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Von Josef Barmettler Die Neugier in mir...
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Josef Barmettler
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Ich bin nun in Sempach / 03.02.2023 um 14.52 Uhr
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Ich bin jetzt KV-Stift / 03.02.2023 um 14.56 Uhr
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Vorwort
1.
Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens
1.1.
Namen und Tradition
1.2.
Geboren in eine Zeit der sozialen Not und Ängste
1.3.
Die ersten Erinnerungen
1.3.
Die ersten Erinnerungen
1.3.
Die ersten Erinnerungen
1.3.
Die ersten Erinnerungen
1.3.
Die ersten Erinnerungen
1.3.
Die ersten Erinnerungen
1.3.
Die ersten Erinnerungen
2.
Unsere Familie
2.1.
Unsere Mutter
2.1.
QX Meine ersten Gedanken an sie
2.1.
QX Ihr früher Tod
2.1.
2.2.
Unser Vater
2.2.
Unser Vater
2.2.
Unser Vater
2.2.
Unser Vater
2.2.
Unser Vater
2.2.
Unser Vater
2.2.
Unser Vater
2.2.
Unser Vater
2.2.
Unser Vater
2.2.
Unser Vater
3.
Meine Verwandtschaft väterlicherseits
3.1.
Das Paradiesli
3.1.
QX Und wieder der Sbrinz
3.1.
QX Abschied vom Paradiesli
4.
Meine Verwandtschaft mütterlicherseits
4.1.
Tante Marie, unsere Grossmutter
4.1.
Tante Marie, unsere Grossmutter
4.2.
Das Haus der Geschwister Stalder in der Fischmatt
4.2.
QX Warum ist unsere Mutter am Haus nicht beteiligt?
4.2.
QX Die Stalders wollen keinen Barmettler in ihrer Familie
4.3.
Tante Fini, die gute Fee
4.3.
QX Mein Blick auf sie
4.3.
QX Meine Besuche bei ihr
4.3.
QX Buochs bleibt mir in guter Erinnerung
4.4.
Meine Erinnerungen an "Tante Marie"
4.5.
Marie und Heinrich Müller
4.5.
QX Mit Heinrich Müller ändert sich ihr Leben
4.5.
QX Ihre Heirat und das schnelle Ende der Glückseligkeit
4.5.
QX Ihr Sohn Heinrich
4.5.
QX Marie zurück in Buochs
4.5.
QX Heiris Leben auf Kosten anderer
4.5.
QX Heiris anonyme Rückkehr nach Buochs
4.6.
Die Hinterlassenschaft der Geschwister Stalder
5.
Ich bin nun in Sempach
5.1.
Die Bindungen von Stalder und Schmid
5.1.
Die Bindungen von Stalder und Schmid
5.1.
Die Bindungen von Stalder und Schmid
5.1.
Die Bindungen von Stalder und Schmid
5.1.
QX Amtliche Grundlage für meinen Pflegeplatz
5.2.
Die Familie Schmid
5.2.
Die Familie Schmid
5.2.
Die Familie Schmid
5.2.
Die Familie Schmid
5.3.
Das Friedheim
5.3.
QX Das Bauernhaus
5.3.
QX Die Bauernküche
5.3.
QX Das Elternzimmer
5.3.
QX Die Bauernstube
5.3.
QX Das Stübli
5.3.
QX Die Kammern im oberen Stockwerk
5.3.
QX Der Verschlag von Maria Arnet
5.3.
QX Der Schopf
5.3.
QX Der Schweinestall
5.3.
QX Keller und Waschküche
5.3.
QX Die Umgebung
5.3.
QX Der Hühnerhof
5.3.
QX Apropos dummes Huhn
5.4.
Die Scheune
5.4.
QX Ställe und Tenne
5.4.
QX Hinterer Scheunenteil
5.5.
Die Liegenschaft
5.5.
Die Liegenschaft
5.6.
Mein Leben auf dem Bauernhof
5.6.
QX Ich darf und muss überall Hand anlegen
5.6.
QX Heuerente
5.6.
QX Getreideernte
5.6.
QX Beim Vieh
5.6.
QX Auf der Müseralp, Rigi
5.6.
QX Pferdepflege
5.6.
QX I d'Chäsi
5.6.
QX Kartoffeln, Zuckerrüben, Obst
5.6.
QX Die Landwirtschaft verändert sich rasant
5.6.
QX Dazu die Geschichte um meinem Führerausweis
5.7.
Das gesellschaftliche und soziale Umfeld
5.7.
QX Geld und Geltung
5.7.
QX Kaspar Schmid-Arnet
5.7.
QX Anna Schmid-Arnet
5.7.
QX Erziehung
5.7.
QX Warum hast Du Tante Beng nicht gegrüsst?
5.7.
QX Und wieder stürzt Ernstli
5.7.
QX Die Geschichte von Maria Arnet
5.7.
QX Die Geschichte von Balz Helfenstein
5.7.
QX Das Dürrejahr 1949 und seine Folgen
5.7.
QX Unwetter
5.7.
QX Das Verhältnis zu den Nachbarn
5.7.
QX Kirche
5.7.
QX Der Auffahrtsumritt von Sempach
5.7.
QX Zwei Ereignisse bleiben haften
5.7.
QX Politik
5.8.
Lebensmittelversorgung
5.8.
QX Die Sache mit dem Brot
5.8.
QX Die Metzgete
5.8.
QX Wie lagern wir die vielen Eier?
5.8.
QX Backofen und Räucherkammer funktionieren nicht
5.8.
QX Selber Konserven herstellen
5.8.
QX Die Tiefkühlanlage in der Chäsi
5.8.
QX Die Mahlzeiten
5.8.
QX Die Geschäfte im Städtli
5.9.
Hygiene
6.
Meine Schulzeit
6.1.
Sekundarschule
6.1.
QX Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
6.2.
Die Berufswahl
6.2.
QX So komme ich zu meiner Lehrstelle
6.2.
QX Jetzt brauche ich eine Krankenkasse
6.3.
Die Entlassung aus der Schulpflicht
7.
Ich bin jetzt KV-Stift
7.1.
Meine Lehrfirma
7.1.
QX Mein Arbeitsplatz
7.1.
QX Meine Aufgaben im Büro
7.1.
QX Das Elektro-Fachgeschäft
7.1.
QX Branchenkunde
7.1.
QX Meine Samstagsarbeit
7.1.
QX Meine soziale Situation
7.1.
QX Die Berufsschule
7.2.
Mein Lehrabschluss
7.2.
Mein Lehrabschluss
7.2.
Mein Lehrabschluss
7.2.
Mein Lehrabschluss
8.
Weg vom Friedheim
8.1.
Die Schmids driften auseinander
8.1.
QX Zerstrittener Familienrat
8.1.
QX Das Friedheim um das Ende meiner Lehrzeit
8.2.
Meine Flucht aus Sempach
8.2.
QX Mein Weg in die Fremde
8.2.
QX So komme ich zu meiner ersten Arbeitsstelle
8.3.
Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort
8.3.
Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort
8.3.
Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort
8.3.
Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort
8.3.
Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort
8.3.
Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort
8.3.
Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort
9.
CKUS - Der Beginn
9.1.
Die CKUS legt mir monetäre Fesseln an
9.2.
Engelbert Lammer - mein neuer Chef
9.2.
Engelbert Lammer - mein neuer Chef
9.2.
Engelbert Lammer - mein neuer Chef
9.2.
Engelbert Lammer - mein neuer Chef
9.2.
Engelbert Lammer - mein neuer Chef
10.
Das Militär
10.1.
Meine Rolle im Militär
10.2.
Die Rekrutenschule
10.3.
Die Silbergrauen
10.4.
Die Fachausbildung
10.4.
QX Der Kommandofunk
10.4.
QX Der Führungsfunk
10.4.
QX Auch das ist Nachrichtenübermittlung
10.5.
Die persönliche Ausrüstung
10.6.
Die Schweiz in Uniform erleben
10.7.
Ein Rückblick, der sich lohnt
10.7.
Ein Rückblick, der sich lohnt
11.
Wo bin ich zuhause?
11.1.
Was ist aus dem Friedheim geworden?
11.1.
QX Der Hubel wird zum Goldenen Kalb
11.1.
QX Sepp und Maria Schmid-Hüsler
11.2.
Im Friedheim ist Frieden eingekehrt
11.2.
QX Das Friedheim im Herbst 2019
11.2.
QX Die Pferde
11.2.
QX Simones folgenschwerer Unfall
11.2.
QX Mit meiner Schwester im Friedheim
11.3.
Meine späteren Begegnungen mit den Schmids
11.3.
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
11.4.
Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
12.
Zurück bei der CKUS
12.1.
So fasse ich Fuss
12.2.
Lernen durch Handeln
12.3.
Mein Arbeitgeber als soziales Netz
13.
Gaby und ich
13.1.
Die erste Auslandreise
13.1.
QX Eine aufregende Zugfahrt
13.1.
QX Ich bin bei den Nonnen einquartiert
13.1.
QX Familienferien
13.2.
Jungverheiratet
13.2.
QX Die Hochzeitsfeier
13.2.
QX Unser erstes Daheim
13.2.
QX Sieben Jahre kinderlos
13.2.
QX Unser erstes Auto
13.3.
Loire-Schlösser und Bretagne
13.3.
QX Doublezero Penerf
13.3.
QX Die Bretagne in Wirklichkeit erleben
13.4.
Meine Gehversuche im Hochgebirge
13.4.
QX Tracuithütte, 3250 m / Bishorn VS (4150m)
13.4.
QX Reissend Nollen OW, 3003 m
13.4.
QX Gross-Spannort UR, 3198 m
13.4.
QX Grassenbiwak 2650 m / Grassen 2950 m
13.4.
QX Jungfraujoch, (3354 m), Berglihütte SAC, 3299 m und Mönch (4107 m)
13.4.
QX Das Ende meiner hochalpinen Abenteuer
13.5.
Alain kommt in unsere Welt
13.5.
QX Alains Geburt
13.6.
Unser Leben als junge Familie
13.6.
Unser Leben als junge Familie
13.6.
Unser Leben als junge Familie
14.
Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur
14.1.
Die Zentralverwaltung in der Matrix-Organisation
14.1.
QX Lammer und Weber - Zwei unterschiedliche Charaktere
14.2.
Kollektivversicherungen - Mein Einsatzgebiet
14.2.
QX Hautnahe Einblicke
14.2.
QX Blick hinter die Klostermauern
14.2.
QX Kontakte mit den Behörden
14.2.
QX Kollektivversicherung in der Romandie und im Tessin
14.3.
Zentralsekretär-Stellvertreter als Sprungbrett der Karriere
14.4.
Beat Weber – Mein Förderer
14.4.
QX Der Kanton Freiburg und die deutsche Sprache
14.5.
Mein erster Karriereschritt
14.5.
QX An Neuem wachsen
14.6.
Mein Flair fürs Recht
14.7.
Die Kurhäuser
14.7.
Die Kurhäuser
14.7.
Die Kurhäuser
14.7.
Die Kurhäuser
14.7.
Die Kurhäuser
15.
Technische Hilfsmittel
16.
Die Wende in meinem Privatleben
16.1.
In Sörenberg
16.2.
Die Fasnacht 1983
16.3.
Mein Blick in unsere Privatsphäre
16.3.
QX Meine Beziehung zu Gaby
16.3.
QX Das private Umfeld von Uschi
16.4.
Die Trennung von unseren Familien
16.4.
QX Mein Unterschlupf bei Curt
16.4.
QX Meine Scheidung
16.4.
QX Uschis Scheidung
16.5.
Unser neues Zuhause
16.6.
Unsere Patchwork-Familie
16.6.
Unsere Patchwork-Familie
16.6.
Unsere Patchwork-Familie
17.
Grosses bewegen
17.1.
Mit neuen Versicherungsprodukten den Markt aufmischen
17.1.
QX Die Geburtsstunde einer Cash Cow
17.1.
QX Die Kombinierte Spitalversicherung
17.1.
QX Eine neue Versicherungspalette
17.2.
Der Umbau der Pensionskasse
17.2.
QX Meine Rolle als Arbeitnehmervertreter
17.2.
QX Das Gesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) befördert den Umbau
17.2.
QX Die Kernelemente der Reform
17.2.
QX Mein Engagement ist erfolgreich und wirkt dauerhaft
17.2.
QX Meine Amtszeit als Präsident der Personalvorsorgestiftung
17.3.
Ferdinand Steiner schafft Raum
17.3.
QX Der Neubau in der Rösslimatt
17.4.
Mein nächster Karriereschritt
17.4.
QX Mein 25. Dienstjubiläum
17.5.
Von der CKUS zur CSS
17.5.
QX Der Weg zu einer markanten Identität
17.6.
Die Weichen werden neu gestellt
17.6.
QX Die Nachfolge von Beat Weber wird vorbereitet
17.7.
Denis Simon-Vermot wird Zentralpräsident
17.7.
QX Ich bin erster Generalsekretär der CSS
17.7.
QX IS-88. Die Datenübernahme misslingt
17.8.
Die umfassende Strukturreform
17.8.
QX Fortbildung am VMI der Uni Fribourg
17.8.
QX Mit Georg Portmann ein Tandem
17.8.
QX Meine Diplomarbeit und die neue Struktur
17.8.
QX Die neue Organisationsstruktur
17.8.
QX Der CSS-Verein 1995
17.8.
QX Die operative Führungsstruktur
17.9.
Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse
17.9.
Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse
17.9.
Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse
17.9.
Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse
17.9.
Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse
18.
Die Zeitenwende in der Krankenversicherung
18.1.
Die CSS auf der Suche nach Professionalität
18.2.
Die Fehlbesetzung auf dem Direktionsposten
18.2.
QX Seine Kaderselektion
18.2.
QX Seine Inkompetenz in Fachfragen
18.2.
QX Sein Hang zur Selbstdarstellung
18.2.
QX Auch der Aufbau der operativen Führungsstruktur misslingt
18.3.
Der diskrete Wandel meiner Stellenbeschreibung
18.4.
Das Ende des „Managements by helicopter“
18.5.
Die Suche der Branche nach ihrer Rolle
18.6.
Die politische Meinungsbildung
18.6.
QX Doris Leuthard und die CSS
18.6.
QX Konrad Graber und die CSS
18.6.
QX Der beschwerliche Weg für Innovationen im Gesundheitswesen
18.6.
QX Die Mühlen für Reformen mahlen langsam
18.7.
Adäquate Strukturen im geänderten Geschäftsumfeld
18.7.
Adäquate Strukturen im geänderten Geschäftsumfeld
18.7.
Adäquate Strukturen im geänderten Geschäftsumfeld
18.7.
Adäquate Strukturen im geänderten Geschäftsumfeld
19.
Die Kehrtwende in meinem Lebensstil
20.
Der Abschied von der CSS tut nicht weh
21.
Das ist aus unserer auseinandergerissenen Familie geworden
22.
Die Daums in Bayern
23.
Corona als Switch in meiner Lebensgeschichte
23.1.
Das Projekt Luzerner Rumänienhilfe
23.1.
QX Ein Engagement, das meinen Lebensinhalt bereichert
23.2.
Die Plattform zur Vermittlung von Freiwilligenarbeit
23.3.
Das Pensioniertsein dennoch geniessen
23.4.
Januar 2020: Corona nähert sich uns sachte
23.5.
März 2020: Auf dem Weg zum Krisenmodus
23.5.
QX Freitag der Dreizehnte
23.5.
QX Der Bundesrat verschärft die Massnahmen
23.5.
QX An der Schwelle zum Notstand
23.6.
Notstand in der Schweiz
23.6.
QX Europa wo bist du?
23.7.
Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen
23.7.
QX Die Solidarität der Generationen
23.8.
Unser Alltag im Krisenmodus
23.9.
Amerika, was hat der Trump aus dir gemacht!
24.
Unsere Strategie für den Ruhestand
24.1.
Am Beispiel der Praxis
24.2.
Unsere Strategie hält auch dem Corona-Modus Stand
24.2.
QX Virtuell am Wochenmarkt
24.2.
QX Mein Blick zurück auf Lucas, den Kochkünstler
24.2.
QX … und auf meinen 60. Geburtstag
24.2.
QX Die Schachtel voller Erinnerungen
24.2.
QX Die Schachtel voller Erinnerungen
24.2.
QX Die Schachtel voller Erinnerungen
25.
Der Bundesrat lockert die Notmassnahmen
25.1.
Wir über 65-Jährigen als Risikogruppe?
25.2.
Das Geschäft mit den Schutzmasken
25.2.
Das Geschäft mit den Schutzmasken
26.
Kultur als gemeinsame Interessen
26.1.
Das einmalige Opern-Ereignis in der Corona-Zeit
26.2.
Der Blick zurück auf meine Opern-Welt
26.2.
QX Mein Weg zur Oper
26.2.
QX Scala Mailand - Tempel der Oper
26.2.
QX Glanzpunkte in meiner Opern-Welt
26.2.
QX Die Theatergala der CSS
26.3.
Mein Weg zur klassischen Musik
26.3.
QX Vom Meili-Bau ins KKL
26.3.
QX Das Lucerne Festival
26.4.
Mein Zugang zur bildenden Kunst
26.4.
QX Erst jetzt macht es klick
26.4.
QX Die Kunst in meiner Arbeitswelt
26.4.
QX Die Kauernde von Rudolf Blättler
26.5.
Meine Begegnung mit der Kunst des Bauens
26.5.
Meine Begegnung mit der Kunst des Bauens
27.
Corona beherrscht die Welt
27.1.
Schrittweise zu mehr Freiheiten
27.1.
Schrittweise zu mehr Freiheiten
27.1.
QX Aus unserem 5-Wochen Trip mit dem Camper wird nichts
27.1.
QX Neue Lockerungsschritte
28.
Unser Corona-Sommer 2020
28.1.
Kultur und Sport vor leeren Rängen
28.1.
28.2.
Doch nochmals Grenzen überschreiten!
28.2.
Doch nochmals Grenzen überschreiten!
28.2.
Doch nochmals Grenzen überschreiten!
28.2.
Doch nochmals Grenzen überschreiten!
29.
Zum Jahresende 2020
29.1.
Festzeit im Dezember 2020
29.1.
Festzeit im Dezember 2020
29.1.
QX Die Weihnachtstage
29.2.
Unser 35. Hochzeitstag und die Weinwelt von Bolgheri
29.2.
29.2.
QX Eugenio Campolmi und der Macchiole
29.2.
QX Zum Fest doch noch ein Sassicaia
29.3.
Das Jahresende 2020
29.4.
Mein eigener Abschied von Covid-19
30.
Was nun, Seppi?
31.
Dank
Für meine Familie, Freunde und Weggefährten … und die Daums in Bayern.
Vorwort
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  Vorwort

