schon sehr spät war und wir die Bereitwilligkeit des Fahrers nicht weiter strapazieren wollten, entschieden wir uns dann aber trotzdem in diesem äusserst lärmigen Hotel zu übernachten.
Am nächsten Morgen war die nächtliche Fahrt nach Granada noch nicht ganz vergessen, doch nach dem Besuch der Kasbah „Alhambra“ auf dem Sabikah-Hügel kamen wir bald wieder auf andere Gedanken. Diese Stadtburg gilt als eines der schönsten Beispiele der islamischen Kunst. Der maurische Bausstil faszinierte mich so gewaltig, dass ich ständig fotografieren musste. Besonders die Decken der Säle, die Stalaktitengewölbe, konnte ich nicht genug bewundern. Aber auch der Löwenhof mit den Löwenbrunnen, Comares, der Myrtenhof mit der spiegelglatten Wasseroberfläche im Becken waren unbeschreiblich schön. Die Alhambra war damals noch nicht die meistbesuchte Touristenattraktion Europas und so konnte ich noch Fotos ohne störende Leute knipsen. Nach einem Bummel im schönen Garten und Teichbereich der Burg kehrten wir überwältigt ins Hotel zurück. Doch damit war die Neugier noch nicht gestillt. Trotz Müdigkeit wollten wir noch unbedingt die berühmten und geheimnisvollen Zigeunerwohnungen in den Höhlen im Sacromonte Viertel besuchen. In der Stadt hatten wir zuvor zwei Deutsche Tramper getroffen die auch zu den Höhlen wollten und so fuhren wir abends zusammen in dieses Quartier. Es befand sich direkt gegenüber der Alhambra auf der anderen Flussseite des Darro und erlaubte von hier wunderbare Fotos von diesem imposanten Bauwerk zu knipsen. In den weiss getünchten Höhlen der Zigeuner waren die Wände mit glänzenden Kupferkesseln an den Wänden geschmückt. Natürlich wollten wir die berühmten Flamenco-Tänze in diesen Höhlen nicht verpassen und warteten bis fast Mitternacht. Wahrscheinlich hatte uns diese lange Wartezeit zermürbt, denn der Auftritt der Zigeuner, der „Gitanes“, überzeugte uns nicht und auch ihre Musik liess uns nicht in Trance versetzen. Das Ganze kam uns äusserst kommerziell vor und wir vermissten die elektrisierende Leidenschaft der Tänzer und das Feuer in den Augen der Zigeuner. Etwas enttäuscht kehrten wir deshalb nachher in unsere Pensionen zurück.
(10) Im märchenhaften Garten des Alhambra
Granada hatte uns so beeindruckt, dass wir am anderen Morgen noch den „Palacio de Generalife“, oder auch Sommerpalast genannt, besuchten. Ursprünglich war der „Generalife“ über einen überdachten Fußweg über die Schlucht hinweg mit der Alhambra verbunden. Er besteht aus dem Hof des Wasserkanals, dem Garten der Sultanin und Pavillons, alles eingerahmt von Blumenbeeten, Brunnen, Wasserspielen und Kolonnaden. Mit all den vielen farbigen Blumen schien uns die Anlage schlicht zauberhaft schön. Man sagte uns, dass der „Generalife einer der ältesten verbleibenden maurischen Gärten sei. Nach dem Mittag waren wir wieder auf der Suche nach einer guten Seele die uns nach Sevilla bringen würde. Bis nach Antequera hatte wir Glück, zwei Spanier waren bereit uns mitzunehmen, aber weiter nach Sevilla kamen wir nur noch mit einem öffentlichen Bus. In Sevilla suchten wir dann verzweifelt eine Unterkunft. Sevilla war halt bei Touristen schon damals bekannt und so erweiterte sich die Suche bis an den Stadtrand. Schliesslich fanden wir eine Bar deren Besitzer bereit war uns ein Zimmer zu vermieten. Das Gebäude hatte, wie die meisten Gebäude in Andalusien, einen Innenhof. Die Bar war im Erdgeschoss und fast die ganze Nacht offen. Der Lärm und das Geschrei im Innenhof waren unerträglich und widerhallten rücksichtslos an den Mauern bis in unser Zimmer. Einmal ging ich hinunter um zu sehen wieso die Leute so schrien. Aber da war nichts Aussergewöhnliches zu bemerken, ausser dass sich alle einfach sehr laut unterhielten. Zudem war es sehr heiss und vermieste uns zusätzlich einen guten Schlaf. Als dann endlich Ruhe einkehrt war, die Temperatur erträglich geworden war und als wir endlich hätten schlafen können, war es bereits Morgen und wir mussten aufstehen. Doch beim Sonnenaufgang war aber in Sevilla, ausser der Müllabfuhr, kein Mensch auf der Strasse und so mussten wir uns bis fast neun Uhr gedulden um ein Frühstück zu bekommen. Aber da wir immer noch sehr müde waren, benutzten wir die Zeit um noch ein bisschen zu schlafen.
Was uns in Sevilla am Meisten interessierte war die Altstadt mit den historischen Gebäuden. Schon von weit bat Sevilla mit den zahlreichen Türmen von allen Seiten einen imposanten Eindruck. Islamisierte Berber eroberten die Stadt im Jahre 712 und prägten schliesslich die Altstadt mit ihren engen Gassen. Zum Glück hatten wir uns einen Stadtplan besorgt, denn sonst wären in dem riesigen Labyrinth total verloren gewesen. In den Gassen bemerkten wir die zahlreichen palastartigen Gebäude im altrömischen Stil, mit den schönen, marmorgetäfelten Höfen. Sonst aber beherrschte die orientalische Bauweise die Altstadt. Nicht zu übersehen war die Kathedrale Maria de la Sede, die früher eine Moschee war, und der weitsichtbare, viereckige Glockenturm „Giralda“. Er wurde ursprünglich von Abu Iussuf Lakub im Jahre 1196 als Minarett der Moschee gebaut. Es fiel uns auf, dass der Turm im innern keine Treppen hatte, sondern Rampen. Man erklärte uns, dass die arabischen Machthaber damals die Höhe von 82 Metern nicht zu Fuss, sondern mit dem Pferd erreichten. Dann besuchten wir das zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende „Alcázar“, oder maurischer Palast genannt, mit den prächtigen Sälen und Hallen sowie den schönen Gärten. Direkt am Fluss Guadalquivir bestaunten wir den zwölfeckigen „Torre del Oro“ der ursprünglich zur Bewachung des Flusses und Schutz der Stadt diente. Man sagte uns, dass der Turm früher mit vergoldeten Keramikkacheln verkleidet war und deshalb heute „Goldturm“ genannt wird. Natürlich besuchten wir auch einen der bekanntesten Plätze Sevillas, die „Plaza de España“. Er wurde ursprünglich zum Anlass der Iberoamerikanischen Ausstellung im Jahre 1929 im Maria-Luisa-Park erstellt. An diesem Tag zeigte der Thermometer 34°C und so versuchten wir uns in diesem Park mit seinen vielen schattenspendenden Bäumen von den anstrengenden Besuchen etwas auszuruhen.
Cordoba war unser nächstes Ziel und so standen wir am nächsten Morgen erneut mit winkender Hand auf der Strasse. Und wieder hatten wir Glück und waren schon in kurzer Zeit vor der sogenannten Römischen Brücke (Puente Viejo), der Brücke die über den Guadalquivir zur Altstadt von Cordoba führt. Von dieser Brücke hatte man eine wunderbare Aussicht auf die Mezquita. Aus unserem Reiseführer entnahmen wir, dass die geschichtsträchtige Stadt schon im Jahre 169 v. Chr. von den Römern besetzt wurde und sich später als Corduba zum Hauptort Südspaniens entwickelte. Im Jahre 711 wurde die Stadt von den Mauren eingenommen und wurde ab 756 Hauptstadt des „Umayyadischen Emirats von Córdoba“. Spannungen zwischen Christen, Juden und Muslimen scheinen aus dieser Zeit nicht bekannt. Im Rahmen der Zurückeroberung (der Reconquista) im Jahre 1236 wurde Cordoba von den christlichen Truppen aus Kastilien erobert. Während des spanischen Unabhängigkeitskrieges wurde die Stadt dann im Jahre 1808 von französischen Truppen eingenommen, ausgeplündert und zum großen Teil zerstört.
Was uns aber besonders Beeindruckte war die Mezquita-Kathedrale, das absolut bedeutendste Bauwerk der Stadt. Beim Betreten waren wir nicht nur überwältigt von den vielen rot-weiss gestreiften, übereinander liegenden Hufeisenbögen, die auf 856 Säulen aus Jaspis, Onyx, Marmor und Granit ruhen, sondern auch über ihre Ausdehnung. Die Gebetshalle allein nimmt knapp zwei Drittel der ganzen Flächen ein und ist damit einer der grössten Sakralbauten der Welt. An dem Ort wo heute die Moschee steht war früher ein römischer Tempel und danach eine westgotische Kathedrale. Nach ihrer Zerstörung durch die Muslime im Jahre 784 wurde an dieser Stelle mit dem Bau dieser Moschee begonnen. In den zwei folgenden Jahrhunderten wurde sie immer wieder erweitert. Eine dominierende Zentralkuppel so wie andere Moscheen hatte sie nie. Die heutige Ausdehnung erlangte das Gebäude in den Jahren 987/988 mit der Erweiterung der Außenschiffe und des Orangenhofes (spanisch: Patio de Naranjas). Dazu kam die wohl bedeutendste Gebetsnische maurischer Herkunft, ein gewölbter Schrein mit byzantinischen Mosaiken. Während der Rückeroberung durch die Christen im Jahre 1236 wurde die Moschee zur christlichen Kathedrale geweiht und das Minarett mit einem Kreuz versehen. Die Moschee war so groß, dass man in ihrer Mitte ab dem Jahr 1523 ein gewaltiges Kirchenschiff im Stil der Renaissance einbauen liess. Natürlich machten wir dann auch noch einen Streifzug durch die Altstadt und bewunderten die schöne „Plaza de la Corredera“, ein beeindruckender Platz wo früher Stierkämpfe ausgetragen wurden. Wie immer schien uns die Zeit zu kurz bemessen um noch mehr zu entdecken und länger zu bleiben. Aber wir waren vernünftig und zogen uns in die Herberge zurück um uns für den nächsten Tag auszuruhen.
Es war noch dunkel als wir uns am nächsten Morgen sehr früh auf den Weg nach Madrid machten. Bis uns ein Lastwagenfahrer ein Stück weit mitnahm, mussten wir sehr lange auf der Landstasse zu Fuss gehen. Anschliessend hatten wir gleich wieder Glück und fanden ein Ehepaar aus Spanien das uns bis an unser Ziel mitnahm. Dies erlaubte uns sogar noch am Nachmittag die Stadt zu erkunden und in den Strassen der Grossstadt zu bummeln. Wir hatten uns in einer der vielen Pensionen mitten in der Stadt installiert. Das erlaubte eine maximale Bewegungsfreiheit zu Fuss. Schon am anderen Morgen gingen wir in Richtung „Prado Museum“, wo wir erst einmal lange bei der Kasse anstehen mussten. Es war mein erster Besuch in einem Museum und auch meine erste Begegnung mit der klassischen Malerei. Ina wusste da schon viel mehr Bescheid und so kam ich mir wie ein Banause vor oder eben wie ein Bub vom Land, und dies obwohl mein Onkel Heiri Kunstmaler war. Aber ich brauchte nicht lange um mich in der Umgebung von Kunst wohl zu fühlen. Bei einigen Bildern musste ich einfach innehalten und staunen. Von meinen bevorzugten Malern kaufte ich Postkarten um sie zu Hause meinen Eltern zu zeigen. Obwohl mir Ina von den Bildern total absorbiert schien, hatte sie die Werbung für einen Stierkampf desselben Abends nicht übersehen. So schlug sie plötzlich vor diesem Stierkampf, oder „corrida de toros“, beizuwohnen. Sie argumentierte, dass man in Spanien die Gelegenheit einen Stierkampf zu sehen nicht verpassen sollte. Ich hatte keine grosse Lust, bin dann aber trotzdem abends mit ihr hingegangen. Zu Beginn der Veranstaltung zogen die Beteiligten in die Arena ein und präsentierten sich dem Publikum. Da waren erst einmal die stolzen „Matadores“, dann die “Picadores“ oder Lanzenreiter und die „Banderilleros“. Nach dieser ersten Phase, die man „Paseillo“ nannte, stand jeder Stier einzeln nacheinander einem Matador gegenüber. Und jedem Stier wurde während einem ziemlich ungleichen Kampf schliesslich triumphierend das Leben ausgelöscht. Obwohl ich für diese „Schlachterei“ kein Verständnis fand, faszinierten mich die Musik und die Stimmung in der Arena. Noch lange widerhallten in meinen Ohren die leidenschaftlichen und glühenden Rufe „Olé!“.
Als wir dann spät abends wieder zurück in unsere Pension kamen musste ich feststellen, dass all mein Erspartes das ich unter der Matratze versteckt hatte, verschwunden war. Eigentlich waren es „nur“ 20 US Doller, aber damals waren diese mehr als 100 CHF wert und für mich eben fast ein Vermögen. Ich wollte dieses Geld nicht mit in die Stadt mitnehmen und glaubte es dort in Sicherheit. Sofort meldete ich das Verschwinden der Vermieterin. Doch diese meinte ich hätte eine Lüge erfunden um von ihr zu Geld zu erpressen oder die Miete nicht bezahlen zu müssen. Sie schrie vor sich hin und konnte sich vor Wut und Empörung kaum erholen. Ich liess sie schreien und ging verzweifelt in unser Zimmer zurück. Ich war mir bewusst, dass damit meine Reise zu Ende war. Mein restliches Geld war mit diesem Vorfall noch knapper geworden und Ina meinte sie hätte keine Reserven um mir beizustehen. Am anderen Tag ging ich zu Polizei, doch die Agenten lachten nur. Wie konnte man so naiv sein und sein Geld unter einer Matratze verstecken? Dann versuchte ich es beim Schweizer Konsulat. Aber auch da fand ich kein Verständnis. Wie die Vermieterin in der Pension meinte der Staatsfunktionär am Schalter, dass ich diese Geschichte nur erfunden hätte um Geld vom Konsulat zu ergattern. „Da könnte jeder kommen und Geld verlangen“, sagte er schnippisch. Ich versprach ihm das geliehene Geld in der Schweiz sofort wieder zurück zu zahlen. Aber er blieb stur. Nach seiner Erfahrung würde das Geld sowieso nie zurückbezahlt. Als ich mich dann noch getraute zu fragen wie ich jetzt ohne Geld wieder nach Hause kommen würde, meinte er höhnisch: per Autostop! Ja, diese Reisemethode kannte ich ja schon seit einer Weile und man konnte damit tatsächlich Geld sparen. Aber er schien zu ignorieren, dass man fürs Übernachten, das Essen und Trinken auch Geld braucht und dass meine restlichen Batzen nun wohl kaum mehr dazu reichen würden. Frustriert und traurig zog ich mich in die verwünschte Pension zurück.
Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von Ina. Natürlich versuchte ich zu verstehen, dass sie noch weitere Museen besuchen wollte. Trotzdem hatte ich Mühe mit der Tatsache, dass sie mich mit meinem Schicksal alleine liess. Zudem hatte ich als einsamer Bursche nun viel mehr Mühe jemanden zu finden der auf meine international bekannte „Anhalter-Geste“ reagieren würde. Ausserdem glich ich nach drei Wochen Entdeckungsreise eher einem abgemagerten Landstreicher und war offensichtlich alles andere als geschniegelt. Ausserdem plagten mich immer wieder Flöhe und sehr schmerzhafte Furunkel. Es wurde schon dunkel als endlich ein Auto anhielt. Ein Ehepaar aus Genf hatte meine Schweizerfahne auf meinem Reisesack gesehen und sich deshalb entschieden mich bis nach „Medinaceli“ mit mitzunehmen. Im Auto entstand bald eine rege Konversation und ich musste von meiner abenteuerlichen Reise erzählen. Als sie erfuhren was mir auf der Botschaft in Madrid passiert war wurden sie sprachlos, denn Beide arbeiteten als Berater auf genau dieser Botschaft. Sie waren überzeugt, dass die Botschaft in jedem Fall Schweizer Staatbürgern beistehen müsste und dass der Beamte eine persönliche und falsche Entscheidung getroffen hatte. Aus diesem Grund waren die Beiden sofort bereit mir weiter zu helfen und mich am nächsten Tag in ihrer schönen Limousine bis nach Barcelona mitzunehmen. Ich schätzte Ihre Einladung ausserordentlich, denn die Tramperei hatte mich sehr müde gemacht.
Auf dem Weg zur Hauptstadt Kataloniens entschieden sich „meine beiden Chauffeure“ am nächsten Tag in der Provinz Tarragona einen Zwischenhalt zu machen. Sie wollten das Monestir de Santa Maria de Poblet besuchen. Es schien ganz normal, dass ich sie dabei begleitete und auch die Zisterzienser-Abtei kennen lernen durfte. Die Abtei war damals noch weitgehend unbekannt und wurde erst im Jahre 1991 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Obwohl ich den Besuch sehr interessant fand, hatte ich meinen Kopf anderswo. Ständig fragte ich mich wie ich mit dem wenigen Geld im Sack nach Hause kam. In Barcelona wohnte Ruth, eine Bekannte die ich aus der Zeit in Perugia kannte, und so hoffte ich, dass ich bei ihr eine Schlafgelegenheit finden würde. Als ich meine Gedanken mit dem Ehepaar teilte, fuhren sie mit mir bis in die Stadtmitte und liessen mich erst aussteigen als wir fast vor dem Haus waren wo Ruth wohnte. Ich schätzte ihre schlichte Grosszügigkeit ausserordentlich und so verabschiedete ich mich von ihnen mit grosser Dankbarkeit.
Ruth hatte mir geschrieben, dass sie bei einer älteren Frau und ihrem Sohn als Haushälterin arbeite und gleichzeitig die spanische Sprache lerne. Und nun stand ich also vor einer grossen Türe mit der Hausnummer die mir Ruth angegeben hatte, doch die Türe war geschlossen. Über die hauseigene Sprechanlage teilte ich Ruth meine Ankunft mit. Etwas bedrückt teilte sie mir mit, dass sie leider niemand ins Haus und noch weniger in die Wohnung lassen dürfe. Entgegen den Befehlen des Hausherrn und mit schlechtem Gewissen liess sie die alte Frau während einigen Minuten alleine und begrüsste mich dann draussen vor dem Hauseingang. Die Situation war ihr äusserst peinlich und sie versuchte sich zu entschuldigen. Zudem schien sie verängstigt und so versuchte ich sie zu beruhigen. Als sie erkannte wie ausgehungert ich war, brachte sie mir nachher etwas Kleines zu essen und zu trinken. Da ich mich auf der Türschwelle des Hauses nicht aufhalten durfte, nahm ich die willkommene Verköstigung auf dem Trottoir, mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt, wie ein Bettler ein.
Ruth hatte mir auch geschrieben, dass ihr Arbeitgeber Direktor in einem Hotel sei und dass er für mich sicher eine Unterkunft finden würde, ja mich vielleicht sogar in seiner Wohnung schlafen liess. Bevor er nach Hause kam musste ich allerdings weiter auf der Strasse vor der Haustüre harren. Ich wartete sehr lange, es wurde Nacht und auf den Strassen wurde es ruhig und gefährlich. Ich fühlte mich plötzlich miserabel und total mutlos. Nach Mitternacht kam der elegante Herr endlich nach Hause. Er ignorierte mich und verschwand wortlos im Haus. Bis er wieder an der Haustüre erschien musste ich nochmals lange warten. Dann forderte er mich auf in ein Taxi zu steigen und mit ihm in die Stadt zu fahren. Während der Fahrt sprach er kein Wort mit mir und so wusste ich weder wie er hiess noch was er mit mir vorhatte. Er gab nur dem Chauffeur Anweisungen und nach etwa 20 Minuten stiegen wir in einer dunklen Strasse aus. Er klatschte in beide Hände und rief mit kräftiger Stimme: „Sereno“! Damals gab es in jeder Strasse Barcelonas einen Nachtwächter, den „Sereno“. Er sorgte nachts für Sicherheit und Ordnung. Wie aus dem Nichts erschien ein dunkel gekleideter Mann der an einem Eisenring eine grosse Anzahl Schlüssel mit sich trug. Mit diesen hatte er zu allen Häusern an dieser Strasse Zugang. Auf Befehl des Hoteldirektors öffnete er die Tür eines Hauses und liess uns eintreten. Anfangs hatte ich das Gefühl in einer Pension zu sein, denn eine Frau musterte uns kritisch durch ein kleines Schalterfenster. Doch dann musste ich bald mit Entsetzen feststellen, dass er mich in ein Freudenhaus gebracht hatte. Er stand inzwischen herrisch vor dem Schalter und feilschte wortlaut mit der Puffmutter. Ich begann zu verstehen, dass er für mich einfach „nur“ ein Zimmer mieten wollte. Das aber gefiel der Besitzerin überhaupt nicht, denn so wurde das Zimmer ja gar nicht effizient genutzt und zudem blieben ihre Damen arbeitslos. Trotzdem willigte sie schliesslich ein, allerdings mit der Bedingung meinen Reisepass bei ihr zu hinterlegen. Nachdem der Hoteldirektor die Rechnung beglichen hatte, verschwand er sichtbar angewidert in der dunklen Nacht. Die Frau brachte mich dann mürrisch zu einem Zimmer im Obergeschoss. Ich war todmüde und liess mich sofort auf das grosse Bett fallen, wo ich wie betäubt bis fast am Mittag des nächsten Tages liegen blieb. Erst als mich scheue Sonnenstrahlen am Morgen weckten stellte ich fest, dass das Zimmer rosa tapeziert war und an den Wänden sowie an der Decke Spiegel angebracht waren. So war das also in einem Puff: man konnte sich von allen Seiten beschauen. Als ich mit Schrecken überall mein schlaftrunkenes und ausgemergeltes Gesicht entdeckte zog ich mich sofort an, verlangte meinen Reisepass am Empfang und verliess beschämt das Haus. Ich wollte mir sofort eine „anständige“ Pension suchen.
An diesem Tag konnte sich Ruth ausnahmsweise für einige Stunden frei machen und so half sie mir am Vormittag eine andere Unterkunft zu finden. Leider suchten wir vergebens. Es war halt immer noch Hochsaison und die günstigen Unterkünfte deshalb voll ausgebucht. Dies war ja wahrscheinlich auch der Grund gewesen warum der Hoteldirektor für mich keine normale Unterkunft gefunden hatte und sich dann für die Notlösung „Freudenhaus“ entschieden hatte. Nach einem gemeinsamen Mittagessen entschied ich Barcelona sofort zu verlassen und mit der Bahn etwas ausserhalb der Hauptstadt Kataloniens, nach Arenys de Mar, zu fahren. Ruth bedauerte die unglückliche Situation und dass sie mir nicht helfen konnte, aber eigentlich bedauerte ich sie genauso. Ein komisches Gefühl sagte mir nämlich, dass sie von ihrem Arbeitgeber wie eine Sklavin behandelt und ausgenutzt wurde. Sie musste rund um die Uhr für ihn und seine Mutter anwesend sein. Diese Vermutung und all die ungewohnten Erlebnisse während den letzten 24 Stunden hatten mich nachdenklich gemacht. Zudem schmerzte mich erneut ein Furunkel, diesmal am Hals. Ich wurde mir bewusst, dass ich Ruhe, Abstand vom Erlebten und vor allem Schlaf brauchte. Zu Glück fand ich in Arenys de Mar sofort ein Nachtlager in der Jugendherberge. Doch der Abszess liess mich kaum schlafen und so erwachte ich am nächsten Tag erneut todmüde. Da sich die Sonne an diesem Morgen hinter Wolken versteckte, entschied ich erst einmal in der Herberge zu bleiben und einfach nur zu schlafen. Als dann am Mittag der Abszess unerwartet aufbrach und der Schmerz plötzlich verschwunden war, machte ich am Nachmittag einen Spaziergang am Meer und beobachtete die Fischer. Endlich fand ich die längst fällige Entspannung und war bereit wieder etwas Energie zu tanken. Natürlich hatte mich die lange Reise nicht nur mental gefordert, sondern mir auch körperlich stark zugesetzt. Mit dem unregelmässigen und oft ungenügenden oder schlechten Essen hatte ich an Gewicht verloren. Ich war mir deshalb bewusst, dass ich mit meiner aktuellen Erscheinung meine Eltern erschrecken würde. So gönnte ich mir noch zwei Tage absolute Ruhe in Arenys de Mar aus, bevor ich mich auf den Weg nach Hause getraute. Da ich das „Trampen“ inzwischen äusserst satthatte, entschied ich das verbleibende „Vermögen“ in eine Fahrkarte mit der Bahn von Barcelona in die Schweiz zu investieren. Die langen Stunden im Zug waren etwas mühsam gewesen, aber dann war ich schliesslich froh wieder zu Hause zu sein und endlich wieder im eigenen Bett schlafen zu dürfen
Nach meiner Rückkehr aus Algerien arbeitete ich die paar Tage bis zum meinem zweiten militärischen Wiederholungskurs (WK) bei meinem Vater. Auf diese Weise konnte ich mich erneut auf ein geregeltes und diszipliniertes Leben vorbereiten. Diesmal musste ich in Schwyz einrücken. Wegen meinem Aufenthalt in Algerien hatte ich mein reguläres Aufgebot verpasst und musste meinen obligaten WK nun in einer anderen Einheit nachholen. Im Gegensatz zu meinem ersten WK war der Dienst in Schwyz äusserst langweilig. Als Motorfahrer hatten wir selten etwas zu tun und so suchte ich mir oft eine Beschäftigung in der Militär-Küche. Nach dem Vorbereiten der bekannten „Militär-Käseschnitten“ oder dem Rüsten von Gemüse hatte ich wenigstens immer das Gefühl etwas Nützliches getan zu haben. Auch das Wetter machte den Dienst nicht angenehmer, denn es war meistens regnerisch und kalt. Nach zwei Wochen in der Küche waren Manöver in der ganzen Gegend und eine Dislozierung der Funkstationen angesagt. Ich war der Fahrer eines Funkteams das sich versteckt in einem Bauernhaus oberhalb des Klosters von Einsiedeln installiert hatte. Aber auch hier herrschte meistens Langeweile. Ich verbrachte die meiste Zeit auf der Heubühne oder darunter im Stall bei den Kühen wo es wenigstens angenehm warm war. Erst am Abend wurde es irgendwie spannend, denn es war ja Manöver angesagt und man wusste nie wann man angegriffen wurde. Als Motorfahrer musste ich deshalb auch öfters die Wache übernehmen. Beim „Wache schieben“, alleine vor einem Kuhstall auf der Anhöhe über Einsiedeln, wurde es mir manchmal schon unheimlich zu Mute. Nach dem Abbruch der „Mobilisation“ fuhren wir zurück nach Schwyz, wo wir endlich wieder in einem Bett schlafen konnten. Leider ärgerte mich erneut unser Feldweibel. Jeden Morgen schrie er mit äusserst schriller Stimme „Tagwache“ in den Schlafraum. Dann machte er einen Rundgang und schlug zusätzlichen mit seinen Militärschuhen gegen jedes einzelne Doppelbett, sodass das Eisengestell zu zittern begann. Ich hatte das Gefühl, dass uns der gehasste Feldweibel jeden Tag mit seinem Auftreten Eindruck machen wollte. Dabei war er ja nicht einmal fähig einen intakten Mannschaftsgeist zu schaffen und wenn wir Ausgang hatten, dann kehrten die meisten besoffen in die Unterkunft zurück. Ich fühlte mich äusserst unwohl in dieser Einheit und konnte mir deshalb nicht vorstellen weitere WK’s mit diesen Leuten zu absolvieren. Mit dem Vorwand in Zukunft oft im Ausland tätig zu sein, stellte ich den Antrag anders eingeteilt zu werden. Und wieder hatte ich Glück, denn sehr schnell bekam ich den Bescheid, dass ich ab sofort bei der Funker Kompanie 20 eingeteilt sei. Das war wirklich das Beste was mir passieren konnte, denn diese Einheit war das ganze Jahr im Dienst und so konnte ich das Datum für den WK nach meiner persönlichen Agenda abstimmen.

Nach dem WK arbeitete ich erneut bei meinem Vater, doch leider fand ich zu Hause die erwünschte Harmonie wieder nicht. Ich war unglücklich und zu allem Übel wurde ich der Verbitterung über den erbarmungslosen Abbruch meiner Anstellung bei F.lli Märki in Muralto nicht los. Da ich weiter den grossen Wunsch hatte als Sanitär-Zeichner zu arbeiten, bewarb ich mich in Bern beim Ingenieur Büro W. Matter. Zu meiner grossen Überraschung wurde meine Bewerbung positiv beantwortet und man schlug mir sogar vor die Stelle sofort anzutreten. Herr Matter wusste, dass ich kein Sanitär-Zeichner war und nur sehr kurz in Locarno in einem Büro gearbeitet hatte. Trotzdem gab er mir die Gelegenheit mich in seinem Büro weiter zu entwickeln. Natürlich war ich mir bewusst, dass ich meinem Vater mit dieser Entscheidung keine Freude bereitete, doch mein eigener Weg zu gehen hatte diesmal Priorität. Nach kurzer Zeit fand ich eine kleine Mansarde an der Effingerstrasse und zog nach Bern.
Und wieder hatte ich Glück oder mein Schutzengel meinte es gut mit mir, denn ich fühlte mich in diesem Büro sofort sehr wohl und wurde von den Arbeitskollegen sofort aufgenommen. Zu meinem Erstaunen wurden mir sofort zwei grosse Projekte übergeben: eine Grossmetzgerei und ein Krankenhaus. Diese Tatsache motivierte mich ausserordentlich und ich war glücklich endlich eine Tätigkeit zu haben die mich voll befriedigte. Herr Matter überwachte meine Arbeit wie bei einem Lehrling und das schätzte ich sehr. Neben der Anfertigung von Plänen durfte ich sogar bald alleine die Baustellen besuchen und den Verlauf der Arbeiten an Ort und Stelle verfolgen und überwachen. Zudem hatte ich mich für die Abendkurse Fachrechnen, Kunststoff IIc, Kunststoff IId und Rechtskunde in den Lehrwerkstätten der Stadt Bern eingeschrieben. Ich war sehr wissensgierig und dies obwohl ich manchmal nach einem harten Arbeitstag meine Augen während den Kursen nur mit grosser Mühe offenhalten konnte.
(1) Im Ingenieur Büro W. Matter in Bern
Die Stimmung im Büro war immer sehr entspannt und fröhlich. Einmal entschlossen wir uns zusammen ein Wochenende in der Doldenhornhütte über Kandersteg zu verbringen. Wir hatten viel Spass und am Samstagabend imitierte ich mit einer Pantomime-Nummer den bekannten Dimitri. Aber auch unter der Woche hatten wir es immer friedlich zusammen. Vor mir hatte Heinz, der Lehrling, seinen Arbeitsplatz. Wir verstanden uns sehr gut und so neckten wir uns ständig. Einmal im Herbst legte er mir eine überreife Pflaume in meinen rechten Schuh. Natürlich hatte ich seinen Scherz nicht bemerkt und zog den Schuh wie immer mit viel Tempo an. Ja, er hatte mich erwischt, aber ich zahlte es ihm zurück. Er hatte einen „Chlüpperlisack“ mit einer Kapuze. Darin versteckte ich eine WC-Papier-Rolle. Auf den ersten paaren Blättern hatte ich mit roter Tinte Flecken gemalt und sie dann aus der Kapuze hängen lassen. Der gute Heinz war, wie jeden Abend, in grosser Eile und so bemerkte er mein Mitbringsel in seiner Kapuze nicht. Er rannte mit dem wehenden WC-Papier durch die ganze Stadt bis zum Bahnhof. Erst im Zug bemerkte er den Scherz und so lachten sich am nächsten Tag im Büro alle halb tot. Natürlich musste ich Rache erwarten und auf die musste ich auch nicht lange warten, bald hatte ich eine reife Tomate in der Jackentasche! Heinz spielte zu Hause auf einer elektronischen Orgel und erzählte immer wieder von seinen privaten Auftritten. Eines Tages rief ich ihn telefonisch im Büro an und stellte mich als Monsieur Dupont vor. Natürlich verstellte ich meine Stimme und sagte ihm ich hätte von seinem Talent gehört und würde ihn gerne mal persönlich für eventuelle Konzerte treffen. Er war sofort begeistert und träumte bereits von einer grandiosen Musikkarriere. Er verkündete dem ganzen Büro, dass er in drei Tagen ein Treffen im Rest. „Monbijoux » mit einem Monsieur Dupont hätte. Er freute sich so riesig, dass ich schliesslich ein schlechtes Gewissen bekam. Trotzdem liess ich ihn an das Rendez-Vous gehen, rief ihn dann aber im Restaurant an um ihm mitzuteilen, dass Monsieur Dupont heute verhindert sei. Erst als er wieder in unserm Büro war gestand ich ihm meinen schlechten Scherz. Alle lachten, aber für ihn schien damit eine Traumwelt zusammengebrochen zu sein und so tat er mir schliesslich sehr leid. Ich wurde mir bewusst, dass ich mit seinen Gefühlen gespielt hatte und das war ja keinesfalls meine Absicht gewesen. Ich entschuldigte mich gebührend bei ihm und machte anschliessend keine Streiche mehr.
(2) WK Kp. 20 in Grafenort oder « Détachement Beaujolais »
Im Mai bekam ich das Aufgebot für den WK/EK vom 14.5. – 2.6. in der neuen Übermittlungs-Einheit Fk.Kp. 20. Diesmal musste ich in Grafenort im Kanton Nidwalden einrücken, wo wir in Militärbaracken untergebracht waren. Sofort fühlte ich mich dort wohl und fand die Vorgesetzten sehr angenehm. Es war vor allem der leutselige Hauptmann aus dem Tessin, der sehr viel zu der angenehmen Stimmung beitrug. Dies war sehr wichtig, denn die Einheit hatte einen 24 Stunden-Betrieb und war das ganze Jahr im Einsatz. Gleich zu Beginn des Wiederholungskurses teilte er uns mit, dass es keinen Tagesbefehl, kein Hauptverlesen und keine wöchentliche Inspektion der persönlichen Ausrüstung gab. Dafür würde er sich aber erlauben irgendwann während der Woche in den Unterkünften Kontrolle zu machen, denn Ordnung sei für ihn nicht nur an Kontroll-Tagen selbstverständlich. Auch sollte ein Soldat nicht nur an einer Materialkontrolle eine tadellose persönliche Ausrüstung vorweisen können, sondern jeden Tag. Zudem erwarte er immer ein gepflegtes Erscheinen und saubere Schuhe. Der ganze Tagesablauf verlief deshalb ruhig und diszipliniert. Es gab kein Geschrei bei Tagwache und niemand brüllte sinnlos in der Gegend herum. Ohne das Militär Reglement zu ignorieren, verlangte dies von allen Beteiligten eine grosse Portion Flexibilität. Zum Beispiel schrieb das Reglement pro Tag eine Stunde Sport vor. Mit einem 24 Stunden-Betrieb war dies schwierig zu machen. So verlangte der Hauptmann, dass sich alle eine Stunde pro Tag im Freien individuell sportlich betätigen. So spielten die einen Fussball während die anderen mit Joggen unterwegs waren. Laut Regelement musste während den drei Wochen WK auch ein Orientierungslauf durchgeführt werden. Der Hauptmann bereitete einen Lauf mit 10 Kontrollposten vor. Zu meiner Überraschung teilte er dann mit, dass er den Lauf als sehr streng einstufe, aber mit einem Minimum von fünf angelaufenen Posten zufrieden sei. Zuerst waren alle davon begeistert, doch dann entstand etwas das ich nicht erwartet hätte. Entweder wollte keiner ein „Weichei“ sein und sich mit nur fünf angelaufenen Posten lächerlich machen oder dann war gerade seine Minimalforderung ein Ansporn sich selbst ein ehrgeizigeres Ziel zu setzen. Jedenfalls entstand so etwas wie ein Konkurrenzkampf und schliesslich hatten alle die 10 Posten angelaufen. Im Nachhinein fragte ich mich ob der Hauptmann mit seinem Angebot wohl nur sehen wollte wer körperlich und psychisch fit sei. Jedenfalls wäre der Lauf für mich kaum so amüsant gewesen, wenn wir alle 10 Posten auf Befehl hätten anlaufen müssen! Diese schlaue Taktik des Hauptmanns hatte mich überzeugt und sie dann in meinem späteren Leben mit dem gleichen Erfolg angewendet.
(3) Telephone Zentrale mit 24-stündiger Besetzung.
(4) Teamgeist auch beim gemeinsamen Geschirr trocknen.
Dem etwas molligen Hauptmann lag sehr viel daran die Mannschaft immer gut zu verpflegen. Er erlaubte sogar ein Glas Wein zum Essen und machte uns Fahrer für den Einkauf der guten Tropfen verantwortlich. In der Küche war ein Koch der zu Hause ein eigenes Restaurant führte. Jeweils am Sonntag hätte der Hauptmann gerne eine etwas bessere Mahlzeit auf dem Tisch gehabt, doch der Koch hatte sein Budget einzuhalten. So schlug er vor, dass jeder Wehrmann am Sonntag mit einem Franken das Budget des Kochs aufbessert. Alle waren sofort damit einverstanden und so konnte dieser uns jeweils herrliche Gerichte auftischen, zum Beispiel folgendes Sonntagsmenu:
Ein solch festliches Essen liess uns jedes Mal für kurze Zeit den WK vergessen. Bein Einkauf von Wein erstand ich gleichzeitig auch weisses Tischpapier und deckte damit die groben Holztische. Da sich unsere Unterkunft mitten in einer Wiese befand war es kein Problem auch noch einen Blumenstrauss zu machen und damit den Sonntags-Tisch noch schöner zu gestalten. Ja die drei Wochen in Grafenort waren super, kameradschaftlich sowie kulinarisch! Aber eben, die drei Wochen waren schnell vorbei und ich musste zurück an die Arbeit.
Das Ingenieur Büro von Herrn Matter befand sich nicht weit vom „Salon de Beauté“ der Tante Hedy, eine meiner Tanten in Bern. Ich besuchte sie oft nach der Arbeit zu einem kleinen Schwatz, denn sie hatte immer eine gute Laune und wusste immer etwas zu erzählen. Da sie für ihre Generation sehr weltoffen war, fehlte es uns nie an Gesprächstoff und es schien zuwischen uns auch keinen Alterunterschied zu geben. Ihre Vergangenheit war nicht immer rosig gewesen und dies hatte sie wahrscheinlich gezwungen immer das Beste aus der Realität zu machen. Sie hatte ihre Wohnung ganz nach ihrem Geschmack eingerichtet, einiges selbst gebastelt und sogar eine elektrische Feuerstelle (cheminée) im Wohnraum installiert. Ihr Sohn arbeitete in der Kosmetik-Branche und unterstützte seine Mutter immer beispielhaft. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er meine Besuche bei seiner Mutter gar nicht besonders schätze. Immer wenn ich sie besuchte verabschiedete er sich rasch und versuchte nie mit mir ins Gespräch zu kommen. Durch Tante Hedy lernte ich bald die sehr grosse Familie kennen und fühlte mich gleich ein fester Teil davon. Ein besonders Erlebnis war jeweils ein gemeinsamer Besuch im Kursaal. Ich war ja bis anhin noch nie in einem so grossen Saal gewesen und staunte über die grosszügige Bauweise. Meistens spielte dort am Samstagabend ein Orchester. Die Tanzfläche wurde auch von der Familie Schölly rege benutzt, wobei ich vor allem mit den beiden Töchtern von Tante Trudy, der Theres und der Heidi, tanzte. Theres hatte ein Freund der auch meistens dabei war. Obwohl mein Vater und auch Tante Gritli, eine Schwester von Tante Hedy, einen Stammbaum hatten erstellen lassen, wusste niemand ganz genau wie wir eigentlich verwandt waren. Nur eines war sicher, ich war väterlicherseits mit ihnen verwandt und der Anfang lag so lange zurück, dass wir im Grunde gar nicht mehr verwandt waren. Trotzdem wurden die familiären Bande all die Jahre gepflegt und die Kontakte aufrechterhalten.
Um ihr Einkommen ein bisschen aufzubessern vermietete meine Tante eines ihrer Zimmer. Sie sagte mir, dass der gegenwärtige „Zimmerherr“ sein ganzes Leben lang am Japanischen Kaiserhof als Koch gearbeitet hatte. Regelmässig überwies er während all der Jahre sein Erspartes als sichere Vorsorge an seine Bank in der Schweiz. Als er das Pensionsalter erreichte hatte und in die Schweiz zurückkam musste er feststellen, dass seine Vorsorge von der Familie bereits aufgebraucht war. Es blieb ihm nichts anderes übrig als erneut eine Arbeit zu suchen. Er hatte Glück und dank seiner Sprachkenntnisse fand er eine Stelle bei der Firma „Mauler & Cie. SA“ in Môtier. Dieser Familienbetrieb pflegte schon seit mehr als 185 Jahren die Kunst der Herstellung von „Vins Mousseux“. Der ehemalige Koch hatte nun die Aufgabe die Stammkundschaft regelmässig zu besuchen und an Ausstellungen und Fachmessen neue Abnehmer für den Schweizer Champagner zu finden. Da er mit dieser Aktivität sehr viel unterwegs war, entschied er sich erst einmal ein Zimmer zu mieten. Und da hatte er nochmals Glück, denn meine Tante hatte zu diesem Zeitpunkt ihr Zimmer frei. Nach einer gewissen Zeit schlug er meiner Tate vor ihn zu begleiten um an den Messen zu assistieren. Nur zu gerne nutzte sie die Gelegenheit auf Reisen zu gehen und Neues zu entdecken. Doch die Verwandten hatten für diese „Geschäftsreisen“ kein Verständnis und kritisierten meine Tante. Ich aber konnte ihre Vorurteile nicht verstehen, denn nach meinem Verständnis unterstützte sie ja nur den vom Schicksal geprüften Zimmerherrn, den „Saali“, der nach seiner Pensionierung weiter arbeiten musste um überleben zu können. Erst viele Jahre später, als er bereits gestorben war, erfuhr ich, dass die Beiden in Wirklichkeit in einer Beziehung gelebt hatten. Ich hatte dies damals gar nicht gemerkt und hätte dies als anständiger Bursche von den Beiden auch gar nie vermutet. Und hätte ich es damals gewusst, dann wäre es für mich kein Grund gewesen sie zu kritisieren. Sie hatten ja nur versucht in Glück und Zufriedenheit miteinander zu leben und so etwas war ja auch damals nicht strafbar!
Der Lehrling Heinz hatte meinen Streich schnell vergessen und da er im letzten Lehrjahr war musste er seine Energie nun auf die Vorbereitung seiner Abschlussprüfung konzentrieren. Immer wieder meinte er ich zeichne besser als ein Lehrling und könnte doch die Prüfung genau so gut bestehen wie er. Zuerst lachte ich nur, aber dann begann ich mir zu überlegen ob dies ohne offizielle Lehrzeit überhaupt möglich sei. Heinz fand heraus, dass dies denkbar sei sofern ich beweisen konnte mindestens 5 Jahre als Zeichner gearbeitet zu haben. Natürlich konnte ich dies nicht ausweisen und zudem fehlten mir ja die nötigen Fachstunden. Heinz argumentierte, dass ich ja Weiterbildungskurse (Kalkulation, Fachrechnen, Kunststoff IIc, Kunststoff IId und Rechtskunde) gemacht habe und damit das nötige, theoretische Wissen schon lange habe. Er konnte mich schliesslich überreden und so meldete ich mich zu Lehrabschlussprüfung an. Beim Beweis des nötigen Praktikums zählte ich halt einfach meine Jahre als Sanitär-Installateur dazu. Ich hatte also ein bisschen geschummelt. Aber ich war mir bewusst, dass weiter nichts Schlimmeres passieren konnte als die Prüfung nicht zu bestehen. Aus diesem Grund hatte ich Herrn Matter von diesem Abenteuer nichts gesagt und einfach einen Tag frei genommen. Und zu meiner grossen Überraschung glückte mir die Lehrabschlussprüfung mit Bestnoten und hatte nun mit dem Fähigkeitsausweis als Sanitärzeichner offiziell drei Berufe.
(5) Zeugnis der Lehrabschlussprüfung als Sanitärzeichner
Leider konnte ich meinem „Lehrmeister“ Herr Matter nicht nur diese gute Nachricht überbringen, sondern musste ihm gleichzeitig auch mitteilen, dass ich sein Büro wieder verlassen würde. Ich hatte mich nämlich schon seit Monaten nochmals für einen Einsatz im Ausland umgeschaut. Dabei hatte ich erfahren, dass die Schweiz, genau wie die USA, eine Art „Peace Corps“ aufbauen möchte und mich deshalb sofort beim Delegierten für technische Zusammenarbeit Schweizer Freiwillige für Entwicklungsländer des Eidg. Politischen Departement in Bern gemeldet. Und wieder hatte ich Glück, denn ich hatte eine Zusage für einen Vorbereitungskurs bekommen und brauchte nun Zeit für die Vorbereitung. Herr Matter war natürlich erst einmal überrascht plötzlich einen weiteren Sanitärzeichner in seiner Gruppe zu haben, aber dann gleichzeitig auch enttäuscht ihn sogleich wieder zu verlieren. Trotzdem verstand er mein Verlangen nach Veränderung und so trennten wir uns mit gegenseitigem Respekt und Dankbarkeit. Es tat mir leid ihn, sein Büro und meine geschätzten Kollegen zu verlassen, denn ich durfte ja eine schöne und gute Zeit mit ihnen verbringen. Aber eben, mein Drang die Welt zu entdecken war halt damals doch stärker gewesen.

Da ich wusste, dass alle Bewerber vom Schweizerischen Politischen Departement vor einer Rekrutierung auf „Herz und Nieren“ geprüft wurden, fand ich es einfacher während dieser Zeit bei meinen Eltern zu wohnen und sie gleichzeitig im Betrieb zu unterstützen. Ich war so flexibler und war auf Abrufe immer bereit. Und ich sollte recht bekommen, denn schon der Fragebogen, den man nach der Anmeldung erhielt und auszufüllen hatte, wies den Umfang eines mittleren Lexikons auf. Entsprachen die Antworten im Fragebogen den Erwartungen, wurde man zu einer Eignungsprüfung eingeladen der, bei Bewährung, eine medizinische Prüfung am Schweizerischen Tropeninstitut folgte. Danach wurden die Sprachkenntnisse sowie die berufliche Begabung geprüft, worauf der Zahnarzt und sogar der Psychiater auf den Plan traten. So musste ich mich auf dem Flugplatz in Dübendorf melden um dort im Militär-Labor den Rorschacher-Test zu machen. Dies ist ein Tintenkleckstest der von Psychoanalytikern und Psychiatern mit dem Ziel angewendet wird die gesamte Persönlichkeit des Kandidaten zu erfassen. Ein Expertenkollegium entschied dann über die „provisorische“ Aufnahme für den Kurs. Und ich hatte erneut Glück, ich bekam die Bestätigung für die Teilnahme am zweimonatigen Ausbildungskurs, dessen Vertrag ich am 26.11.1965 unterschrieb. Und auch darin wurde erneut erwähnt, dass die Zulassung zum Ausbildungskurs noch kein definitiver Vertragsabschluss zum Einsatz bedeute. Natürlich waren meine Eltern nicht begeistert von meinem neuen Vorhaben, wollten mich aber davon nicht abhalten. Sie hatten wahrscheinlich gesehen wie professionell und sorgfältig die Rekrutierung vor sich ging und damit Vertrauen in mein neues Vorhaben bekommen. Zudem hatten sie sicher auch bemerkt, dass ich im Vergleich zu meiner planlosen Ausreise nach Algerien diesmal mit ganz anderen Voraussetzungen die Schweiz verlassen würde.
(1) St. Antönien im Winter 1965/66
Die Zeit bis zu diesem Kurs nützte ich auch um alte Bande im Dorf zu pflegen oder neu zu beleben. Zusammen mit Heinz, meinem ehemaligen Welschlandkameraden, mieteten wir das Hotel Alpina in St. Antönien, das schon eine Weile nicht mehr im Betrieb war. Dann luden wir alle unsere Freunde und Bekannte zu einer Silvester-Party ein. Zu meiner Überraschung reagierten die Meisten begeistert und so kamen schliesslich um die zwanzig Personen in das verschneite Tal. Einige kamen von sehr weit her, so wie der Lennart aus Schweden oder der Rolf aus Deutschland, beides Freunde aus der Zeit in Algerien. Aber da waren auch Ida, Helen und Werner, die mit mir in der gleichen Pension in Perugia waren. Zudem einige die wir seit dem Welschland-Jahr kannten und die ihre eigenen, uns unbekannten Freunde, mitnahmen. Natürlich waren auch die Freunde meiner Schwester dabei. Das Haus war also voll mit fröhlichen jungen Leuten die gemeinsam kochten und den Haushalt machten. Wie wir die ganze Logistik damals meisterten und das Hotel schliesslich wieder sauber dem Vermieter zurückgaben, bleibt ein Rätsel. Auf alle Fälle erlebten wir unbeschwerte und schöne Tage. Das Neue Jahr hatte sehr gut begonnen und ich konnte nur hoffen, dass dies auch während den kommenden Monaten so andauern wird.
(2) Silvester 1965/66 in St. Antönien

Der erste Teil des Kurses fand im Tessin statt. Wir waren zehn Teilnehmer, davon zwei Ehepaare und sechs Ledige, die am ersten Tag mit Minibussen von Locarno in das ziemlich verlassene Dorf Moghegno im Maggiatal gebracht wurden. Dort standen uns drei alte, unbewohnte Häuser zur Verfügung. Zwei Häuser, das Haus „Kamerun“ und „Rwanda“ dienten als Unterkunft und ein Drittes für die Leiter des Kurses und als Kurslokal. In den Häusern hatte es wohl Strom, aber kein fliessendes Wasser, nur Holzöfen und keine Toiletten, dafür eine improvisierte Latrine am Rand des Dorfes. Die Küche war äusserst einfach eingerichtet und bestand eigentlich nur aus einer Feuerstelle. Wasser musste man am Dorfbrunnen holen, eben da wo man sich auch morgens bei eisiger Kälte zur Katzenwäsche traf.
(1) Katzenwäsche bei eisiger Kälte am Dorfbrunnen
Es war ja Winter und so hatte es auch im Tessin Schnee gegeben. Genau mit diesen Einschränkungen wollte man uns auf die Realität in einem Entwicklungsland vorbereiten und uns gleichzeitig beobachten wie man die neue Situation und weitere Herausforderungen meisterte. Sofort nach der Ankunft wurde uns klar gemacht, dass wir nicht für Ferien ins Tessin gekommen waren. Nachher ging es rasch zur ersten Aufgabe: Bezug der Häuser, Verteilung der Zimmer und der verschiedenen Arbeiten im Haus. Die Kursleiter hielten sich diskret zurück und wir mussten dies ganz alleine meistern. Allerdings wurde bestimmt, dass in jedem Haus nur ein Ehepaar wohnen dürfe. Da wir einander nicht kannten war dies gar nicht so einfach. Nach langem Palaver meisterten wir die Lage jedoch problemlos. Jeder fand ein entsprechendes Zimmer und eine Hausarbeit die für ihn stimmte. Ich hatte Glück und übernahm mit einem Kollegen die Küche. Am Abend wurden wir in den Kursraum gerufen, wo uns ein Begrüssungsbrief übergeben wurde. Darin stand folgendes:
„Der Freiwillige arbeitet auf seinem Beruf in einem Entwicklungsland. Er soll seine Fachkenntnisse der Bevölkerung zur Verfügung stellen und weitergeben. Er soll auch versuchen, seine Umgebung zur Selbsthilfe anzuregen. Der Freiwillige lebt eng mit den Einheimischen zusammen. Seine Lebensweise ist darum bedeutend einfacher als in der Schweiz. Sehr oft sind die körperlichen und seelischen Belastungen weitaus grösser. Der Freiwillige soll mindestens 21 Jahre alt sein, seine berufliche Ausbildung abgeschlossen haben und medizinisch den erhöhten Anforderungen genügen. Er soll bereit sein, zwei Jahre als Freiwilliger zu arbeiten.“
Und damit sich niemand Illusionen bezüglich Entgelte machte, wurde auch gleich noch die finanzielle Situation erläutert:
„Wir sorgen für den Lebensunterhalt der Freiwilligen. Ein bescheidenes Taschengeld ist inbegriffen*. Wir übernehmen seine vollständige Versicherung, die Kosten für Hin- und Rückreise, und wir leisten einen Beitrag an die persönliche Ausrüstung. Der Freiwillige hat Anrecht auf einen Lohnausgleich von monatlich Fr. 210.--, der in der Schweiz ausbezahlt wird. Zudem stehen ihm einige Ferientage im Einsatzland zu.
* Die Lebenskostenentschädigung in Rwanda betrug Frs. Rw. 9600.-- oder ungefähr US $ 88.-- pro Monat, was mit dem damaligen Wechselkurs von 4.385 etwa 385.-- CHF war.
Anschliessend wurde uns klar gemacht, dass wir als Freiwillige der Schweizerischen Eidgenossenschaft immer auch unser Land vertraten. Ein tadelloses Benehmen während dem ganzen Auslandaufenthalt war deshalb unerlässlich. Bald wurde uns bewusst, dass der Kurs sehr militärisch geführt wurde und das Programm nicht nur anspruchsvoll, sondern auch zeitlich fast den ganzen Tag in Anspruch nahm. Die Ausbildung begann morgens 08.00 Uhr und dauerte oft bis abends um 23.00 Uhr. Um 11.00 Uhr gab es einen Unterbruch für die Zubereitung der Mahlzeit und des Mittagessens. Auch am Abend gab es eine Pause für das Nachtessen. Kochen war ein fester Bestandteil des Kurses. Eine minimale Kenntnis in diesem Bereich sowie einer ausgeglichenen, korrekten Ernährung wurde als sehr wichtig für einen Einsatz in einem Entwicklungsland gewertet. Jede Woche gab es einen Menuplan der genau eingehalten werden musste. Die Zutaten wurden von den Kursleitern besorgt und uns jeden Morgen übergeben. So stand eines Tages „Chicken Curry“ mit Reis und Gemüse auf dem Menuplan. Zu unserer Überraschung war bei den Zutaten ein lebendiges Huhn. Die Erklärung der Kursleiter war einleuchtend: In Afrika ist abgepacktes, geschnetzeltes Hühnerfleisch meistens nicht erhältlich und wenn ja, dann wird wegen unbefriedigender Qualität von dessen Verzehr abgeraten. Also geht man zuerst auf den Markt und kauft sich dort ein Huhn, tötet es zu Hause und reisst ihm anschliessend die Federn aus.
(2) Gemeinsames Federn rupfen....!
(3) Zubereitung von vorgegebenen Mahlzeiten ausschliesslich im Kamin (sogar das Brot).
Dies durften wir dann ausnahmsweise gemeinsam mit unseren Kollegen vom anderen Haus ausführen. Während dies die Schlachterei erleichterte, wurde uns aber bewusst wie gedankenlos wir uns heutzutage ernähren. Kaum jemand denkt vor einer riesigen Auswahl von schön präsentiertem und präpariertem Fleisch in Metzgereien an den unvermeidlichen Tod der Tiere. Dieses Bewusstsein scheint uns verloren gegangen zu sein. Aber an diesem blutigen Morgen erlebten wir den Tod sehr realistisch, und dies obwohl uns dabei schöne, weisse Federn um die Ohren flogen. Es war eine Erfahrung die man nicht gleich wieder vergass und die uns in eine harte und vergessene Realität zurückbrachte. Anschliessend wurden das Huhn und die Zutaten in einem Kupfer-Kessel im offenen Feuer zubereitet. Auch diese Art von Kochen war mir fremd, doch man gewöhnte sich bald daran. Man musste nur immer aufpassen, dass das Feuer weder zu stark noch zu schwach war. Die Kursleiter gaben uns immer wieder neue Anleitungen und so gelang es uns sogar unser eigenes Brot im Cheminée zu backen. Allerdings verlangte diese Art von Kochen und Backen sehr viel Zeit, doch später am Einsatzort wusste man die erworbenen Fähigkeiten sehr zu schätzen.
Im Kursraum wurden wir in Fächern wie Geographie, Volkswirtschaft, Soziologie, Ethnologie, Hygiene und natürlich dem Erlernen der entsprechenden Sprache des Einsatzlandes (für mich Ruandisch) unterrichtet. Da wir uns nach dem Abschluss des Kurses trennten und entweder nach Nepal, Kamerun, Rwanda oder Dahomey (seit 1990 Benin) ausreisten, war dieses Fach individuell. In meinem Fall war es Kinyarwanda oder Ruandisch, eine extrem schwierige Sprache. Grosses Gewicht wurde auf den Umgang mit Menschen und auf den Respekt ihrer Kultur sowie deren Gewohnheiten gelegt. Ein weiteres Fach war der Umgang mit Jeeps und Lastwagen. Schliesslich war es wichtig, dass alle wenigstens das Wechseln eines Autoreifens beherrschten, einen Ölwechsel selbst machen konnten und wussten wie ein Motor funktioniert. Diese Spezialausbildung machten wir in der Militärkaserne in Losone. Natürlich gehörte auch die Beherrschung des Fahrzeuges dazu. Da ein Kollege nur einen Lehrfahrausweis hatte, wurde ich als Beifahrer bestimmt. So sass ich an einem Morgen auf unserm Weg zur Fachausbildung in Losone erneut neben ihm. Ich hatte sofort bemerkt, dass die Strasse an schattigen Stellen vereist war und bat ihn die Geschwindigkeit zu drosseln. Aber er schien meine Anweisung zu ignorieren. Energischer machte ich ihn nochmals auf die Gefahr aufmerksam, aber dann war es bereits zu spät. Der VW-Bus kam ins schleudern und prallte rechts gegen eine halbhohe Steinmauer. Dies geschah so heftig, dass das Auto nach links umkippte und mitten auf der Strasse liegen blieb. Zum Glück fiel es nicht auf die Seite wo sich die Doppeltüre des Wagens befand und so bestand wenigstens die Möglichkeit sich aus dem Wagen zu befreien. Doch ich wusste, dass es hinter den Passagieren Kanister mit Benzin hatte und durch ein Leck an einem Kanister Feuer ausbrechen könnte. Von Panik erfasst forderte ich die Insassen schreiend auf so schnell wie möglich aus dem Fahrzeug zu klettern. Schliesslich hatten wir Glück im Unglück, das Auto ging nicht in Flammen auf und es gab auch keine Schwerverletzten. Nur ich war trotz Sicherheitsgurten mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt und wurde anschliessend mit einer Hirnerschütterung ins Spital der Kaserne Losone eingeliefert. Das bedeutete für mich nicht nur eine Woche Spitalaufenthalt, sondern auch eine Woche weniger Ausbildung, etwas das ich sehr bedauerte. Zur Grundausbildung gehörte auch die Fähigkeit sich unwegsamem Gelände zu behaupten. Dies war vor allem wichtig für Kandidaten die für Nepal vorgesehen waren. Diese Ausbildung wurde an einem steilen Felsen ausgeführt, der sich auf dem Weg von Arcegno nach Intragna befand. Natürlich hatte ich, wie alle anderen, keine Ahnung vom Bauen von Seilbrücken oder vom Klettern und Abseilen. Nach theoretischen Anleitungen kamen die praktischen Übungen, dies auch mit dem Ziel gleichzeitig die Teamarbeit, das Vertrauen zu sich selbst sowie den Kollegen zu fördern. Am Ende dieser Schulung gelang es schliesslich allen sich ohne Furcht von ganz oben an der Steilwand abzuseilen. Alle hatten es geschafft und waren somit auf solche Herausforderungen vorbereitet. Obwohl ich später in Rwanda nie in eine Lage kam wo ich diese Kenntnis hätte anwenden müssen, war es doch eine Erfahrung die ich nicht hätte missen wollen.