Anna, du hast den Startknopf gedrückt

Du bist Auslöser dafür, dass ich hier sitze und meine Erinnerungen durchforste. 2002, an deinem 60. Geburtstag, hast du uns Geschwistern ein Buch geschenkt mit dem Titel "Spurensuche". Der Band enthält Berichte und Fotos über dein und unser frühes Leben. Dein Buch hat den Umgang mit meiner Vergangenheit verändert. Ich begann, die Erinnerungen zurückzuholen, die ich vorher nicht wahrhaben wollte.

2017 höre ich einen Bericht über "meet-my-life". Ich schaue in deren Website und mache mich mit dem Gedanken vertraut, mit diesem Instrument meine eigene Lebensgeschichte zu schreiben. Anfangs 2019 beginne ich, auf die dort gestellten Fragen Antworten zu finden. Es werden nun eigene Erinnerungen wach oder solche, die ich aus Erzählungen weiss. Ich stöbere wieder in deinem Buch mit den Bildern aus unserer Kindheit und aus früheren Zeiten. Einige davon dokumentieren meine eigene Geschichte und selbst Erlebtes. Am 17. April 2019, meinem 76. Geburtstag, treffen wir uns in Luzern. Wir tauschen Erinnerungen aus und du übergibst mir einen Plastiksack voll von alten Dokumenten und Fotos aus dem Nachlass von Tante Fini.

Unsere frühe Kindheit, die Vergangenheit der Geschwister Stalder mit ihrer Familie und Buochs beschreibe ich aus Erlebtem und Erzähltem. Aber es sind auch Geschichten und Geschehnisse, die aus dem Nachlass im Plastiksack wieder gegenwärtig werden.

Mit diesen Anfängen bin ich in den darauffolgenden vier Jahren meinen eigenen Spuren nachgegangen und habe mein Erleben nun in dieser Geschichte niedergeschrieben. 

Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens
Seite 1
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1.  Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens

Geboren bin ich im Spital Stans. Das ist unüblich für jene Zeit. Die Erklärung liefert Anna in ihrem Buch. Sie beschreibt ihre im Jahr 1942 erfolgte Geburt so:

Vater ist auf der Suche nach der Hebamme, und Tante Fini nimmt mich in Empfang. Ich bin ein 7-Monate-Kind mit einem Gewicht von 1500 Gramm. Viel zu gering zum Überleben. Denken sie. Aber woher. Im Backofen, das ist kein Witz, in Watte gehüllt, bei offener Backofen-Türe habe ich überlebt. Man hat mich wirklich gut fertig gebacken.

Die Geburt ihres ersten Kindes hat sich bei meinen Eltern eingeprägt. Sie wollen zu mir Sorge tragen!

 

Namen und Tradition
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1.1.  Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens – Namen und Tradition.
Für die Suche nach meinem Namen brauchen die Eltern nicht viel Fantasie. Wie es zu der Zeit üblich ist, bekommt der erstgeborene Sohn den Namen des Vaters. Also heisse ich Josef. Der Zweitname ist der Name des Paten, also Alois. Für das erstgeborene Mädchen gilt dasselbe. Sie bekommt den Namen der Mutter. Meine ältere Schwester heisst Anna.

In der Innerschweiz wird aus dem Josef ein Sepp. Als Kose- oder Verniedlichungsform hängt man dem Sepp noch ein "li" an. In unserer Familie wird aus Anna Anneli, aus Ernst Ernstli und aus Klara Klärli. Bei den Erstgeborenen ist das einleuchtend, denn mit dem "li" werden Verwechslungen mit den gleichgenannten Eltern vermieden.

Nur bei unserem Jüngsten wird eine Ausnahme gemacht. Auf Wunsch von Tante Fini, seiner Taufpatin, wird er auf den Namen Amatus getauft. Noch heute freut sich mein Bruder, wenn er nach der Bedeutung seines Vornamens gefragt wird. Mit Stolz antwortet er: "Aimé, der Geliebte!". Nie wird seinem Namen ein "li" anhängt. Amatus ist Vorbote der Moderne. 
Geboren in eine Zeit der sozialen Not und Ängste
Seite 3
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1.2.  Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens – Geboren in eine Zeit der sozialen Not und Ängste.
Die Geburt der ersten vier Kinder unserer Familie fällt in die Periode des Zweiten Weltkrieges. Es ist eine Zeit voller sozialer und wirtschaftlicher Nöte und Ängste. Das betrifft vor allem die nicht privilegierte Schicht der Bevölkerung. Und dazu gehören meine Eltern und die überwiegende Mehrheit der Menschen.
Die ersten Erinnerungen
Seite 4
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1.3.  Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens – Die ersten Erinnerungen.

Meine frühesten Erinnerungen sind Fragmente.

  • Ich höre das schrille Tönen von Alarmsirenen. Und das im Alter von zwei Jahren? Doch, in Buochs gibt es einen Militärflugplatz. Oder heulen die Sirenen auch noch nach dem Ende des Krieges?
  • Vater beim Kochen. Mutter beim Nähen. Duft von Lebkuchen und Dampfnudeln.
  • Schwester Anneli zickelt mich.
  • Nasses Bett.
  • Eine Respekt erheischende Hausmeisterin.
  • Spielen im Garten hinter dem Haus. Mit Schwester Anneli. Irgendwann kommt Ernstli dazu.
  • Zu Besuch und beim Spielen im grossen Haus bei den Nachbarn. Dort fühle ich mich aufgehoben. Auch bei der schon fast erwachsenen Tochter.
Mein Götti
Seite 5
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1.3.  Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens – Die ersten Erinnerungen.

Mein Götti
Die Erinnerung an meinen Götti ist vage. Ein alter Herr in schwarzen Hosen und weissem Hemd. In dunklem Gilet mit kurzem Haar und weissem Bart. Er hält Hof in der Stube bei Tante Fini im gepolsterten königlichen Lehnstuhl neben dem Kachelofen. Ich spiele mit Klötzchen. Der Alte zerstört meine Bauten mit seinem Gehstock. Das freut ihn diebisch. Doch er verschwindet schnell aus meinem Leben.

Aus den Dokumenten von Tante Fini sehe ich, dass mein Götti Alois Christen hiess, 1863 geboren, ein lediger Onkel von Tante Fini war und von Beruf Kutscher. Ich finde dafür Arbeitszeugnisse von renommierten Hotels und von der Post. 1945 stirbt er. Nach Annas Erinnerung ertrinkt er in der Nähe der Fischmatt im See. Ich bin erst zwei Jahre alt. Aber an den Mann erinnere ich mich.

Ob ich auch eine Gotte hatte? Ich weiss es nicht.
Meine Geschwister
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1.3.  Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens – Die ersten Erinnerungen.

Meine Geschwister
Anneli hat das Ruder bei uns Kindern fest im Griff. Sie erkennt meine Schwächen und weiss sie für sich zu nutzen: Ich will alles wissen, alles können und bin neugierig. Wohl manchmal bis zum Überborden. Die Strafen des Vaters folgen auf dem Fuss. Meistens bin ich der Erste der die Rute auf dem Füdli spürt. Sie hinterlassen Spuren.

Ernstli kommt etwas mehr als ein Jahr nach mir auf die Welt. Hängt er sich an mich? Ja, ich erlebe ihn als anhänglich. Er will mir nacheifern. Aber es gelingt ihm nicht. Er ist eher ungelenk. Einmal stürzt er aus dem Fenster unseres Schlafzimmers im ersten Stock. Gott sei Dank auf das Blumenbeet. Er lebt und ist gesund. Aber es kommt die Frage auf, hat der Seppli ihn geschubst? 

Mit Klärli sind wir schon zu viert. Ich bin 2 ½ Jahre alt, als sie auf die Welt kommt. An gemeinsame Zeiten mit ihr kann ich mich nicht erinnern. Ich sehe sie in der Wohnung der Odermatts im nahen Chalet-Haus mit der Papeterie im Erdgeschoss. Der besondere Geruch nach Holzhaus, Papier und Bleistift liegt mir in der Nase. Die Wohnung erreicht man über die Treppe im Seiteneingang. Kürzer aber ist der Weg durch die Papeterie. Doch die Ladeninhaberin sieht mich nicht gerne durch den Laden huschen. Klärli ist für uns die Brave. Dass das nicht immer so war, erfahre ich später.

Amatus wird 1948 als Nachkriegskind geboren. Ich bin bald fünf Jahre alt und fühle mich schon halb erwachsen. An das Zusammensein mit ihm in Buochs kann ich mich kaum erinnern. Oder doch? Da liegt er im aus Weide geflochtenen Stubenwagen, der getreu des Wortes in der Stube steht.
In der Sonnegg
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1.3.  Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens – Die ersten Erinnerungen.

In der Sonnegg

Unsere Familie ist in der Sonnegg zuhause, im ersten Stock des 3-Familienhauses an der Dorfstrasse in Buochs. Das Haus steht noch dort, fast so, wie es damals war.



(1) Haus Sonnegg, Juli 2019.

Haus Sonnegg, Juli 2019.


Unten wohnen die Hausbesitzer, Frau und Herr Zimmermann-Hefti. Man nennt sie nicht nur Zimmermann. Wohl um Verwechslungen zu vermeiden mit den vielen anderen Zimmermanns, die an der Hauptstrasse wohnen. Die Frau habe ich etwas anders in Erinnerung als Anna. Ich meine, ich hätte Angst vor ihr gehabt. Meine Schwester glaubt, sie sei meine Beschützerin gewesen.



(2) Anneli und Seppli vor dem Haus Sonnegg (1946).

Anneli und Seppli vor dem Haus Sonnegg (1946).


Unsere Wohnung hat eine Stube und ein Elternzimmer. Ich sehe eine Küche und ein kleines Bad. Am Ende des Treppenhauses aufwärts geht eine Ziehstiege als Aufgang zum Estrich. So meine Vorstellung. Anna kann diesen Estrich nicht einordnen. Sie beschreibt unsere Wohnsituation so:
Sepp und Ernst haben wenigstens ein eigenes Zimmer mit einem hohen breiten Bett. Ich schlafe mit Vater und Mutter im selben Zimmer und Bett. Klara ist im selben Zimmer im Gutschli und Amatus wird am Abend mit dem Kinderwagen in die Stube geschoben.

Vom Stuben-Fenster aus gibt es Ausblick gegen die Fischmatt und den Bürgenberg. Schräg gegenüber der Strasse ist die Post mit Postauto-Haltestelle. Der See ist nahe, aber nicht zu sehen. Von der Küche aus geht es durch eine Fenstertüre auf die Terrasse. Sie ist gleichzeitig Dach für den darunter liegenden Abstellplatz. Von dort aus blickt man gegen das Buochserhorn und das nahe gelegene markante Schulgebäude. Auf dessen Dach steht diese heulende Alarmsirene. Ganz oben über dem Dorf dominiert die katholische Kirche. Von dort aus hat man einen wunderbaren Ausblick auf das Dorf, den Bürgenberg, die Rigi und den See.

Die Küche ist klein, aber ziemlich modern. Jedenfalls verglichen mit dem, was ich später in Sempach auf dem stattlichen Bauernhof antreffe. Es gibt einen Elektroherd mit drei oder vier Herdplatten und einem Backofen. Auch eine kleine Holzofen-Heizung ist da.

Vor dem Haus auf der Seite gegen das Buochserhorn gibt es den Vorplatz mit Garten und Blumenbeeten. Unter unserer Terrasse können wir auch bei Regen spielen oder die Kinder- und Leiterwagen abstellen

Spiele und Medien
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1.3.  Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens – Die ersten Erinnerungen.

Spiele und Medien
Eile mit Weile und ein Malbüchlein sind unsere Spielsachen. Ich sehe mich auch an einem Stockys-Metallbaukasten hantieren. Oder war das erst später in Sempach?