(4) Autounfall auf der Strasse von Moghegno nach Losone
Einmal am späten Abend, als alle schon bettreif waren, bat uns der Leiter der schweizerischen Freiwilligen für Entwicklungshilfe, Dr. Michael von Schenck, im Kursraum kreisförmig Platz zu nehmen. Mit ernster Mine wollte er von jedem Einzelnen wissen wieso er sich entschied als Freiwilliger in einem Entwicklungsland zu arbeiten? Zuerst entstand Totenstille, denn so eine Frage konnte eine Falle sein und schliesslich eine Absage für den Einsatz bedeuten. Mit viel Mut begannen die Ersten mit ihren Begründungen. Die Meisten argumentierten mit der Überzeugung den armen Leuten in Entwicklungsländern helfen zu müssen. Andere waren überzeugt, dass ein persönlicher Einsatz in Entwicklungsländern eine religiöse Pflicht sei. Total entspannt sagte schliesslich einer, dass er einfach die Welt sehen möchte, das nötige Geld aber dafür nicht habe. Zudem sei er zu jung und unerfahren um einen Posten bei einer multinationalen Firma zu ergattern. So hoffte er seinen Traum mit einem Einsatz als Freiwilliger zu kombinieren und seine Reise- und Abenteuerlust auf diese Weise zu befriedigen. Jetzt schauten alle betreten auf Dr. von Schenck. Man sah den lebensfrohen Burschen bereits die Koffer packen und nach Hause fahren. Doch es kam ganz anders als alle dachten. Lächelnd verkündete uns der Leiter, dass der Bursche mit seiner unbeschwerten Einstellung der Einzige sein werde, der seinen Einsatz ohne Enttäuschung überleben werde. Der Gedanke helfen zu müssen sei wohl gut gemeint, würde aber von Einheimischen oft gar nicht verstanden, besonders wenn niemand um Hilfe gebeten hatte. Wenn man die Hilfe aufdränge entstünde auf beiden Seiten nur Irritation, Frust, Enttäuschung und schliesslich ein Scheitern. Diese Erfahrung hatte ich ja schon bei mir selbst und später in Algerien gemacht. Unterdessen verstand ich diese Ansicht als Weisheit die nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch bei der Erziehung in Europa angewendet werden sollte.
Er gab uns zu bedenken, dass viele Eingeborenen ihre Erlebnisse aus der Kolonialzeit nicht vergessen hätten und dass in der Vergangenheit Begegnungen mit „anspruchsvollen, arroganten, technischen Experten“ oft nicht glücklich verlaufen waren. So dürfe man nicht erwarten sofort Sympathie zu spüren oder sogar einheimische Freunde zu haben. Zudem werde es, wie in der Schweiz, Einheimische geben mit denen nicht auszukommen sei. Auch würde kein einziger Einheimischer auf uns warten und uns bei der Ankunft auf dem Flugplatz vor Dankbarkeit mit Tränen in den Augen umarmen. Die Leute hätten während tausenden von Jahren mit den Voraussetzungen ihres Landes gelebt und sich ohne unsere Einmischung entsprechend angepasst und entwickelt. Sie wüssten daher ganz genau wieso und warum sie gewisse Sachen taten. Sicher würden wir manchmal bestimmte Tätigkeiten absurd finden und in Versuchung kommen darüber zu lachen. In einer solchen Situation müsse man sofort einen geistigen Rollenwechsel vornehmen und sich vorstellen wie wir selbst reagieren würden, wenn uns ein Ausländer ständig sagen würde, was wir alles falsch machten. Dies galt auch für die Bekleidung, die sich während Jahrhunderten dem jeweiligen Klima angepasst und bewährt hatte. Was würden wir sagen, wenn man unsere Art der Bekleidung kritisieren oder sogar in Frage stellen würde?
Mit diesen Ausführungen wollte er uns nicht nur vor übertriebenen Erwartungen, sondern auch vor Überheblichkeiten warnen. Auch würden wir nicht für eine gewinnbringende Aktiengesellschaft arbeiten und sollten uns deshalb anfangs erst einmal die Zeit nehmen um sich respektvoll in der neuen Umgebung einzuleben. Und sollte sich tatsächlich einmal ein Drang entwickeln um etwas besser zu machen als die Einheimischen, dann immer zuerst selbst ausprobieren. Und wenn sich eine Verbesserung positiv bestätigt, dann stillschweigend von den Einheimischen kopieren lassen. Auf alle Fälle nie auf eine Änderung drängen, denn wir würden dies auch nicht schätzen. Diese Betrachtungen und Ratschläge hatten mich sehr beeindruckt. Sie zeigten sich nicht nur ausserordentlich wertvoll bei meinem Einsatz in Rwanda, sondern auch später überall in meinem Berufsleben.
(5) Unsere Kursleiter im Gespräch mit dem Dorfpfarrer
Um all das Gelernte zu verarbeiten, gab es am Wochenende eine verdiente Pause. Diese benutzten wir manchmal für einen Bummel in Locarno und einmal sogar für einen Ausflug auf die Cardada, wo wir bei prächtigem Wetter in der herrlichen Winterlandschaft neue Energie tankten. Manchmal gab es auch die Möglichkeit für einen kurzen Spaziergang in Moghegno oder mit dem Signor Reverendo, dem Dorfpfarrer, einen kleinen Schwatz zu machen. Oder dann machten wir zur Abwechslung in der Küche der Unterkunft eine italienische Nachspeise, eine „Zabaglione“ oder Weinschaumcreme.
In der letzten Woche des Kurses wurde plötzlich die Zusammensetzung der Bewohner in den zwei Häusern angeordnet. Es wurde verlangt, dass die beiden Ehepaare im gleichen Haus wohnen müssten. Zwei Ledige mussten deshalb umziehen. Da dieser Wechsel mitten im Unterricht geschah entstand sofort ein kleines Chaos. Unser Haushalt hatte nämlich inzwischen problemlos funktioniert, aber nun musste man sich plötzlich neu organisieren. Ganz diskret beobachteten unsere Kursleiter unser teilweises lautes Treiben. Wir hatten nicht bemerkt, dass dieser Umzug ein Bestandteil des Kurses war und man uns testen wollte um zu sehen wie wir in Stresssituationen reagieren würden.
Am 14. Februar begann in Basel der zweite Teil des Ausbildungskurses. Wir waren im Hotel Schauenburg bei Liestal einquartiert. Auch hier wurde wieder sehr viel Wert auf die Beherrschung der jeweiligen einheimischen Sprache gelegt, wobei neu auch Französisch dazu kam. Dann wurde die Schweizer Geschichte aufgefrischt, denn es wäre für einen Freiwilligen unverzeihbar gewesen, wenn er im Ausland nichts über sein eigenes Land und dessen Vergangenheit zu erzählen gewusst hätte. Gleichzeitig wurde von uns erwartet, dass wir uns Kenntnisse der afrikanischen Geschichte, deren Kulturen sowie Religionen erwarben, und dazu gehörte auch der Islam. Zum besseren Verständnis besuchten wir das Museum der Kulturen in Basel. Aber auch punkto Kunst sollten wir nicht als Banausen ins Ausland reisen. Mit einer professionellen Führung besuchten wir das Kunstmuseum wo über die bekanntesten Maler und deren Stilrichtungen gesprochen wurde.
Eines der ersten und erfolgreichsten Projekte der schweizerischen Entwicklungshilfe war damals TRAFIPRO, eine Genossenschaft mit damals etwa 75'000 Mitgliedern, die sich in erster Linie mit dem Verkauf und der Verteilung der Kaffeeproduktion ihrer Mitglieder befasste und sie mit den täglichen Konsumgütern versorgte. In diesem Projekt arbeiteten Experten und Freiwillige zusammen. Aus diesem Grund war es wichtig, dass auch wir eine gewisse Kenntnis vom Handel hatten und wussten wie eine Kooperative funktioniert. Wir verglichen ländliche Genossenschaften, so wie sie in Entwicklungsländern bestehen, mit solchen in Industrieländern. Und diese Realität durften wir ganz ausgeprägt bei einem Besuch im Hauptsitz der COOP in Muttenz erleben. Zum Glück waren hier die Verantwortlichen sehr offen um unsere oft kritischen Fragen anzuhören. Auch diese Erfahrung erlaubte uns später die Realität in einem anderen Licht zu sehen.
Ein wichtiger Teil des zweiwöchigen Programms in Basel war der Gesundheit und der Tropenmedizin gewidmet. Dies geschah im Schweizerischen Tropeninstitut, wo wir über die verschiedenen tropischen Krankheiten und deren Symptome informiert wurden. Gleichzeitig gab man uns Ratschläge wie man sich davor schützt und vor allem auch in Bezug auf die persönliche Hygiene in tropischen Ländern. Auch wurden wir auf giftige Tiere und Insekten aufmerksam gemacht, besonders auf diejenigen die bekannt für die Übertragung von Krankheiten waren. Um sie im Einsatzland sofort zu erkennen, wurden uns die meisten dieser Insekten im Labor gezeigt. Da im Einsatzland ein Arzt oder eine Krankenschwester nicht immer einfach zu erreichen war, mussten wir lernen uns selbst zu helfen. So wurde uns die Technik der Injektion erklärt und wir mussten uns anschliessend gegenseitig eine Injektion machen. Dabei passierte einem Kollegen ein Missgeschick. Die Nadel der Spritze war gebrochen und es musste ein Arzt gerufen werden um den abgebrochenen Teil im Arm chirurgisch zu entfernen. Diese Erfahrung erhöhte unser Respekt gegenüber medizinischen Anwendungen. In einem Entwicklungsland war es auch möglich, dass man „Weisse“ bei Komplikationen bei einer Entbindung zu Hilfe rief. So wurde auch dieses Gebiet ausführlich besprochen und praktische Übungen mit Puppen gemacht. Am Schluss erhielten alle ein Sortiment der wichtigsten Medikamente, inklusive Reserve Spritzen, die wir dann auf die Reise mitnahmen. Dabei war auch „Camoquin“ ein Medikament das Malaria hätte vermeiden sollen.
Wie in Moghegno hatten wir jeweils am Ende der Woche den prallvollen Kopf, gefüllt mit Eindrücken, Erfahrungen und sehr viel Theorie. So durften wir am Sonntag die Denkmaschine abstellen und sie während einem ganzen Tag so richtig auslüften. Und so machte sich die ganze Gruppe auf um die Spuren der Römer zu suchen. In Windisch, im Kanton Aargau wurden wir dann fündig und besuchten das Amphitheater. Es wurde in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Ch. errichtet und ist die grösste Anlage dieser Art in der Schweiz. Diese kurze aber interessante Abwechslung tat scheinbar allen gut und stärkte uns für den dritten Teil des Kurses, der am 7. Mai in Bern begann. Wir waren im Jugendhaus Marzili einquartiert, also sehr nahe beim Bundeshaus wo wir während drei Tagen hauptsächlich administrative und finanzielle Angelegenheiten erledigten. Es waren die letzten Tage des Kurses. Alle hatten die vielen Hürden geschafft und waren nun einsatzbereit. In diesem Moment wurde uns bewusst wie sehr uns der intensive Kurs zusammengebracht hatte und dass dieser Abschied für uns die letzte Prüfung darstellte….!
Zum Schluss gab uns Dr. Michael von Schenck noch folgendes mit auf den Weg:
- Jede wirtschaftliche Entwicklung ist ohne Investitionen von Material, Arbeit und Zeit undenkbar. Dies kostet Geld. Wer sein ganzes Geld für den täglichen Bedarf und Bequemlichkeiten ausgibt, kann für die Zukunft nicht investieren. Die Entwicklungsaufgaben der Zukunft können nur gelöst werden, wenn wir bereit sind zu verzichten.
- Wo wenig Geld ist, muss dieser Verzicht bereits bei den naheliegenden Dingen des täglichen Lebens beginnen. Es ist der Verzicht auf Kleinigkeiten.
- Als Freiwilliger leben heisst die Notwendigkeit dieses Verzichtes einzusehen und ihn freiwillig und bewusst während einer gewissen Zeit zu leben.
- Der Verzicht kann nicht gepredigt, sondern muss vorgelebt werden. Hier kann nur das Beispiel überzeugen.
- Dennoch: Das Leben des Freiwilligen besteht nicht nur aus Verzicht. Neue Erfahrungen bringen persönlichen Gewinn.
Das alles hiess für mich nichts anderes als dass wir Freiwilligen nicht nur für die Entfaltung guter diplomatischer Beziehung dienten, sondern indirekt auch als Vorreiter für die spätere Entwicklung von Handel und Industrie dienten. Das spielte für mich allerdings keine Rolle denn ich war mir bewusst, dass die Erfahrung für mich von grosser Wichtigkeit war.
Abschliessend wurde dann noch die folgende afrikanische Weisheit erwähnt:
„Wer sein Zelt nie verlassen will, wird es nie zu etwas bringen!“

(1) Auf dem Markt auf einem der vielen Hügel
Im Herzen von Afrika liegt ein Land, das landschaftlich, geographisch und topografisch der Schweiz sehr ähnlich ist: Rwanda. Wie die Schweiz ist Rwanda ein Binnenstaat und befindet sich auf einer Wasserscheide, genauer gesagt dem Kongo und dem Nil. Es war schon früher eines der dichtest besiedelten Länder des Kontinentes und liegt auf einer durchschnittlichen Höhe von 1’600 Metern. Die Bevölkerung bestand seit Urzeiten aus drei ethnischen Rassen, den herrschenden Tutsi, den untergebenen Hutus und den Batwa. Erst im Jahre 1879 gelang es den ersten Europäern in das hügelige Land einzudringen. Das damalige Gebiet Ruanda-Burundi wurde im Jahre 1885 Deutschland oder genauer der Deutsch-Ostafrikanischen Kolonie zugeteilt, doch im ersten Weltkrieg besetzten dann die Belgier die Gegend. Da das Land keine Bodenschätze besass, waren beide Kolonial-Staaten an diesem Gebiet kaum interessiert und nutzten es vor allem als strategische Militärbasis. Erst im Jahre 1930 begann man mit dem Anbau von Kaffee, verbesserte die Strassen und förderte den Schulunterricht. Bis zu dieser Zeit waren die protestantischen und katholischen Missionen die einzigen Institutionen, die sich für die Entwicklung dieses Landes engagierten. Gegen das Ende der Kolonisation in den 1960er Jahren ergriff Belgien zunehmend Partei für die Hutus und unterstützte sogar den Aufstand gegen die dominierende Tutsi-Dynastie. Im Jahre 1962 wurden Rwanda und Burundi zwei unabhängige Staaten und Rwanda provozierend als „Hutu-Republik“ ausgerufen. In den Folgejahren wurden bei Unruhen über zehntausend Tutsis von radikalen Hutus bestialisch umgebracht. Hunderttausende von Tutsis entflohen deshalb dem grausamen Genozid nach Burundi, in ein Land, das im Gegensatz zu Rwanda, mit der Unabhängigkeit offiziell eine Monarchie unter König Mwambutsa IV geworden war. Im Jahre 1966 wurde er von seinem Sohn abgesetzt, flüchtete in die Schweiz, wo ihm Asyl gewährt wurde und im Jahre 1977 dort starb. In seinem Testament erwähnte er den Willen nie mehr in sein Heimatland zurückgebracht zu werden und so wurde er in Meyrin bei Genf beigesetzt. Trotz den äusserst schwierigen Umständen in den folgenden Jahren ist die Schweiz in Rwanda seit 1963 durch einen Diplomaten vertreten. Dieser war damals gleichzeitig persönlicher Berater des ersten Staatsoberhauptes, Grégoire Kayibanda.
(2) Typische Haartracht von Tutsi-Frauen


(1) Eröffnung einer neuen TRAFIPRO-Filiale auf dem Lande.
(2) .....und der riesige Andrang !
(3) ....so sah der Ansturm durchs Fenster in der Filiale aus!
Natürlich war die Schweiz nicht das einzige Land, das Rwanda damals in seiner Entwicklung unterstützte. Was mich aber verblüffte war festzustellen, dass die damalige Republik Formosa (heute Taiwan) bereits schon eine Weile mit einem überraschenden Projekt im Lande tätig war. Ohne grosses Aufsehen und sehr diskret wurde in den Sumpfgebieten Reis angepflanzt. Obwohl ich diese Art von Hilfe sehr pragmatisch fand schien sie mir äusserst gewagt, denn bis anhin war nämlich Reis kein traditionelles Nahrungsmittel. Und so fragte ich mich ob dieses Projekt je erfolgreich sein konnte. Und tatsächlich, trotz den turbulenten Jahren haben diese Reisfelder überlebt und sich sogar vervielfacht. Inzwischen ist dieser „einheimische Reis“ sogar zu einem wichtigen Grundnahrungsmittel des Landes geworden und dies obwohl sich die Taiwanesen nach ein paar Jahren aus dem Projekt zurück gezogen hatten. Der Grund war Rwanda’s Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit China, worauf sie das Land verlassen hatten und die Reisfelder den Chinesen überliessen.
(4) Die von der Republik Formosa erstellten Reisfelder

(1) Zufahrt zur Baustelle auf dem Hügel
Im Jahre 1965 arbeiteten zwei Architekten in der Schweiz (Roland Leu und Urs Hettich) an einem Projekt für die erste staatliche, überkonfessionelle Mittelschule mit Internat für 320 Schüler, dem „collège officiel de Kigali“. Es handelte sich um ein gemeinsames Projekt der Schweiz, dem Rwandesischen Staat, der „Mission des Eglises Protestantes de la Suisse romande“ und der „Action du Jeûne fédéral. Das Projekt hatte die Vorgabe die Gebäude der Topographie des Geländes und dem lokalen Klima anzupassen. Zudem waren ein sinnvoller Umgang und Einsatz von lokal verfügbaren Materialien zu berücksichtigen, allerdings ausser roten Backsteinen. Die lokalen Behörden meinten, dass sie solche Steine schon zur Genüge bei den von Missionen errichteten Kirchen und Schulen gesehen hätten. Es waren weder falscher Aufwand noch Luxus erwünscht, sondern einfache, weiss getünchte Mauern, überdacht mit Eternit- Regenrinnen. Bald wurde der Kredit für die erste Etappe von allen Beteiligten bewilligt und so konnte der Bau beginnen.
Das attraktive Projekt war auf einem Hügel, dem Murabaturo (der Unwirtliche), nur wenige Kilometer von Kigali entfernt vorgesehen, wobei der Rwandesische Staat das Baugelände zur Verfügung gestellt hatte. Das Gelände entsprach genau dem Namen des Hügels: es war trostlos! Man fand auf dem Hügel nichts als Steine, dürres Gras, einige Ziegen und Wurzelstöcke von geschlagenen Eukalyptusbäumen. Der steinige und fast kahle Hügel schien sonderbar in der üppigen Vegetation der Umgebung. Es war auch rätselhaft wieso sich in dem dicht besiedelten Land bis anhin niemand auf dem mysteriösen Hügel niedergelassen hatte! Vielleicht kam der Regierung das Projekt deshalb gerade recht um die geheimnisvolle Ausstrahlung der kahlen Anhöhe endlich zu beenden und diese zu besiedeln?
(2) Der Hügel Murabaturo (der Unwirtliche) und die Baustelle im Jahre 1967
Für die zwei Architekten war der Anfang sehr schwierig und mühsam. Sie mussten sich auf dem Hügel zuerst einfache Unterkünfte bauen, um sich und die Baustelle einzurichten. Dabei erhielten sie aber bald Unterstützung von drei Freiwilligen: Martin Hinderling, der die Bauleitung übernahm und gleichzeitig Gruppenchef wurde und das Ehepaar Christine und Gilbert Brunet, welches sich dem Sekretariat und dem Zeichnungsbüro annahm. Leider musste dieses Ehepaar nach einem Unfall des Ehemannes bald in die Schweiz zurückkehren. Im Januar 1966 wurden sie dann von Lisbeth Müller, als Bauzeichnerin und Maurice Pasquier als Maurer ersetzt. Nachdem zwei temporäre Häuser gebaut waren, begann man sofort mit den Fundamenten der Klassenzimmer und der ersten Wohnhäuser für die Lehrer. Das erste war für den Direktor der Schule und drei Studios für Lehr-Personal vorgesehen. Zudem wurde unten am Hügel eine Unterkunft für die zukünftigen Hausangestellten (houseboys) gebaut. Da diese Unterkunft auch für uns Freiwillige gedacht war, nannte man es auch „Maison Suisse“. Es war ein U-förmiges Gebäude das sich der Neigung des Geländes anpasste. Die seitlichen Räume waren deshalb stufenartig angeordneten und die seitlichen Räume nur über Treppen zugänglich. Ganz zu unterst befand sich ein gemeinsamer Waschraum mit zwei Toiletten (Türken-WC) und einer Dusche. Seitlich und oben befanden sich acht kleine Zimmer von knapp 7 m² (2.20m x 3.20m), ein Wohnraum, eine Küche und ein Essplatz. Es war eine äussert einfache Konstruktion. Im ganzen Gebäude waren Zement- oder Steinböden der normale Standard, die Wände waren nicht verputzt, dafür weiss gestrichen. Es gab keine Haustüre und so hatte man jederzeit von überall freiem Zugang ins Haus. Es gab wohl Wasser im Haus, aber keinen Strom und natürlich kein Telefon.


(1) Die Abfertigungs- und Ankunfts-Einrichtung des Flugplatzes im Jahre 1966
(2) Das Flugzeug der SABENA, das mich nach Kigali brachte
Ausser der asphaltierten Flugpiste und den etwa 200 Metern Strasse im Zentrum von Kigali gab es damals nur Naturstrassen in Rwanda. So ging es auf der roten, staubigen Strasse vom Flugplatz auf den Hügel zum „Maison Suisse“, wo mir ein Zimmer zugewiesen wurde. Die Möblierung war sehr bescheiden und bestand einzig aus einem Bett, einem kleinen Einbauschrank, einem Stuhl und einem kleinen Tisch. Wenn mir meine Kollegen nicht vorher freundlicherweise Blumen ins Zimmer gestellt hätten, wäre ich mir eher wie ein Mönch in einer Klosterzelle vorgekommen. Das Zimmer war wirklich sehr klein und hatte nur ein ganz schmales Fenster, so wie eine Schiessscharte, das gegen den Innenhof gerichtet war. Auch tagsüber war es deshalb düster im Zimmer. Zudem waren die Bauarbeiten noch im Gange und die Mauern nicht trocken. Die Drainage-Rohre hinter dem Haus waren auch noch nicht verlegt worden und so wurde das Regenwasser von den Grundmauern absorbiert. Aus diesem Grund war es feucht in den Zimmern, was die Kleider nicht wohlriechender machte und Lederartikel wie Gürtel sogar grün anlaufen liess. Maurice war erst kurz vor meiner Ankunft in das Haus eingezogen und so begannen wir es zusammen bewohnbar zu machen.
(3) Die beiden kleinen Zimmer von Maurice und mir.
Da Rwanda so ziemlich unter dem Äquator liegt, ist der Sonnenaufgang das ganze Jahr um ungefähr sechs Uhr morgens und der Sonnenuntergang um etwa sechs Uhr abends. Das bedeutete sehr lange Nächte, was ohne Strom anfangs schon ziemlich gewöhnungsbedürftig war. Doch man hatte keine andere Wahl, als sich anzupassen und die dunklen Stunden mit Petroleumlampen zu erhellen (mit den geräuschlosen Aladdin Glühlichtlampen oder den lauten, tragbaren und sehr hellen Petromax Lichtmaschinen). Am 5. Mai kam dann endlich die Kiste mit meinen persönlichen Effekten und der Standard-Ausrüstung für Volontäre im „Maison Suisse“ an. Zu dieser Ausrüstung gehörten Moskitonetze, Plastik-Mottenschränke, Militär-Wolldecken und vieles mehr, aber leider kein einziges Radio. Ohne Neuigkeiten aus der Schweiz, fühlte man sich deshalb oft sehr von der Welt abgeschnitten. Dafür bekamen wir einen Gasherd und einen Gas-Kühlschrank für unsere Küche. Einen Teil der Ware, die wir nicht sofort brauchten, wurde in einem der freien Zimmer im „Maison Suisse“ gelagert. Der Gasherd und der Gas-Kühlschrank wurden gleich in der Küche installiert. Dabei wurde uns sofort klar, dass der Durchzug und der starke Wind bei Unwetter für diese Geräte ein Problem waren. Zum Beispiel wurde die feine Kontrollflamme des Kühlschranks sehr leicht durch einen Windstoss ausgelöscht und dann waren unsere Tiefkühlprodukte jedes Mal verloren. Aber eigentlich beschäftigte uns anfangs hauptsächlich die Dusche. Es gab ja nur kaltes Wasser und so war mein berufliches Wissen schon in den ersten Tagen gefragt. Wie damals in Algerien schlug ich vor, das Wasser in einem 200 Liter-Fass über der Dusche zu erwärmen. Sofort machten wir uns an die Arbeit und erstellten über der Dusche eine Betondecke. Darauf wurde ein Raum für die Feuerstelle geschaffen. Über der Feuerstelle wurde dann das Fass installiert und der nötige Kamin errichtet. Da man das Fass vom Innenhof sehen konnte, schlug Maurice vor es mit einer Mauer zu umgeben. Er gab sich grosse Mühe und bald verwandelte sich die unansehnliche Installation in ein schneeweisses, zeitgenössisches Kunstobjekt auf das wir beide stolz waren.
Natürlich freuten wir uns, endlich mit warmem Wasser duschen zu können und begannen das Wasser im Fass aufzuheizen. Der Kamin funktionierte perfekt und das Feuer brannte schön und ruhig unter dem Behälter. Dann aber gab es plötzlich einen Knall, die Mauern bekamen Risse, Mauerteile lösten sich und stürzten zu Boden. Entsetzt verfolgten wir das Schauspiel und konnten nicht verstehen, wie und warum das geschah. Doch dann wurde uns sofort klar, dass sich das Fass bei der Erwärmung ausgedehnt hatte. Da es durch die Abdeckmauer eingeengt war, hatte es keine andere Wahl als sich den nötigen Platz zu verschaffen. Dass dabei unser Kunstwerk beschädigt wurde, schien dem Fass egal zu sein. Vielleicht war es aber einfach verdrossen, weil man es vom Sitzplatz aus nicht bewundern konnte und rebellierte auf seine Weise. Zuerst schämten wir uns über den unverzeihbaren Denkfehler. Doch Maurice liess sich von dem Desaster nicht beeindrucken und machte sich sofort an die Arbeit um die Anlage wieder in Stand zu stellen. Diesmal aber liess man dem Fass genügend Platz, um sich auszudehnen und sich wohl zu fühlen. Dann erst konnten wir uns endlich mit warmem Wasser duschen. Leider war dies aber nur an einem Samstag möglich, denn das Aufheizen des Wassers war viel zu aufwändig, um diesen Komfort jeden Tag geniessen zu können.
(4) Das Kamin unserer Warmwasseraufbereitung nachdem sich das 200-Liter Fass im Kamin ausgedehnt hatte.
Fast zur gleichen Zeit waren meine beruflichen Fachkenntnisse in der Küche, das heisst beim Schüttstein oder Ausguss gefragt. Der Ablauf war immer verstopft. Es wurde vermutet, dass Abfälle in den Ausguss geworfen wurden. Doch es stellte sich bald heraus, dass die Ableitung viel zu klein dimensioniert war. Es gab keine andere Lösung als die ganze Ableitung mit grösseren Röhren zu ersetzen, auch die im Zementboden verlegten. Natürlich löste ich bei meinen Vorgängern keine Begeisterung aus, schliesslich waren die Leitungen von ihnen ausgewählt und installiert worden. Doch glücklicherweise hatte ich nicht zu grosse Mühe, sie mit meinem Fachwissen zu überzeugen. Dann entdeckten wir bald ein Problem im Aufenthaltstraum. Durch die Fugen zwischen Mauer und Decke kamen nicht nur Insekten herein, sondern auch Staub, Erde und Partikel der Faserzement - Wellelementen (ETERNIT). So entschlossen wir uns eine Zwischendecke aus Schilf einzubauen. Das löste nicht nur das Problem, sondern machte den Raum auch viel wohnlicher.
(5) Bei der Gartengestaltung unseres Innenhofes half sogar unser Kostgänger und Experte Herr Zingg mit.
Als das Haus einigermassen bewohnbar war, machten wir uns sofort an die Gestaltung des kleinen Innenhofes. Da auch diese Fläche abfallend war entschlossen wir uns das Gelände aufzuschütten sodass eine Terrasse entstand. Damit konnte man nicht nur das Regenwasser zurückhalten, sondern eine ebene Rasenfläche schaffen. Dazu musste allerdings zuerst eine Stützmauer erstellt werden. Immer abends und in der Freizeit machten wir uns an den Aushub eines Grabens für das Fundament. Doch der Boden erwies sich als äusserst hart und so hackten wir mit unseren Pickeln viele Stunden ohne grossen Fortschritt. Maurice sagte, man nenne diese spezielle, rote Erde „Laterit“ und dass die ausserordentliche Härte typisch für dieses Material sei. Allerdings brachte uns sein Wissen auch nicht schneller vorwärts. Ausser Eukalyptus und wildem Gras wuchs in dieser roten Erde normalerweise nichts. Eines Tages kam ein Nachbar und fragte uns, wieso wir „Weissen“ eine so harte Arbeit selbst machen würden. Wir antworteten so wie wir es in Moghegno gelernt hatten: wir wollten ein Vorbild sein und uns nicht wie Kolonialisten benehmen. Da lachte der Nachbar und meinte, wir hätten doch schon den ganzen Tag gearbeitet und sollten uns nun ausruhen. Dann fragte er lakonisch, ob wir geizig seien, denn wir könnten uns doch das Delegieren dieser Arbeit sicher leisten. Er würde sie gerne machen, denn mit dem Entgelt könnte er seine Familie besser ernähren. Diese Antwort machte uns perplex und nachdenklich. Nach ein paar Tagen entschlossen wir ihm diese harte Arbeit zu überlassen und unsere Energie auf das Projekt zu konzentrieren. Damit leisteten wir unsere ganz persönliche Entwicklungshilfe.
Als die Mauer fertig erstellt war, wurde der Innenhof mit einigermassen guter Erde aufgefüllt und mit Rasen bepflanzt. Dann wurden Bäume und Sträucher gesetzt, sodass wir bald einen schönen Garten hatten. Wann immer wir Blumen bekamen, wurden sie im Garten eingepflanzt. Wir wollten auch eigene Passionsfrüchte (Maracuja) haben, und so zogen wir Drähte über den Hof, sodass sich die Kletterpflanze voll entwickeln konnte. Vorne, über der neu erstellten Stützmauer, entstand bald noch eine elegante Feuerstelle wo man abends grillieren oder einfach das Feuer geniessen konnte.
(6) Beim Bau des Gartengrills
(7) Eingang zum „Maison Suisse“, unserer Unterkunft.
Vor dem Haus wurde die Zufahrt verbreitert und ein Parkplatz für 2 Fahrzeuge erstellt. Dann montierten wir beim Eingang Holzlamellen, um uns vor den neugierigen Augen der vorbeigehenden Leute besser abzuschirmen. Neben dem Haus bauten wir ein Triebbeet und säten Gemüse und Blumen. Die Samen hatte ich aus der Schweiz mitgenommen, aber scheinbar war ihnen das Klima nicht genehm oder dann sagte ihnen die Erde nicht zu, denn nichts wollte spriessen. Dafür trampelten Kühe und Ziegen in das 50 cm hohe Trieb-Beet und zerstörten damit unsere Illusion eigene Salate, Karotten, etc. essen zu können. Wir erinnerten uns an die Aussage des Nachbarn und besorgten unser Gemüse dann auf dem Markt von Einheimischen. Wir wollten auch eigene Eier und so kauften wir ein Huhn und einen Hahn. Aber irgendwie klappte auch dieser Versuch nicht. Das Huhn drehte den Kopf schon nach ein paar Tagen immer nur nach hinten und konnte sich deshalb nicht mehr selbst ernähren. Man nahm an, dass ihm jemand nachts den Kopf umgedreht hatte. Tatsächlich wurde zu dieser Zeit nachts einmal eingebrochen, jedoch ohne dass uns etwas gestohlen wurde. Jedenfalls konnte das arme Huhn den Kopf nicht mehr nach vorne drehen. Ich hatte Bedauern und gab ihm anfangs die Körner in den Schnabel. Dabei hoffte ich auf ein Wunder, doch als nichts passierte und das Huhn zudem keine Eier legte, endete es samt seinem Partner im Kochtopf.
Natürlich hatten wir seit dem Kurs in Moghegno genügend Kochkenntnisse um selbst zu kochen. Doch bald wurde uns bewusst, dass man neben der strengen Arbeit auf dem Bau nicht auch noch kochen und sich dem ganzen Haushalt annehmen konnte. So entschieden wir uns jemand für den Haushalt zu suchen. Schon seit wir ins Haus eingezogen waren kamen immer wieder junge Burschen die sich für eine solche Stelle anboten. In Afrika werden diese männlichen Hausangestellten seit der Kolonialzeit „Houseboys“ genannt. Durch eine Empfehlung engagierten wir dann einen Burschen der sehr kompetent war, aber wegen Diebstahl bald wieder entlassen werden musste. Dann kam „Célestin“, ein scheinbar scheuer Mann. Bald stellte sich heraus, dass er überhaupt keine Erfahrung von der Küchenarbeit hatte und so blieb mir nichts anderes übrig als mein, in Moghegno erworbenes Wissen weiterzugeben. Zudem war er äusserst langsam und total unfähig seine Arbeit zu organisieren oder wenigstens zeitgerecht zu erledigen. Oft hatte es abends noch Berge von ungebügelter Wäsche im Wohnraum ohne, dass er erklären konnte was er den ganzen Tag gemacht hatte. Da unsere Garderobe sehr bescheiden war und wir am nächsten Tag etwas zum Anziehen brauchten, liess ich ihn einmal abends nicht nach Hause. Im Licht der Petroleumlampe blieb ich neben ihm, bis alle Arbeit erledigt war. Doch auch diese Lektion brachte keine Früchte, er war für die Hausarbeit einfach nicht geeignet. Dabei konnten wir uns nicht einigen ob er wirklich so einfältig war oder ob er uns einfach nur provozieren wollte. Sein Name „Célestin“, was „himmlisch“ heisst, passte überhaupt nicht zu ihm. Er nervte uns jeden Tag und trotzdem hatten wir nicht den Mut ihn zu entlassen. Irgendwie tat er uns auch leid. Und so hatten wir keine andere Wahl als uns immer wieder selber der Küche und unserer Verpflegung anzunehmen.
Bis mein Kochbuch mit dem Umzugsgut aus der Schweiz angekommen war, standen auf dem Menüplan anfangs hauptsächlich Gerichte, die einfach und schnell zubereitet waren: Teigwaren, Reis, Fleisch und viel Früchte. Ein von einer indischen Familie, den Rajans, geführtes Lebensmittel-Geschäft war das Einzige wo wir Europäer Einkäufe machten konnten. Aber auch da war die Auswahl meistens sehr beschränkt und vieles nur sporadisch erhältlich. Frische Butter gab es nie und man hatte keine andere Wahl, als sich an gesalzene Margarine zu gewöhnen. Beim einzigen Bäcker in der Stadt, einem Belgier, holten wir regelmässig das benötigte Brot. In seinem Laden bediente seine etwas schlampig gekleidete Frau, die man nie ohne farbige Lockenwickler (Bigoudi) auf dem Kopf sah. Jedes Mal fragte ich mich, ob sie wohl am Abend einen hohen Besuch erwartete und wieso wir Kunden es nicht verdienten ein bisschen gepflegter empfangen zu werden. Aber dann musste ich feststellen, dass die meisten Belgierinnen mit Lockenwicklern in der Stadt unterwegs waren, eine eigenartige Gewohnheit die einem mit der Zeit nicht mehr auffiel.
(8) Das von der Indischen Familie Rajans geführte Lebensmittelgeschäft in Kigali
Früchte und Gemüse kauften wir immer auf dem Markt oder von den Hausierern die fast täglich im „Maison Suisse“ vorbeikamen. Wann immer erhältlich gab es deshalb zum Frühstück ein Stück Papaya oder dann Ananas. Da die gekauften Konfitüren mehr aus Chemie bestanden als aus Früchten, machte ich diese selbst. Besonders die Orangen-Konfitüre aus unbehandelten Früchten war jeweils ein Genuss. Da die kleinen Ananasse, die in Rwanda wuchsen, sehr viel Säure hatten und mein Magen diese nicht ertrug, kochte ich die Scheiben einfach ein paar Minuten und so hatten wir immer ein feines Ananas-Kompott. Erst als wir den Gasherd und einen Gas-Kühlschrank in der Küche hatten, wurden die Menüs ein bisschen anspruchsvoller, besonders an Sonntagen, wenn Besuch angesagt war. Ich versuchte es mit typisch Schweizer Gerichten wie Rösti mit Spiegelei, Speck mit Bohnen, Hörnli-Auflauf, Griesspudding und mehr. Mit der Standard Ausrüstung hatten wir auch einen Wasserfilter bekommen, denn es wurde uns empfohlen das Leitungswasser nicht zu trinken. Zuerst kochten wir das Leitungswasser während 20 Minuten und liessen es dann in der Pfanne abkühlen. Erst dann wurde das Wasser in den Gravitationsfilter gegossen, wo Bakterien, Protozonen und anderen Krankheitserreger herausgefiltert wurden. Es war ein zweiteiliger 10-Liter-Behälter der Marke KATADYN. Im oberen Teil hatte es drei silberimprägnierte Keramikelemente, durch die das Wasser in den unteren Teil tropfte. Am unteren Teil befand sich ein Ventil, wo unser Trinkwasser dann frei von Mikroorganismen entnommen werden konnte. Dieses Wasser brauchte man auch zum Zähneputzen. Zudem hatten wir in unserer Standardausrüstung Kaliumpermanganat. Es sollte vor Amöben und anderen Darmkrankheiten schützen und so brauchten wir es vor allem um Salate und Gemüse zu waschen. Bei der Zugabe dieser Chemikalie färbte sich das Wasser bau-violett und war bereit vorhandene Bakterien zu töten. Da das Frischgemüse aber bei zu langem „Wässern“ den Geschmack oft total veränderte, war es bei uns nicht sehr beliebt.
Als dann die Bauarbeiten endlich vollendet waren, zogen auch die ersten „Houseboys“ unserer Vorgesetzten ein. Plötzlich waren wir nicht mehr alleine im Haus und mussten nun auch den Waschraum, WC und Dusche mit ihnen teilen. Dies brauchte anfangs beiderseits etwas Überwindung und Vertrauen. Kaum einen Monat nach dem Bezug unserer Unterkunft, wurde auch Herr E. Zingg aus Bern für einige Wochen bei uns einquartiert. Er kam als Experte für das DEZA nach Rwanda. Da es damals in Kigali keine Hotels gab und Reisende normalerweise nur bei Bekannten oder bei den verschiedenen Missionen Unterschlupf fanden, wurde die Lösung im „Maison Suisse“ vorgezogen. Der neue Bewohner war bedeutend älter als wir und deshalb eine willkommene Bereicherung im Hause. Zusammen verbrachten wir viele nette Stunden beim abendlichen Kartenspiel oder dann am Sonntag beim gemeinsamen Mittagessen mit anderen Freiwilligen. Die Lebenserfahrung von Herrn Zingg und seine eigenwilligen Ansichten waren aber auch oft Anstoss für heftige Diskussionen. Schon Mitte Mai besuchte uns der Leiter der schweizerischen Freiwilligen für Entwicklungshilfe, Dr. Michael von Schenck. Er wollte nicht nur die Baustelle sehen, sondern auch unsere Unterkunft im „Maison Suisse“. Zu unserer grossen Erleichterung schien er nicht nur unsere Arbeit zu schätzen, sondern auch unsere Unbefangenheit mit anderen Menschen unter demselben Dach zu wohnen.
(9) Gemeinsames Mittagessen mit unserm Mitbewohner Herrn Zingg aus Bern
Am 27. Juli erschien ganz unerwartet und unangemeldet ein neuer Freiwilliger. Die Mission hatte scheinbar erfolglos beim DEZA einen Elektroinstallateur für den Bau verlangt. Als sich kein solcher Kandidat in der Schweiz auftreiben liess, suchte die Mission in Belgien und fand den André Luc. Da wir davon nichts wussten, konnten wir ihm auch seine Unterkunft nicht vorbereiten. Aber da wir an das Improvisieren gewohnt waren, konnte er bald bei uns im „Maison Suisse“ einquartiert werden. Luc war ein quicklebendiger Bursche, der aber anfangs alles in Frage stellte, etwas das uns oft sehr irritierte. Es brauchte eine gewisse Zeit bis er merkte, dass er in Afrika war und sich der neuen Umgebung anzupassen hatte. Obwohl wir ja auf dem Hügel zu dieser Zeit noch keinen Strom hatten, mussten die Häuser und die Schule doch schon jetzt mit der nötigen Installation ausgestattet werden. Er kam also gerade zur richtigen Zeit, denn es ging ja mit den Bauten sehr rasch vorwärts.

Eigentlich hätte mit mir noch ein Schreiner das Team ergänzen sollen, doch dann hiess es man hätte aus Platzmangel auf ihn verzichtet. Damit wurde mir neben der Planung und Ausführung der Wasserversorgung, noch die Schreiner- und Malerarbeiten zugewiesen. Da ich schon als Kind sehr gerne mit Holz arbeitete, war diese zusätzliche Verantwortung keine Last, sondern eher ein Glücksfall. Da Lisbeth, die Bauzeichnerin, neben der Vorfabrikation noch einen Teil der Administration bewältigen musste, übernahm ich zusätzlich Arbeiten die den Innenausbau der Wohnhäuser betrafen. Dazu gehörten die abgehängten Decken, die Installation der Küchen, Bäder und WC, sowie teilweise auch die Umgebungsarbeiten. Da ich eigentlich Architektur studieren wollte, machte mir auch diese Aufgabe sehr viel Spass. Nachdem ich mich ein bisschen eingelebt hatte, merkte ich bald, dass ich in einem wirklich guten Team arbeiten durfte. Mit dem Fortschritt der Bauarbeiten und der vorzeitigen Inbetriebnahme der Schule, stiegen die Anforderungen an das Team aber beträchtlich. Manchmal war die Arbeit auch mit Risiken und Gefahren verbunden, zum Beispiel als ein Wasserreservoir installiert werden musste!
(1) Ohne die nötigen Einrichtungen musste immer irgendwie improvisiert werden. Hoffentlich geht diemal nichts schief???
(2) Uff, noch einmal Glück gehabt!

Um 10 Uhr morgens fuhren wir los. Die Naturstrasse nach Uganda führte durch den Kagera-Nationalpark (heute Akagera-Nationalpark genannt). Der Park wurde im Jahre 1934 von Belgien gegründet und hatte damals eine Fläche von 2’500 km². Mit dem Bevölkerungsdruck und Bürgerkriegen ist die Fläche in den letzten 50 Jahren auf ca. 900 km² geschrumpft und damit sank auch die Zahl der wilden Tiere. Damals konnte man auf der ganzen Fahrt nach Uganda immer wieder Tiere auf freier Wildbahn beobachten. Als wir uns der Grenze näherten stiessen wir unverhofft auf einen Unfall. Ein Lastwagen war mit einer Limousine (Mercedes) zusammengestossen. Die leicht verletzten Insassen des Mercedes waren Russen, wahrscheinlich Diplomaten. Wie der Unfall geschah konnten wir nicht erfahren. Da keine sofortige medizinische Hilfe nötig war, entschlossen wir uns die Unfallstelle neben der Strasse durch das hohe Steppengras vorsichtig zu umfahren und dann den Unfall an der Grenze zu melden. Auf den schmalen Naturstrassen war das Kreuzen bei Gegenverkehr immer sehr gefährlich und konnte fatal ausgehen. Die Gegend war ja nicht bewohnt und mobile Telephone gab es damals noch nicht. So konnte man nur hoffen, dass noch weitere Leute auf der gleichen Strecke unterwegs waren und die nötige Hilfe bieten konnten.
(1) Auf den schmalen Naturstrassen durch den Kagera-Nationalpark gab es immer wieder Unfälle.
Bei uns verlief anschliessend alles problemlos und bald waren wir in Kikagati. Bei einem Wegweiser mit der Aufschrift „Toni Nutti“ verliessen wir die Hauptstrasse und fuhren auf einem schmalen, einspurigen Weg durch üppige Vegetation bis er plötzlich am Ufer eines reissenden Flusses, dem Kagera, endete. Mitten im Fluss und umspült von wilden Wassermassen entdeckten wir eine Insel. Und in diesem Moment überraschte uns Herr Heimo mit der Ankündigung, dass wir auf dieser einsamen Insel übernachten würden. Zuerst schien mir dies unmöglich, denn wie sollten wir über das wilde Wasser kommen? Doch dann zeigte er auf ein Drahtseil, das von der Insel über den Fluss bis ans Ufer gespannt war, es gab also so etwas wie eine private Seilbahn.
(2) Die private Seilbahn zur Insel von Toni Nutti.
Neben der Verankerung des Seiles an unserer Uferseite war eine Glocke befestigt, mit der wir uns bemerkbar machten. Ich hatte das Gefühl, dass uns jemand auf der Insel mit einem Feldstecher beobachtete. Es war nämlich bekannt, dass Besucher nur sehr selektiv auf die Insel gelassen wurden. Jedenfalls erschien am anderen Ufer bald ein einheimischer Hausdiener, der uns etwas zurief. Doch mit dem tosenden Lärm des Flusses verstanden wir nichts. Dann begann er an einer Kurbel zu drehen und setzte damit eine Art Gitterkorb in Bewegung, der sich uns langsam auf dem Seil näherte. Im Gitterkorb war eine Nachricht, die nach unseren Namen fragte. Nachdem wir uns identifiziert hatten, wurde das Gefährt wieder zurück auf die Insel geholt. Da die Heimo’s unseren Besuch schon in Kigali angemeldet hatten, kam das komische Gefährt bald wieder an unser Ufer zurück, diesmal mit der Erlaubnis für die Überfahrt. Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass um das Drahtseil nicht zu überlasten, nicht mehr als zwei Personen gleichzeitig transportiert werden durften. Auch das Gepäck musste separat transportiert werden. So begannen wir in den hüfthohen, viereckigen Käfig aus Metallgewebe zu steigen. Über unseren Köpfen waren zwei Stahlrollen am Rahmen des Käfigs installiert, die das Transportieren des Gefährtes auf dem Stahlseil erlaubten. Obwohl ich an Seilbahnen gewohnt war, hatte ich in diese rudimentäre Installation wenig Vertrauen. Wir wussten, dass wir turbulentes Wasser überquerten wo Krokodile und Flusspferde sich tummelten und wo bei einem Seilbruch wenig Hoffnung auf ein Überleben bestand. Die Überfahrt war ausserordentlich faszinierend, aber auch sehr furchteinflössend. Niemand sprach ein Wort bis wir sicher auf der Insel angekommen waren.
(3) Der wildromantische aber unberechenbare River Kagera.
Auf der Insel wurden wir von deren Besitzerin, Toni Nutti, herzlich willkommen geheissen. Sie führte uns zu ihrem Haus, das sich mitten in einem wunderbaren Garten befand. Nachdem sie uns die Zimmer gezeigt hatte, liess sie uns erst einmal von unseren Strapazen ausruhen. Etwas später empfing sie uns zu einem ausgezeichneten Nachtessen, ein Essen das ich mir auf dieser einsamen Insel nicht im Traum hätte vorstellen können. Später sassen wir dann alle am Kaminfeuer, tranken Whiskey und hörten ihren äusserst spannenden Geschichten und Erlebnissen zu. Toni Nutti war eine zierliche, exzentrische alte Dame mit einem widerspenstigen Charakter, vor der aber alle grossen Respekt hatten. Sie kam ursprünglich aus Italien und reiste im Jahre 1925 mit ihrem Mann ins ehemalige Deutsch-Ostafrika. Sie erzählte, dass sie zu Fuss erst das Gebiet von Tanganjika erforschten und dann nach Westen bis ins Ruwenzori-Gebirge, wo Gorillas lebten, weiterzogen. Natürlich hatten sie Träger die sie auf dem Weg begleiteten und das Gepäck, die Lebensmittel und andere Utensilien transportierten. Dann umkreisten sie den südlichen Rand des Viktoriasees und stiessen auf den reissenden Fluss Kagera. Dieser Teil des oberen Nils blieb damals unbeachtet und bildet heute auf seiner ganzen Länge von 900 km die natürliche Grenze zwischen Rwanda, Uganda und Tansania. Dann kehrte das junge Paar an das nördliche Ufer des Flusses Kagera zurück, wo sie jeden Abend an einem anderen Ort ihr Zelt aufbauten. So wurden sie nicht nur mit ihrer Umgebung, sondern auch mit den Einheimischen vertraut. Auf ihren Streifzügen fiel ihnen eines Tages ein besonderer Ort auf. Der Fluss war bewegter als an anderen Orten und es gab dort starke Stromschnellen. Dabei wurde ihnen plötzlich klar, dass ihr Gegenüber nicht die andere Seite des Flusses war, sondern eine überwachsene Insel, die scheinbar der Aufmerksamkeit früherer Kartographen entgangen war. Natürlich wollten sie ihre neuste Entdeckung sofort erkunden und riskierten dabei die äusserst gefährliche Überquerung des Flusses. Die Insel war ungefähr 500 Meter lang und 300 Meter breit und bei starkem Regen von turbulenten und sehr gefährlichen Stromschnellen umgeben. Während sie die Insel auskundschafteten machten sie eine spannende Entdeckung, die schliesslich ihr weiteres Leben bestimmt hatte: „die königlichen Trommeln“!
(4) Das ganz spezielle Haus von Toni Nutti auf der Insel.
Zu dieser Zeit gab es in Unganda ein Königreich das Baganda hiess und dessen König Kabaka genannt wurde. Vor seiner Herrschaft gab es oft Stammesfehden und so wurden in jener ungewissen und unstabilen Zeit die königlichen Trommeln auf einer Insel im Kagera versteckt. Leider konnte dieser geheime Platz später nicht mehr gefunden werden und so schienen diese ganz speziellen Trommeln verloren. Nun aber hatte sie Toni Nutti auf dieser geheimnisvollen Insel wiedergefunden. Aus diesem Grund machten sich Toni Nutti und ihr Mann auf, um beim herrschenden Kabaka von Baganda eine Audienz zu erbitten. Dies wurde ihnen gestattet und so wurden sie am königlichen Hof freundlich empfangen. Sie berichteten über diese mysteriöse Insel und was sie da gefunden hatten. Der König war so glücklich, dass er ihnen aus Dankbarkeit die Insel schenkte. Die beiden Forscher waren überglücklich, begannen sich dort niederzulassen und seither wohnte Toni Nutti das ganze Jahr auf der Insel. Allerdings wusste man am Schluss ihrer Erzählung nicht genau, ob es sich um eine Sage handelte, oder ob es sich tatsächlich so abgespielt hatte. Da sie nie von ihrem Mann sprach, konnte man auch nicht erfahren was mit ihm geschehen war!
Fasziniert von ihren Erzählungen gingen wir nachher ins Bett und träumten von der längst vergangen Pionierzeit. Vorher aber warnte sie uns, nachts aus dem Haus zu gehen. Es gab nämlich Flusspferde, die nachts auf der Insel herumstreiften. Um dies zu illustrieren fügte sie hinzu, dass es vor ihrem Haus einmal einen Kampf zwischen zwei Flusspferden gab. Dabei wurde nicht nur der Kaninchenstall zertrümmert, sondern auch der Gemüsegarten flach getrampelt! Auch riesige Krokodile würden nachts auf der Insel gesehen. Sie sagte, dass sie einmal Krokodil-Eier in der Badewanne aufbewahrt hatte. Eines Morgens waren alle ausgeschlüpft und krabbelten im ganzen Haus herum. Warum sie Krokodil-Eier aufbewahrte sagte sie nicht, aber wir vermuteten, dass diese für den Frühstückstisch vorgesehen waren…! Für mich aber war es die Tatsache, dass wir uns auf einer Insel mitten in einem wilden Fluss befanden, was mich noch eine Weile wachhielt. Aber dann siegte die Müdigkeit und ich erwachte erst wieder als am nächsten Morgen die Sonne schon am Himmel stand.
Nach einem herrlichen „English breakfast“ hatten wir noch Zeit das Haus und den Garten zu besichtigen. Am Vortag war es ja schon früh dunkel geworden und so schauten wir uns das Haus erst jetzt genauer an. An allen Wänden hatte es Fotos von Persönlichkeiten und berühmten Filmstars die auf ihrer Insel übernachtet hatten. Da wir nun zu diesen erlesenen Leuten gehörten, fühlten wir uns schon sehr geehrt. Draussen vor dem Haus erwartete uns ein romantischer und faszinierender „Garten von Eden“. Es gab alles mögliche Pflanzen und Blumen. Toni Nutti hatte sogar eine einzigartige Orchidee auf der Insel gefunden, die scheinbar nirgendwo anders auf der Welt existiert. Auch hatte sie neue Arten von Insekten entdeckt. Toni hatte auch zahme Antilopen, die sie verletzt oder als Waisen aufgenommen hatte und nun pflegte. Sie war eine aussergewöhnliche Frau und wir bedauerten es ausserordentlich sie und die Insel wieder verlassen zu müssen. Nur zu gerne wäre ich noch ein bisschen länger geblieben um noch mehr von ihren spannenden Geschichten zu hören. Da Toni Nutti mit den Bagandas befreundet war und Präsident Milton Obote deren Königreich noch in der gleichen Woche abschaffte, zirkulierte später das Gerücht ihrer Deportation durch seine Leute. Aber wie viele andere Geschichten, hat man dafür bis anhin keine festen Beweise.
(5) Eine zahme Zwerg-Antilope die Toni Nutti auf ihrer Insel pflegte.
Unsere Reise ging dann über Masaka weiter nach Kampala, wo wir im Speke Hotel übernachteten. Das Hotel wurde ungefähr im Jahre 1920 gebaut, also während der Britischen Kolonialzeit. Und dies spürte man schon beim Betreten des vornehmen, echt englischen Hotels. Wenn einem dies bei der Ankunft nicht aufgefallen war, dann sicher punkt 07.00 Uhr, wenn sich ein kleines Türchen beim Eingang des Zimmers öffnete und ein „Early morning tea“ hereingeschoben wurde. Natürlich erschrak ich das erste Mal, denn niemand hatte mich auf diese koloniale Tradition aufmerksam gemacht. Dann trafen wir uns zum Frühstück, das wieder alles bis jetzt erlebte übertraf. Ein englisches Frühstück mit Eiern, Speck, Kartoffeln echter Butter und weiteren Leckerbissen schienen mir eher ein Mittagessen als ein Frühstück. Es war einfach himmlisch, besonders wenn ich an unser spartanisches Frühstück auf dem Hügel in Kigali dachte! Da es Sonntag war, besuchten wir zuerst den Gottesdienst in der Anglikanischen Kirche und fuhren nachher nach Entebbe, wo wir den Leiter der schweizerischen Freiwilligen für Entwicklungshilfe, Dr. Michael von Schenck trafen.
(6) Das geschichtsträchtige Hotel Speke aus der Kolonialzeit.
Am nächsten Tag wollten wir den bestellten VW Käfer bei der VW Niederlassung abholen, doch da war kein Auto für uns. Erst einen Tag später, am 24. Mai, teilte man uns mit, dass wegen einer Verwechslung unser Wagen schon von jemand anderem aus Kigali abgeholt worden war! Und genau an diesem Tag befahl der selbst ernannte Staatspräsident Milton Obote dem Armeekommandant Oberst Idi Amin den Königspalast der Bagandas anzugreifen, König Mutesa II festzunehmen und das Volk zu vernichten. Es gab Krawalle in der Stadt und so wurde ab 19.00 Uhr eine Ausgangssperre ausgerufen. Da der König entweichen konnte, wurden sofort alle wichtigen Zufahrtswege von und nach Kampala mit tiefen Gräben unpassierbar gemacht. Aber man erwischte den König nicht und er konnte trotz allen Vorkehrungen nach England entkommen, wo er einige Jahre später unter äusserst verdächtigen Umständen verstarb.
Am anderen Tag gingen die Ausschreitungen weiter und der Präsidentenpalast wurde niedergebrannt. Trotzdem gingen wir zur VW Niederlassung und brachten da alle unsere Einkäufe in Sicherheit. Man sagte uns, dass wegen den Strassensperren niemand das Land verlassen könne. Am 26: Mai gab es dann eine Hoffnung auf eine Rückreise. Die Polizei hatte einen Konvoi mit einem Lastwagen an der Spitze und einem Landrover mit Soldaten am Ende vorbereitet. Acht Ausreisewillige trafen sich mit ihren Autos um 11.45 Uhr an dem vorgegebenen Sammelpunkt und fuhren dann um 13.00 Uhr weg. Ganz langsam bewegte sich die beschützte Kolonne Richtung Masaka und Mbarara bis an die Grenze. Die verschiedenen Quergräben waren alle zugeschüttet und so waren wir gegen Mitternacht wieder in Kigali. Ja, es war eine spannende, interessante, aber auch aufregende Reise und ein willkommener Ausgleich zur harten Arbeit auf dem Hügel gewesen.

Jeden Morgen stiegen wir zu Fuss vom „Maison Suisse“ hinauf zur Baustelle ganz oben auf dem Hügel. Die Arbeit begann um 07.00 Uhr. Von 12.00 bis 13.00 Uhr war Mittagspause und um 16.30 Feierabend. Am Samstag arbeiteten wir normalerweise nur am Morgen. Meistens trafen wir auf dem Weg zum Hügel Arbeiter, die aus allen Richtungen zusammenströmten und dann mit uns bis zur Baustelle gingen. Oben angekommen meldeten sich die Arbeiter im Baubüro, wo sie sich registrierten und von den beiden Vorarbeiter, Félicien und Fidel, ihre Aufträge erhielten. Die beiden Männer waren sehr vertrauenswürdig und nahmen uns viel Arbeit ab. Sie lösten aber auch oft zwischenmenschliche Probleme unter den Arbeitern und waren als Übersetzer unentbehrlich. Natürlich hatten wir Wörter wie „Mwaramuteso“ (guten Tag), „Murakoze“ (Danke), „Amafranga“ (das Geld), „Umuti“ (die Medizin), „Yego“ (ja) und andere Wörter im Kurs in Mogheno gelernt, aber auf der Baustelle war dieser beschränkte Wortschatz natürlich völlig ungenügend. Zum Glück sprachen sehr viele Arbeiter Französisch und so konnten wir uns wenigsten mit den Meisten von ihnen verständigen. Trotzdem fanden es Maurice und ich wichtig die einheimische Sprache zu beherrschen. Félicien war sofort bereit uns abends nach der Arbeit dabei zu helfen. Doch unser gut gemeintes Bestreben für fliessende Kommunikation auf Kinyarwanda (Rwandisch) liess sehr bald nach und wir gaben den Unterricht schliesslich auf. Die Sprache war für uns einfach zu schwierig und die Wörter zu fremd um sie im Kopf zu behalten. Man konnte sie mit nichts Bekanntem in Verbindung bringen und den „urufunguzo“, den Schlüssel zur mentalen Registrierung deshalb unmöglich finden.
Die provisorischen Bau-Baracken waren mit Erde und Bambus erstellt worden und U-förmig um einen offenen Platz angeordnet. Hier wurde hauptsächlich die Vorfabrikation von Betonelementen gemacht. In den Bau-Baracken waren das Büro der Vorarbeiter und die Lagerräume für Zement und allerhand Baumaterial. Auf der anderen Seite war die Schreinerei die auch sehr viel Platz brauchte. Jeder Arbeiter brachte sein eigenes, persönliches Werkzeug mit, etwas das uns viele Probleme ersparte. Die Ausnahme waren die Sanitär Installateure, die teilweise mit unseren eigenen Werkzeugen arbeiteten.