Anna schreibt dazu:
Spielsachen haben wir keine und brauchen sie auch nicht. Wir sind zusammen ideenreich und denken uns viele Streiche aus. Unkraut jäten und sie als Garten-Setzlinge verkaufen. Mit dem Hosenboden über die Treppe rutschen; sie ist dann sauber und geblocht zugleich. Die Erwachsenen haben nicht immer Freude an uns. Vielleicht weil sie nicht so geniale Ideen haben.

An Bücher erinnere ich mich nicht. Vater, glaube ich, hatte ein Kochbuch. Gab es bei uns ein Telefon? Einen metallenen Wandapparat, unten, einen Stock tiefer neben der Haustüre? Die Erinnerung ist schwach. Als Radio sehe ich einen Holzkasten vor mir, aufgehängt an der Wand in der Stube. An Sendungen oder gemeinsames Radiohören erinnere ich mich nicht. Aber sind in dieser Kinderzeit für die Erwachsenen nicht schon die Halbeinsnachrichten auf Radio Beromünster ein Muss? Das heisst dann für uns Kinder: Mucksmäuschenstill sein oder raus aus der Stube!
Mein Unterschlupf
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1.3.  Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens – Die ersten Erinnerungen.

Mein Unterschlupf

Ich bin ein lebhafter Bub, ein Wirbelwind. Mutter näht in der Stube. Das ist ihr Atelier, Vater ist an der Arbeit. Oft finde ich Unterschlupf im Nachbarhaus und fühle mich dort geborgen.


(1) Mein Unterschlupf 1944-1948, Nachbarhaus, Foto Juli 2019.

 

 

Mein Unterschlupf 1944-1948, Nachbarhaus, Foto Juli 2019.

War da nicht auch noch ein Mädchen im Spiel, ein Kindermädchen. Ja, die Doris. Mit drei Jahren meine erste Liebe.

  

(2) Kindermädchen Doris mit Anneli, Ernstli, Seppli (von rechts), ca. 1947.

Kindermädchen Doris mit Anneli, Ernstli, Seppli (von rechts), ca. 1947.

 

Schlaglichter auf den Alltag
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1.3.  Der unübliche Beginn eines ereignisreichen Lebens – Die ersten Erinnerungen.

Schlaglichter auf den Alltag

Im Winter können wir hinter dem Haus schlitteln. Auf dem Fussweg und der Wiese vom Schulhaus abwärts bis zur Hauptstrasse. Der Samichlaus bringt eine neue Rute. Die alte ist abgearbeitet. Ich fürchte mich. An Weihnachten gibt es einen schön geschmückten Christbaum. Und sicher auch eine Schokolade. Im Frühling blühen blaue Vergissmeinnicht und bunte Stiefmütterchen in den Blumenrabatten vor dem Haus. Im Sommer der Spaziergang am Aawasser, der Engelberger-Aa. Im Herbst der markante Quittenbaum im Garten vor dem Haus.
 

 

 

Muetti, Dädi, Anneli und Seppli. Am Aawasser, Buochs, 1944.


Sonntags mit Vater. Wir nennen ihn Dädi. Die Küche ist sein Reich. Kartoffelstock, gekocht von ihm, das mag ich gerne. Sauce und ein Stück Fleisch sind auch dabei.

Anna erinnert sich so:
Braten, Kartoffelstock und Rüebli, das ist am Sonntag sein Standardmenü. Seppli und ich, wir dürfen abwechslungsweise die Kartoffeln durch das Passevite treiben.

Am Samstag backt Dädi Lebkuchen. Und oft sind Dampfnudeln im Ofen. Freitag ist fleischloser Fasttag. Sind Dampfnudeln mit Vanillesauce das Menü am Freitag? Der feuchte Geruch des im Backofen dampfenden Hefegebäcks vermischt mit jenem der Bodenwichse auf der frisch gebohnerten Stiege verbreitet sich im Haus. Er ekelt mich.

Als Damenschneiderin mit eigener Lehrtochter ist unsere Mutter stolz, ihre Kinder gut angezogen zu sehen.
Anna schreibt:
Alle Buben müssen in der Schule Schürzen tragen, genau wie die Mädchen. Mutter näht für uns immer ganz spezielle Kleider. Seppli bekommt eine richtige Herrenschürze, unifarben, vorne mit einer grossen aufgesetzten Tasche. Ich trage immer schöne Rüschchen-Schürzen aus Stoff mit Blümchen.

Bei jedem Wetter trage ich kurze, nur bis zum Knie reichende Hosen aus starkem Stoff. Im Winter sollen lange Wollstrümpfe gegen Kälte schützen. Sie werden mit einem Gummiband an einem um den Bauch geschnürten Gstältli befestigt. Das Gstältli ist für mich ein Horror. Solche Dinger tragen sonst nur die Mädchen. Abgezogen werden dürfen die Strümpfe erst, wenn auf dem Buochserhorn kein Schnee mehr liegt. Doch zum Gipfel sehen, bevor ich das Wollzeug ausziehe oder zumindest zu Stulpen auf die Schuhe schiebe, gelingt nicht immer.

Die Milch holen wir in der Drogerie. Dort können die Leute alles einkaufen. Milch, Brot, Teigwaren, Gemüse und Drogerieartikel. Die Milch wird am Abend vom Bauern angeliefert. Schon als kleiner Bub gehört "Milch holen" zu meinen Aufgaben. Ich bin auf alles stolz, was ich ohne helfende Hand erledigen kann. Ab mit dem Milchkesseli in die Drogerie und brav in der Warteschlange anstehen. Die Milch wird mit dem Liter-Mass ins Kesseli gefüllt. Die Aufgabe ist, so behutsam wie möglich direkt nach Hause zu gehen. Aber die Tropfen der verschütteten Milch sind als Spur meines Wegs immer zu erkennen. Und der ist nicht gradlinig. Manchmal gar, wenn der Dorfbach wenig Wasser führt, zieht sich die Spur durch den Tunnel des unter der Strasse führenden Bachs. Bis ich zu Hause bin, haben sich die zwei Liter Milch sichtbar verringert. Nur einmal stolpere ich unverschuldet auf nasser Strasse. Das ganze Kesseli ist leer. Ich bin betrübt und weine. Glauben mir die Eltern, dass ich mich auf dem direkten Weg nach Hause befunden hatte?

Unsere Familie
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2.  Unsere Familie
Meine Eltern lernen sich in Buochs kennen. Sie heiraten am 8. Mai 1939 in der dortigen Pfarrkirche.




(1) Hochzeitsfoto Eltern, 1939.

 

Hochzeitsfoto Eltern, 1939.

 

 
(2) Familienbüchlein Barmettler-Stalder. Ziviltrauung am 5. Mai 1939 in Buochs.



(3) Familienbüchlein unserer Eltern.

Familienbüchlein unserer Eltern.


(4) Familienbüchlein unserer Eltern mit dem Eintrag der ersten vier Kinder.

Familienbüchlein unserer Eltern mit dem Eintrag der ersten vier Kinder.


Anna schreibt, dass unsere Mutter Fehlgeburten hatte, bevor sie drei Jahre nach der Hochzeit unserer Eltern auf die Welt kam. Namen und Geburtsdaten der ersten vier Kinder sind:

  • Anna Margarita 08.04.1942
  • Josef Alois 17.04.1943
  • Ernst Karl 29.08.1944
  • Klara Mathilda 07.11.1945

 

Amatus der Nachzügler
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2.  Unsere Familie

Amatus der Nachzügler


(1) Familienbüchlein Barmettler-Stalder mit Amatus, dem Nachzügler.

Familienbüchlein Barmettler-Stalder mit Amatus, dem Nachzügler.


Drei Jahre nach Klara kommt Amatus auf die Welt und wird als Josef, Johann, Amatus ins Familienregister eingetragen. Im Familienbüchlein ist der Drittname als sein Rufname zaghaft unterstrichen. 

Dazu gibt es siebzig Jahre später dieses Nachspiel. Auf der Rückreise von einem Besuch bei Oma in der Region München buchen Uschi und ich am Bodensee in einem Hotel ein Zimmer. Beim Empfang werden wir gefragt, ob wir schon einmal Gast in ihrem Haus gewesen seien. Das waren wir nicht. Doch die Dame an der Rezeption glaubt mir das nicht. Sie hätte einen Eintrag von mir aus dem Vorjahr. Ich spüre einen schrägen Blick von Uschi. Als ich der Sache auf den Grund gehe, stellt sich heraus, dass dieser Eintrag einen Josef Barmettler, geb. 29.01.1948 aus Luzern betrifft. Das ist unser Amatus. Seine auf der Basis des Zivilstandsregisters ausgestellte Identitätskarte (ID) lautete in der Tat auf den als erstes eingetragenen Namen. Mein Bruder musste danach bald eine neue ID mit seinem korrekten Vornamen Amatus erstellen lassen. Dazu war eine kostenpflichtige Namensänderung durch die Zivilstandsbehörde notwendig. Sein Kommentar dazu ist, dass er das am 19.02.2015 gemacht habe, was ihn Nerven und über 600 Franken gekostet habe. Bürokratie sei eben teuer.

Unsere Mutter
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2.1.  Unsere Familie – Unsere Mutter.

Unsere Mutter wird am 16.8.1916 in Buochs geboren. Nach meinen Recherchen ist sie uneheliches Kind von Maria Stalder und eines an ihrem Arbeitsort Weggis ein Café betreibenden Geschäftsmanns mit deutschen Wurzeln. Ich komme darauf zurück.

 

Meine ersten Gedanken an sie
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2.1.  Unsere Familie – Unsere Mutter.

Meine ersten Gedanken an sie

Will ich mich an meine Mutter erinnern, sehe ich als einziges das Bild, wie sie an der Nähmaschine in der Stube arbeitet.

Muetti, wie wir sie nennen, ist eine attraktive Frau und gefragte Damenschneiderin. Ihr Atelier ist unsere Stube. Nähen ist ihre Leidenschaft und wirtschaftlich für den Unterhalt der Familie unentbehrlich. Oft arbeitet sie bis in alle Nacht. 

Muetti ist eine angesehene und gesuchte Schauspielerin.



(1) Muetti als Schauspielerin in Buochs, um 1946.

 

Muetti als Schauspielerin in Buochs, um 1946.



(2)  


Das Theater Buochs ist ein angesehenes Volkstheater. Viele Theaterbesucher kommen von weither angereist ins Theater mit eigener Spielstätte. Einmal darf ich bei einer Probe hinter den Kulissen dabei sein.

In ihrer Rolle als Mutter kann ich mich nicht an sie erinnern. Gibt es Umarmungen, Zuneigung? Dafür fehlt ihr die Zeit. Und jene Epoche ist auch nicht die Zeit für Zärtlichkeiten.

 
Ihr früher Tod
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2.1.  Unsere Familie – Unsere Mutter.

Ihr früher Tod

1948/1949. Die Mutter ist krank und überlastet. Wie ich später erfahre auch einige Male stationär in der Nervenklinik. In dieser Zeit bin ich oft in Sempach.

Ihr früher Tod ist der grosse Einschnitt im Leben unserer Familie. Doch das Ereignis geht ohne Erinnerung an mir vorbei. Hat jemand mit mir darüber gesprochen? Ich kann mich an nichts erinnern.

Alles zum Tod unserer Mutter und über die unmittelbar darauf folgende Zeit weiss ich von Anna. Sie schreibt in ihrem Buch:

Sonntag, 31. Juli 1949. Ein strahlend blauer Sommertag. Todestag unserer Mutter.

Sechs Tage vor ihrem Tod hat Muetti im Atelier genäht. Eine akute Gelbsucht ist bei ihr ausgebrochen. Nebst den vielen Sorgen um die Familie ist alles zu viel für sie. Ihr Sterben kam schnell und unvorhergesehen.

Sie war zwar bereits für eine spätere Kropf-Operation im Spital angemeldet. Unsere Pflegeplätze sind daher schon vor ihrem völlig unerwarteten Sterben für uns bestimmt. In der Meinung, dass dies nur eine vorübergehende Situation ist. Aber es kommt alles anders.

Ich bin bei Tante Fini. Sepp und Ernst bei meiner Gotte in Sempach.

An diesem Sonntagmorgen wird unser aller Leben auf den Kopf gestellt. Ich sehe Vater vor mir, der kurz zu Tante Fini in die Küche kommt mit der traurigen Nachricht, dass Mutter nicht mehr aus dem Koma erwacht ist. Er war seit Donnerstag bei ihr in Stans im Spital am Krankenbett. Sie hat die Augen nicht mehr geöffnet. Auch nichts mehr gesagt.



(1) Mutter, Leidbild, gestorben 31.07.1949.

Mutter, Leidbild, gestorben 31.07.1949.

 



 

 

Unser Vater
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2.2.  Unsere Familie – Unser Vater.

Unser Vater wird am 25. Juli 1910 in Ennetmoos NW, seinem Heimatort, geboren. Sein Vater heisst Walter und seine Mutter Klara, geb. Amstutz. Einen Beruf kann er, wie auch alle seine Brüder, keinen erlernen.

Dädi der Seegusler
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2.2.  Unsere Familie – Unser Vater.

Dädi der Seegusler

Als erstes Erlebnis mit Dädi bleibt mir in Erinnerung, wie er mich zur Arbeit auf den Nauen (Ledischiff) mitnimmt. Er ist Seegusler auf dem Vierwaldstättersee. Wie sein Bruder Hans. Seegusler werden sie genannt, weil sie in Buochs bei der Einmündung der Engelberger-Aa in den Vierwaldstättersee mit einem Riesenungetüm von Bagger Kies aus dem See holen und von dort mit dem Nauen abtransportieren.

Ab den 1990er Jahren bauen Uschi und ich auf Velotouren oft einen Badehalt am Aawasser ein. Diese besondere Ecke am Vierwaldstättersee hat sich mir aus meiner Zeit in Buochs eingeprägt, obwohl damals absolutes Badeverbot galt. Auch für Uschi ist das Aawasser-Egg ein mythischer Ort. Infrastruktur und Umgebung verändern sich im Laufe der Jahre. Nicht aber Landschaft und See. Jedes Mal bewundern wir die von Ennetbürgen nach Buochs unmittelbar an der Flussmündung vorbeifahrenden Dampfschiffe. Die enge Vorbeifahrt der Schiffe ist ein Spektakel für Passagiere und Zuschauer am Ufer. Sie ist für Kapitän und Matrosen die Herausforderung, um in der Bucht von Buochs zielgenau an der Schiffländi anlegen zu können. In diesen Momenten wird in mir die Vergangenheit wieder lebendig. Das schöne Plätzchen am See haben wir auch mit unseren Kindern und den Enkeln öfters besucht. Verständlicherweise ohne in ihnen die Emotionen zu wecken, die mich mit diesem Ort verbinden.

Seit den 2010er Jahren fahren kaum mehr Schiffe von Ennetbürgen nach Buochs. Ab Vitznau nehmen sie direkten Kurs nach Beckenried. Auf den Umweg in die Buochser-Bucht wird verzichtet, denn der Tourismus hat sich von Buochs und Ennetbürgen verabschiedet. Und die beiden Dörfer sind als Schlafdörfer hinreichend erschlossen.

Die Seegusler helfen beim Beladen der Nauen und kümmern sich um das Ladegut. Und sie haben Aufgaben unten im Schiffsbauch in einer Art Kombüse mit einer Kochgelegenheit. Ohne Aufsicht des Vaters darf ich mich nur hier aufhalten. Es riecht nach starkem Milchkaffee. Gemischt mit dem Gestank von Motorenöl. Den Milchkaffee trinken wir aus weissen Metall-Tassen mit blauem Rand. Wenn ich mit Vater oben sein darf, lupft er mich ans riesige Steuerrad, und ich darf daran drehen. Obwohl die Seegusler nur die Hilfsarbeiter der Nauenfahrer sind.

Den starken Geruch des Milchkaffees erzeugt die Zichorie. Sie dient als Kaffee-Ersatz und ist im Franck-Aroma enthalten. Ein Produkt, das noch lange Zeit als Strecker des teuren Kaffees gilt. Mir fällt auf: Noch heute trinke ich als Erstes nach dem Aufstehen zwei Tassen Milchkaffee. Und zwar ausschliesslich der Marke Incarom. Und dieses Milchkaffe-Pulver besteht aus 50 % Extrakt (Kaffee 52 %, Zichorie 48%) und 50% Glukose!

Dädi im Militär
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2.2.  Unsere Familie – Unser Vater.

Dädi im Militär

Im Militär ist Vater bei den Train-Truppen. Dädi liebt Pferde und kann gut mit ihnen umgehen. 

 

(1) Dädi bei den Train-Truppen (zweiter von rechts). Wahrscheinlich eine Aufnahme aus dem Aktivdienst 1939-1945.

Dädi bei den Train-Truppen (zweiter von rechts). Wahrscheinlich eine Aufnahme aus dem Aktivdienst 1939-1945.


In der Zeit des Zweiten Weltkriegs leistet er Aktivdienst. Das ist für ihn und seine Frau wirtschaftlich und emotional eine schwere Periode. Vier Kinder kommen auf die Welt. Und der Dienst am Vaterland wird wirtschaftlich kaum kompensiert.

Und das weiss ich noch von ihm
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2.2.  Unsere Familie – Unser Vater.

Und das weiss ich noch von ihm

Anna erzählt, dass unser Vater oft keine Anstellung hat. Obwohl er arbeitsam ist und alles Erdenkliche tut, um Arbeit zu bekommen. Als er bei einem Zimmermann in Buochs Hilfsarbeiter ist, muss sie bei seinem Meister, dem angesehenen Herrn Kirchenrat um den Lohn für unseren Vater betteln. Sie sagt, in meiner Begleitung, aber daran erinnere ich mich nicht.

Dädi ist bescheiden, liebt seine Frau und uns Kinder, trotz der strengen Erziehung. Manchmal nimmt er mich auf sein Knie. "Hoppe hoppe Reiter" ist für mich lustig. An tiefere Zeichen der Zuneigung erinnere ich mich nicht. Wir wachsen in einer Zeit auf, in der es sich nicht geziemt, Gefühle zu zeigen.

Und unser Vater ist immer gut gepflegt. Er ist ein attraktiver Mann. Das weiss er.



(1) Dädi, etwa 20 Jahre alt (um 1930). 

Dädi, etwa 20 Jahre alt (um 1930).


Auch nach dem Tod der Mutter geht Vater am Sonntag in die Kirche. Für katholisch getaufte Christen ist der Kirchgang am Sonntag Pflicht. Argwöhnische Anwohner auf dem Weg zur Kirche registrieren genau, wer dieses Gebot beachtet. Aber ich spüre in meiner Jugend, im Innern besteht bei Vater eine kritische Distanz zu dieser Institution und ihrem Personal. Nicht alles, was gepredigt wird, hat in seinen Augen Bestand. Ich selbst erlebe und spüre das später leibhaftig mit eigenen Erfahrungen.


Die Familie wird auseinander gerissen
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2.2.  Unsere Familie – Unser Vater.

Die Familie wird auseinander gerissen

Mit dem Tod unserer Mutter ändert sich das Leben für unseren Vater und für uns Kinder radikal. Dädi hat das Sorgerecht und will es behalten, will selbst schauen, dass wir gut unterkommen. Eine grössere Pein, als seine Kinder unter Vormundschaft zu sehen, kann er sich nicht vorstellen. Zu Recht, wenn ich daran denke, was mit den Verdingkindern jener Zeit alles passiert ist.

Aber nie höre ich davon, dass wir von Behörden oder von der Kirche Unterstützung bekommen. Weder soziale noch wirtschaftliche. Nicht zu reden von pädagogischer oder psychologischer Hilfe. 

 

(1) Familienfoto 1950. Von links, Anna, Klara, Josef, Vater mit Amatus, Ernst. Die Mutter fehlt.
 
Familienfoto 1950. Von links, Anna, Klara, Josef, Vater mit Amatus, Ernst. Die Mutter fehlt.

Ich habe Erinnerungen daran, wie dieses Foto entstanden ist, an die Fahrt mit dem Postauto und an das Fotostudio in Stans. Ich sehe den riesigen Kasten und den Fotografen hinter dem schwarzen Tuch. Ich weiss, dass ich neu eingekleidet wurde, nicht aber, wie ich von Sempach zu meiner Familie gekommen bin.

Vater bleibt keine Wahl. Ohne Mutter kann er die Familie nicht zusammen halten. Anstelle der provisorischen Fremdplatzierungen während der Krankheitstage von Muetti muss er Dauerlösungen finden.

Anna kommt bei Tante Fini unter. Das bleibt so für ihre ganze Schulzeit. Ich werde endgültig in Sempach platziert und wachse dort auf bis zum Ende meiner Lehrzeit.

Ernst kommt ins Entlebuch, zu einem Bergbauern und Dienstkollegen unseres Vaters. Für ihn ist das gewiss das härteste Los. Über sein Leben im Entlebuch weiss ich nichts. Es gibt keine Besuche bei ihm. Wie kommt man von Sempach überhaupt dorthin? Ein Auto gibt es bei Schmids keines. Später versäume ich es, selbst mit Ernst über diese Zeit zu sprechen. Ich bedauere das.

Klara bleibt vorerst in Buochs. Zuerst bei Onkel Hans. Dann bei Hildi und Hermann Odermatt. Im Haus mit der Papeterie, deren Geruch ich noch heute in der Nase habe. Hermann ist ein Cousin unserer Mutter. Um nicht Verdingkind zu werden, Klara sagt, das sei schon im Amtsblatt gestanden, kommt sie 1955 zur Familie von Onkel Kari nach Ennetmoos. Sie ist sechs Jahre nach Mutters Tod zehnjährig. Kari und Tante Josy haben drei eigene, jüngere Kinder. Es sind der 4-jährige Kari, die 2-jährige Josy und die 1-jährige Rosly. Erwächst dort in Klara ihr Talent als Kindergärtnerin? Im neu erbauten Haus in Ennetmoos ist Platz genug. Auch unser Grossvater darf dort seinen Lebensabend verbringen. Und Platz braucht es später wirklich. Bis 1968, der Geburt des letzten Kindes, haben wir in Enntemoos insgesamt neun Cousinen und Cousins.

Amatus, er ist beim Tod der Mutter gerade mal 1 1/2 Jahre alt, wird im Waisenhaus in Stans untergebracht. Später kommt auch er zu Tante Fini und beginnt seine Schulzeit in Buochs. Schon als Kind ist er selbstbewusst und zu einem Streich zu haben. Um seinen Mitschülern der zweiten Klasse zu beweisen, dass die unterrichtende Nonne in Wirklichkeit Haare auf dem Kopf hat, reisst er ihr beim Eintreten ins Klassenzimmer die Haube vom Kopf. Eine grössere Schmach erduldet keine Klosterfrau. Das reicht für Rathausen. Er wird ins dortige Kinderdörfli versetzt.

Das Kinderdörfli Rathausen (Wikipedia, 09.05.2019)
Die Heiminsassen konnten in der Anstaltsschule unterrichtet werden. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass Schulbildung für die Heimleitung wenig Bedeutung hatte. Für Kinder aus den unteren sozialen Schichten war ein Leben als Magd oder Knecht vorgesehen. In Jahresberichten des Heimes ist immer wieder die Rede von den schwachen Schulleistungen der Zöglinge. Ehemalige Heiminsassen berichten, sie seien durch die Umstände am Lernen gehindert worden. Religiöser Unterricht und die Unterweisung in handwerklichen Fächern hätten einen grossen Stellenwert gehabt.

Aus dem „Bericht Kinderheime im Kanton Luzern 1930-1970“, Seiten 87–89. (Memento vom 22. September 2013).

Aber aus Amatus wird kein Knecht. Nach Beendigung der obligatorischen Schulzeit in Rathausen absolviert er die dritte Sekundarklasse in Buochs und findet wieder Unterschlupf bei seiner Gotte, unserer Tante Fini. Für die Dauer der kaufmännischen Berufslehre bei der Zürich Versicherung ist sein Zuhause das Lehrlingsheim St. Klemens in Ebikon. Seine erste Stelle nach Lehrabschluss ist im Büro der Garage Zai an der Zentralstrasse. Zai ist Untermieter im Haus der Christlichsozialen Krankenkasse, bei der ich ab Ende 1962 arbeite. Hie und da treffen wir beide uns vor dem dortigen Kiosk, wo ich mich mit meiner täglichen Ration Zigaretten eindecke. 

Unser Vater auf dem Hof Linden
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2.2.  Unsere Familie – Unser Vater.

Unser Vater auf dem Hof Linden

Vater braucht Arbeit und am besten gleich noch ein Zuhause. Beides findet er bei den Geschwistern Alfred und Marie Bucher im Hof Hinterlinden in Buochs. Ihnen gehört der kleine Bauernhof mit einer Kleinmosterei. Es gibt zehn bis zwölf Kühe im Stall und ein Pferd. Anfänglich unterstützt Vater die beiden schon etwas älteren Geschwister als Knecht. Er ist lernfähig, obwohl er keine Lehre machen konnte. Später übernimmt er alle im Betrieb anfallenden Arbeiten in Absprache mit Alfred und Marie Bucher. Auch weiss er bald, was es braucht, um aus dem angelieferten Obst qualitativ guten Most herzustellen. Wenn Alfred Bucher nicht mehr so recht mag, legt sich Vater umso mehr ins Zeug.

Die Besuche bei Vater in der Linde sind mir in guter Erinnerung. Ich fühle mich dort wohl und erlebe das Landleben anders und mit weniger Hektik als in Sempach. Weil mit Ausnahme der einen Kuh, deren Milch für den Eigengebrauch benötigt wird, alles Vieh auf der Gerschnialp ist, können sich die Buchers im Sommer auf die Heuernte konzentrieren. Ich darf dabei helfen. Anfänglich haben die Buchers ein Ross, später einen Schilter und einen Traktor.

Der Hof Hinterlinden liegt ausserhalb von Buochs an der rechten Seite der Strasse nach Beckenried. Das grosse Wohnhaus mit der daneben liegenden Scheune und dem angebauten Schopf ist unübersehbar und auch das kleine Häuschen, in dem die Tresterfässer gelagert sind. Links der Strasse gibt es eine Wiese mit Seeanstoss. Im Schatten des grossen Baumes dürfen wir Kinder verweilen und im See baden. Bei Marie in der Küche gibt es Znüni oder Zvieri. Auf dem Küchentisch stellt sie Süssmost, Käse und duftendes Schwarzbrot bereit. Das ist mein erster Kontakt mit dem Sbrinz am Stück als Teil einer köstlichen Zwischenmahlzeit. Sbrinz gibt es zwar auch bei Tante Fini. Sie aber verwendet ihn ausschliesslich als Reibkäse zum Würzen des Käse-Reises, eine meiner Leibspeisen, wenn ich bei ihr bin.



Trester als Brennmaterial
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2.2.  Unsere Familie – Unser Vater.

Trester als Brennmaterial

Meinen Vater sehe ich nur, wenn ich für ein bis zwei Wochen bei Tante Fini in den Ferien bin. In dieser Zeit ist Anna im Austausch mit mir bei ihrer Gotte in Sempach. Dort wird sie verwöhnt und auch ich fühle mich in Buochs wohl. Tante Fini schätzt meine Hilfsbereitschaft. Wenn ich bei ihr bin, besuche ich Dädi in der Linde. Ich darf bei der Arbeit mithelfen. Ich erlebe, wie aus den beim Mosten verbleibenden Obstrückständen Brennmaterial entsteht.

Die Obstrückstände packt Dädi in grosse Holzfässer, in denen sich der Gärprozess entwickelt. Nachdem die Gärung abgeschlossen ist, kommt der Störbrenner vorbei. Nach dem Brennprozess bleibt der Trester als trockene Masse, aus der Vater mit einem speziellen Gerät zylinderförmige Stöckli formt. Danach bestreut er sie mit Kalk und lagert diese fein säuberlich und reihenweise auf den gezimmerten Holzgestellen an der Fassade auf der Sonnenseite des Schopfs. Die trockenen Stöckli sind im Winter ideales Material zum Speichern der Glut und ihrer Wärme im mit Holz geheizten Ofen.

In Sempach funktioniert das anders. Dort wird der Tresterabfall im Holzschopf gelagert, mit Chrösch (Abfall beim Getreidedreschen) oder Heublumen (auf der Tenne zusammen gewischte Reste des Heus) gemischt und mit Salz bestreut. Dieses Gemisch wird den Kühen als Appetitanreger verfüttert. Zum Heizen oder zur Lagerung der Glut werden ähnliche Stöckli geformt. Aber das Material besteht aus Torf, der im Moor in der Nähe des Chüserainwalds gestochen wird. Wenn die Torfstöckli aufgebraucht sind, müssen Briketts aus Kohle gekauft werden. Meist bin ich es, der die 30 Kilo schweren Bündel mit dem Schlitten vom Städtli ins Friedheim zieht. 

Die Buchers vom Stigli
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2.2.  Unsere Familie – Unser Vater.

Die Buchers vom Stigli

Den Nachbarhof Stigli bewirtschaftet die Familie Edi Bucher, ein Bruder der Geschwister von der Linde. Unser Vater hilft dort im Sommer aus. Deshalb bin ich oft auf diesem Hof dabei und komme mit den etwa gleichaltrigen Kindern in Kontakt.

Die Gegend um Ennetbürgen-Buochs-Beckenried ist im Sommer für Uschi und mich nicht selten Ziel von Fahrrad-Touren. Seit ich mir vorgenommen hatte, den Spuren meines Lebens nachzugehen, erwische ich mich hie und da dabei, dass ich diesen einen Inhalt geben will. Bei einer der Velofahrten an der Linde vorbei interessiert mich, ob noch Verbindungen zu den Buchers von damals bestehen. Scheune und Haus sind erneuert, aber die Fundamente und ursprüngliche Gebäudeteile sind gut erkennbar. Uschi und ich gehen zum Hof. Im Raum, in dem unser Vater gemostet hatte, befindet sich jetzt ein Tisch, auf dem die Bauersleute eigene Produkte zum Verkauf anbieten. Ich komme mit der jungen Frau ins Gespräch. Aus meinen Schilderungen über die Zeit meines Vaters in der Linde schliesst sie, dass ich ihren Schwiegervater, einen der Söhne vom Stigli, kennen müsste. Sie meint, er würde sich freuen, mich zu sehen und ruft ihn herbei. Ich stelle mich vor. Er, Edi Junior, erinnert sich sofort an unsere gemeinsame Kinderzeit. Er weiss, woher auch immer, von meiner Karriere bei der Krankenkasse. Ich selbst habe keine Erinnerung mehr an ihn. Aber aus dem spontanen Besuch der Linde wird nach mehr als 60 Jahren eine Begegnung, die mir die guten Gefühle von damals zurückgibt.