(1) Unser Lehrling Uwimana beim Gewinde schneiden.
In den ersten Wochen musste ich mich vor allem den verstopften Leitungen und dem Abwasser im Allgemeinen annehmen. Ebenfalls bei den zuerst erstellten Häusern waren die Ableitungen viel zu klein dimensioniert und mussten deshalb ausgewechselt werden. Und wieder fühlte ich mich unwohl beim Abändern von Installationen, die meine Kollegen erstellt hatten. Auch die schon verlegten Ableitungen in den Fundamenten der Häuser für Lehrer musste durch grössere Rohre ersetzt werden. Das Abändern war auch für die Installateure keine motivierende Arbeit, denn nun mussten sie ihre eigene Arbeit wieder demontieren. Ich versuchte die bedauerliche Arbeit mit etwas Fachausbildung zu verbinden. Es war ja keiner der drei Installateure fachlich ausgebildet. Der Älteste, der Gérard, hatte wohl etwas Erfahrung, aber das genügte den Ansprüchen auf dieser Baustelle nicht. Er hatte einen Helfer, den Martin, der ausser Gewinde schneiden nicht zu mehr fähig war. Da ich wusste, dass sehr viel Arbeit auf die Beiden zukommen wird, entschloss ich mich noch einen dritten Installateur, den Charles, und einen Lehrling, der Uwimana hiess, einzustellen. Die mit der praktischen Arbeit kombinierten Unterrichtsstunden wurden für mich spannender als ich mir vorgestellt hatte. Gleichzeitig war ich erstaunt wie schnell die drei Burschen Fortschritte machten. Auch wünschte ich mir, dass sie die Installations-Pläne einmal selbst und ohne meine Hilfe lesen konnten. Dieses Ziel wurde dann später auch tatsächlich erreicht.
(2) Anleitung beim Verlegen von Abwasserleitungen (im Hintergrund Maurice, der Maurer).
Bei meiner Ankunft war der Bau des Hauses für den zukünftigen Direktor weit fortgeschritten und das Dach bereits mit den trapezförmigen Dachrinnen gedeckt. Auch die ersten acht Klassenzimmer sowie das „maison de surveillance“, das unten an den Klassen angebaut war, nahmen Formen an. Es fehlte nur noch die Überdachung mit den über sieben Meter langen Dachrinnen. Diese waren aus Faserzement und wurden von der Firma ETERNIT in Bujumbura hergestellt. Für bessere Festigkeit wurde den ETERNIT Produkten Asbest beigefügt, wobei wir damals von den Gesundheitsrisiken dieses Materials natürlich noch keine Ahnung hatten. Die „bacs“ wie wir sie nannten, kamen per Lastwagen von Burundi nach Kigali. Da die Naturstrassen damals meistens in sehr schlechtem Zustand waren, kamen mit fast jeder Lieferung zerbrochene Rinnen auf dem Hügel an. Dies verursachte nicht nur Verzögerungen auf dem Bau, sondern stellte uns auch vor die Frage wie wir die vielen gebrochenen Rinnen entsorgen konnten. Schliesslich kamen die Architekten auf die Idee die Dächer der zukünftigen Gebäude so zu gestalten, dass auch diese Rinnen gebraucht werden konnten. Wir machten ein genaues Inventar von all den verschieden langen Rinnen und verwendeten sie dann später bei neuen Bauten. Natürlich mussten die „bacs“ dazu auf die entsprechende Masse zugeschnitten (gesägt) werden, wobei natürlich Asbeststaub entstand. Doch eben, wir waren uns über das Risiko einer „Asbestlunge“ (Asbestose) nicht bewusst und es ist mir schliesslich kein Arbeiter oder Freiwilliger bekannt der deswegen erkrankt wäre.
Schon nach ein paar Wochen entstanden zwischen unserem Bau-Team und dem zukünftigen Direktor der Schule immer wieder Spannungen. Nach seiner Meinung gingen die Arbeiten viel zu langsam vorwärts und so begann er sich in unsere Arbeiten einzumischen. Er wollte auch so schnell als möglich in sein Haus einziehen und zudem einen nicht vorgesehenen Annex daneben bauen lassen. Auch hatte er sich in den Kopf gesetzt schon im Herbst die Schule in Betrieb zu nehmen, etwas das uns unmöglich schien. Zudem verlangte er immer wieder Änderungen, was für uns nicht nur Verzögerungen bei den Bauarbeiten bedeutete, sondern auch Überstunden und manchmal sogar das Arbeiten am Wochenende. Nach einer gewissen Zeit fühlten wir uns als Freiwillige nicht nur ausgebeutet, sondern auch ungerecht behandelt. Während wir weiterhin in unserer äusserst bescheidenen Unterkunft hausten, wohnten die Lehrer nun in neuen, komfortablen Häusern. Mit dieser neuen Situation und den ständig neuen Ansprüchen genau dieser Bewohner entstanden Spannungen und unsere ursprüngliche Motivation begann zu leiden. Natürlich wussten wir, dass der Direktor später für die ganze Schule verantwortlich sein wird, aber wir duldeten seinen ständigen Druck und seine hemmungslose Einmischung in technischen Belangen nicht mehr. Wir wurden uns auch immer mehr bewusst, dass unsere Arbeit mit vier Projekt Partnern nicht einfach war. Da wir durch das DEZA in Bern rekrutiert und nach Rwanda geschickt worden waren, schien uns logisch, dass das DEZA als unser Arbeitgeber auch für den Bau verantwortlich war. Dabei ignorierten wir aber die Tatsache, dass es eigentlich die „Mission des Eglises Protestantes de la Suisse romande“ war, die das Projekt vorgeschlagen hatte und deshalb auch mitreden durfte. Auch war es die Mission die nach dem Ende der Bauarbeiten die Schule übernahm. Damit hatte der Direktor, der von der Mission gestellt wurde, auch das Recht zu wissen was auf dem Bau geschah. Bei einer langen, gemeinsamen Aussprache konnten wir unsere Standpunkte schliesslich offen darlegen und die Missverständnisse klären. Ein kleines Misstrauen gegenüber dem Direktor blieb aber leider trotz allem bestehen.
(3) Mit einen improvisierten Kran wurde es möglich die Decke des Administrationsgebäudes zu erstellen.
Das Administrationsgebäude war zweistöckig vorgesehen und dies stellte uns vor grosse Herausforderungen. Für so einen Bau hätte man normalerweise einen Kran gebraucht, aber wir hatten kein solches Gerät. Und so suchte vor allem Maurice eine Lösung um das Baumaterial sicher auf diese Höhe hochzuziehen. Und es ging nicht lange bis er einen improvisierten Kran entworfen hatte, den man auf dem Bau selbst anfertigten konnte. Natürlich hatte dieses Gerät nichts gemeinsam mit einem modernen Kran, aber es erlaubte wenigstens schwere, vorfabrizierte Elemente bis zum ersten Stockwerk hinauf zu heben und dort einzubauen. Dieses Gebäude war aber auch für mich meine Herausforderung, denn im Erdgeschoss mussten acht WC Anlagen und vier Handwaschbecken installiert werden. Die einzigen Türken-WC-Anlagen, die wir damals in Kampala gekauft hatten, schienen englische Modelle aus der Kolonialzeit und entsprachen nur bedingt unseren Anforderungen. Vor allem die störanfälligen Spülkästen aus Gusseisen machten mir Sorgen. Da keine Ersatzteile erhältlich waren, fragte ich mich wie man die Spülkästen später einmal in Stand halten konnte. Die Erfahrung mit diesen miesen Apparaturen aus Uganda gab mir aber schliesslich Beweis genug um die Bauführung zu überzeugen, in Zukunft die WC Anlagen und andere Sanitäre Apparate sowie die dazugehörigen Armaturen aus der Schweiz zu importieren. Ich dachte vor allem an die geplanten, zweistöckigen Gebäude mit den Schlafräumen, den „dortoirs“ und die Waschküche, wo die Anforderungen an die Installationen noch grösser waren. Nach einigen Diskussionen wurde mein Vorschlag angenommen und so konnten in den zwei Gebäuden moderne WC-Anlagen installiert werden. Wie sich später herausstellte, war der Import eine weise Entscheidung gewesen, denn die Anlagen funktionierten noch Jahrzehnte später problemlos.
Noch in der Schweiz hatte ich Werkzeuge und weiteres Material für die sanitären Installationen der Seefracht beigepackt. Als die Werkzeuge dann nach fast einem Jahr geduldigen Wartens endlich auf dem Bau ankamen, liess ich sie zur Sicherheit sofort mit roter Farbe kennzeichnen. Nun brauchte es ein Lager für diese Werkzeuge und weiteres Material wie Röhren, Fittings und Armaturen. Das bestehende Lager wurde deshalb vergrössert. Bis anhin wurden die Gewinde mit Fasern von Hanfsäcken abgedichtet. Diese Improvisation befriedigte nicht immer und oft tropften die Leitungen nachher an diesen Stellen. Jetzt hatten wir endlich richtigen Hanf und Unschlitt, ein Fett das die Dichtigkeit der Schraubgewinde garantierte. Und jetzt konnte ich mich auch der Wasserversorgung des Hügels annehmen, denn bis anhin hatten wir nur einen provisorischen Anschluss für die Baustelle. Unten am Fusse des Hügels führte eine Wasserleitung vorbei, die Kigali mit dem köstlichen Nass versorgte. An dieser Leitung wurde anfangs provisorisch unsere Baustelle angeschlossen. Nun aber musste dieser Anschluss definitiv erstellt werden und die Wasserversorgung der ganzen Schule im Detail geplant werden. Bis anhin diente auf der Baustelle ein grosses, rundes Metallfass auf zwei Stützen als Wasserreserve im Falle von Unterbrüchen. Um später die ganze Anlage ohne Unterbrüche immer mit Wasser versorgen zu können, planten und bauten wir darum einen dreistöckigen Wasserturm. Von hier wurde das Wasser in die verschiedenen Gebäude verteilt. Da der Hügel viel tiefer als Kigali lag, hatte das Wasser in der Zuleitung einen viel zu hohen Druck für unsere Hausinstallationen. Da nun das Wasser zuerst in den Wasserturm geleitet wurde, hatte es nur noch den statischen Druck des Turms und schadete den Installationen nicht mehr.
Obwohl damals noch nicht von Umweltschutz gesprochen wurde, war es für uns schon ein sehr aktuelles Thema. So erstellten wir um die Häuser terrassenartige Gärten, um die Erosion zu vermindern und das Bepflanzen mit Bäumen und Büschen zu ermöglichen. Auch für das Abwasser wurden Lösungen gesucht. Natürlich wäre für die Schule ein gesamthaftes Abwassersystem ideal gewesen, doch mit der Topographie des Hügels wäre dies damals zu aufwändig gewesen. So erstellten wir für jedes Gebäude eine dreiteilige Klärgrube („fosse septique“) und damit verbunden eine Sickergrube, die das geklärte Wasser aufnahm. Da der Boden des Hügels ausserordentlich hart war, brauchte deren Aushub ohne maschinelle Hilfe immer sehr viel Zeit. Das Regenwasser wurde nicht gefasst, aber mit den erstellten Terrassen floss es wenigstens nicht mehr einfach den Hügel hinunter, sondern konnte langsam im Boden versickern. Damit sollte auch die Oberfläche des Hügels mit der Zeit etwas grüner werden.
Nach einer gewissen Zeit hatten wir bemerkt, dass die meisten Arbeiter nicht gewohnt waren selbst zu denken und ausschliesslich von den Befehlen von uns „Weissen“, den „Umusungus“ abhängig waren. Diese Situation schien uns nicht nur absurd, sondern erlaubte uns auch nicht gewisse Arbeiten zu delegieren. Aus diesem Grund versuchten wir mit viel Dialog das Vertrauen der Arbeiter zu fördern und sie dabei zu motivieren, selbst gewisse Verantwortung zu übernehmen. Wir wollten unbedingt erreichen, dass sie ihre Arbeit auch ohne unseren ständigen Präsenz verrichten konnten. Wir hatten nämlich auf der Baustelle einer Belgischen Firma festgestellt, dass deren Arbeiter so behandelt wurden als ob sie kein Hirn hätten. Wurde zum Beispiel einem Arbeiter befohlen ein Loch zu graben, dann musste er einfach graben bis der Chef zurückkam und er ihm befahl aufzuhören. Der Arbeiter durfte nicht fragen wie gross oder wie tief das Loch sein sollte. Zudem waren die Unternehmer immer mit einer Flinte auf dem Bau unterwegs, etwas das mir sehr missfiel und mich an die Zeit der Kolonisation erinnerte. Ich war äusserst froh, dass wir auf unserer Baustelle solche Zustände nicht kannten und uns jederzeit ohne Angst und ohne Waffen auf dem Hügel bewegen konnten. Dafür fehlten uns oft die nötigen Materialien und Werkzeuge, was uns jeden Tag erneut zwang zu improvisieren. Ausser einem Betonmischer hatten wir keine Baumaschinen. Ohne Schaufelbagger mussten deshalb alle Gräben von Hand ausgehoben werden, was natürlich sehr viel Zeit und Arbeitskräfte brauchte. Aber auch Geduld, Toleranz und Flexibilität waren ständig gefragt, alles Fähigkeiten ohne die man in Afrika nicht überlebt. Es gab Situationen wo wir sehr harten Prüfungen ausgesetzt waren. Diese Erfahrungen haben uns aber nicht nur geprägt, sondern waren später in unserem Leben von grossem Nutzen.
(4) Ohne die nötigen Geräte arbeitete man oft ziemlich archaisch auf dem Bau.
Manchmal wurde ich auch nach Kigali gerufen um defekte sanitäre Installationen in Häusern von anderen Schweizern zu reparieren, meistens beim Personal der Botschaft oder bei Experten, die für die Schweiz in Rwanda tätig waren. Damals gab es halt noch keine einheimische Handwerker die man hätte rufen können. Ich machte diese Arbeit nicht immer gerne, denn während dieser Zeit war ich nicht präsent auf dem Bau, und das wollte ich, wenn immer möglich vermeiden. Zudem wurde meine Arbeit ausserhalb des Projektes meistens als selbstverständlich betrachtet. Aber auch aus anderen Gründen wurde ich nach Kigali gerufen. Einmal suchte die Mission einen Blutspender. Die Frau eines Mitarbeiters war hochschwanger und man erwartete eine schwierige Geburt, die eine Bluttransfusion nicht ausschloss. Sie informierten sich auf der Botschaft und fanden heraus, dass ich genau die benötigte Blutgruppe hatte. Natürlich war ich damit einverstanden und fuhr zur Mission. Da war ein Arzt der mir das Blut entnahm und gleich der Frau wieder injizierte. Die ganze Prozedur schien mir doch ein bisschen rudimentär und riskant. Doch scheinbar haben die Mutter sowie das Kind überlebt. Ich habe sie später nie mehr gesehen und ein Dank ist bis anhin auch ausgeblieben.
Auf dem Bau hatten wir einen Lastwagen und eine Peugeot-Camionette zur Verfügung. Den Lastwagen brauchten wir hauptsächlich für den Transport von schweren Materialien. Er diente auch zum Transport der Arbeiter, die in Remera wohnten. Jeden Samstagnachmittag brachte sie unser Fahrer nach Hause und holte sie am Montagmorgen früh wieder ab. Einmal war der Lastwagen fast 2½ Monate ausser Betrieb, weil das nötige Ersatzteil lokal nicht erhältlich war. Das Fahrzeug hatte uns während dieser Zeit sehr gefehlt und die Abläufe auf dem Bau nicht einfacher gemacht. Die Peugeot-Camionette diente als „Mädchen für alles“. Erstens aber für die vielen Transporte von Material das auf dem Bau gebraucht wurde. Zum Beispiel transportierten wir regelmässig Bretter vom Bau zur Schreinerei unten am Hügel, wo wir sie mit der Hobelmaschine eines Belgiers viel schneller bearbeiten konnten als von Hand. Sehr viel Kontakt hatten wir mit den „Frères Salésiens“ der Mission „Salésiens de Don Bosco“. Sie hatten eine Metallwerkstatt und eine Möbelschreinerei. Sie lieferten uns die Metallfensterrahmen und vieles andere mehr. Man konnte sich immer auf sie verlassen und sie waren auch immer sehr zuvorkommend. Was mich bei ihnen immer beeindruckte war ihre pragmatische Art wie sie junge Einheimische professionell ausbildeten; eigentlich genau so wie wir es uns selbst zum Ziel gesetzt hatten. Am Wochenende brauchten wir die Peugeot-Camionette um unsere wöchentlichen Einkäufe zu machen oder am Samstagabend um nach Kigali in den Ausgang zu fahren. Nach der provisorischen Eröffnung des Collège war die Peugeot-Camionette plötzlich zweimal in der Woche für den Schulbetrieb reserviert. Hatte dieses Fahrzeug eine Panne, was öfters vorkam, dann schuf dies jedes Mal nicht nur beträchtliche Probleme auf der Baustelle, sondern auch für uns selbst. Ohne Fahrzeug oder Mitfahrgelegenheit war ich einmal gezwungen nach Mitternacht zu Fuss von Kigali nach Hause zu marschieren. Dies war auch oft der Arbeitsweg von Elisabeth, vor allem wenn auch ihr kein Fahrzeug zur Verfügung stand. Er führte durch eine Wohngegend und dann durch das „Marais“, ein Sumpfgebiet. Zum Glück ist mir, und besonders Elisabeth, auf diesem nicht ungefährlichen Weg nie etwas passiert. Wir hatten uns schon etliche Male über unsere begrenzte Mobilität beklagt, aber weder „Bern“ noch die Mission schienen unser Problem zu erkennen. Nach vielen Monaten Geduld bekamen wir dann unverhofft zwei Mobylettes, oder Töffli, mit denen Maurice und ich wenigstens in dringenden Fällen nach Kigali fahren konnten.
(5) Endlich ein bisschen mobil.
Bei schlechtem Wetter aber kam auch das beste Fahrzeug an seine Grenzen. Da die Strassen keinen Asphaltbelag hatten, wurden sie bei Regen schnell unpassierbar. Die Oberfläche wurde matschig und äusserst glitschig. Da der Weg vom Hügel mit ziemlich starker Neigung hinauf nach Kigali führte, wurde es deshalb bei schlechtem Wetter meistens unmöglich die Stadt mit einem Auto zu erreichen. Sogar Lastwagen hatten ihre Probleme. Man blieb im Schlamm stecken und musste einfach warten bis die Sonne die Erde wieder ein bisschen trocknete. Aber da wir unsere Erfahrungen gemacht hatten, riskierten wir bei Regen oder Sturm nichts und blieben einfach geduldig zu Hause. Der Regen dauerte ja meistens nicht lange und die starke Sonne festigte die Strasse dann sofort wieder.
Eines Tages erschien unerwartet ein Lastwagen mit zwei riesigen Kisten aus Europa auf dem Hügel. Der Inhalt enthielt gebrauchte Kleider die von der protestantischen Kirche in der Westschweiz gesammelt worden waren. Und da die Ware nun in Rwanda war, wurden wir von den Missionaren in Kigali gebeten, diese Kleider an unsere Bauarbeiter zu verteilen. Kleider wahllos und gratis abzugeben passte mir aber gar nicht. Ich erinnerte mich an die Kindheit wo ich sehen musste wie wenig die geschenkten Sachen geschätzt wurden. Seither wusste ich, dass alles, was man gratis verteilt, für den Empfänger keinen Wert hat. Natürlich wäre es ideal gewesen, wenn man die Arbeiter zuerst über die Herkunft und den Sinn der Lieferung hätte informieren können. Doch dies schien uns nicht nur schwierig, sondern auch heikel. In Rwanda sind die Leute stolz und das Verteilen von gebrauchten Kleidern hätte unter Umständen falsch interpretiert werden können. Mit einer Verteilaktion wie der von der Mission verlangt, ignorierte man nach unserer Auffassung aber nicht nur die Würde der Arbeiter, sondern konnte auch den Eindruck erwecken, dass wir Volontäre unwahrscheinlich reich waren. Der Anblick von Weissen mit so vielen Kleidern hätte bei gewissen Leuten die Lust entfachen können, sich später bei uns mit weiteren Kleidungsstücken zu versorgen. Ein einziges gestohlenes Stück würde ja bei so einem Reichtum kaum auffallen! Wir diskutierten manche Tage, wie wir uns am Besten und problemlos von den Kleidern entledigen konnten. Letztendlich fanden wir eine Lösung, die in erster Linie im Interesse der Arbeiter war. Jeder sollte das Kleidungsstück erwerben können, das ihm gefiel und das er auch wirklich brauchen konnte. So entschieden wir uns einstimmig für eine Versteigerung. Wir stellten uns neben die zwei Kisten auf unseren Lastwagen und liessen die Arbeiter für jedes Kleidungsstück den jeweiligen Preis bieten. Der Ansturm war gross und so half neben dem ganzen Bauteam sogar die Frau des Schuldirektors bei dieser Auktion mit.
(6) Ein grosser Ansturm bei der Versteigerung der Kleider, wo nicht nur das ganze Bauteam, sondern auch die Frau des Schuldirektors mithalf.
Die Preise wurden sehr tief angesetzt und waren eigentlich eher symbolischer Natur. Aber auf diese Art wurden die Kleider bewusst erworben, etwas das von den Einheimischen auch als normal verstanden wurde. Da sie bei uns ein reguläres Einkommen hatten, konnte man sie nicht als arm bezeichnen und zudem hatten sie ja auch immer Geld um abends ein Primus (Bier) zu erstehen. Es war sicher möglich, dass uns einige wegen den tiefen Preisen sogar belächelten oder dann einfach Freude hatten, ein guter Kauf gemacht zu haben. Ein lautes Kichern ging aber immer durch die Reihen, wenn man Damenunterwäsche feilhielt, denn niemand hatte den Mut für solche Artikel die Hand in die Höhe zu strecken. Für unser Team war es aber schliesslich eine gut gelungene Versteigerung und dies schien es auch für die Arbeiter zu sein, denn sie schienen abends alle zufrieden nach Hause zurück zu kehren. Dafür bekam ich eine böse Schelte von der Mission, als ich den Ertrag der Auktion ablieferte. Es gab keinen Dank für unsere Mühe und man nannte unsere Aktion eine schändliche Ausbeutung von armen Leuten. Es tat mir leid, dass diese Missionare nach so vielen Jahren Erfahrung in Afrika nicht mehr von der Empfindlichkeit und den Umgangsformen der Einheimischen mitbekommen hatten.
(7) Die ersten 8 Klassenzimmer und das Administrations-Gebäude. Im Vordergrund das im Bau befindliche Gebäude für die Unterkunft der Schüler.
Obwohl kaum 20% der Schulanlage gebaut war, hatte sich der Direktor, Herr Boillod, störrisch durchgesetzt und die Schule im September 1966 mit 60 Schülern provisorisch eröffnet. In aller Eile mussten deshalb eine provisorische Küche, Duschen und WC’s erstellt werden, alles Arbeiten die gar nicht vorgesehen waren und den normalen Fortschritt auf dem Bau erneut verzögerten. Wir hatten grosse Mühe mit dieser Zwängerei und so entstanden auch wieder Spannungen im Team. Der Bau des ersten Schlaftraktes war wohl im Bau, aber eine Alternative war nicht vorhanden. So hatten die Schüler keine andere Wahl als in den Klassenzimmern neben dem Studium auch zu essen und schlafen. Zudem tummelten sich die Schüler in der Freizeit auf der Baustelle, etwas das wir nur mit Mühe tolerieren konnten. Schliesslich hätte dabei ein Unfall passieren können und dies konnten wir mit einer solchen Situation nicht verhindern. Mit dem Schulbetrieb mitten in einer Baustelle schien sich auch bei den Schülern ein Stress aufzubauen. Eines Tages herrschte schon früh morgens ein Tumult in der Schule. Nachdem eine Fensterscheibe in Brüche ging, eine die aus Uganda mit viel Aufwand sicher und unversehrt auf dem Hügel angekommen war, warfen die Schüler ihr Frühstück ins Freie. Sie beschwerten sich, dass ihnen mit Rattenkot verunreinigtes weisses Brot vorgesetzt worden war. Der Direktor reagierte äussert gelassen. Er erklärte den Studenten, dass das Brot zugekauft wurde und er deshalb Beweise brauche um bei der Bäckerei zu reklamieren. Da sich die Schüler mit dieser Erklärung nicht zufriedengaben, kündete er einen sofortigen Unterbruch des Schulbetriebes an und zwar solange bis die nötigen Beweise vorhanden waren. Die Schule blieb fast drei Tage geschlossen und so auch die Küche. Die angehenden Akademiker schienen plötzlich sehr verwirrt und suchten nach Beweisen. Doch die Bauarbeiter, für die solches Brot Luxus war, hatten die weggeworfenen Stücke schon längst eingesammelt, gereinigt und gegessen. Schliesslich blieb ihnen nichts anders übrig als sich demütig für ihre unüberlegte Rebellion zu entschuldigen. Für mich blieb aber anschliessend die Frage, ob eine Schule die nach europäischem Standard geführt wird und Studenten an weisses Brot gewöhnt, diese wohl gleichzeitig ihres traditionellen Frühstücks entwöhnt? Wurde hier eine Elite gefördert die sich später nicht mehr mit dem Rest der Bevölkerung identifizieren konnte?
Nur einige Wochen später kamen Mädchen zu einem Schüleraustausch auf den Hügel. Alle waren mit sehr kurzen Mini-Jupes gekleidet. Natürlich war ich mir bewusst, dass zu jener Zeit Mini-Jupes die grosse Mode waren. Doch wenn ich an ihre traditionellen, langen und eleganten Röcke dachte, schien mir diese neue Mode total absurd. Zu allem Übel konnte man nun ihre oft krummen Beine sehen, also alles andere als Elegant. Aus diesem Grund konnte ich es eines Tages nicht lassen als eine Gruppe von Mädchen zu fragen wieso sie so kurze Röcke trugen? Fast im Chor antworteten sie mir lächelnd: „Monsieur, nous sommes des évoluées!“ was so viel bedeutet wie « Wir sind eben Fortschrittliche! Eine solche Antwort hatte ich nicht erwartet und erwiderte etwas enttäuscht, dass ich die traditionelle Kleidung ihrer Mütter vorziehe. Wieder fühlte ich eine Art Überheblichkeit der Schüler gegenüber den ungebildeten Einheimischen die rund um den Hügel wohnten. Und erneut fragte ich mich, ob sich die Schule dieser ungesunden Entwicklung und „modernen“ Denkweise der Schüler bewusst war?
(8) „Education physique“ in der freien Natur
Da die Schule noch keinen Turnlehrer gefunden hatte, wurden Maurice und ich gebeten zweimal pro Woche, zusätzlich zu unserer Arbeit, die Schüler mit „éducation physique“ fit zu halten. Anfangs empfand ich diese zwei Stunden als zusätzliche Belastung, doch nach einer gewissen Zeit wurden sie zu einem willkommenen Ausgleich zur normalen Arbeit. Bis zum Unabhängigkeitstag von Rwanda am 1. Juli 1967 hatte ich mit den Burschen zwischen 16 und 20 Jahren schon einiges geübt. Das Collège war nämlich eingeladen worden sich an diesem Fest in Kigali mit Turnübungen zu präsentieren. Für die Schüler war dies natürlich eine ausgesprochen grosse Ehre und so bereitete ich mit ihnen eine spezielle Nummer mit verschiedenen Pyramiden vor. Die Darbietung war ein voller Erfolg und wir ernteten vom Präsidenten und den offiziellen Gästen viel Applaus. Auch bei der offiziellen Eröffnung des „Collège officiel de Kigali“ am 6. Juli 1967 präsentierten sich die Schüler mit Turnübungen den offiziellen Gästen. Für diese zwei Anlässe liess ich für alle rote Turnhosen mit weissen Streifen nähen. Das sah sehr professionell und gepflegt aus. Da man keinen geeigneten Stoff in Kigali fand, versuchte ich es während eines Besuches in Kampala. Dort fiel mir auf, dass sämtliche Geschäfte in den Händen von Indern waren. Aber gerade dies motivierte mich ein von Einheimischen geführtes Stoffgeschäft zu suchen. Doch es war alles nur Zeitvergeudung, es gab kein von Ugandern geführtes Geschäft und so musste ich den roten Baumwollstoff schliesslich doch bei einem Inder kaufen. Manchmal bat uns der Direktor auch Sonntagsspaziergänge mit den Schülern zu machen. Einmal hörte ich auf einer solchen Wanderung wie mich gewisse Schüler hinter meinem Rücken beurteilten. Sie sagten ich sei doch auch nur so ein Arbeitsloser, den man zur Beschäftigungstherapie nach Afrika geschickt habe. Da gab es für mich eindeutig Erklärungsbedarf! Ich versammelte die Jungen um mich und erklärte ihnen wie und warum ich nach Rwanda kam. Dann fragte ich sie nach dem Grund ihrer Überzeugung, dass ich arbeitslos war. Sie sagten mir, dass sie in ausländischen Zeitungen und der Boulevardpresse von Arbeitslosigkeit in Europa gelesen hätten, wussten aber nicht um welches Land es sich gehandelt hatte. Während ich vorher ganz alleine und fast abgesondert der Gruppe vorausging, war ich plötzlich in ihrer Mitte, wo sich nun ein angeregter Dialog entwickelte. Der Bann war gebrochen und die echte Kommunikation konnte beginnen. Solche Momente schienen mir sehr wichtig, um Missverständnisse abzubauen und neues Vertrauen zu schaffen. Aber dazu braucht es gegenseitige Bereitschaft zu ehrlichem Dialog.