Die Beziehung zu meinem Vater
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2.2.  Unsere Familie – Unser Vater.

Die Beziehung zu meinem Vater

Wenn Vater und ich uns sehen, in der Linde oder bei einem seiner seltenen Besuche in Sempach, sprechen wir nicht über unser Befinden. Geschehenes oder die Zukunft sind kein Thema. Der Alltag beherrscht das Dasein. Vater, das ganze Umfeld und ich können und kennen es nicht anders. Über Gefühle spricht man nicht. So empfinde ich die Denkweise jener Zeit.

Ohnehin, ich weiss nicht, ob ich mich auf die Besuche meines Vaters in Sempach freue. Sie laufen eigenartig und nach einem seltsamen Ritual ab. Bei seinem Eintreffen habe ich brav bereit zu sein. Er wird von mir und Mutter Schmid begrüsst. Die beiden begeben sich möglichst schnell zum Gespräch ins Stübli, das den besseren Besuchen und der Weihnachtsfeier vorbehalten ist. Ich muss draussen bleiben, banges Warten in der Bauernstube und ohne Ahnung, was gesprochen wird. Sicher sind mein schlechtes Verhalten ein Thema, die Schule und der weitere Verbleib im Friedheim. Am Schluss des Besuchs gibt es einen kurzen Spaziergang alleine mit Vater. Ich führe ihn zum Stall mit den vielen Kühen. Über das Gespräch im Stübli kann, darf oder will Vater nicht mit mir reden. In vager Erinnerung ist mir, dass er bei einem seiner Besuche Mutter Schmid einen Geldbetrag (waren es 300 Franken?) in einem Kuvert auf den Tisch legt. Wozu? Wofür? Mich plagen Gefühle von Misstrauen. In mir wird die Frage wach, wohin ich gehöre. Nach Buochs, nach Sempach oder nirgendwohin?

Vaters Tod
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2.2.  Unsere Familie – Unser Vater.

Vaters Tod

Nach meiner Schulzeit werden meine Besuche in Buochs seltener. In der Lehre gibt es nur noch zwei oder drei Wochen Ferien im Jahr. Und auch samstags wird im Büro gearbeitet. Einmal, ich erinnere mich vage, treffe ich Vater zufällig beim Bahnhof in Luzern. Wahrscheinlich bin ich auf dem Weg von der Berufsschule zurück nach Sempach. Er berichtet mir, dass er im Kantonsspital zur Bestrahlung gewesen sei. Ich habe keine Ahnung, was das ist. Wir beide müssen zurück auf den Zug. Meine ersten Schritte der Flucht?

Unser Vater stirbt am 8. August 1963. Etwas mehr als einen Monat nach seinem Vater. Ich bin in der Rekrutenschule. Der Zugführer bittet mich ins Kompanie-Büro und überbringt mir die Nachricht schonend und mit viel Anteilnahme. Einordnen kann ich sie nicht. Für die Beerdigung bin ich in Buochs. Wann und woher ich komme, weiss ich nicht mehr. Ich trage die Uniform. Mutter Schmid ist im Jahr zuvor gestorben. An ihre Beerdigung gehe ich nicht. Und jetzt ist auch mein Vater nicht mehr da. Ich weiss nicht, wohin meine Gedanken gehören. Meine Flucht von Sempach nach Frauenfeld im Sommer 1962, sofort nach Beendigung der Lehre, hatte doch zum Ziel, alles hinter mir zu lassen. Buochs und Sempach.

 

(1) Vater, Leidbild, gestorben 08.08.1963.

Vater, Leidbild, gestorben 08.08.1963.

 

 

Meine Verwandtschaft väterlicherseits
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3.  Meine Verwandtschaft väterlicherseits

Zur Familie meines Vaters gehören Walter * 1909, Josef * 1910, Hans * 1912, Werner * 1913, Arnold * 1918, Eduard * 1920 und Karl * 1921. Unser Vater ist demnach der zweitälteste der sieben Buben. Onkel Hans wohnt in Buochs. Mit ihm und seiner Familie habe ich in meiner Bubenzeit Kontakt. Eine wichtige Rolle in unserem Leben wird Karl einnehmen, der jüngste Bruder meines Vaters. Den fünf anderen Onkeln begegne ich hauptsächlich an Gedächtnisgottesdiensten. Die Grossmutter väterlicherseits stirbt schon 1924. Bei ihrem Tod sind die sieben Söhne noch im Kindes- und Jugendalter.

 

Meine Erinnerungen an den Grossvater
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3.  Meine Verwandtschaft väterlicherseits

Meine Erinnerungen an den Grossvater

An die Gestalt meines Grossvaters erinnere ich mich gut. Einmal nimmt Tante Fini mich und Anna zu einem Besuch bei ihm mit. Zu dritt gehen wir zu Fuss von Buochs über Stans nach Ennetmoos. Eine lange Wanderung. Unser Grossvater, ein Mann mit imposantem Bart, sitzt auf dem Bänkli vor dem Haus mit seinem schalkhaften Lachen im Gesicht.

 

(1) Grossvater, Walter Barmettler in Ennetmoos. 1950er Jahre.

Grossvater, Walter Barmettler in Ennetmoos. 1950er Jahre.

 

Das weiss ich noch von ihm
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3.  Meine Verwandtschaft väterlicherseits

Das weiss ich noch von ihm

Unser Grossvater ist in seiner Jugend in Ennetmoos als Sigrist (Sakristan) tätig. Der Stolz unseres Grossvaters ist es, in der Urgestalt als Helmi-Bläser in historischer Uniform den jährlichen Landsgemeinde-Einzug von Stans nach Oberdorf anzuführen. Mit den Hornstössen aus dem Helmi (= Harschhorn) macht er die Landsleute auf den baldigen Beginn der Landsgemeinde aufmerksam.

Mehr bleibt mir von den Erzählungen um unseren Grossvater nicht in Erinnerung. Aber nun kommt meine Schwester Klara ins Spiel. Weil sie in Ennetmoos im Paradiesli aufwächst, erlebt sie die Familie unseres Vaters hautnah. Sie bekommt dort bei den Sonntagbesuchen von Onkel Walter am Küchentisch viele interessante Gespräche über frühere Zeiten mit. Deshalb bittet sie ihn, Grossvaters Familiengeschichte aufzuschreiben.

 

Das schreibt Onkel Walter
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3.  Meine Verwandtschaft väterlicherseits

Das schreibt Onkel Walter

1994 übergibt Onkel Walter unserer Klara diese handgeschriebene Familienchronik.



(1) Auszug aus der handgeschriebenen Familiengeschichte, Grossvater Walter Barmettler-Amstutz. © Onkel Walter Barmettler, 1909 – 2001.

Auszug aus der handgeschriebenen Familiengeschichte, Grossvater Walter Barmettler-Amstutz. © Onkel Walter Barmettler, 1909 – 2001.


Diese Geschichte liegt jetzt vor mir in der von Klara aufgezeichneten Form.

Onkel Walter besucht 1916 bis 1923 die Grundschule in Ennetmoos. Er beschreibt in seiner bildhaften, von Anfang des vorigen Jahrhunderts stammenden Sprache die Herkunft seiner Eltern, seine und die Kindheit seiner Brüder. Ich will aus dieser Chronik einige Eckpunkte herausnehmen.

Unser Grossvater kommt 1876 als jüngster von sieben Buben auf die Welt. Er lebt mit seinen Eltern auf dem kleinen Bauernbetrieb Murmatt in Ennetmoos. Grossvater wird gelernter Zimmermann und geht nach Ende der Lehrzeit auf Wanderschaft. Diese führt ihn bis ins Tessin. Nach seiner Rückkehr heiratet er mit 32 Jahren Klara Amstutz (* 1885). Sie arbeitet im damaligen Restaurant Allweg in Ennetmoos.

Die Familie wird früh von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Tochter Frieda (* 1911) ertrinkt im Alter von 2½ Jahren. Sie ist in Begleitung der kleinen Brüder Walter und Sepp, unserem Vater, unterwegs. Die Kleine entfernt sich und will alleine Blumen pflücken. Dabei stürzt sie in den Bach in der Nähe des Zuhauses und ertrinkt. Arnoldli (* 1915) stirbt 1917 im Alter von zwei Jahren an Kinderlähmung. Drei Tage danach kommt Schwester Maria auf die Welt. Die Familie begibt sich zur Taufe nach Stans. Dort wartet man in einem Restaurant bei einem Kaffee auf die Ankunft der Gotte aus Luzern. Die Kleine schläft in einem Nebenraum. Als die Gotte eintrifft, liegt das Kind leblos im Taufkissen. Nach katholischer Lehre darf das Ungetaufte weder ins Grab des kurz vorher verstorbenen Bruders gelegt werden, noch den kirchlichen Segen erhalten. 1919 kommt ein weiteres Brüderchen auf die Welt, das bei der Geburt stirbt.

1913 wird unser Grossvater als Sigrist von St. Jakob gewählt, einem Ortsteil von Ennetmoos. Die Barmettlers sind Uertener (Korporationsbürger). Das ist eine der Voraussetzungen für seine Wahl. Als Sigrist bekommt Grossvater freie Wohnung und ein kleines Stück Land zur Eigenbewirtschaftung. Zudem darf die Familie den Spezereiladen des Ortsteils betreiben. Von zu Hause bekommt unser Grossvater eine Kuh und ein Rind mit auf den Weg nach St. Jakob. Das ihm zur Bewirtschaftung überlassene kleine Stück Land muss das Futter für die beiden Tiere hergeben. Onkel Walter erinnert sich, dass nach Aufrechnung aller Naturalleistungen ein Lohn von 14 Rappen bleibt (wahrscheinlich pro Tag). Das habe in etwa gerade mal dem Preis für ein Kilogramm Mais entsprochen.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 wird die Situation für die Familie dramatisch. Die Lebensmittel werden rationiert. Es herrscht Inflation. Unser Grossvater ahnt nicht, was das bedeutet. Als einzige Informationsquelle gelangt das Amtsblatt ins Haus. Zwar wundert er sich, dass jetzt auch Unbekannte zu ihm ins Geschäft kommen und seine Waren reissenden Absatz finden. Aber Grossvater weiss nichts von den gestiegenen Preisen. Er verkauft seine Waren nach den alten Einstandspreisen. Den Nachschub muss er zu den viel höheren Tagespreisen besorgen. Dafür reichen die erzielten Erlöse nirgendwohin. Die Familie gerät in finanzielle Not. Die Buben müssen hungern. Walter erzählt, dass er und unser Vater im Winter im Verborgenen verdorbene Kartoffeln essen. Die Folgen sind Bauchschmerzen und -krämpfe. Im Sommer suchen sie sich im Wald essbare Blätter von Dornensträuchern und Beeren.

Grossvater ist zu dieser Zeit auch Gemeindeschreiber und Uertevogt. In dieser Funktion erliegt er der Versuchung, für die hungernden Mäuler Geld abzuzweigen. Die Geschichte fliegt auf. Grossvater kann das abgezweigte Geld nicht zurückzahlen. Die Uerte pfändet dem Ernährer die Kuh und holt sie in seiner Abwesenheit aus dem Stall. Walter erlebt das als kleiner Bub mit. Nun muss die Familie die Milch wieder selbst kaufen. Das Nahrungsangebot wird noch miserabler. Folge ist, dass die Kinder unterernährt und immer wieder krank sind. Im Sommer 1920 erleidet Walter eine Bauchfellentzündung und fühlt sich dem Tode nahe. Zu all dem rutscht er im Winter 1920 aus. Dabei fällt er mit dem Kopf auf die Mauerkante vor dem Haus. Aus seinen Schilderungen ist zu schliessen, dass er ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erleidet. Der Arzt scheint ihn aufzugeben. Seine Mitschüler beten für ihn in der Kirche. Die Mutter verspricht Wallfahrten nach Sarnen und Einsiedeln. Die Nachbarsleute halten Nachtwache. Und tatsächlich, mehr als 40 Tage nach seinem Sturz erwacht Walter. Er ist wieder bei Besinnung. Er kann sich an den Sturz und sogar an die Schulaufgaben erinnern. Bleibende Folge des Unfalls ist ein Hörschaden am rechten Ohr und ein Zittern in der rechten Hand.

Die Not in der Familie bleibt gross. Die Kinder müssen überall mit anpacken. Nach Abschluss der Grundschule wird Walter als 14-jähriger Bub als Knecht mit einem Monatslohn von 30 Franken verdingt. Auch unser Vater kommt nach der Schulzeit zu einem Bauern nach Buochs.

1924 stirbt unsere Grossmutter im Alter von 39½ Jahren. Beim Reinigen des Bodens gerät ein Splitter unter einen Fingernagel. Folge ist eine Blutvergiftung, die vierzehn Tage später zum Tode führt. Bei ihrem Tod ist sie zum zwölften Mal schwanger.

Onkel Walter ist 15-jährig als seine Mutter stirbt, Kari, der jüngste seiner Brüder ist gerade mal drei Jahre alt. Auch die Familie meines Vaters wird auseinandergerissen. Der Versuch des Grossvaters, mit einer Haushälterin, einer Tochter seines Bruders, die Gemeinschaft zusammen zu halten, scheitert. Dem Grossvater sei es zu wohl geworden, schreibt Onkel Walter. Er beginne, den Serviertöchtern nachzustellen und sei öfters etwas angeheitert. So werde ihm nahegelegt, die Stelle als Sigrist aufzugeben. Das ist 1931. Unser Grossvater ist 55 Jahre alt. Wie sein späteres Leben weitergeht, ist aus der Chronik von Onkel Walter nicht ersichtlich. Aber ich weiss, dass er seinen Lebensabend im Paradiesli verbringen darf. Grossvater stirbt am 1. Juli 1963 etwas mehr als einen Monat vor unserem Vater.




(2) Grossvater Walter Barmettler-Amstutz, Ennetmoos, 1876 – 1963. Leidbild.

 

Grossvater Walter Barmettler-Amstutz, Ennetmoos, 1876 – 1963. Leidbild.

 

 

Das Paradiesli
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3.1.  Meine Verwandtschaft väterlicherseits – Das Paradiesli .

Nach dem Tod unseres Vaters und des Grossvaters wird die Familie von Onkel Kari und Tante Josy zum Mittelpunkt der Beziehungen unserer Familie mit unserer Verwandtschaft väterlicherseits. Sie halten die Familienbande zusammen.
 



(1) Onkel Kari (86) und Tante Josy bei deren 80. Geburtstag 2007.

Onkel Kari (86) und Tante Josy bei deren 80. Geburtstag 2007.