(9) Vorführung am Nationalfeiertag
(10) ....und den traditionellen Trommeln
Ende November fuhr ich mit einem Kollegen nach Kampala um Einkäufe für den Bau zu machen. Doch an der Grenze von Uganda hatten wir Probleme. Man verlangte von uns ein Depot von 3000 Schillinge für unsere „Camionette“. Damit hatten wir nicht gerechnet und da wir nicht so viel Geld bei uns hatten, mussten wir wieder zurück nach Kigali fahren. Dort versuchten wir diesen Betrag irgendwo aufzutreiben. Ramsas, der Besitzer des Lebensmittelgeschäftes war schliesslich bereit uns auszuhelfen. Zwei Tage später fuhren wir schon um 04.30 Uhr in Richtung Grenze los. Diesmal gab es keine Probleme und wir konnten die Grenze problemlos überqueren. Bei Toni Nutti machten wir einen Halt, um ihr einen Besuch abzustatten. Vor dem Einnachten waren wir dann in Kampala, wo wir in einem einfachen Hotel übernachteten. Die Einkäufe machten wir meistens bei Doshi, einem Inder, bei dem man alles kaufen konnte. Sein Laden war nicht sehr gross, aber scheinbar hatte er ein riesiges Netz von Zulieferern. Manchmal mussten wir deshalb zwei Tage warten bis die von uns bestellte Ware bereit war.
Nach einem anstrengenden Tag sassen wir auf dem Balkon des Hotels und tranken ein Bier. Es war eine laue Nacht und plötzlich überfiel mich ein urmenschliches Bedürfnis, wie ich es vorher noch nie gespürt hatte. Nachdem mein Kollege schon längstens schlief, schlich ich aus dem Hotelzimmer und ging in das „New-Life“ Quartier. Wir waren schon am Vortag dort und hatten in der Mengo-Bar etwas getrunken. Da es Montag war, waren fast keine Leute da und die Auswahl an einheimischen Tänzerinnen daher gross. Wie im Rausch war die Wahl bald gemacht, der Tarif ausgehandelt und das Taxi bestellt. Irgendwie schien meine normale Hirnfunktion ausser Betrieb zu sein. Obwohl ich keine Ahnung hatte wo wir hinfuhren stieg ich unbekümmert in das Taxi und war euphorisch, endlich so ein Abenteuer gewagt zu haben. Erst als wir schon eine Weile unterwegs waren, begann ich mich zu fragen wo wir eigentlich hinfuhren. Nach etwa einer halben Stunde hielt das Auto irgendwo im Busch an. Da es Leermond war, sah man ausser zwei Strohhütten, die der Taxichauffeur mit seinen zwei Scheinwerfern anleuchtete, absolut nichts. Dann sagte die schöne Dame, wir seien am Ziel angekommen. Zuerst klopfte sie an die kleine Holztüre der Hütte links. Die Türe öffnete sich nicht, weil scheinbar ihre Schwester schon mit einem Kunden da war. Dann versuchte sie es bei der zweiten Hütte. Doch da regte sich nichts. Plötzlich nahm sie eine Kauerstellung ein. Sie hatte ein dringendes Bedürfnis und erleichterte sich in eine Rinne die eigentlich für das Regenwasser in den Erdboden gehauen worden war. Dann gurgelte das Nass an mir vorbei und verschwand in der Dunkelheit Afrikas. Erleichtert stand sie dann auf und klopfte diesmal viel stärker an die Türe der zweiten Hütte. Langsam begann sich mein dominierender Urdrang zu verflüchtigen. Ich unterbrach sie bei ihrem Versuch, in die Hütte zu kommen und fragte wieso das Taxi immer noch da sei. Etwas schnippisch fragte sie mich, wie ich denn später ein Taxi bestellen wolle? In dieser Gegend gab es weder Licht noch Telefon, nur dunkle Nacht. Da erst wurde mir klar, dass ich bis anhin noch gar nie wirklich in Afrika angekommen war. Endlich öffnete sich die Türe und ein kleines Mädchen erschien im Scheinwerferlicht des Taxis. Beim Anblick des schlaftrunkenen Mädchens, das wegen meinem biologischen Bedürfnis ins Freie gejagt wurde, wurde mir elend. Nachdem es in der Dunkelheit verschwunden war, bat sie mich in die Hütte zu kommen. Doch als ich im Türrahmen stand und das äussert primitive Nachlager mit trockenen Bananenblätter auf dem Erdboden sah, kam endlich mein Schutzengel und befreite mich von meinen afrikanischen Fantasien. Äusserst beschämt entschuldigte ich mich bei der Dame, übergab ihr, was wir abgemacht hatten und rannte zurück zum Taxi. Nun konnte ich nur noch hoffen, dass er mich nicht beraubt und anschliessend im Dunkel stehen lässt, oder noch schlimmer mich als Geisel für Erpressungen weiterreicht. Aber mein Schutzengel begleitete mich sicher bis ins Hotel. Die ganze Nachte ärgerte ich mich über mein unvernünftiges Benehmen und dass ich mich in ein so gefährliches Abenteuer eingelassen hatte. Zudem war es für mich eine schlimme, persönliche Niederlage, denn bis anhin war es mir gelungen, immer meinen gesunden Menschenverstand zu wahren. Da ich das Erlebnis dieser Nacht aus Scham mit niemandem teilen wollte und konnte, hat es mich später noch lange beschäftigt und vielleicht sogar ein bisschen traumatisiert. Dabei musste ich oft an die vielen Missionare in Afrika denken, also Männer bei denen solch natürliche Bedürfnisse ganz sicher auch auftreten und diese durch ihr Gelübde mit eiserner Enthaltung und Selbstdisziplin unterdrücken müssen. Es ist tatsächlich nicht einfach mit den Bedürfnissen der Natur immer weise umzugehen.
Nach einer Woche in Kampala wollten wir endlich wieder zurück auf den Bau. Wir hatten wohl die Ware, aber von Doshi die nötigen Unterlagen und Rechnungen noch nicht erhalten. Auch die Belege des Devisenwechsels fehlten. Damals waren die Grenzbeamten alle Inder und wir wussten, dass sie meistens alles sehr genau kontrollierten. Wenn sie schlechter Laune waren, musste man sich in Geduld üben, ruhig bleiben und sich ja keine Spässe erlauben. Mein Kollege hatte es schliesslich geschafft, alle Unterlagen aufzutreiben. Sofort fuhren wir weg, doch schon in Mbarara hatten wir eine Panne und am Zoll mussten wir trotz perfekter Vorbereitung noch zwei Stunden peinliche, bürokratische Kontrolle über uns ergehen lassen. Doch schliesslich konnten wir die Grenze überqueren und zurück auf den Hügel fahren. Ja, bei Fahrten von und nach Uganda musste man immer mit Überraschungen rechnen.
Da es auf dem Bau immer wieder kleinere Verletzungen gab, entschied sich Elisabeth jeden Abend nach der Arbeit die Verletzten nach Möglichkeit zu betreuen. Punkto Este Hilfe hatten wir ja im Kurs in Moghegno sehr viel gelernt. Zudem hatten wir eine sehr gut bestückte Apotheke mit unserer Standardausrüstung mitbekommen, die es mit der Auswahl von Medikamenten leicht mit der eines staatlichen „Dispensaires“ aufnehmen konnte. Natürlich waren wir keine Ärzte, doch die Arbeiter hatten Vertrauen in die Fachkenntnisse von Elisabeth und so wurde abends die Schlange von wartenden Leuten mit der Zeit immer länger. Ich hatte das Gefühl, dass sich nicht nur die Arbeiter, sondern bald die ganze Gegend um den Hügel von Elisabeth pflegen liess. Manchmal machte ich auf meinem Heimweg bei ihrem „Dispensaire“ einen Halt und war jedes Mal überrascht wie diszipliniert die Patienten waren. Einmal kam ein älterer Mann mit einer etwa 5 cm grossen, sehr eitrigen Wunde am Bein. Elisabeth reinigte sie äusserst professionell und meinte, dass dieser Fall neben einem antiseptischen Verband noch eine einmalige Antibiotika-Behandlung benötige. Sie gab ihm die nötigen Instruktionen und bat ihn nach ein paar Tagen nochmals vorbei zu kommen. Ganz per Zufall sah ich den Mann, als er zur Kontrolle zurückkam. Zu meiner grossen Überraschung war die Wunde sauber und mit einer feinen, neuen Haut überdeckt. Es schien mir fast wie ein Wunder. Doch Elisabeth meinte, dass die Einheimischen noch nicht resistent gegen Antibiotika seien und schon kleine Dosen grosse Wirkung haben können. Trotz dieser einleuchtenden Antwort, staunte ich über die schnelle Heilung und über den unermüdlichen Einsatz von Elisabeth. Und nach diesen freiwilligen Überstunden auf dem Bau, ging Elisabeth meistens noch zu Fuss nach Kigali wo sie wohnte.
Einmal war ich zu einer Benefiz-Veranstaltung des Rotary-Clubs eingeladen. Warum ich diese Ehre hatte weiss ich nicht mehr, aber es war ein wirklich schöner und eleganter Abend. Wie es bei einem solchen Anlass üblich ist, gab es eine Tombola. Ich war in bester Laune und leistete mir sogar ein Los. Zu meiner grossen Überraschung gewann ich ein 2-Platten-Elektrorechaud. Da wir keinen elektrischen Strom auf dem Hügel hatten, war der schöne Preis für mich leider wertlos. Da ich mir vorstellen konnte, wer diesen Preis gespendet hatte, besuchte ich den grosszügigen Wohltäter in seinem Geschäft. Es war Herr Israel, ein hässlicher, griesgrämiger und äusserst geiziger Belgier. Er war damals der Einzige in Kigali, der mit Baumaterial und Haushaltgeräten handelte. Mit seinem Monopol waren auch wir auf dem Bau von ihm abhängig und kauften immer für sehr viel Geld alles Mögliche bei ihm ein. Da er keine Konkurrenz hatte, war es bei ihm unmöglich zu feilschen und man bezahlte was er verlangte. Zudem fragte er mich jedes Mal ob ich Schweizer Franken wechseln möchte. Immer wollte er Devisen haben. Mehr aus Entgegenkommen und im Bewusstsein der schwierigen finanziellen Lage im Lande, wechselte ich mein Geld anstatt auf der Bank deshalb meistens bei ihm. Nach all meinem Entgegenkommen erwartete ich natürlich, dass er nun auch mir einen Gefallen tun würde. Ich erzählte ihm meine Geschichte und bat ihn deshalb das gespendete Rechaud zurückzunehmen und mit etwas einzutauschen das ich tatsächlich brauchen konnte. Doch er verneinte sofort. Er gab wohl zu, dass das Gerät von ihm stammte, aber er wollte es nicht zurücknehmen. Schnippisch meinte er ich solle doch das Rechaud anderswo loswerden und es sei nicht sein Problem, wenn bei uns kein Strom vorhanden sei. Seine störrische Antwort empörte mich ausserordentlich, und dies nicht nur weil wir sehr gute Kunden waren. Konsterniert packte ich das elektrische Rechaud unter den Arm und sagte ihm beim Ausgang, dass ich in Zukunft meine Devisen ordnungsgemäss auf der Bank wechseln werde. Ab diesem Tag vermied ich seinen Laden und versuchte Alternativen für unseren Bedarf auf dem Bau zu finden.
Im Juli 1966 wurde Herr Hans Karl Frei Schweizer Botschafter in Kigali. Nach der offiziellen Amtseinsetzung gab es einen Empfang in der „La Sierra“ wo auch der amtierende Präsident Grégoire Kayibanda anwesend war. Schon im August gab es dann einen weiteren Empfang im „La Sierra“, diesmal zu Ehren des Botschafters August Linth, der in Bern für die Technische Zusammenarbeit verantwortlich war. Wir Freiwilligen fühlten uns jedes Mal ausserordentlich geehrt, auch eingeladen zu sein und die hohen Persönlichkeiten persönlich kennen zu lernen.


(1) Frauen tragen ihre geflochtenen Körbe an unserem Haus vorbei zum Markt.
Da wir nach der Arbeit meistens sehr müde waren, verbrachten wir die Abende normalerweise zu Hause. Mit der frühen Dunkelheit und ohne Radio oder Fernsehen gab es keinen Grund lange aufzubleiben und so gingen wir meistens sehr früh ins Bett. Manchmal las ich noch eine Weile oder beantwortete Briefe aus der Schweiz. An Wochenenden trafen wir uns oft mit anderen Freiwilligen aus der Schweiz. Entweder kamen sie zu uns ins „Maison Suisse“ oder dann besuchten wir sie an ihrem Einsatzort. Meistens aber waren wir mit Elisabeth, der Bauzeichnerin und Rosmarie zusammen. Sie teilten zusammen ein kleines Haus im Zentrum von Kigali. Eigentlich war es nur ein grosses Zimmer das gleichzeitig als Wohn- und Schlafraum diente. Weil ihr Daheim von aussen fensterlos aussah, nannten wir es den „Bunker“. Obwohl ihr Zuhause sehr klein war, war es auch eine Art „Absteige“ für Freiwillige die irgendwo ausserhalb Kigalis arbeiteten und manchmal für ein paar Tage in die Hauptstadt kamen. Rosmarie arbeitete als Sekretärin bei der Direktion der TRAFIPRO in Kigali und lernte damit viele Leute kennen die in Kigali lebten, Leute die sie dann auch uns vorstellte und uns mit ihnen bekannt machte.
So lernten wir auch Leute von der Deutschen Welle kennen. Sie arbeiteten auf einem Nachbar-Hügel, wo sie eine Sendestation für Afrika betrieben. Sie wohnten in einer eigenen Siedlung mit sehr schönen, europäisch eingerichteten Häusern. Sie hatten alle ungefähr das gleiche Alter wie wir und so trafen wir uns natürlich auch im „Club Belge“. Ab und zu wurden wir auch zu Partys auf ihren Hügel eingeladen oder dann zu einem Frühschoppen am Sonntagmorgen am Schwimmbad.
Einmal war Maurice mit Bekannten auf der Jagd. Er ging öfters mit ihnen, doch meistens kamen sie mit leeren Händen zurück. Einmal aber hatten sie tatsächlich Glück und einige Rebhühner geschossen. Sie wollten die Vögel später einmal gemeinsam geniessen und baten daher Rosmarie und Elisabeth, diese in ihrem Tiefkühlfach zu lagern. Die Zeit verging und die Rebhühner blieben im Tiefkühlfach. Eines Tages lud mich Rosmarie zum Nachtessen im „Bunker“ ein. Schon an der Türe empfing mich ein herrlicher Duft, aber noch konnte ich nicht erahnen was sie gekocht hatte. Sie hatte ein Schmunzeln im Gesicht und bat mich Platz zu nehmen. Da fiel mir auf, dass sie den Tisch viel schöner gedeckt hatte als sonst, eine Flasche Rotwein und Weingläser waren bereitgestellt und eine Kerze schaffte eine festliche Stimmung. Aber eigentlich gab es nichts zu feiern. Rosmarie hatte es einfach satt die Rebhühner im Tiefkühlfach zu hüten und so entschied sie die Viecher im Ofen zu braten. Da sie eine gute Köchin war, umwickelte sie die Vögel vorher mit Speckstreifen und servierte sie dann mit feinen Beilagen. Es war wirklich ein ausgezeichneter Schmaus und dabei amüsierten wir uns natürlich köstlich über diesen Streich. Aber wir konnten das schlechte Gewissen nicht ganz ignorieren und fragten uns im Geheimen, was Maurice und seine Jagdkollegen wohl sagen werden, wenn sie erfuhren, dass die Rebhühner bereits verspeist waren? Und tatsächlich erinnerten sie sich einige Wochen später an ihre Beute, aber Rosmarie wusste immer eine Antwort, um ihre Unschuld zu beweisen.
Nicht weit von ihrem Haus befand sich das einzige Kino der Stadt, das „Ciné Kigali“. Da unser Sackgeld sehr bescheiden war, sahen wir uns dort nur selten Filme an. Am selben Ort war das Restaurant „La Sierra“, welches wir aus dem gleichen Grund nur bei ganz speziellen Anlässen betraten, zum Beispiel bei offiziellen Empfängen. Am meisten trafen wir uns im „Club Belge“, der einzige Ort wo es am Samstagabend Musik gab und wo man sogar tanzen konnte. Man fühlte sich dort sehr wohl und lernte immer wieder neue Leute kennen. Als Mitglied konnte man dort auch Tennis spielen und das Schwimmbad benutzen, etwas das für uns nicht möglich war. Ausser den Russen trafen sich fast alle Ausländer in diesem Club, so auch die Inder und Pakistani, die Geschäfte in Kigali hatten. Während die pakistanischen Familien sich uns gegenüber sehr offen gaben und gerne mit uns plauderten, blieben die Inder immer ganz strikte unter sich und die Mädchen schlugen Einladungen zum Tanzen aus. Komisch, dass sie uns dann beim nächsten Einkauf von Lebensmitteln plötzlich wieder schätzten! Nur einmal „verirrte“ sich ein junger Russe in den Club. Sofort wurde er in unsere Gesellschaft aufgenommen und wir luden ihn anschliessend sogar zum Mittagessen auf dem Hügel ein. Zu unserer Überraschung erschien er tatsächlich gegen Mittag im „Maison Suisse“ und so verbrachten wir einen netten Nachmittag zusammen. Nach diesem Besuch haben wir ihn aber nie mehr gesehen. Wir mussten annehmen, dass der russische KBG von seinem Kontakt mit uns erfahren hatte und ihn zur Strafe nicht nur von seinem Posten entfernte, sondern sofort zurück nach Russland geholt hatte.
Maurice und ich waren damals mit etwas über 20 Jahren noch sehr jung, und so suchten wir nach der harten Arbeit und dem eintönigen Leben auf dem Hügel immer etwas Abwechslung. Wir hatten auch Lust, das Land besser kennen zu lernen und benutzten jede Gelegenheit, dies auch zu tun. So auch über die Ostertage 1966, wo wir mit Elisabeth und Rosmarie den Kagera-Park besuchten. Zuerst fuhren wir mit dem VW der beiden Mädchen nach Kiziguro, wo wir hofften bei der Missionsstation der « Weissen Väter“ oder den „Pères Blancs“ ein Nachtquartier zu finden. Und wir hatten Glück, es war für uns noch Platz in ihrem „Guesthouse“. Von Kigali bis nach Kiziguro waren es nur 41 km, doch mit dem schlechten Zustand der Strasse brauchten wir doch sehr viel länger, als wir dachten. Doch die Zeit reichte noch um am gleichen Tag kurz nach Gabiro zu fahren, um dort die Eintrittskarten für den Besuch des Nationalparks am nächsten Tag zu besorgen. Bis zum Nachtessen waren wir wieder zurück bei den « Weissen Vätern », wo sie uns mit ihren vielen Anekdoten aus ihrem reich erfüllten Leben beeindruckten. Am nächsten Morgen machten wir uns schon sehr früh auf den Weg, doch leider regnete es in Strömen. Aber wir liessen uns davon nicht abhalten und entdeckten schon bald verschiedene Tiere wie Büffel, Antilopen, Gazellen, Nilpferde und Wildschweine. Nach einer Weile Fahrt auf einem holperigen Weg verlangte Rosmarie dringend einen „technischen“ Halt. Mitten in einem Park mit wilden Tieren schien uns dies etwas riskant, denn mit dem Regen sah man die Tiere erst ganz nahe. Doch Rosmarie liess nicht locker bis ich den Wagen anhielt. Kaum war sie aus dem Auto ins Freie gekrochen und in Kauerstellung für ihr dringendes Bedürfnis bereit, da kam eine ganze Familie Wildschweine genau auf sie zu gerannt. Mit einem lauten Schrei sprang Rosmarie in die Höhe und suchte so schnell wie möglich wieder Sicherheit im Auto. Alle anderen im Auto lachten sich halb tot und bewunderten unterdessen die dicke, runde Wildschweinmutter mit ihren unzähligen, niedlichen Nachkömmlingen die ihr folgsam hinterher rannten. Leider hatte der Regen die Strassen unterdessen teilweise sehr aufgeweicht und so waren gewisse Teilstücke auf der Rückkehr oft schwer passierbar.
(2) Schwierige Strassenverhältnisse bei Regen im Kagera Park
Aber auch dies war ein Teil des Abenteuers, das wir trotz üblem Wetter genossen. Bereits um 16.00 waren wir wieder zurück im „Guesthouse“ wo wir uns von den Strapazen bis zum Nachtessen ausruhten. Am anderen Morgen, am Ostermorgen, erfuhren wir, dass es zur Feier des Tages Zebra-Ragout zu Mittagessen gab. Ein solches Mahl wollten wir natürlich nicht verpassen und kehrten deshalb erst am Nachmittag nach Kigali zurück. Am Morgen hatte ich auf dem Markt einen sehr schönen Schädel eines Büffels entdeckt und ihn schliesslich gekauft. Diese wunderbare Trophäe montierte ich später an die Wand beim Eingang des „Maison Suisse“ als Schutz vor bösen Geistern!
Wenn es die Arbeit auf dem Bau erlaubte und wenn wir eine Mitfahrgelegenheit hatten, besuchten wir auch gerne Schweizer Freiwillige im Busch (wir nannten dies „dans la brousse“), so beispielsweise in Kabgay wo sich das Hauptgebäude und Lager der Genossenschaft TRAFIPRO und die Garage ihrer Transportfahrzeuge befanden. Drei Freiwillige, Heinz Probst, Peter Lehmann und Peter Vögtlin, arbeiteten dort zusammen mit Experten aus der Schweiz. Einmal waren wir dort zu einer Party eingeladen. Plötzlich langweilten wir uns so sehr, dass Rosmarie um 22.00 Uhr vorschlug noch schnell nach Butare zu einer anderen Party zu fahren. Alle wussten, dass zu dieser Zeit Ausgangssperre war. Doch wir fuhren trotzdem los und wie es kommen musste, wurden wir schon bald von der Polizei angehalten. Natürlich spielten wir die Unwissenden, doch es nützte nichts und es wurde uns verboten weiterzufahren. Auch eine Rückkehr nach Kabgay kam nicht in Frage. So hatten wir Zeit um mit den Polizisten zu verhandeln. Dabei kam mir plötzlich in den Sinn, dass ich einmal den Bibliothekar der Universität in Butare kennen gelernt hatte. Ich gab diese Person als unsere Referenz an und bat die Polizei, uns doch wenigstens dort übernachten zu lassen. Da der Bibliothekar scheinbar bekannt war, rief ihn die Polizei sofort an und dieser bestätigte ihnen, dass er uns aufnehmen würde. So hoben sie die Barriere und wir konnten weiterfahren. Der Bibliothekar war natürlich nicht erfreut über unseren Leichtsinn und gab uns erst eine Schelte für die Dummheit, bei einem „couvre-feu“ auf die Strasse zu gehen. Die Polizei hätte ja auf uns schiessen können. Da er kein Gastzimmer hatte, oder es wenigstens vorgab, mussten wir auf dem Boden im Wohnzimmer übernachten. Da es in Butare abends kalt sein kann, gab es glücklicherweise in den meisten Häusern Teppiche am Boden. Und so war unser Nachlager wenigstens nicht allzu hart. Wir sind nachher nie mehr bei einem „couvre-feu“ auf Reisen gegangen!
Auch der Direktor von TRAFIPRO wohnte in Kabgay. Als er einmal ein paar Tage nach Jakarta musste, bat er Rosmarie während seiner Abwesenheit in seinem Haus zu wohnen. Mit den ständigen Einbrüchen war es einfach zu riskant ein Haus unbewohnt zu lassen. Während dieser Zeit herrschten im Lande zudem latente Unruhen. Der Auftrag war für Rosmarie deshalb nicht gefahrlos und so bat sie mich das Haus über das Wochenende mit ihr gemeinsam zu hüten. Es war ein sehr grosses Haus und so entschieden wir, dass Rosmarie im Schlafzimmer des Direktors schläft und ich mich im Wohnraum auf der anderen Seite des Hauses für die Nacht einrichte. Da wir wussten, dass draussen Nachtwächter das Haus bewachten, waren wir über die Möglichkeit eines Einbruchs nicht beunruhigt und so schliefen beide wie Murmeltiere bis die Sonne wieder aufging. Erst beim Frühstück stellten wir fest, dass etwas nicht in Ordnung war. Nach einem Rundgang im Haus stellten wir fest, dass der Kassenschrank im Büro des Direktors verschwunden war! Jemand hatte den schweren Tresor aus Stahl mit samt dem Inhalt abtransportiert. Wir schauten uns fassungslos an und wussten zuerst gar nicht, was nun zu tun war. Wie war das möglich gewesen? Warum hatten wir nichts gehört? Und wieso hatten draussen die Nachtwächter nicht Alarm geschlagen? Ich schlug vor, sofort zur Polizei zu fahren. Doch Rosmarie hatte einen kühleren Kopf als ich. Sie hatte mich ins Haus geholt ohne vorher ihren Chef zu informieren. Sofort sich bei der Polizei zu melden hätte deshalb auch mich verdächtig gemacht. Also musste ich erst aus dem Haus verschwinden und sofort nach Kigali zurückfahren. Erst dann liess Rosmarie die Polizei ins Haus. Wie ein Buschfeuer jagte nun die Nachricht vom Einbruch beim Direktor von TRAFIPRO sofort durch das ganze Land. Ohne Zeugen wurde Rosmarie plötzlich auch verdächtigt und kam sogar als Komplize der Diebe in Frage. Aber wer waren die Diebe? Vielleicht die Nachtwächter im Einverständnis von Rosmarie? Alles war nun plötzlich möglich geworden und ich hoffte nur, dass mich niemand im Haus oder beim Wegfahren am Morgen gesehen hatte. Sonst wäre ich sicher auch noch verdächtigt worden. Ich war beunruhigt, konnte aber mit niemandem über meinen Ausflug nach Kabgay sprechen. Wie immer zog sich der Fall in die Länge und Rosmarie musste beim Verhör aussagen. Aber dann legte sich tiefes Schweigen über diese Angelegenheit.
Bei einem Besuch in Kabgay schenkten mir die beiden Freiwilligen einen Hund. Er war noch sehr jung und niedlich. Zuerst wusste ich gar nicht, was ich mit dem Tier anfangen sollte, doch schon nach ein paar Tagen hatte ich ihn ins Herz geschlossen. Er folgte mir auf Schritt und Tritt. Er begleitete mich sogar auf die Baustelle und blieb immer in meiner Nähe. Ich nannte ihn „Bili-Bili“ so wie das scharfe Chili-Gewürz in Rwanda. Er war kein guter Wachhund, denn nachdem er den ganzen Tag mit mir auf dem Bau war, brauchte er nachts auch seine Ruhe. Alle liebten ihn, sogar die Arbeiter. Bei seinem Erscheinen wussten sie immer, dass ich auch in der Nähe war. Einmal hatte jemand auf dem Bau die Spitze seines Schwanzes rot gestrichen. Wahrscheinlich wollte ein Spaßvogel ihn genau so markieren wie ich dies mit dem Werkzeug der Sanitär Installateure getan hatte und damit darauf hinweisen, dass er mir gehörte.
(3) „Bili-Bili“ mein treuer Begleiter nicht nur zu Hause sondern auch auf dem Bau.
In Rwamagana, etwa 50 Kilometer östlich von Kigali, waren Ursula Schneider und Christine Gysi, zwei weitere Freiwillige, im Einsatz. Sie arbeiteten als Krankenschwestern im Krankenhaus mit Dr. Hildebrand, einem Schweizer Arzt. Nachdem ich einige Male auf dem Baugerüst das Gleichgewicht verlor und Arbeiter mich festhielten bevor ich in die Tiefe stürzte, benutzte ich bei einem Besuch die Gelegenheit, mich bei Dr. Hildebrand untersuchen zu lassen. Er nahm eine Blutprobe und fand bald heraus, dass ich Malaria hatte. Da ich zur Vorbeugung wie angeordnet regelmässig „Camoquin“ schluckte, machte mir diese Diagnose erst gar keinen Sinn. Doch Dr. Hildebrand sagte, dass mit der Einnahme von „Camoquin“-Tabletten die Malaria normalerweise nur versteckt bleibe, aber nicht geheilt sei. In meinem Fall hatte mein Köper die nötigen Abwehrkräfte nicht mehr, und dies bewirkte leichte Malariaanfälle. Im Tropeninstitut in Basel wurde dann nach meiner Rückkehr die Art meiner Malaria bestimmt und anschliessend entsprechend behandelt. Eine der bekannten Nebenwirkungen von „Camoquin“ sind Schwindel und vor allem Verlust des Sehvermögens. Und tatsächlich brauchte ich schon wenige Jahre später eine Brille. „Camoquin“ oder andere Medikamente das Chinin enthielten, habe ich später nie mehr genommen. Ein anderes Mal waren wir bei Dr. Hildebrand an einem Sonntag zum Essen eingeladen. Es gab ein herrliches Gulasch. Nach dem Essen machten wir einen Spaziergang bis zum See. Als wir zurückkamen, zeigte er uns hinter dem Haus ein aufgespanntes Fell. Dann erklärte er uns mit einem verschmitzten Lächeln, dass das aufgespannte Fell von dem Affen sei, den wir vorhin verspeist hätten…!
Und da war noch Rita Mader. Sie war Lehrerin an der „Ecole Sociale“ und war bei den Missionsschwestern „Unserer lieben Frau von Afrika“ in Zaza untergebracht. Sie war schon früher einmal in Rwanda tätig und unterrichtete von 1963 bis 1965 für den „Orden des Fegefeuers“ an der „Ecole Sociale de Butare“ in Butare. Zurück in der Schweiz hatte sie Heimweh nach Afrika und meldete sich deshalb bei der DEZA für einen Einsatz als Freiwillige in Rwanda. Nach dem obligaten Vorbereitungskurs in Moghegno kam sie im Dezember 1966 wieder zurück nach Rwanda. In Zaza wohnte sie genau so spartanisch wie wir und da sie auch kein Auto zur Verfügung hatte, sah man sie selten an Treffen von Freiwilligen. Da sie für eine Mission arbeitete waren wir überzeugt, dass sie nicht nur scheu, sondern auch sehr religiös sein musste. Wir waren darum überrascht als man sie auf einmal in Begleitung eines Beamten der Deutschen Botschaft in Kigali sah. Und so wurde aus der zurückgezogenen Rita im verlassenen Zaza wie ein Wunder eine Diplomatin und Ehefrau mit zwei Mädchen.