Ab Mitte der 1960er Jahre treffen sich unsere Onkels mit ihren Familien in St. Jakob jährlich zu einem Gedächtnisgottesdienst für den verstorbenen Grossvater und unseren Vater. Es ist die Kirche, in der unser Grossvater Sigrist war. Danach lädt Tante Josy die ganze Sippe zu sich heim ins Paradiesli ein. Das Haus von Onkel Kari und Tante Josy liegt an der Strasse von St. Jakob nach Kerns. Unmittelbar vor der scharfen Linkskurve beim Kernwald an der Grenze zu Obwalden. Die Einfahrt zum Haus ist nicht zu verfehlen. Sie liegt hinter dem markanten und weithin unter dem Namen Chabisstein bekannten Felsbrocken, der von einem Bergsturz am Stanserhorn stammt. Dort haben die beiden ein schönes Heim und eine Existenz aufgebaut. Onkel Kari betreibt im angebauten Stall eine Schweinemast und auf dem Mueterschwandenberg eine Käserei.



(2) Chabisstein bei St. Jakob in der Linkskurve vor der Einfahrt in den Kernwald. Wie ein Abbild des Stanserhorns (im Hintergrund).

Chabisstein bei St. Jakob in der Linkskurve vor der Einfahrt in den Kernwald. Wie ein Abbild des Stanserhorns (im Hintergrund).

 

 

Und wieder der Sbrinz
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3.1.  Meine Verwandtschaft väterlicherseits – Das Paradiesli .

Und wieder der Sbrinz

In den 1970er Jahren kauft Onkel Kari eine Käserei mit einem kleinen Verkaufsladen im Nachbardorf Kerns. Der Betrieb wird 1979 von seinem ältesten Sohn, unserem Cousin Karl und seiner Frau Monica übernommen, die das Geschäft bis Mitte 2015 weiterführen. Kari produziert Sbrinz, einer meiner Lieblingskäse und ein nur noch von wenigen Käsereien in der Zentralschweiz hergestelltes Qualitätsprodukt. Es ist der Käse, der mich zeitlebens an meine Kindheit in Buochs erinnert.

Abschied vom Paradiesli
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3.1.  Meine Verwandtschaft väterlicherseits – Das Paradiesli .

Abschied vom Paradiesli

Nach und nach zieht die grosse Kinderschar aus. Seit der Jahrhundertwende beherbergt das Paradiesli im Anbau ein vom Tierschutzverein Nidwalden betriebenes Tierheim.

2010 stirbt Onkel Kari, 89-jährig zu Hause in seinem Paradiesli, wo er von Tante Josy und seiner Familie mit Liebe umsorgt war. Glücklicherweise haben ihn seine Beschwerden nicht allzu lange leiden lassen. Der Trauergottesdienst in St. Jakob, umrahmt durch das Innerste berührende Jodellieder, ist ein schlichter und für mich unvergesslicher Abschied von einer aus den Barmettlers von Ennetmoos herausragenden Persönlichkeit.

Oft Kontakt haben Uschi und ich seit anfangs der 2000er Jahre mit Ruth, unserer jüngsten Cousine aus dem Paradiesli. Seit mehr als 30 Jahren leidenschaftliche Floristin hat sie 2005 an der Moosmattstrasse in Luzern ein Geschäft aufgebaut, ein Standort, der auf unserem direkten Weg in die Stadt liegt.

Im Januar 2020 vernehme ich von meiner Schwester Klara, dass auch Tante Josy, 93-jährig und an leichter Demenz erkrankt, vom Paradiesli ins Alterszentrum in Kerns umzieht. Im Haus zurückbleibt Cousin Thomas, der im 2. Stock lebt. Bei ihrem letzten Besuch bei Tante Josy nimmt auch Klara mit guten Gedanken Abschied von ihrem früheren Daheim.

Cousin Thomas stirbt im Januar 2022 nach schwerer Krankheit 65-jährig. Cousin Thomas stirbt im Januar 2022 nach schwerer Krankheit 65-jährig.

Anfangs Juni des gleichen Jahres geht auch Tante Josy kurz vor ihrem 95. Geburtstag ohne lange Leidenszeit aus dieser Welt. Uschi und ich 
nehmen von ihr in guten Gedanken, aber leider aus der Ferne Abschied. Wir sind mit unserem Wohnmobil unterwegs, wieder in Apulien.

 



 


 

Meine Verwandtschaft mütterlicherseits
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4.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits

Zu den Grosseltern mütterlicherseits gibt es dieses Familien-Büchlein.




(1) Familienbüchlein Stalder-Christen, Buochs.

Familienbüchlein Stalder-Christen, Buochs.

   

(2) Unsere amtlich eingetragenen Grosseltern mütterlicherseits.

Unsere amtlich eingetragenen Grosseltern mütterlicherseits.
  • Alois Stalder, heimatberechtigt in Greppen und Weggis LU, geb. am 14.11.1867 in Greppen LU, gest. am 22.12.1933 in Buochs.
  • Josefa Christen, heimatberechtigt in Wolfenschiessen NW, geb. am 1.03.1872 in Stans, gest. am 26.03.1924 in Buochs. 


Im Familienbüchlein sind als ihre drei Kinder eingetragen:

  1. Klara Josefina, geb. am 4.03.1893, Tante Fini.
  2. Anna Maria geb. 29.05.1897, Tante Marie.
  3. Margaritha Anna, geb. 16.8.1916, unsere Mutter. 



(3) Die amtlich eingetragenen Kinder unserer Grosseltern mütterlicherseits.

Die amtlich eingetragenen Kinder unserer Grosseltern mütterlicherseits.

 

Tante Marie, unsere Grossmutter
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4.1.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Tante Marie, unsere Grossmutter.

Sind die amtlichen Einträge im Familienbüchlein Stalder-Christen korrekt, hätte Josefa Stalder bei den Geburten ihrer drei Töchter folgendes Alter gehabt:

  • 21 Jahre bei Josefina, unserer Tante Fini
  • 25 Jahre bei Maria, genannt Marie
  • 44 Jahre bei Anna, unsere Mutter.

Das hohe Alter von 44 Jahren bei der Geburt unserer Mutter springt als Erstes ins Auge. Noch stärker fällt die Abfolge der drei Geburten auf. Unsere Mutter Anna kommt neunzehn Jahre nach Maria zur Welt. Diesen beiden Fragen will ich nachgehen.

Zwar ist es schon zu jener Zeit nicht unüblich, dass Frauen im Alter von über 40 Jahren Kinder gebären. Frau Anna Schmid in Sempach, bei der ich aufgewachsen bin, war Mutter von 13 Kindern. Das erste Kind Kaspar gebar sie 1918 im Alter von 22 Jahren. Bei der Geburt ihres letzten Kindes 1937 Walter, 20 Jahre später war sie 42 Jahre alt. Allerdings fanden die Geburten ihrer Kinder im Ein- oder Zweijahresrhythmus statt. Bei Frau Stalder liegen zwischen der Geburt der zweiten und dritten Tochter 19 Jahre. Und das heisst aber auch, dass Maria bei der Geburt von Anna schon 19 Jahre alt war.

Ihre Beziehung in Weggis
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4.1.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Tante Marie, unsere Grossmutter.

Ihre Beziehung in Weggis

Unserer Schwester Anna fallen in ihrer Kindheit Ungereimtheiten und Auffälligkeiten in der Beziehung zwischen den Tanten Fini und Marie auf. Über irgendetwas wird der Mantel des Schweigens gehüllt. Ihrer Vermutung, Marie könnte nicht unsere Tante, sondern unsere Grossmutter gewesen sein, will ich nachgehen.

Bei der Geburt unserer Mutter ist Maria mit 19 Jahren noch minderjährig. Sie arbeitet im Gastgewerbe im Café von Bäckermeister Georg Böck in Weggis.


(1) Café Böck, Weggis, Arbeitsort von Maria Stalder ca. 1915/16 bis 1920/21.

Café Böck, Weggis, Arbeitsort von Maria Stalder ca. 1915/16 bis 1920/21.


Im Nachlass von Marie befinden sich Unterlagen, die auf eine Beziehung von ihr mit dem Inhaber des Cafés schliessen lassen, unter anderem diese beiden Fotos.


(2) Georg Böck, Bäckermeister, Weggis. Links in deutscher Uniform, rechts das Grab des gefallenen Offiziers in Russland.

Georg Böck, Bäckermeister, Weggis. Links in deutscher Uniform, rechts das Grab des gefallenen Offiziers in Russland.


Diese Beziehung wird eine Schwangerschaft von Marie zur Folge gehabt haben. Doch die Stalders sind eine angesehene, gutbürgerliche Familie. Eine minderjährige Tochter aus diesen Kreisen darf kein uneheliches Kind mit zweifelhafter Vaterschaft auf die Welt bringen. Die Familie beschliesst, dass die Mutter von Marie deren Rolle als Mutter übernimmt. Marie kommt zur Geburt von Weggis in das am anderen Seeufer und hinter dem Bürgenberg liegende Buochs. Ihre Eltern haben mit der Hebamme die Abmachung getroffen, dass Josefa Stalder als leibliche Mutter im Geburtsschein erscheint. Es ist wahrscheinlich, dass dabei ein Geldscheinchen weiter half. Unsere Mutter wird so zur amtlich eingetragenen Schwester der eine Generation älteren Josefine und Maria. Erlebnisse und Erkenntnisse von Anna in ihrer Jugend bei Tante Fini und Dokumente aus der Zeit um die Jahre 1940-1945 bestätigen diese Vermutung.

  • Zwischen den beiden Schwestern gibt es oft Auseinandersetzungen in Geldfragen, um Unterhaltszahlungen und Erbschaften.
  • Die zwiespältige Beziehung von Tante Fini zu unserem Vater wird auf solche Fragen zurückzuführen sein. Wie auch die vollkommen ablehnende Haltung von Marie gegenüber ihm und unserer Familie.
  • Bilder zeigen, wie sehr unsere Mutter im Aussehen ein Abbild von Marie ist.


Zwar wird dafür der endgültige Beweis fehlen, aber ich sehe es als gesichert an, dass Marie nicht unsere Tante, sondern die leibliche Mutter unserer Mutter, unsere Grossmutter war. Und Fini war nicht unsere Tante, sondern unsere Grosstante. Uns bleibt sie als Tante Fini dennoch in bester Erinnerung. Dieser Indizienkette folgend wäre unser Grossvater mütterlicherseits der Offizier und Bäckermeister aus Weggis und in unseren Adern flösse deutsches Blut.

Das Haus der Geschwister Stalder in der Fischmatt
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4.2.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Das Haus der Geschwister Stalder in der Fischmatt .
Vom Plastiksack mit den Fotos und Dokumenten, den mir meine Schwester Anna zu Beginn meiner Schreibarbeit gegeben hat, habe ich schon erzählt. Darin finde ich dieses Dokument. 



(1) Quittung über den Kauf des Grundstücks an der Fischmattstrasse in Buochs.

 

Quittung über den Kauf des Grundstücks an der Fischmattstrasse in Buochs.

Diese Quittung ist die Spur zum Haus in der Fischmatt. Die Geschwister Stalder bauen auf dem von der Korporation Buochs erworbenen Grundstück in den Jahren 1941/1942 ein 3-Familienhaus. Im ersten Stock wohnen unsere beiden Tanten. Die beiden darüber liegenden Wohnungen sind vermietet. Im Erdgeschoss, mit Waschküche und Keller-Abteilen, befindet sich ein Raum mit eigenem Eingang, offensichtlich gedacht als Nähatelier für unsere Mutter.

Warum ist unsere Mutter am Haus nicht beteiligt?
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4.2.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Das Haus der Geschwister Stalder in der Fischmatt .

Warum ist unsere Mutter am Haus nicht beteiligt?

Unsere Eltern heiraten 1939, zwei bis drei Jahre bevor das Haus der Stalder-Schwestern gebaut wird. Unsere Mutter ist an der Liegenschaft nicht mitbeteiligt, obwohl sie schon seit zwei Jahren mit Vater verheiratet ist. Erbrechtlich wäre sie gegenüber ihren Geschwistern gleichberechtigt. Ausserdem schiene es naheliegend, dem jungen Paar Barmettler-Stalder den Einstieg in ihr Leben als Familie zu erleichtern.

Die erbrechtliche Situation zeigt den Teufelskreis auf, in den die Familie Stalder-Christen mit der Übernahme der Mutterrolle durch Josefa für das uneheliche Kind von Maria geraten ist. Als sie 1924 stirbt, sind Fini 31 und Marie 27 Jahre alt. Beide sind volljährig, aber unsere Mutter ist erst achtjährig. Fini und Marie haben wohl das Versprechen abgegeben, ab jetzt für Anna zu sorgen. Deshalb wächst sie in der Familiengemeinschaft Stalder-Christen auf. Neun Jahre später stirbt Alois Stalder-Christen, der leibliche Vater von Fini und Marie und gemäss amtlichem Eintrag auch unserer Mutter. Als 17-Jährige ist sie zu diesem Zeitpunkt minderjährig und selbst nicht erbberechtigt.

Es ist nicht dokumentiert, wie die Hinterlassenschaft der Stalders geregelt war. Aber offensichtlich ist, dass sie Geld hinterlassen haben, das die Töchter spätestens beim Tod ihres Vaters erben. Formell stünde unserer Mutter bei Erreichen der Volljährigkeit ihr Erbanteil zu. Aber Fini und Marie teilen das Erbe unter sich auf. Sie handeln zwar nicht rechtmässig, aber aus ihrer Sicht richtig. Denn Anna hätte als leibliche Tochter von Marie keinen direkten Anspruch auf die Hinterlassenschaft der Eltern Stalder.

Fini und Marie halten ihr Versprechen und lassen unsere Mutter einen Beruf erlernen, den sie zum Lebensunterhalt nutzen kann. Einen Teil der Erbschaft benötigen die beiden für den Hausbau in der Fischmatt. Mit diesem 3-Familienhaus ist für alle drei Stalder-Schwestern ein solides Fundament für die Zukunft gelegt. Es gibt selbst genügend Platz für den Bruder von Mutter Stalder, für den die beiden Schwestern das Sorgerecht übernommen haben. Er heisst Alois Christen, hat Wohnrecht bei Tante Fini und ist mein Götti im Lehnstuhl, der meine ersten Bauten mit seinem Gehstock zerstört hat.

Die Stalders wollen keinen Barmettler in ihrer Familie
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4.2.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Das Haus der Geschwister Stalder in der Fischmatt .

Die Stalders wollen keinen Barmettler in ihrer Familie

Die Geschichte nimmt ihren Lauf bis sich unsere Eltern Ende der 1930er Jahre lieben lernen. Das kommt den Plänen der Geschwister Stalder in die Quere. Es ist offenkundig, dass der Knecht aus Ennetmoos als Ehemann von Anna für die Stalder-Christen-Familie unerwünscht ist. Weil unser Vater oft stellenlos oder im Militär ist, hat das junge Paar Geldsorgen. Nach Meinung von Marie hätte Anna Besseres als diesen Mann verdient.

In den Akten finden sich Hinweise und Notizen über Streitigkeiten zu Erbschaften im Zusammenhang mit der Übernahme von Kost und Logis für Alois und für die Besorgung seiner Wäsche. Auch Anna ist wegen angeblicher Geldschulden Teil von Streitereien.

Spätestens im Mai 1944 kommt es zum Eklat zwischen den Geschwistern Stalder mit unserer Mutter und später mit unserem Vater.



(1) Notiz von Tante Fini zu einer Aussprache zwischen den Brüdern Barmettler (unser Vater und sein Bruder Hans) und den Geschwistern Stalder im Mai 1944.