(4) Die hügelige Landschaft in Rwanda
In Remera unterrichteten Alice und Theo Margot, beide auch Freiwillige, in einer Mädchenschule. Meistens fuhren Maurice und ich zusammen mit unserem Arbeitertransport nach Remera. Es war immer eine sehr schöne Fahrt durch die hügelige Landschaft. Der Ort war etwas abgelegen, doch gerade diese Einsamkeit gefiel mir sehr, und so genoss ich jedes Mal das ruhige Wochenende. Manchmal kamen noch andere Leute bei Margot’s auf Besuch und bereicherten den Abend mit Gesprächen oder einem Kartenspiel. Bei anderen Gelegenheiten kamen Theo und Alice auch nach Kigali und besuchten uns dann auf dem Hügel oder wir trafen uns bei Elisabeth und Rosmarie in der Stadt. Über die Ostertage im März 1967 hatten Theo und Alice eine Reise nach Burundi geplant. Ganz unerwartet fragten sie mich, ob ich mitfahren möchte. Natürlich sagte ich sofort zu. Die Reise ging zuerst von Kigali über alle möglichen Hügel nach Butare und dann weiter nach Bujumbura am Tanganjikasee, dem zweitgrössten See Afrikas. Von dort machten wir verschiedene Ausflüge und natürlich auch nach Ujiji, wo ein Gedenkstein an das Zusammentreffen der beiden Entdecker Schwarzafrikas, Livingstone und Standley, am 10. November 1871, erinnert. Beide hatten ja die Quelle des Nils gesucht, und dies hatten wir nun auf unsere Weise auch gemacht.
(5) Der Gedenkstein für die beiden Afrikaforscher Stanley und Livingstone die sich am 10. November 1871 mitten in Afrika getroffen haben
Dann besuchten wir das „Collège Saint Esprit“, eine riesige, moderne Schulanlage nach europäischem Muster, ein Projekt von dem man nur träumen konnte. Beim Gedanken an unsere Schule auf dem „Murabaturo“ fühlte ich mich plötzlich wie ein hoffnungsloser Anfänger aus der Steinzeit. Bujumbura schien Kigali Jahrzehnte voraus zu sein. Es gab moderne Gebäude und sogar ein ansehnliches Hotel, das von Griechen geführt wurde. Aber dann wollten wir weiter über kongolesisches Gebiet durch das Rusizi Delta nach Bukavu. Doch als wir zur Rusizi Brücke kamen sahen wir, dass sie irgendwann gesprengt worden war und die Teile seither im Fluss lagen, eine Überquerung also unmöglich. Wir mussten umkehren und zurück nach Bujumbura fahren. Schade nur, dass uns dies niemand vorhergesagt hatte. Dafür entdeckten wir in diesem Delta unzählige Rugos, die traditionelle Behausung der Völkergruppe Tutsi. Wahrscheinlich waren es Tutsis die aus Rwanda geflohen waren und nun dort wohnten, denn die Gegend schien aus einer anderen Zeit und in krassem Kontrast zum modernen Bujumbura. Und so nahmen wir halt den Weg durch burundisches Gebiet nach Bukavu-Cyangugu-Butare und zurück nach Kigali. Es war eine Reise, die nicht nur interessant war, sondern mir auch erlaubte die Entwicklung der beiden Länder aus einer neuen Perspektive zu sehen.
(6) Rugos, die Behausung der lokalen Bevölkerung, so auch meiner Nachbarn.
In Remera wohnte auch Schwester Klara Gut aus dem Kanton Zürich. Sie war eine äusserst pragmatische Missionarin und hatte mit Spenden aus der Schweiz ein „Dispensaire“ errichtet, das am 15. Juli 1967 eingeweiht wurde. Es war ein kleines Gebäude, in dem sie ambulante Behandlungen vornehmen konnte. Die Patienten schätzten sie sehr und so war der Zulauf immer gross. Dabei fiel ihr auf, dass sehr viele Kleinkinder nach der Geburt oder dann beim Abbruch der Muttermilch und Übergang auf die normale Nahrung, starben. Sie hatte darum den Wunsch dem „Dispensaire“ noch eine „Maternité“ oder Entbindungsstation anzufügen. Bei einem der vielen Besuchen bat sie mich um technische Hilfe und Beratung bei der Definition der nötigen Einrichtungen. Ich erstellte eine Liste von den nötigen sanitären Apparaten, die ich für sie nach meiner Rückkehr in der Schweiz bestellte.
(7) Schwester Klara bei der Einweihung des neuen Dispensaires am 15.7.1967
Remera war auch ein Ort wo geheiratet wurde, so auch am 13. August 1966 einer unserer Schreiner und Gewerkschafter Higiro Philippe. Er wohnte ziemlich weit entfernt von Remera irgendwo einsam in der Natur, wo man sein Heim nur zu Fuss erreichen konnte. Natürlich wurde seine Hochzeit durch die Teilnahme von „Umusungus“ zu einem Grossereignis und bald wurden wir von einer so grossen Masse von Leuten begleitet, dass es für uns fast beängstigend wurde. Aber der Marsch hatte sich gelohnt, denn eine eindrücklichere, afrikanische Hochzeit habe ich nachher nie mehr erlebt. Zuerst traf man sich in der Kirche, einem sehr einfachen Gebäude, das gar nicht nach einem religiösen Ort aussah. Nach der kirchlichen Trauung ging man zusammen mit dem Brautpaar, wieder in einer riesigen Masse von Leuten, zu ihrem Heim. Higiro besass zu meiner Überraschung bereits ein solides, rechteckiges Haus, also keinen Rugo (Strohhaus) mehr, und das Dach war mit Ziegeln bedeckt. Nachdem all die vielen geladenen Gäste eingetroffen waren, hörte man von weitem Trommelschlag der immer näher kam. Dies entfachte in mir eine berauschende Stimmung in der ich mich ganz intensiv in Afrika fühlte. Wir fragten uns, wer wohl aus dem Busch erscheinen würde. Es war die Familie der Braut, die in Begleitung von Trommlern ankam. Wie es an solchen Anlässen üblich war, wurde den Gästen Bananen- und Hirsebier angeboten. Dieses Bier wurde mit einem Bambusröhrchen aus einer Kalebasse (ausgehöhlter und getrockneter Kürbis) getrunken. Eigentlich war ich überrascht, dass Maurice und ich zu dieser Hochzeit eingeladen waren. Auf der Baustelle war Philippe immer sehr wortkarg gewesen, und man wusste nie genau was er dachte. Es war allerdings bekannt, dass er von den Arbeitern gefürchtet war und sehr viel Autorität hatte. Bis die zivile Hochzeitszeremonie beendet war, sassen wir geduldig während Stunden unter einer Art Pergola, die mit Eukalyptus-Ästen überdeckt war. Während dieser langen Zeit überlegte ich mir, wie ich an seiner Stelle meinen Lebensstandard verbessern könnte. Da er scheinbar einen grossen Landbesitz hatte, fragte ich ihn etwas später was seine Frau während seiner wöchentlichen Abwesenheit in Kigali mache? Er sagte, sie würde einfach den Haushalt besorgen. Da sie nach meiner Meinung damit ziemlich unterbeschäftigt war, schlug ich ihm vor, seine Frau während der Zeit bis zum ersten Kind zu motivieren, etwas mehr als nur für die Selbstversorgung anzupflanzen. Die zusätzlichen Bohnen, Kartoffeln, Erdnüsse, etc. könnten dann auf dem Markt verkauft werden und mit dem Erlös andere Sachen angeschafft werden. Doch er winkte sofort ab. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihn mit meiner provokativen Anregung in seinem Stolz verletzt hatte. Trotzdem hakte ich noch ein bisschen nach und sagte, dass er sich mit dem Erlös auf dem Markt vielleicht ein Metalldach leisten könnte, ein Dach das bei Regen dicht war. Damit beendete ich meine gut gemeinte Ermunterung und liess ihn in Ruhe darüber nachdenken.
(8) Hochzeit von Higiro Philipe in Remera
Als ich nach drei Jahren nochmals zu einem Einsatz auf die Baustelle gerufen wurde, traf ich Higiro Philippe wie immer in der Schreinerei. Sofort lud er mich zu sich nach Hause ein. Doch leider konnte ich mir zu dieser Zeit keine Reise nach Remera erlauben und entschuldigte mich für meine Absage. Doch da überraschte er mich erneut, denn er sagte mir, dass er nun ganz in der Nähe des Hügels wohne und dass wir uns doch nach dem Feierabend bei ihm zu Hause treffen könnten! Diesmal konnte ich seine Einladung nicht ausschlagen und liess mir noch am selben Abend den Weg zu Philippe’s neuem Zuhause zeigen. Er wohnte wirklich sehr nahe beim „Maison Suisse“ und hatte nun ein schönes Haus mit Fenstern und Wellblechdach. Das Haus befand sich mitten in einem grossen Bananenhain. In einem Nebengebäude hatte er mit der Herstellung von Bananen- und Hirsebier begonnen. Er gestand, dass er mit der neuen Tätigkeit gutes Geld verdiene. Dabei unterstrich er, dass dieser Fortschritt nur mir alleine zu verdanken sei. Er hätte meinen Rat damals überdacht und ihn mit seiner Frau besprochen. Sie war scheinbar sofort einverstanden und so verkauften sie schon bald einen Teil der Ernte, die nicht für den Eigengebrauch nötig war, auf dem Markt. Mit dem Erlös wurde ein Arbeiter eingestellt, mit dem es möglich wurde noch eine grössere Fläche zu nutzen. Das generierte schliesslich genügend Geld, um sich in Kigali ein Stück Land neben dem Hügel zu erwerben und mit einer zusätzlichen Tätigkeit zu beginnen. In drei Jahren war er zu einem angesehenen Mann geworden. Ohne sich scheinbar bewusst zu sein, hatte er sich aus eigener Kraft von einem Gewerkschafter in einen Kapitalisten verwandelt. Ich wusste erst nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Aber dann erkannte ich in dieser Entwicklung die Bestätigung, dass man mit viel Dialog mehr erreichen kann als mit gutgemeintem Verteilen von Geld. Aber natürlich funktioniert so etwas nur, wenn der Wille auf beiden Seiten dazu vorhanden ist. Noch Jahre danach blieben wir in schriftlichem Kontakt. Danach hörten wir nichts mehr von einander. Im Jahre 1994, als der zweite Völkermord in Rwanda losging, machte ich mir Sorgen um ihn und seine Familie. Gleichzeitig wurde mir bewusst wie solch schreckliche Ereignisse den jahrelangen Einsatz von Entwicklungshelfern von einem Tag auf den anderen wertlos machen können.
(9) Hochzeit von Martin Hinderling und France Vivien
In der gleichen einfachen Kirche in Remera heirateten am 17. September 1966 auch unser Bauleiter Martin Hinderling und seine Braut France Vivien. Und wieder waren viele einheimische Schaulustige anwesend, die dem Brautpaar Spalier standen. Danach gab es in der Schule von Remera einen Empfang, zu dem auch alle Freiwilligen im Lande eingeladen waren. Nachdem sich zwölf davon und der „Team Götti“, Herr O. Hafner, angemeldet hatten, wurde die Hochzeit gleichzeitig zu einem der ersten Freiwilligentreffen. Die anderen Freiwilligen endlich wieder einmal zu treffen war ein Ereignis und so gab es viel zu erzählen. Ein weiteres Treffen der Freiwilligen wurde später in Kibuye organisiert. Dabei besuchten wir die Landwirtschaftliche Schule der Schweizerischen Entwicklungshilfe und die Familie Speich. Sie hatten das Glück in einem wunderschönen Haus direkt am Kivu-See zu wohnen. Er war Förster und hatte die Aufgabe, die trostlos abgeholzte Gegend wieder aufzuforsten. Sie hatten für uns eine Schifffahrt zur „Ile des frères“ organisiert, eine einsame Insel im Kivu-See wo sich ein paar Mönche von der Welt isoliert aufhielten. Etwas verwundert fragte ich mich, was Rwanda von ihrer Lebensweise wohl von Nutzen sein könnte? An diesem Freiwilligen-Wochenende war auch unser neuer „Team Götti“, Herr Max Joss, dabei. Seit seiner Ankunft in Rwanda hatten wir jemand, bei dem man zu jeder Zeit sein Herz ausschütten konnte. Er lud uns sehr oft zum Nachtessen in seiner Residenz ein. Leider schlief er meistens schon bei der Hauptspeise ein und brachte uns dabei immer in eine peinliche Situation. Aber meistens half ein „Hustenanfall“ und er war wieder mit uns!

a) Auf Elefantenpfaden zum Nyiragongo
Im Osten der heutigen Demokratischen Republik Kongo und Rwanda gibt es verschiedene Vulkane die noch heute aktiv sind. Die meisten befinden sich in der Nähe vom Kivu-See im damaligen „Parc National Albert“, der heute „Virunga-Nationalpark“ heisst. Um die hier lebenden Berg-Gorillas vor Wilderei zu schützen wurde bereits 1925 ein kleines Gebiet um Karisimbi, Visoke und Mikeno als Nationalpark erklärt und wurde so zum ersten Nationalpark Afrikas. Im Jahre 1929 wurde der Park durch die Kolonialmacht Belgien um weitere Gebiete in der Gegend vom damaligen „Ruanda-Urundi“ und im Belgisch Kongo erweitert.
Einer der bekanntesten und gefährlichsten Vulkane in dieser Gegend ist der berühmte, 3470 Meter hohe Nyiragongo. In seinem Krater befindet sich der einzige Lavasee der Welt. Im Jahre 1948 gelang es dem berühmten französischen Vulkanologe Haroun Tazieff als Erster bei einer Expedition zweihundert Meter tief in den Krater hinunterzusteigen. Dann wurden aus Sicherheitsgründen während zehn Jahren sämtliche Expeditionen untersagt. Natürlich hatten auch wir in Kigali von dem aussergewöhnlichen Vulkan und dem berühmten Vulkanologen gehört. Eines Tages hatte deshalb jemand in unserem Bauteam die Idee, in diese Gegend zu fahren und wenn möglich den Vulkan zu besteigen. Es brauchte nicht lange um alle dafür zu begeistern und so beschlossen wir, zusammen mit unserem Architekt Urs Hettich, ein paar Tage frei zu nehmen um dieses Abenteuer zu wagen.
Noch bei Dunkelheit verliessen wir am 1. Oktober Kigali. Wir hatten alles sehr gut vorbereitet, hatten die Reiseroute studiert und die entsprechende Bekleidung, Proviant und Apotheke samt Schlangenserum und Injektionsmaterial im Gepäck. Unser Tagesziel war Kakomero im Kongo. Als der Tag mit einem bezaubernden Sonnenaufgang erwachte, hatten wir Kigali und die chinesischen Reisfelder längst hinter uns gelassen. Es war noch ziemlich frisch und über den Sümpfen lag ein leichter Nebel. Fröstelnd in Tücher gehüllt und mit riesigen Lasten auf den Köpfen kamen uns auf der Strasse die ersten Händler entgegen. Aus entlegenen Gegenden brachten sie ihre Güter auf den nächsten Markt oder nach Kigali. Nach fünf Stunden hatten wir bereits drei Pannen gehabt und unzählige Hügel überwunden. Unsere zwei Autos rollten nun auf schwarzem, äusserst hartem Vulkangestein. Die Vulkane konnten also nicht mehr weit entfernt sein. Bevor sich die Strasse nach Kisenyi hinunterschlängelt, hatten wir plötzlich freien Blick hinüber in den Kongo und damit auch den gigantischen Nyiragongo vor uns. Das Wetter war ausgezeichnet und nur über seinem Kraterrand schwebte ein leichter Dunst. Es war ein gewaltiger Anblick.
An der Kongolesischen Grenze hatten wir dank der vorher eingeholten Visa keine Schwierigkeiten und so ging die Reise sofort weiter. Die Felder mit Bananenbäumen wurden immer seltener, und als wir den Nyiragongo auf unserer rechten Seite hatten, tangierten wir bereits den dichten Regenwald des „Parc Albert“, dessen Vegetation sich damals bis fast an den Kraterrand wagte. In Kakomero fanden wir den „poste de garde“ nur durch mühsames Fragen. Hier teilte man uns mit, dass wir zuerst eine offizielle Bewilligung des Parkes in Rumangabo einholen müssten. Rumangabo liegt etwas erhöht von wo man eine traumhafte Aussicht über die Wildnis von Rugeri hat. Dort wurden wir sehr freundlich empfangen und konnten sofort eine riesige Villa mit wunderschönem Garten beziehen. Der erste Eindruck war etwas verwirrend, denn Möbel, Geschirr, Bücher und das ganze Inventar schienen unberührt seitdem der weisse Besitzer einst abgereist oder verjagt worden war. Irgendwie war uns das Haus unheimlich, denn es musste ja einen Grund geben weshalb die schöne Villa nicht schon längst geplündert worden war. Gab es da wohl böse Geister die in der Villa wohnten und vor denen die Einheimischen Angst hatten? Zudem mussten wir bald feststellten, dass im Bad kein Wasser lief und am Abend trotz elektrischer Installation das Haus mit Taschenlampen und Kerzen beleuchtet werden musste. Da wir gar keine andere Wahl hatten, als in diesem Haus zu übernachten, waren unsere Bedenken bald vergessen. Wir zogen es vor draussen im Garten zu sitzen und die Natur zu beobachten. Mit einem goldenen Abendlicht über dem Urwald ging der Tag ganz langsam zu Ende. Während kurzer Zeit spielte noch eine ganze Affenfamilie mit viel Geschrei vor dem Hause. Dann erhellte bald ein wunderbarer Vollmond die Nacht und es wurde still um uns herum. Vögel und Grillen schienen alle bereits zu schlafen. Schwarz und mächtig ragte nun die Silhouette des eigenförmigen Vulkans Mikeno in den klaren Afrikahimmel. Es hätte ein Hochgebirge irgendwo in der Schweiz sein können. In der Tiefe lag friedlich die Ebene von Rugeri wo das klare Mondlicht die Baumkronen der Wildnis erkennen liess. Ohne von elektrischem Licht gestört, betrachteten wir den wunderbaren Sternenhimmel und liessen die Stimmung der geheimnisvollen Nacht im Urwald auf uns einwirken. Es war ein unbeschreibliches und unvergessliches Erlebnis, das unter die Haut ging. Wahrscheinlich waren die Geister von unserem Glück so beeindruckt, dass sie uns die ganze Nacht in Ruhe liessen und uns einen tiefen, gesunden Schlaf gönnten.
(1) Auf dem Weg über das messerscharfe Lavagestein. Im Hintergrund der Vulkan Nyiragongo.
Um sieben Uhr morgens waren wir bereits wieder in Kakomero, wo Träger und Guide bereits startbereit waren. Die ersten drei Kilometer, das heisst bis zum grossen Lavafeld vom Ausbruch im Jahre 1954, legten wir mit dem Auto zurück. Hier wurden dann die Lasten verteilt und die Rucksäcke bereit gemacht. Der Morgen war frisch, hell und überall lag ein glitzernder Tau. Der Guide, ein kräftiger Kongolese, gab uns das Zeichen zum Abmarsch. Er hatte die Beine mit Wadenbinden eingewickelt so wie wir es vom Militärdienst gewohnt waren. Zudem war er mit einem Speer und einer Machete bewaffnet. Er übernahm die Spitze der Kolonne die aus Urs Hettich, Elisabeth Müller, Maurice Pasquier, André Luc und mir bestand. Dann folgten die Träger, die unseren Proviant und die restliche Ausrüstung schleppten. Schon bald waren wir auf einem riesigen Feld von Lava, wo uns ein Meer von schwarzen Steinen umgab. Sie waren anfangs noch teilweise mit grauem Moos überwachsen, was den Eindruck einer Mondlandschaft erweckte. Zum Glück hatten wir den Guide, der uns den Weg durch das messerscharfe Lavagestein zeigte. Ein falscher Schritt und man hätte sich daran ganz schön verletzen können. Jetzt wurde mir klar wieso er Wadenbinden angezogen hatte. Um halb neun machten wir auf einer grünen Wiese über einem mit Wasser gefüllten Krater den ersten Halt. Der Guide erklärte uns, dass hier früh morgens und abends Elefanten zur Tränke kämen. Auf einem anderen Lavafeld, das an einen Ausbruch im Jahre 1938 erinnerte, ging es dann weiter. Hier hatte sich bereits eine üppige Vegetation über der Lava etabliert. Riesige umgefallene Bäume versperrten den Weg und dichtes Blätterwerk machte den Weg oft unerkenntlich. Oft musste der Guide mit seiner Machete den Weg durch das Gestrüpp frei schlagen. Hier wäre es ohne Guide noch gefährlicher gewesen, denn man sah die darunterliegende harte Lava kaum mehr und hätte stürzen können. Bald folgten wir nur noch den Elefantenpfaden. Ein Wind brachte dauernd ein Rauschen in die Blätter, sodass man glaubte nächstens an einem Bach zu sein. Zwischendurch summten ganze Grillenvölker wie eine Hochspannungsleitung. Auf einer leicht besonnten Grasfläche stand plötzlich eine junge Gazelle. Aber wir konnten sie nur kurz beobachten, denn mit dem Knacken eines Astes verschwand sie mit eleganten Sprüngen im nächsten Dickdicht der Baumzweige. Beim Weitermarsch wurde der Kot von Elefanten auf dem Weg immer häufiger und plötzlich standen wir ungefähr dreissig Meter vor einer Elefantengruppe. Gemütlich und ungestört spazierte eine Elefantenmutter mit ihrem Jungen vor uns vorbei. Der Guide entschied sich umzukehren und einen Umweg zu machen. Aber es hatte überall Elefanten! Schliesslich versuchten wir links durchs Dickicht an ihnen vorbei zu schleichen. Diesmal hatten wir Glück. Gegen 11 Uhr mittags erreichten wir den „Gite de Gitege“ wo wir eine Mittagsrast einschalteten. Wir packten unser Picknick aus und tranken durstig das Wasser das wir mitgenommen hatten. Als ich den Rest einer Mandarine in den Mund stecken wollte, riss mich plötzlich ein Träger auf. Dabei schrie er: „Inzoka!“ was Schlange bedeutet. Tatsächlich hatte sich eine Schlange hinter mir unter die Decke, auf der ich sass geschlichen. Sofort begann ein blutiges Massaker und bald lag das giftige Tier in verschiedenen Stücken am Boden. Wieder einmal hatte mich mein Schutzengel beschützt!
Nach der Mittagspause führte der Weg erneut eine halbe Stunde über ein offenes Lavafeld vom Ausbruch im Jahre 1954. Der schwierige Pfad und das spitze Lavagestein verlangte hier wirklich nur gutes Schuhwerk. Zudem war es sehr heiss und überall lagen Knochen von Büffeln und Gazellen, ein Anblick der nicht trostloser hätte sein können. Doch wenn man den Blick vom Boden in die Ferne schweifen liess, sah man das mächtige Massiv von Nyiragongo und Baruta vor uns. Zum Glück ging der Weg dann bald im Schatten üppiger Vegetation weiter. Aber hier begann erst der eigentliche Aufstieg. Der Pfad windet sich zuerst mit 15° und später mit 32° Steigung auf die Flanke des Baruta, um schliesslich auf 3140 Metern im Sattel zwischen Baruta und Nyiragongo bei den Hütten zu enden.
Aber von hier ging es dann weiter und je höher wir stiegen, desto prächtiger wurde die Aussicht. Nach etwas mehr als einer Stunde erreichten wir den Krater des Baruta, wo man mit viel Glück Elefanten und Büffel sehen kann. Doch für uns gaben sie diesmal kein Stelldichein und so stiegen wir weiter auf der Flanke bis auf die Krete. Immer mehr konnte man nun auch den Kegel des Nyiragongo erkennen und bald stand er in seiner ganzen Pracht vor uns. Wir stiegen in den Sattel hinunter wo wir bei zwei Aluminium-Hütten eine erfrischende Quelle fanden. Die Träger machten sofort ein Feuer und wir begannen eine währschafte Suppe zu kochen. Die Nacht brach wie gewöhnlich sehr früh und schnell ein. Vor uns hatten wir nun die Silhouetten des Mikeno und des Karisimbi. Die Kälte trieb uns aber bald in die von Kerzenlicht erhellte Hütte, wo wir ziemlich erschöpft sofort in unseren warmen Schlafsäcken verschwanden.
Schon um fünf Uhr weckte uns der Guide, und nach einem schnellen Frühstück waren wir schon wieder auf den schmalen Elefantenpfaden unterwegs. Es war noch sehr frisch und die aufgehende Sonne vermochte uns mit ihren schwachen Strahlen nur wenig zu erwärmen. Erst als wir den Sattelboden erreicht hatten und den Kraterhang mit 32° Gefälle in Angriff nahmen, begannen sich unsere Schweissdrüsen wieder zu melden. Nach einer Stunde hatten wir den Kraterrand erreicht, doch auf den letzten fünfhundert Metern war der Aufstieg wegen des losen, leicht rutschenden Lava-Kieses äusserst mühsam. Aber einmal oben auf dem Kraterrand war die Anstrengung sofort vergessen.
(2) Auf dem Kraterrand des Nyiragongo auf 3’470 M.ü.M.
Man erklimmt einen Vulkan und steht plötzlich total überwältigt vor einem gähnenden und tosenden Abgrund wo man ganz unten den Eingang zur Hölle vermuten könnte. Der Krater hat einen Durchmesser von 1200 Meter und ein Gefälle im Innern von 75°. 170 Meter tiefer befand sich damals ein terrassenförmiges Plateau mit einem zweiten Krater, der einen Durchmesser von 680 Meter hatte. Von hier ging es nochmals 180 Meter in die Tiefe zum Lavasee. Damals war der See mit einer Kruste bedeckt durch dessen Risse man die rote, flüssige Lava sehen konnte. In regelmässigen Abständen zischte und toste es in der Tiefe so laut, dass man glaubte eine Weltraumrakete würde starten. Nachher stiegen jeweils grosse Schwefelschwaden in die Höhe.
(3) Blick in den Krater des Nyiragongo
Wir konnten uns an diesem grandiosen Naturspektakel kaum satt sehen. Und wenn man sich umdrehte, dann hatte man die riesige Ebene mit den unzähligen grossen und kleinen Vulkanen vor sich. Die meisten waren schon längst erloschen und man sah nur noch ihre Konturen sich reliefartig aus dem Urwald erheben. Man sah aber auch welche Ausmasse ein Ausbruch haben kann und wo die Lava das letzte Mal hingeflossen war. Trotz dem Drängen des Guides nahmen wir den Abstieg erst nach einer Stunde intensiver Bewunderung unter die Füsse. Es wäre zu schade gewesen einen so imposanten Ort nicht gebührend zu geniessen. Nach einer guten halben Stunde waren wir wieder bei den Aluminium-Hütten und die Träger bereits fertig zum Weitermarsch. Der Abstieg ging natürlich viel leichter, und so waren wir in halber Zeit wieder in der Ebene und auf dem trostlosen Lavafeld. Zum Glück hatte der Guide beim Aufstieg an den Bäumen Kerben geschlagen. Dies erlaubte uns sicher den gleichen Weg zurück durch den Urwald zu nehmen. Noch einmal sahen wir Gazellen, noch einmal hörten wir den ohrenbetäubenden Lärm der Grillen und noch einmal genossen wir die Wildheit dieser Gegend. Als wir dann am späten Nachmittag das letzte Lavafeld überquerten und nochmals einen Blick auf den schon in der Ferne liegenden Nyiragongo warfen, waren wir alle zufrieden. Wir waren beglückt von all den mannigfaltigen Eindrücken und zufrieden mit uns selbst. Schon ein Jahr später wurde die Umgebung vom Nyiragongo unruhig und es gab spektakuläre Ausbrüche. Im Jahre 1977 forderte dann ein grosser Ausbruch des Vulkans vermutlich bis zu 600 Menschenleben. Über eine Million Menschen leben seither in ständiger Gefahr. Der Nyiragongo ist deshalb einer der gefährlichsten Vulkane geblieben.
Nach dieser Expedition gewährten wir uns einen Tag Ruhe am Strand von Gisenyi am Kivusee. Alle Schweizer logierten damals bei Frau Schlosser im Hotel „Edelweiss“. Jedes Mal erzählte uns die Innerschweizerin interessante Geschichten. Da Gisenyi an der Grenze zum Kongo liegt, hatte sie oft illustre Gäste aus beiden Ländern. Manchmal trafen sich bei ihr heimlich auch Politiker und Rebellen aus verschiedenen Lagern. Das war oft sehr heikel für sie, aber irgendwie schaffte es die schlaue Frau, immer die Situation unter Kontrolle zu haben. Sie war eine bodenständige und tapfere Schweizerin die seit Jahren am Kivusee lebte, aber immer davon träumte einmal in Vitznau ihren Lebensabend geniessen zu dürfen.
b) Die Besteigung des Kilimanjaro
Nach der Besteigung des Nyiragongo entstand ein starkes Interesse für Vulkane und so begannen Maurice und ich vom Kilimanjaro zu träumen. Manchmal trafen wir Leute die bereits diesen Vulkan bestiegen hatten und erhielten so wichtige Informationen. Bald wurde unsere Idee zu einem realen Projekt und wir begannen Bekannte zu begeistern. Da wir nicht mobil waren, sollte es womöglich jemand sein, der ein eigenes, fahrtüchtiges Fahrzeug besass. Eric Vogt, der für eine Handelsfirma arbeitete, war schnell begeistert und sagte zu. Durch einen Zufall erfuhren auch Herr und Frau Cianella, ein Ehepaar aus dem Tessin, von unserem Vorhaben. Zuerst zögerten sie bei einem solchen Abenteuer mitzumachen, aber dann sagten auch sie zu. Sie waren auch einverstanden, dass wir alle zusammen in ihrem grossen, neuen Auto die Reise unternahmen.
(4) Die Bahnstation "EQUATOR" auf der Strecke zwischen Eldoret und Nakuru.
Am 15. Dezember 1966 war es dann soweit und das Abenteuer konnte beginnen. Zuerst fuhren wir bis nach Kampala in Uganda und dann weiter bis nach Tororo, wo wir im Rock Classic Hotel übernachteten. Am zweiten Tag ging es dann rassig weiter nach Nairobi in Kenya und weiter nach Arusha, Moshi und Marangu am Fusse des Kilimanjaro in Tansania, wo wir im berühmten Kibo Hotel übernachteten. Das im Kolonialstil erbaute Hotel stammte aus dem Jahre 1911, also aus der Zeit als Tansania noch Tanganjika hiess und noch eine deutsche Kolonie war. Wir waren überrascht als wir feststellten, dass das Hotel immer noch von einem Deutschen Ehepaar geführt wurde. Das Hotel war seit Jahren der Ausgangspunkt für die Besteigung des Kilimanjaro, und so hatte das Ehepaar längst grosse Erfahrung im Organisieren solcher Expeditionen. Wir waren nicht die einzigen Gäste im Hotel. Einige kamen erst gerade zurück und andere machten sich wie wir bereit für den Aufstieg. Die Besitzerin des Hotels bat noch am selben Abend einen erfahrenen Führer auf, der den Begleittrupp mit Trägern und Koch zusammenstellte. Alles was man zum Aufstieg nicht brauchte blieb im Hotel. Für den Aufstieg trugen wir selbst nur die persönliche Ausrüstung wie Fotoapparat, Regenschutz, Sonnenschutz, etc., alles andere wurde in Säcke gepackt und dann von den Trägern transportiert.
(5) Unsere Träger die uns fünf Tage begleiteten und für Uebernachtung und Verpflegung sorgten.
Aufstieg Tag 1
Am nächsten Morgen wurden die administrativen Formalitäten erledigt und die Gebühren für die Exkursion beglichen. Als Freiwillige hatten wir Anrecht auf einen kleinen Rabatt auf das Gesamt-Arrangement. Als wir startbereit waren, erschien die Besitzerin des Hotels und gab uns wie eine gute Mutter noch die letzten Ratschläge. Dann überreichte die scheinbar furchtlose Frau jedem einen Stock. Alle lachten und erwiderten ihr, dass wir jungen, kräftige Schweizer seien und ihre Stöcke nicht nötig hätten. Doch sie insistierte und sagte wir sollten uns nicht überschätzen. Beeindruckt von ihrer Überzeugungskraft und Erfahrung beugten wir uns schliesslich ihrem Ratschlag. Sie und ihr Ehemann schüttelten uns dann die Hand und wünschten uns viel Erfolg. Es war eine kurze aber eindrückliche Zeremonie.
Vom Hotel ging es erst durch Bananenhaine und dann durch eine dicht besiedelte Gegend ziemlich rassig aufwärts. Bald hatten wir die Siedlungen hinter uns und marschierten auf einer Strasse durch einen Föhrenwald. Mit dem wunderbaren Duft von Tannen und Föhren hatten wir bald das Gefühl in der Schweiz auf einer Alp zu sein. Der Weg führte immer weiter hinauf bis auf eine Anhöhe von wo man eine wunderbare Aussicht auf die unter uns liegende, grosse Ebene hatte. Hier auf ungefähr 2’727 Meter Höhe befand sich unsere erste Unterkunft: die soliden, aus Stein gebauten Mandara-Hütten. Drinnen hatte es sogar Betten, doch da es keine Bettwäsche gab, schliefen wir in unseren Schlafsäcken. Die Hütten waren mit 38 Berggängern ziemlich stark besetzt. Nach dem Nachtessen, das der Koch zubereitet hatte, zogen wir uns schon um sieben Uhr in unsere Schlafsäcke zurück. Mit der herrlichen Bergluft und der Ruhe genossen wir „ä gsundä tüfä Schlof“.
(6) Mandara Hütte auf 2700 Meter über Meer
Aufstieg Tag 2
Wie im Hotel Kibo brachte uns der „Boy“ nach britischer Teekultur punkt sieben Uhr den „early morning tea“ ans Bett; ein unglaublicher Luxus in dieser Umgebung! Nach einem „währschaften“ Morgenessen machten wir uns gegen neun Uhr wieder auf den Weg. Anfangs ging es durch eine prächtige Landschaft mit faszinierender Pflanzenwelt. Besonders die etwa 80 cm hohen, intensiv roten Raketenblumen und die Riesen-Senezien dominierten das Grasland. Da der Weg nicht sehr anspruchsvoll war, begannen Maurice und Eric etwas schneller zu gehen. Cianella und ich blieben zurück und liessen uns nicht aus der Ruhe bringen. Schliesslich hatte man uns im Hotel gesagt, dass der Körper für die Akklimatisierung Zeit brauche. Dies war ja auch der Grund wieso man den grossen Höhenunterschied langsam und schrittweise während mindestens drei Tagen überwinden sollte. Nach etwa einer Stunde wurde der Weg beschwerlicher und steiler. Während den folgenden zwei Stunden ging es dann stetig bergauf bis wir auf eine Art Heide kamen, von wo man das erste Mal den Kilimanjaro sehen konnte. Früher, von 1902 bis 1964, wurde dieser Vulkan „Kaiser-Wilhelm-Spitze“ oder „Wilhelmskuppe“ genannt.
(7) Das erste Mal den Kilimanjaro vor den Augen.
Jetzt war es nicht mehr weit zu den Horombo-Hütten auf ungefähr 3’780 Meter über Meer. Diese Unterkünfte waren weniger komfortabel und bestanden hauptsächlich aus Wellblech, was aber auf unsere Verpflegung und Betreuung keinen Einfluss hatte. Auch hier waren wir nicht alleine, und so interessierten uns vor allem die Erfahrungen der Rückkehrer. Ganz in der Nähe der Hütten floss ein hübscher Bach vorbei, wo man sich waschen konnte. Allerdings wurde es nach Sonnenuntergang empfindlich kalt, und so waren wir schon um halb sieben Uhr in unseren Schlafsäcken.
(8) Horombo Hütten auf 3800 Meter über Meer
Aufstieg Tag 3
Um 06.00 Uhr morgens sah ich Licht durch die Dachritzen scheinen. Während alle noch schliefen, stand ich auf und ging ins Freie. Es war immer noch sehr kalt zu dieser Zeit. Bald folgte mir ein Deutscher, der auch als Freiwilliger in Afrika arbeitete. Zusammen ergötzten wir uns am wunderbaren Morgenlicht und dann am spektakulären Sonnenaufgang. Nachdem wir Fotos gemacht hatten, kehrten wir nochmals in unsere warmen Schlafsäcke zurück. Um 07.00 Uhr erwachten wir dann ein zweites Mal, dieses Mal als der traditionelle „early morning tea“ serviert wurde. Nach dem Frühstück gingen einige Bergsteiger abwärts und die anderen nahmen den weiteren Aufstieg unter die Füsse. Unser Viererteam startete um halb neun Uhr. Während der ersten 1½ Stunden ging es ziemlich steil und deshalb langsam aufwärts. Nach diesem Aufstieg hatten wir die eindrückliche Kibo-Wüste vor uns. Es war eine riesige, karge Ebene, die eher einer Mondlandschaft glich und wo sich im Hintergrund der Kilimanjaro majestätisch in den Himmel erhob. Es war kalt und wir waren froh warme Jacken zu haben. Bei der Überquerung dieser enormen Fläche unterschätzten wir den nötigen Zeit- und Kraftaufwand. Immer glaubte man am Ziel zu sein, doch immer ging der Weg noch weiter. Zudem spürte man nun immer mehr die Höhe, und so wurden vor allem die letzten 30 Minuten sehr anstrengend. Nach zwei Stunden hatten wir die Überquerung hinter uns und die Kibo-Hütte auf 4’700 Meter über Meer erreicht. Maurice und Eric waren wieder schneller gelaufen und etwas früher angekommen. Aber da die „Übernächtler“ vom Vortag noch immer da waren, konnten wir das Nachtlager nicht sofort beziehen und mussten draussen in der Kälte warten. Als es dann soweit war, verschwanden wir alle sofort in unseren warmen Schlafsäcken. Gleichzeitig beklagten sich plötzlich alle über Kopfweh. Bei der kleinsten Anstrengung hatten wir einen hohen Puls und einen schmerzhaften Druck im Kopf. Ja die Höhe machte uns zu schaffen. Schon um 17.30 Uhr wurde das Nachtessen aufgetischt, das aber nur aus einer Suppe, einem Stück Brot, einer Birne und Tee bestand. Um 18.00 wünschte uns der Guide „Gute Nacht“ und wir verschwanden erneut in den Schlafsäcken. Vielen Gipfelstürmern war es übel, so auch Maurice. Dann wurde auch mir sterbenselend und ich glaubte, während der ganzen Nacht erbrechen zu müssen. Natürlich war damit ein guter Schlaf ausgeschlossen und so verbrachten wir die Nacht eher mit einem leichten Dösen.
(9) Kibo Hütte 4800 Meter über Meer
Aufstieg Tag 4 (20. Dezember)
Um 01.30 Uhr war bereits wieder Tagwache und wir bekamen einen heissen Tee mit sinnigerweise Weihnachts-Gebäck! Ich fühlte mich hundsmiserabel und begann zu zweifeln, ob ich in diesem Zustand für die letzte Etappe überhaupt noch fähig wäre. Aber mein Wille überwog, und so schloss ich mich um 02.00 Uhr trotz allem den anderen an. Unser Guide ging mit einer Laterne voraus und sein Gehilfe folgte am Schluss unserer Gruppe auch mit einer Laterne. Zuerst war der Anstieg eher sanft und wir machten erst nach einer Stunde Marsch einen kurzen Halt. Nachher aber begann der steile Aufstieg und die Pausen wurden immer häufiger. Eine Gruppe war etwas früher losgezogen, und nun sahen wir ihre Laternen hoch über uns. Dieser Anblick machte uns klar, dass wir noch lange nicht am Ziel waren. Nur gut, dass wir in der Nacht aufstiegen und nicht sahen, was uns alles noch bevorstand! Hinter uns kam noch eine weitere Gruppe und so gingen wir einfach weiter. Dabei hatten wir Probleme mit dem Atem, kämpften gegen das Kopfweh und Erbrechen. Auf einmal überkam mich eine heftige Krise. Ich hatte das Gefühl, dass mich neben all den schon bekannten Beschwerden, auch noch meine Gedärme im Stich liessen und ich deshalb aufgeben müsste. Doch irgendwie raffte ich mich wieder zusammen und bald ging es wieder besser. In diesem Moment kam mir die Hotelbesitzerin in den Sinn, denn ohne ihren Stock hätte ich es vielleicht nicht mehr weiter geschafft. Einer Gruppe vor uns ging es nicht besser, sie sassen am Boden und mussten schliesslich aufgeben. Dann kamen wir in eine Geröllhalde, wo man auf dem losen Lava-Schotter mit 2 Schritten vorwärts und einem Schritt rückwärts kaum vorwärtskam. Als es langsam Tag wurde, konnten wir über uns endlich den Gipfel sehen. Das gab uns den nötigen Elan, um nochmals auf die Zähne zu beissen und bis ganz oben durchzuhalten. Erschöpft erreichten wir auf 5’685 Meter Höhe den Gilman’s Point, wo wir mit einem magischen Moment belohnt wurden. Über uns hatten wir einen wunderbaren blauen Himmel, unter uns die Wolken und um uns Eis und Schnee. Nach einer kurzen Rast entschieden wir uns trotz den bisherigen Strapazen auf dem Kraterrand noch bis zum Uhuru Peak auf 5’895 Meter über Meer weiter zu gehen. Obwohl es nun fast ohne Steigung weiterging, war die Wanderung in der dünnen und sehr kalten Luft doch ausserordentlich anstrengend. Darum brauchten wir nochmals 1½ Stunden bis zu diesem zusätzlichen Ziel.
(10) Auf dem Weg zum Uhuru Point auf 6010 Meter über Meer
Aber wir hatten es geschafft, wir befanden uns auf der Spitze des höchsten Berges in Afrika, der auf Swahili „Kibo“ genannt wird!!! Der zusätzliche Aufstieg, obwohl sehr streng, hatte sich aber nicht nur wegen dem Erreichen des höchsten Punktes des Kilimanjaro und den zusätzlichen 210 Höhenmetern gelohnt, sondern wegen der faszinierenden Umgebung, den Eisgebilden und der unglaublichen Aussicht. Allerdings konnte man auf dieser Höhe leichte Koordinations-Störungen nicht leugnen. So behauptete einer der Bergsteiger sein Photoapparat funktioniere nicht mehr. Mir aber schien er einfach so verwirrt, dass er ihn nicht mehr zu bedienen wusste oder dann war der Apparat eingefroren.
(11) Auf dem Gilman’s Point auf 5963 Meter über Meer
Während wir beim Aufstieg für den Höhenunterschied von 1200 Meter fast 7½ Stunden gebraucht hatten, benötigten wir für den Abstieg nur etwa zwei Stunden. Bis zum Gilman’s Point war der Weg noch etwas mühsam, aber nachher konnte man weite Strecken hinunterrutschen oder dann schnell gehen. Wir brauchten keine Pausen mehr und waren gegen elf Uhr wieder bei der Kibo-Hütte. Nach diesem doch grossen und schnellen Höhenwechsel war es mir erneut grauenhaft übel und so legte ich mich für eine halbe Stunde in den Schlafsack. Als dann der „Boy“ das Essen brachte und ich die Speisen roch, wurde der Brechreiz so extrem, dass ich gerade noch Zeit hatte um aus der Hütte zu rennen und mich zu übergeben. Aber nachher war ich erlöst und wieder bereit für den Marsch hinunter zu den Horombo-Hütten. Je tiefer wir kamen, desto wohler fühlte ich mich. Am Abend konnte ich wieder normal essen und den herrlichen Abend geniessen. Ich fühlte mich wieder wohl, fror nicht mehr und schlief nachher die ganze Nacht wie ein Murmeltier. Mit den vielen Stunden Marsch war es wohl der härteste und anspruchvollste Tag der ganzen Expedition gewesen.
Abstieg Tag 5
Nach einem guten Frühstück ging es dann erneut bergab zu den Mandara-Hütten. Auf dieser Strecke begegneten wir vielen Berggängern und Trägern, die in Richtung „Kibo“ gingen. Bergab schien der Weg nun sehr einfach und angenehm. Es wurde nicht viel gesprochen, denn die Gedanken weilten noch ganz oben auf dem Kilimanjaro. Nach dem Mittagessen, das vor der Hütte an der frischen Luft serviert wurde, gab es eine kleine Zeremonie. Die ganze Gruppe, inklusive Träger, kam zusammen um sich zu verabschieden. Wir bedankten uns bei ihnen für die einwandfreie Betreuung und dass wir unfallfrei wieder zurückkommen durften. Zur Anerkennung für die gelungene Besteigung wurde am Schluss jedem Teilnehmer ein Kranz aus trockenen Blumen auf den Kopf gesetzt.
(12) Die grosse Ehrung nach der Besteigung mit einem Kranz aus Strohblumen.
(13) Den Blumenkranz habe ich seither mit Respekt und einmaligen Erinnerungen aufbewahrt
(14) Nur diejenigen die den „Kibo“ tatsächlich erklommen hatten, wurden mit einem Kranz aus Strohblumen geehrt.
Dieser symbolische Akt war für mich überraschend und berührte mich sehr. Dann machten wir das obligate Gruppenfoto und nahmen dann den letzten Teil des Abstieges unter die Füsse. Ganz unerwartet schien uns die Strecke bis zurück zum Hotel sehr anstrengend. Vielleicht hatten nach den fünf Tagen Marsch unsere Kräfte einfach ein bisschen nachgelassen. Aber nun waren wir zurück im Hotel, konnten uns ausruhen und vor allem endlich wieder einmal so richtig duschen. Ich hatte ein ganzes Kilo abgenommen und nun einen Riesendurst. Eigentlich wollte ich mich bei der Rückgabe der Bergstöcke bei der Besitzerin für unsere jugendliche Arroganz entschuldigen. Aber dann sagte man uns sie sei im Krankenhaus. Sie war zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Afrika vor vielen Jahren an Malaria erkrankt! Schade, ich hätte sie gerne nochmals gesehen und mich persönlich auch für die vorbildliche Organisation bedankt.
(15) Im Ngorongoro Krater, dem Afrikanischen „Garten Eden“
Schon am nächsten Tag machten wir einen Ausflug zum Ngorongoro Krater am Rande der Serengeti in Tansania. Er ist einer der grössten Krater der Welt und hat einen Durchmesser von ungefähr 20 Kilometer. Wir liessen unser Auto am Kraterrand auf etwa 2’300 Meter ü.M. bei der Ngorongoro Crater Lodge stehen und liessen uns von einem Guide in seinem Landrover etwa 600 Meter hinunter auf den Kraterboden bringen. Hier hatte ich das Gefühl im Afrikanischen „Garten Eden“ angekommen zu sein. Je nach den Tierwanderungen vom und in den Serengeti Park, lebten hier zeitweise über 20’000 Tiere in scheinbar wunderbarer Harmonie zusammen. Man sah grosse Herden von Zebras, Büffeln, Gnus, Antilopen und Gazellen. Aber auch Elefanten, Flusspferde, Löwen, Hyänen und Leoparden konnte man beobachten. Es war einfach unglaublich, so viele Tiere an einem einzigen Ort vereint zu sehen. Nachdem wir unsere Eindrücke mit unseren Fotoapparaten festgehalten hatten, fuhren wir wieder zurück auf den Kraterrand. Wir wollten auf der Terrasse der Lodge nochmals die faszinierende Aussicht auf den Krater geniessen und gleichzeitig unseren Hunger stillen. Die Lodge, ein sehr ansprechender Bau aus Steinen und Holz, war der Umgebung perfekt angepasst. In der Mitte des Restaurants befand sich eine riesige, offene Feuerstelle wo für uns dann saftige Zebra-Steaks grilliert wurden. Rund um uns hatte es an den Wänden unzählige Jagdtrophäen, sodass wir uns in einem Jagdhaus fühlten.
(16) Die der Umgebung perfekt angepasste Ngorongoro Crater Lodge“ am Kraterrand des längst erloschenen Vulkans.
Auf der Rückkehr ins Hotel war es bereits dunkel. Plötzlich versperrte uns erst etwas Rätselhaftes den Weg. Erst als wir näher kamen sahen wir, dass sich eine grosse Löwenfamilie auf dem warmen Asphalt niedergelassen hatte. Da sie unser Hupen und die Scheinwerfersignale ignorierten, wollte ich erst gedankenverloren aus dem Auto steigen und sie vertreiben. Zum Glück wurde mir dann bewusst, dass wir keine Katzen vor dem Auto hatten, sondern sieben gefährliche Raubtiere. Wir brauchten schliesslich sehr viel Geduld, bis die Löwen sich langsam erhoben, in der Dunkelheit verschwanden und uns den Weg wieder freigaben.
Am nächsten Tag verliessen wir Marangu und fuhren durch den Amboseli-Nationalpark und Emali zurück nach Nairobi. In Nairobi logierten wir im Y.M.C.A. (The Kenya Young Men’s Christian Association). Hier hatte es ein grosses, gepflegtes Schwimmbad, und so benutzten wir die Zeit über Weihnachten um uns auszuruhen. Am Heiligabend waren wir zum Gottesdienst eingeladen. Meine Kollegen hatten keine Lust hinzugehen, und so ging ich halt alleine. Schon bei der Türe staunte ich, denn über 400 brennende Kerzen erhellten die festlich geschmückte Kirche. Aber erst mit den bekannten Liedern ging ein Hauch von Weihnachtsstimmung durch den Raum, der aber spätestens beim Ausgang und der Rückkehr in den „Sommer“ wieder verschwunden war! Trotzdem war dieser afrikanische Weihnachtsgottesdienst ein ganz spezielles Erlebnis.
Wir verbrachten fünf Tage in der damals fast avantgardistischen Stadt. Ich staunte über die Sauberkeit, die vielen modernen Gebäude, die breiten, grosszügigen Strassen und dann vor allem über die Kreisel. Erst Jahrzehnte später wurde diese Art von Kreuzung ohne Lichtsignale bei uns eingeführt und so getan als ob es eine absolute Neuigkeit war. Damals schienen gewisse Städte in Afrika einen Vorsprung auf uns in Europa zu haben. Ich hatte aber auch den Eindruck, dass das Land sehr gut regiert wurde und es eine grosse, gut ausgebildete Oberschicht gab. Man fühlte sich sicher, die Einwohner waren sehr diszipliniert und so genossen wir das Bummeln in der Stadt. Ganz nahe am Stadtrand und dem Flugplatz befand sich der Nairobi-Nationalpark, den wir während dem Aufenthalt zwei Mal besuchten. Er wurde im Jahre 1946 eröffnet und war der erste Nationalpark Kenias. Die Situation schien mir oft unwirklich, wenn ich die Tiere mit Wolkenkratzern im Hintergrund fotografierte, aber der Park war tatsächlich so nahe bei der Stadt angelegt. Trotzdem war er genau so interessant und die Tiere schienen sich auch vom Flugverkehr nicht gestört zu fühlen.
Am 29. Dezember verliessen wir Nairobi und besuchten auf dem Rückweg den bekannten Nakurusee. Er liegt auf 1’760 Meter Höhe über dem Meeresspiegel im „Lake-Nakuru-Nationalpark“ und gilt wegen den etwa zwei Millionen Flamingos weltweit als einmaliges Naturschauspiel. Dann ging es weiter nach Kampala, wo sich Maurice und ich von unseren Reisekameraden trennten. Während sie noch Termine in Kigali hatten, wollten wir während den Weihnachtsferien noch die bekannten Murchison Falls besuchen. Während den Festtagen war dies nicht einfach gewesen und so brauchten wir einen ganzen Tag, um diesen Ausflug zu organisieren. Erst am 31. Dezember 1966 gelang es uns mit einem der lokalen VW-Minibusen bis nach Masindi zu gelangen und dort zu übernachten. Da es in der Gegend Tsetsefliegen gab, wurden wir gebeten während der ganzen Fahrt die Fenster nicht zu öffnen. Natürlich wurde es schnell heiss im Fahrzeug und so öffneten wir halt trotzdem manchmal kurz die Fenster. Aber da niemand Lust auf die gefürchtete Schlafkrankheit hatte, reagierte man fast hysterisch auf jedes Summen im Bus. Doch es kam keine solche Fliege in den Minibus und so kamen wir ungestochen in Masindi an. Im Hotel waren zum Glück einige Engländer, mit denen wir dann abends unsere Entdeckungsreise und den Silvester gebührend feiern konnten.
(17) Murchison Falls National Park
Am nächsten Tag ging die Reise schon sehr früh weiter zum „Murchison Falls National Park“ der sich zwischen Albertsee und Viktoriasee ausdehnt. Nach der Ankunft im Park gab es in der Lodge zuerst einmal ein gutes Frühstück und dann ging es mit einem Schiff etwa drei Stunden den „weissen“ Nil aufwärts bis zu dem bekannten Wasserfall. Die Eindrücke auf dieser Flussfahrt waren überwältigend und ich glaubte mich erneut im „Garten Edens“ zu sein. Das Schiff fuhr langsam dem Ufer entlang wo sich Krokodile, Nilpferde, Elefanten und viele andere Tiere tummelten. Am Wasser sowie in den Bäumen machten sich verschiedene Vögel bemerkbar. Die ganze Tierwelt schien total friedlich und ungestört, sodass man sie fast wie im ZOO von sehr nahe beobachten konnte. Allerdings waren wir oft so nahe, dass ich mich fragte was wohl geschehen würde, wenn uns ein Nilpferd rammen würde? Vor dem imposanten, 42 Meter hohen Wasserfall machte das Schiff kehrt und so erreichten wir dann gegen Mittag wieder das Hotel. Die Rückfahrt war genau so eindrücklich, denn nun kamen von allen Seiten Tiere an den Fluss zur Tränke.
(18) Nilpferde im Murchison Falls National Park
In der Lodge wurden wir mit einem wunderbaren Curry-Reis Gericht überrascht. Dazu gab es nach indischer Art viele leckere Beilagen wie Nüsse, Ananas, Papaya, Tomaten, etc. Eine solche Mahlzeit in der Wildnis weit weg von der Zivilisation geniessen zu dürfen war einfach fabelhaft. Schon damals brachte „Hotelplan“ Touristen aus der Schweiz in diese Gegend, und so mussten wir leider das wunderbare Buffet mit einer abstossenden, ignoranten Touristenmasse teilen. Sie hatten keinen Anstand, waren respektlos und benahmen sich schlimmer als Kolonialisten. Scheinbar beklagte sich damals sogar der schweizerische Botschafter über diese „Safari-Touristen“. So machten wir uns nach dem Mittagessen sofort auf den Rückweg nach Kampala, wo wir auch übernachteten. Am nächsten Tag versuchten wir per „Autostop“ nach Kigali zu kommen, doch dies erwies sich viel schwieriger als wir uns gedacht hatten. Wir standen an der Strasse und niemand nahm uns mit. Mit sehr viel Ausdauer brauchten wir schliesslich ganze drei Tage bis wir wieder zurück in Kigali waren. Mit den Erinnerungen an die vielen grossartigen Erlebnissen brauchte es dann schon eine Weile bis wir mit dem Kopf wieder voll bei der Arbeit auf dem Hügel waren.
(19) Bei Mbarara auf dem Heimweg per Autostop nach Kigali.
c) Die abenteuerliche Reise in den Karamoja
Durch Eric Vogt, der mit mir auf dem Kilimanjaro war, lernte ich Ruedi Scheller kennen. Auch er arbeitete damals bei der Handelsfirma „Diethelm & Co.“ in Kigali. Wir diskutierten oft zusammen und die beiden Händler waren fest überzeugt, dass sich ein Entwicklungsland nur durch Handel nachhaltig entwickeln konnte. Aus diesem Grund beurteilten sie unseren Freiwilligen-Einsatz und unsere fast religiöse Hingabe zum Projekt auf dem Hügel eher skeptisch oder belächelten uns sogar. Trotz diesen Meinungsverschiedenheiten verstanden wir uns immer sehr gut. An einem Ort wie Kigali musste man sich ja sehr verträglich geben, um nicht isoliert zu leben. Eines Tages fragte mich Ruedi, ob ich Lust hätte mit ihm in den Norden von Uganda, in die Region „Karamoja“ an der Grenze von Kenia, zu fahren. Da ich für Reisen immer zu haben war und noch Ferientage einlösen musste, sagte ich sofort zu. Ohne grosse Vorbereitung und ohne viel Information über diese Gegend, begann am 30. April 1967 um 07.00 Uhr morgens das Abenteuer. Da wir unterdessen gehört hatten, dass der Nyiragongo plötzlich ausgebrochen war, entschlossen wir uns auf unserem Weg zuerst dieses Naturspektakel anzusehen. Schon auf der Fahrt nach Gisenyi hatten wir drei Pannen. Natürlich hatte ich mir vor der Reise über den Zustand von Ruedis Opel Kadett keine Gedanken gemacht und erst jetzt gemerkt, dass sein PW wohl auf den Strassen von Rwanda schon viel erlebt hatte. Dessen ungeachtet fuhren wir nachts noch in den Kongo bis nach Rumangabo, um von dieser Seite Nachtaufnahmen vom speienden Vulkan zu machen. Und es hatte sich gelohnt, es war wirklich sehr beeindruckend und gleichzeitig auch beängstigend. Fasziniert kehrten wir auf derselben, äusserst schlechten Strasse auf Vulkangestein wieder zurück ins Hotel. Es war uns bewusst, dass das äusserst harte und glasartige Gestein die Pneus ziemlich beanspruchte, aber wir waren jung und machten uns weiter keine Sorgen.
So machten wir uns um 04.00 Uhr morgens nochmals auf dem gleichen Weg bis hinter den Nyiragongo. Doch der lange Weg hatte sich diesmal nicht gelohnt, wir waren zu weit vom Ausbruch entfernt. Zudem wurden die Pneus auf der schlechten Strasse nochmals „gequält“. Da wir von den nächtlichen Expeditionen müde waren, blieben wir an diesem Tag in Gisenyi und genossen die Gastfreundschaft von Frau Schlosser im Hotel „Edelweiss“. Am 2. Mai ging die Reise aber dann weiter über Goma, Rutshuru und Ishasha River zum Queen-Elizabeth-Nationalpark in Uganda. Auf dieser Strecke begegneten wir vielen Elefanten. Wegen ethnischen Unruhen und Bürgerkrieg wurde diese Gegend später sehr gefährlich und ein grosser Teil der wilden Tiere wurden vom Militär oder Wilderern dezimiert. Von Kabatoro ging es am nächsten Tag weiter über Kasese, Fort Portal, Kyenjojo, Hioma und Butiaba nach Masindi. In Butiaba, einem Fischerdorf am Albertsee, entdeckten wir einen herrlichen Strand wo wir sorglos und ohne Bedenken wegen Bilharziose (Schistosomiasis) im fast lauwarmen Wasser badeten.
Am anderen Tag fuhren wir entlang des „Murchison-Falls-Nationalpark“ bis nach Gulu. Da ich von der Schifffahrt auf dem weissen Nil anfangs Jahr so begeistert war, konnte ich Ruedi überzeugen, diese Fahrt nochmals zu machen. Leider schienen diesmal die Tiere weniger zutraulich und so war ich enttäuscht, ihm nicht dieselben fabelhaften Eindrücke vermitteln zu können. Aber vielleicht waren sie während meines ersten Besuches einfach zu überwältigend gewesen. Nach einer Nacht in Gulu fuhren wir nach Kitgum, Nam Okoro und bis nach Kalongo. Je weiter wir nordwärts fuhren wurden die Naturstrassen schlechter und die Gegend unwegsamer.
(20) Unwegsame und unberechenbare Naturstrassen, besonders bei Regen.
In Kalongo konnten wir in der Mission der Römisch-Katholischen Kirche übernachten. Es war eine sehr grosse Missionsstation und ich war von der Arbeit der Missionare sehr beeindruckt. Die Gegend schien wild, wenig bewohnt und äusserst einsam. Am nächsten Tag ging die Reise sofort weiter nach Adilang und Kotido, wo wir bei der Polizei die Erlaubnis für die Reise in das Karamoja-Gebiet einholen mussten. Gleichzeitig wurde uns mit Schrec