Notiz von Tante Fini zu einer Aussprache zwischen den Brüdern Barmettler (unser Vater und sein Bruder Hans) und den Geschwistern Stalder im Mai 1944.


In der Notiz vom 30. Mai 1944 schreibt Fini von einer Aussprache von Marie mit Anna, unserer Mutter. Der Inhalt des Gesprächs ist daraus nicht ersichtlich. Am Abend sei unser Vater gekommen und schon am Vortag sei dessen Bruder Hans betreff Arbeit dort gewesen. Fest steht, dass das Gespräch mit wüsten Worten geendet haben muss. Fini ist derart im Zorn gegen die Brüder Barmettler, dass sie die „Horde am liebsten töten würde“.

Unsere Mutter hält zu unserem Vater und das Paar zieht in die eigene Wohnung in der Sonnegg.

Die zwischenmenschlichen Spannungen erlebt unsere Schwester Anna hautnah. Fini verhält sich gegenüber Marie zwiespältig und hält in Fragen des Zusammenlebens oft nur widerwillig zu ihr. Darüber hinaus kommt dann noch die Geschichte mit deren Sohn Heinrich.

Tante Fini, die gute Fee
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4.3.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Tante Fini, die gute Fee.

Tante Fini ist unsere gute Fee. Zu ihr haben wir Kinder als einziger Verwandter mütterlicherseits eine besondere Beziehung. Ob bewusst oder unbewusst. Fini will, dass die Banden innerhalb unserer Familie nicht schon früh abreissen.

Mein Blick auf sie
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4.3.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Tante Fini, die gute Fee.

Mein Blick auf sie

Tante Fini ist im Dorf bekannt und eine gern gesehene Frau. Ein Original im eigentlichen Sinne des Wortes: Ein Mensch mit auffallenden Charaktereigenschaften. Ledig und unabhängig betreibt sie als Botin ihr eigenständiges Unternehmen. Dienstags und freitags klappert sie die Geschäfte und ihre Privatkundschaft in Buochs und Umgebung ab. Bei ihnen nimmt sie Bestellungen auf für Waren, die nur in Luzern erhältlich sind. Diese notiert sie fein säuberlich in ihrem Büchlein. Am darauf folgenden Tag, mittwochs und samstags, fährt sie in aller Herrgottsfrühe mit dem Postauto nach Stans. Dort umsteigen auf die Engelberg-Bahn nach Stansstad, dann auf die wartende Postverbindung über die alte Drehbrücke bei der Acheregg nach Hergiswil und jetzt noch mit der Brünigbahn in die Stadt.



(1) Drehbrücke bei der Acheregg Stansstad, Ende der 1950er Jahre. © Staatsarchiv Nidwalden. Fotograf unbekannt.

Drehbrücke bei der Acheregg Stansstad, Ende der 1950er Jahre. © Staatsarchiv Nidwalden. Fotograf unbekannt.

 
In Luzern weiss Fini alle Schleichwege. Noch vor dem Mittag werden die Bestellungen erledigt. In ihrem legendären Eilschritt geht sie zu von Moos, Gränicher, zum Eisenwarengeschäft Breitschmied, zum Metzger Kauffmann, zum Nordmann, zur Schneiderei, zum Haushaltwarengeschäft Grüter-Suter und, und, und.

Tante Fini kennt in Luzern jedes Geschäft mit seinen Spezialitäten und Eigenheiten. Und bei den Geschäftsleuten ist sie bekannt. Die grossen Einkäufe lässt sie direkt an die Schiffsstation bringen. Dort werden die Pakete zwischengelagert. Mit dem Schiff und der Ware geht es zurück nach Buochs, mit Ankunft gegen 16 Uhr. Es ist das "Vieri-Schiff". Tante Fini kennt Matrosen und Kapitäne. Diese helfen ihr beim Ein- und Ausladen ihrer Kommissionen, wie sie sagt. Die in Luzern eingekauften Waren werden in Buochs auf den am Vorabend bei der Schiffländi bereitgestellten Handwagen geladen und noch am gleichen Tag an ihre Besteller verteilt. Deshalb ist auch nach der Schiffsankunft Eilschritt angesagt. Das Einkassieren erfolgt gegen Quittung mit 50 Rappen Kommission. Doch Fini hat mit den Geschäften in Luzern Rabatte ausgehandelt. Ob sie diese ganz oder teilweise an ihre Kunden weitergibt, sagt sie uns nicht.

Anna und Amatus, solange er bei ihr wohnt, begleiten sie beim Verteilen der Kommissionen. Ich, wenn ich für eine oder zwei Wochen zu ihr in die Ferien darf.

Daneben verdient Fini auch Geld mit dem Vertragen von Heftli. Dabei wird sie von Anna und Amatus unterstützt. Das geht gelegentlich nicht ohne Murren ab. 

 

Josefine Stalder, Buochs (Tante Fini), links als junge Frau, rechts Bild aus dem Album der Hochzeit von Amatus am 2. Oktober 1970.


Anna bleibt auch nach ihrem Wegzug aus der Fischmatt die Bezugsperson unserer Familie zu Tante Fini. Ende der 1970er-, anfangs 1980er-Jahre habe ich selbst zu meinen Geschwistern nur noch lose Kontakte, und zu Tante Fini brechen sie ab. Was ich weiss, ist, dass Anna für Tante Fini da ist.

Gegen Ende der 1970er-Jahre kann Fini nicht mehr in ihrem Haus bleiben. Anna besorgt ihr einen Platz im Pflegeheim Stans. Fini leidet an Altersdiabetes, den sie selbst nicht in den Griff bekommt. Kurz vor ihrem Tod besuche ich sie zusammen mit Anna im Pflegeheim in Stans. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie mich nicht mehr erkennt. Am 12. Juli 1979, im Alter von 86 Jahren, stirbt sie. Ich erhalte die Nachricht von Anna. Aber ihre Beerdigung verpasse ich. Warum auch immer. Es ist die Zeit, in der ich immer noch auf der Suche nach meinem eigenen Ich bin.




(3) Tante Fini, Leidbild, 1979.

Tante Fini, Leidbild, 1979.

 

Meine Besuche bei ihr
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4.3.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Tante Fini, die gute Fee.

Meine Besuche bei ihr

In den Ferien darf ich im Austausch mit Anna ein- oder zweimal im Jahr zu Tante Fini. Diese Besuche werden am Telefon vereinbart. Da sie selbst keines besitzt, wird der Telefontermin vorher per Post angekündigt. Fini erwartet den Anruf zur abgemachten Zeit beim Spengler im benachbarten Haus.

Schon als acht- oder neunjähriger Bub fahre ich zum vereinbarten Termin alleine nach Luzern. Vom Friedheim mit einem alten Klapper-Rad nach Sempach-Station. Mit der Eisenbahn, hie und da noch von der Dampflok gezogen, in der 3. Klasse mit den Holzbänken in die Stadt. S’Tanti wartet am Kopfperron gespannt auf mein Eintreffen und ist erleichtert, wenn sie mich erblickt. Sofort erledigen wir ihre letzten Botengänge. Krönender Abschluss ist der Besuch im Café Dudle an der Weggisgasse. Ich kriege eine Tasse warmen Kakao und ein Stückli. Dann ab aufs Schiff. Mit Stolz begleite ich Tante Fini beim Verteilen ihrer Kommissionen. Alle Leute kennen sie. In Luzern, auf dem Schiff, im Dorf. Ich helfe ihr beim Beladen und Stossen des übergrossen Handwagens. Beim Tempo, das sie anschlägt, passe ich auf, dass kein Paket vom Wagen fällt. Was halt dann doch mal passiert. Die Menschen begegnen Fini freundlich, mit einem Lachen und mit Respekt.

Einmal helfe ich ihr bei der Kartoffelernte in ihrem grossen Garten hinter ihrem Haus. Der Ertrag ist bescheiden. Ich beschreibe ihr, wie gross die Ernte jeweils im Friedheim ist. Sie nimmt meinen Vorschlag an, ihr im nächsten Jahr beim Setzen der Kartoffeln behilflich zu sein. Als ich in den Osterferien bei ihr eintreffe, ist alles vorbereitet. Im Friedheim habe ich das Kartoffelsetzen gelernt. Den Boden umstechen, hacken, recheln, Förli machen, Jauche oder Mist reingeben, barfuss in die gemistete Furche steigen und beim Gehen Fuss für Fuss eine Saatkartoffel in die Linie stecken. Zum Schluss werden die Kartoffeln säuberlich mit Erde bedeckt. Mist gibt es bei Tante Fini keinen. Stattdessen verwenden wir die Hüsligülle aus der hauseigenen Güllengrube. Denn noch gibt es keine Kanalisation. Die Abwässer aus den Toiletten werden in der Grube vor dem Haus gesammelt und gelegentlich mit Kalk entgiftet. Von Zeit zu Zeit wird sie zu diesem Eigengebrauch oder von Bauern aus dem Betonloch geschöpft. In den Sommerferien bin ich zur Ernte der Kartoffeln wieder bei Tante Fini. Die Hüsligülle hat Wunder gewirkt!

Ich erinnere mich an das Lob von Tante Fini. Eine solch reichliche Kartoffelernte habe sie noch nie erlebt, rühmt sie mich. Ein feines Znacht ist der Lohn. Oder kramt sie noch ein 5-er Nötli aus einem der geheimnisvollen Kästchen in ihrem stets verschlossenen Schlafzimmer?

Tante Fini hat ein feines Gespür für das leibliche Wohl. Sie kocht immer meine Lieblingsspeisen. Käsereis oder Käsehörnli mit Sbrinz gewürzt sind meine Leibspeisen. Wenn Hörnli auf dem Speiseplan stehen, gibt es vorher die Maggerone-Suppe. Das ist nichts anderes als das Wasser der gekochten Teigwaren, angereichert mit in Butter gerösteten Brotwürfeln. Wundern tue ich mich heute, dass Tante Fini hie und da mit mir zum Metzger Blättler geht, dort Kalbsplätzchen kauft und sie mir am Sonntag zum Zmittag mit besonderem Stolz als panierte Schnitzelchen serviert. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie sich selbst mit den Beilagen zufriedengibt.

Die Metzgerei Blättler in dem markanten Haus am Eingang zur Fischmatt gibt es als Metzgerladen noch heute.


(1) Haus Metzgerei Blättler in der Fischmatt Buochs (Foto Juli 2019).

 

Haus Metzgerei Blättler in der Fischmatt Buochs (Foto Juli 2019).

 

 

Buochs bleibt mir in guter Erinnerung
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4.3.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Tante Fini, die gute Fee.

Buochs bleibt mir in guter Erinnerung

Bei meinen Buochs-Aufenthalten bin ich bei Tante Fini zu Gast. In Buochs begegne ich komplett anderen Lebensgewohnheiten, Tagesabläufen, Denkmustern und Traditionen. In Sempach der Hektik und Oberflächlichkeit, dem Streben nach Geld und Geltung, dem Fehlen von menschlicher Nähe. Bei Tante Fini und bei Vater auf dem Hof Linden, der Ruhe und Gelassenheit, dem Besorgtsein um die Sache, dem Respekt vor Mensch und Kreatur.

In guter Erinnerung bleiben mir die Dorffeste mit den Umzügen. Dabei wird das ganze Dorf mit Fahnen und Flaggen geschmückt. An den Umzügen stellen Vereine, Gesellschaften und Gruppen historische Ereignisse und Brauchtum dar. Auch ich bin ein- oder zweimal als urchiger Trachtenbub mit dabei. Eingekleidet bei Tante Fini in einer Original-Nidwaldner Tracht. Das Hirtenhämmli hat mir Anna vor ein paar Jahren für unseren Enkel Marlon geschenkt.


(1) Nach dem Trachtenumzug Buochs, 22. August 1948. Seppli der Bub in der dritten Reihe rechts. Von Tante Fini (zweite von rechts) aufmerksam beobachtet.

Nach dem Trachtenumzug Buochs, 22. August 1948. Seppli der Bub in der dritten Reihe rechts. Von Tante Fini (zweite von rechts) aufmerksam beobachtet.

 

 

  

(2) Anneli und Seppli vor dem Trachtenumzug 1948, beim Hauseingang Fischmattstrasse 5 in Buochs.

Anneli und Seppli vor dem Trachtenumzug 1948, beim Hauseingang Fischmattstrasse 5 in Buochs.



(3) Seppli in Nidwaldner Tracht. 1. August-Feier in Buochs, anfangs 50er Jahre.

Seppli in Nidwaldner Tracht. 1. August-Feier in Buochs, anfangs 50er Jahre.

 

(4) Tante Fini als Botin, im Nidwaldner Dialekt "Beetänä", an einem Festumzug in Buochs (1970er Jahre).

Tante Fini als Botin, im Nidwaldner Dialekt "Beetänä", an einem Festumzug in Buochs (1970er Jahre).


Nie aus dem Kopf gegangen ist mir ein besonderer Umzug in Buochs. Aber da bin ich noch bei meiner Familie im Sonnegg. Durch das Dorf marschieren die Dorfmusik, Trommler und Pfeiffer in Söldneruniform. Oben bei der Kirche wird ein Denkmal für eine Bekanntheit enthüllt und eingeweiht. Ich glaube, sie nennen den Mann auf dem Sockel den Maler Wyrsch. Neugierig laufe ich hinter der Musik her und höre Ansprachen, in denen die Rede ist von Helden und Krieg.

Der Weg zur Kirche führt an dieser Skulptur vorbei. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, muss ich die Figur betrachten und wundere mich über die seltsame Gestalt.

Die Feier, die ich erlebe, muss 1948 stattgefunden haben, zum 150. Jahrestag des Todes von Melchior Wyrsch beim Einfall der Truppen Napoleons in Buochs. 1948 bin ich fünfjährig.



(5) Statue des Melchior Wyrsch in Buochs (Wikipedia 2019).

Statue des Melchior Wyrsch in Buochs (Wikipedia 2019).

 
Wikipedia: 29.07.2019
Johann Melchior Wyrsch, *21.08.1732 / †09.09.1798
Wyrsch war ein bekannter Porträt- und Kirchenmaler. Er war Gründer einer Akademie in Besançon und Ehrenbürger dieser Stadt. Kurz nach seiner Rückkehr nach Buochs wurde er bei der geschichtsträchtigen Eroberung Nidwaldens durch die Truppen Napoleons ermordet.

Bei diesem geschichtlichen Exkurs wird mir erneut bewusst, wie wenig wir in der Schule über die spätere Geschichte der Schweiz erfahren. Eingehämmert werden die Themen "Wilhelm Tell" und "Winkelried", in Sempach 1386, seiner letzten Wirkstätte sowieso. Und die gewonnenen Kriege der Eidgenossen ab 1315 in Morgarten mit ihren Jahreszahlen gehören zum täglichen Brot des Geschichtsunterrichts. Für uns Schüler hörte die Schweizer-Geschichte im 16. Jahrhundert auf.

Meine Erinnerungen an "Tante Marie"
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4.4.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Meine Erinnerungen an "Tante Marie".

Ich erlebe Marie in der Zeit, als sie Saaltochter im Service des Hotels Krone in Buochs ist und Vorgesetzte des Servicepersonals. Das stattliche Haus im Dorfzentrum und das Hotel Rigiblick, direkt an der Allee bei der Schiffsstation, beherbergen gut betuchte Gäste aus England und den angrenzenden Ländern. Es sind Kurgäste, die nicht nur für einzelne Tage am Vierwaldstättersee weilen, sondern hier Wochen dauernde Ferien verbringen. Die Krone hat einen eigenen Tennisplatz und besitzt ein Badehaus mit Liegewiese direkt am See.

Solange ich bei meinen Eltern bin, kann ich mich nicht an Kontakte mit Marie erinnern. Bei meinen Besuchen bei Tante Fini aber gehört es zur Pflicht, bei ihr in der Krone vorbeizugehen. Quasi als Vollzugsmeldung, dass ich nun hier bin. Ich gehe durch den Hintereingang, der zum Essraum der Bediensteten neben der grossen Hotelküche führt. Geduldig warten auf Tante Marie, bis die letzten Gäste bedient sind. Ihr höflich das Händchen hinhalten, aber sich ja nicht im Restaurant zeigen. Die vornehmen Gäste mögen Kinder aus der Unterschicht nicht gerne anschauen.

Auch erinnere ich mich an Theateraufführungen von Ortsvereinen im grossen Saal der Krone. Dort schleust uns Marie ein. Nicht ohne uns vorher die dafür geltenden Manieren eingebläut zu haben. Die Theaterstücke finde ich trotzdem lustig. Wenn keine Gäste im hoteleigenen Bad am See sind, dürfen auch wir uns dort hinein zum Baden schleichen. Und einmal bin ich als Ballbube beim Tennisplatz der Krone im Einsatz. Das erwartete Trinkgeld bleibt aus. Ich hatte wohl den Auftrag als Ballbube nicht genau begriffen.

In der Fischmatt sehe ich Tante Marie kaum. Obwohl sie in der gemeinsamen Wohnung mit Fini ein eigenes Zimmer hat. Dort verbringt sie die Zimmerstunde. Ich glaube, Fini will meine Begegnungen mit ihr auf ein Minimum beschränken. Das stört mich nicht im Geringsten.

Erst mit diesem Rückblick wird mir bewusst, dass sich Marie mir gegenüber nicht wie eine Tante benommen hat, sondern wie eine erziehungsberechtigte Grossmutter.

Marie und Heinrich Müller
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4.5.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Marie und Heinrich Müller.

Im Oktober 1920 kündigen Marie Stalder und Heinrich Müller ihre Verlobung an. Ihr Verlobter wohnt in Zürich. Andere Dokumente zu seiner Herkunft gibt es nicht.



(1) Marie und Heinrich Müller, Verlobungsanzeige, Oktober 1920.

 

Marie und Heinrich Müller, Verlobungsanzeige, Oktober 1920.

 

 
(2) Marie Stalder und Heinrich Müller. Wieder ein Mann in Uniform. Fotos ca. 1920.

Marie Stalder und Heinrich Müller. Wieder ein Mann in Uniform. Fotos ca. 1920.

 

Mit Heinrich Müller ändert sich ihr Leben
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4.5.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Marie und Heinrich Müller.

Mit Heinrich Müller ändert sich ihr Leben

Die beiden werden sich in Weggis am Arbeitsort von Marie kennengelernt haben. Denn in den Unterlagen finden sich Briefe aus den Jahren 1917/18 über eine frühere Beziehung von ihr mit einem Adalbert aus Zürich, der jährlich im Café Böck seine Ferien verbringt. Marie beendet dieses Verhältnis offenbar ohne Erklärungen, was aus seinem letzten Schriftstück vom 25. März 1918 zu schliessen ist.


(1) Letztes Dokument der Beziehung zwischen Marie und Adalbert, Mai 1920.

Letztes Dokument der Beziehung zwischen Marie und Adalbert, Mai 1920.


Während ich mich durch diese Geschichte wühle, wird mir bewusst, dass es bis in die 1960er-Jahre üblich war, vor der Heirat eine offizielle Verlobungszeit von mindestens drei Monaten einzuhalten.

Ihre Heirat und das schnelle Ende der Glückseligkeit
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4.5.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Marie und Heinrich Müller.

Ihre Heirat und das schnelle Ende der Glückseligkeit

Marie und Heinrich haben es eilig. Bereits am 3. Januar 1921, ziemlich genau drei Monate nach der Verlobungsanzeige, feiern die beiden Hochzeit. Es ist zu vermuten, dass Geldsorgen den Herrn Müller zur schnellen Eheschliessung treiben. Marie ist bei der Heirat 24 Jahre alt. Unsere Mutter ist fünfjährig. Nur weiss der Herr Müller nicht, dass Marie eine geheim gehaltene leibliche Tochter in die Ehe mitbringt.

Zur Hochzeit wird gross angerichtet. Das Essen ist fürstlich. Noch ein Indiz dafür, dass die Stalders in gut bürgerlichem Hause leben.




(1) Hochzeitsessen Marie Stalder und Heinrich Müller, Hotel Krone Buochs, 3. Januar 1921.

 

Hochzeitsessen Marie Stalder und Heinrich Müller, Hotel Krone Buochs, 3. Januar 1921.

Doch das Glück der beiden ist nicht von langer Dauer. Schon im Dezember 1921 muss Marie ihren geliebten Mann im Gefängnis in Luzern besuchen. Offenbar wollte er sich seiner Geldsorgen auf krummen Wegen entledigen. Zu Weihnachten 1921 beteuert Heinrich seiner innigstgeliebten Marie seine ewige Liebe, entschuldigt sich bei ihr in schwülstigen Worten für das unermessliche Leid, das er ihr angetan hat und versichert ihr, als braver Mann zu ihr zurückzukehren. Der nächste Brief im Januar 1922, abgestempelt durch die Direktion der Strafanstalt Luzern, ist ein Hilferuf. Es stehen Schulden an, die sie begleichen muss.


(2) Briefe von Heinrich Müller an seine Frau Marie aus der Strafanstalt Luzern Dezember 1921/Januar 1922.

Briefe von Heinrich Müller an seine Frau Marie aus der Strafanstalt Luzern Dezember 1921/Januar 1922.


Marie ist willig zu verzeihen. Die Schulden ihres Mannes werden getilgt. Es sind wohl ihre Eltern, die helfen müssen, den Schlamassel aufzuräumen.

Ihr Sohn Heinrich
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4.5.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Marie und Heinrich Müller.

Ihr Sohn Heinrich

Die Liebe des Ehepaars Müller-Stalder zeitigt Früchte. Bald nach der Entlassung von Heinrich aus dem Strafvollzug wird Marie schwanger. Am 10. Juni 1923 kommt ihr Bub Heinrich junior zur Welt. Am 15. Juni 1923 schreibt Marie ihren Eltern und Fini eine Karte aus der Universitätsfrauenklinik in Zürich. Heinrich sei getauft worden und sie hoffe, dass sie in vier Tagen heimgehen könne.

 

(1) Marie, Karte aus der Uni-Klinik Zürich, 19. Juni 1923.

Marie, Karte aus der Uni-Klinik Zürich, 19. Juni 1923.


Unsere Mutter erhält mit dem sieben Jahre jüngeren Buben einen Halbbruder als Blutsverwandten. Amtlich ist und bleibt Heinrich junior, Heiri wie er später genannt wird, aber ihr Neffe.



Marie zurück in Buochs
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4.5.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Marie und Heinrich Müller.

Marie zurück in Buochs

Die ewige Liebe von Heinrich senior zu Marie dauert gerade noch ein halbes Jahr. Am 9. Januar 1924 schreibt sie Fini einen Brief, der die ganze Tragik dieser Beziehung deutlich werden lässt.



(1) Brief von Marie an Tante Fini, 9. Januar 1924.

 

Brief von Marie an Tante Fini, 9. Januar 1924.

Das Paar lebt mit dem kleinen Buben in Zürich. Marie berichtet, dass ihr Mann eine andere Beziehung eingegangen sei. Er werde sich von ihr trennen. Sie fürchtet, dass ihr der Bub weggenommen wird und klagt über ihr Leid und den Schmerz, den sie selbst empfindet und den sie ihren Liebsten angetan hat. Sie bittet ihre Schwester Fini, diese schwere Nachricht ihrer Mutter so schonend wie möglich beizubringen. Sie hat Angst vor der Zukunft und vor wirtschaftlicher Not.

Es kommt zur Scheidung. Aber der kleine Heiri bleibt nicht in Zürich. Er kommt zu seiner Mutter nach Buochs und wird von Marie und Fini in Obhut genommen.

 


(2) Marie und Heiri, ca. 1928.

Marie und Heiri, ca. 1928.


Marie tritt zu dieser Zeit ihre Stelle in der Krone in Buochs an. Josefa Stalder, die Mutter der beiden Schwestern Stalder, stirbt kurze Zeit später, im März 1924, im Alter von 52 Jahren. Sie hatte in ihrem Leben hohe Hürden für ihr Kind Marie zu überspringen.

Heiris Leben auf Kosten anderer
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4.5.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Marie und Heinrich Müller.

Heiris Leben auf Kosten anderer

Als Anna 1949 nach dem Tod unserer Mutter endgültig zu Tante Fini kommt, ist Heiri 26 Jahre alt. Er hat eine kaufmännische Lehre absolviert und im Militär Karriere gemacht. Er ist Adjutant-Unteroffizier bei den Infanterie-Truppen. Für Anna entsteht ein schwieriges Beziehungsgeflecht. Heiri ist das verwöhnte Liebkind von Marie. Er versucht, sich in die Erziehung von Anna einzumischen. Sie weiss sich zu wehren. Aber schon als Kind muss sie mit ansehen, wie Heiri beginnt, seine Mutter und seine Tante auszunehmen. Er ist ein Angeber, kleidet sich nach der neuesten Mode, leistet sich teure Autos und Frauen. Und er ist ständig in Geldnöten. Kurz gesagt, er ist ein Hochstapler und wird zum Betrüger. Trotz guter Stellen reicht sein Verdienst nicht. Nach Unterschlagungen landet er wie sein Vater im Gefängnis. Seine Mutter und Tante Fini pumpt er ständig an. Sie geben ihm immer wieder Geld, das sie letztlich nur durch Darlehen mit Aufstockung ihrer Hypotheken flüssig machen können.

Ich selbst erlebe Heiri bei meinen Besuchen in Buochs. Er ist grosskotzig und will auch mir seine Lebensweisheiten beibringen. Geblieben von ihm sind mir Fragmente von Erlebnissen und Ereignissen: Ein Besuch mit einer Freundin im offenen Studebaker in Buochs. Mit diesem Wagen taucht er einmal im Friedheim auf. Auch dort, um Hilfe in seinen Geldnöten zu finden. Und ich erinnere mich an seine von einem Schneider nach Mass gefertigte Galauniform als Adj. Uof. mit den Kordeln des Fahnenträgers der Kompanie. Ich höre Gespräche, die darauf schliessen lassen, dass die Uniform von den beiden Stalder-Schwestern hat bezahlt werden müssen. Und ich erinnere mich an seine Braut Margrith Pfister, die er 1955 heiratet.

Später interessiere ich mich nicht mehr für den Lebenslauf von Heiri Müller. Ich weiss von Anna, dass er immer wieder in Geldnöten steckt, mehr als einmal in krumme Geschäfte verwickelt ist und im Gefängnis sitzt. Und zuletzt erfahre ich, dass anfangs der 2000er Jahre ein rechtlich komplexer, schweizweit für Aufsehen sorgender Betrugsskandal im Kanton Schwyz aufgedeckt wird, in den auch Heiri als Strohmann involviert war. Er wohnt zu jener Zeit in Hohenrain LU.

Heiris anonyme Rückkehr nach Buochs
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4.5.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Marie und Heinrich Müller.

Heiris anonyme Rückkehr nach Buochs

In seiner letzten Lebensphase wird Heiri in einem Pflegeheim in Hochdorf LU auf Kosten des Gemeinwesens gepflegt. Er stirbt 2014 im Alter von 91 Jahren.

Über das letzte Geleit von Heiri lasse ich meine Schwester Anna sprechen:

„An Allerheiligen 2014, im katholischen Glauben der Gedenktag der Toten, hört eine Schwägerin von mir ein Gespräch ihrer Grosskinder mit dieser mysteriösen Geschichte.

Am Palmsonntag 2014 findet der Friedhofsverwalter in der Totenkapelle von Buochs den Sarg mit einer Leiche ohne ordentliche Papiere. Es gibt dazu nur die Begleitnotiz, Heinrich Müller, Erdbestattung Familiengrab Müller Buochs. Die zuständigen Behörden finden und wissen nichts von einem Familiengrab Müller in Buochs. Und sie können aufgrund der Akten auch die Identität des Toten nicht feststellen. Die Gemeinde muss deshalb beschliessen, die Leiche einzuäschern. Vorschriftsgemäss sei die Urne in der Verwaltung archiviert worden, für den Fall, dass sich doch noch Angehörige melden würden.

Meine Schwägerin hatte unsere Marie im Hotel Krone in Buochs erlebt und sie wusste von der Existenz ihres Sohnes Heinrich. In Kenntnis meiner verwandtschaftlichen Verknüpfung fragt sie mich im November 2014, ob ich mich nicht in dieser Sache kundig machen wolle. Und tatsächlich. Auf meine Rückfragen beim Totengräber und bei der Gemeinde wird mir der Hergang der Geschichte bestätigt. Via die kantonalen Behörden in Nidwalden habe man erfahren, dass es sich beim Toten um Heinrich Müller aus Hochdorf gehandelt habe. Die Überführung der Leiche nach Buochs zur Bestattung im Familiengrab sei auf ausdrücklichen Wunsch des Verstorbenen durch dessen Beistand veranlasst worden. Nach Ablauf der geltenden Frist für die amtliche Aufbewahrung der Asche sei diese ins Gemeinschaftsgrab gebracht worden.“

Damit war die Geschichte der „anonymen Leiche von Buochs“ enträtselt. Anna veranlasst, dass auf dem Stein des Gemeinschaftsgrabes die Inschrift „Heinrich Müller 1923 – 2014“ angebracht wird. Im April 2015 treffen wir vier Geschwister uns in Buochs, um uns von unserem Cousin zu verabschieden. Diesen Besuch schliessen wir mit einem gemeinsamen Mittagessen in der Krone ab. Der Kreis hat sich geschlossen. Heiri konnte bis zu seinem Tod nicht aus seiner Haut schlüpfen.

 

Die Hinterlassenschaft der Geschwister Stalder
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4.6.  Meine Verwandtschaft mütterlicherseits – Die Hinterlassenschaft der Geschwister Stalder.

Marie stirbt 1976. Tante Fini 1979. Für uns Geschwister ist klar. Wenn jemand aus unserer Familie Anspruch auf die Hinterlassenschaft von Tante Fini hat, dann ist es unsere Schwester Anna. Aber Heiri selber will erben. Anna zusammen mit Gregor, ihrem Mann, bleibt standhaft. Heiri zieht zwar die Sache durch alle Instanzen bis vor Bundesgericht. Der höchstrichterliche Entscheid fällt wie erwartet aus: Anna tritt in den Nachlass ein. Nebst der rechtlichen Klärung des Sachverhalts muss Heiri auch eine richterliche Schelte wegen missbräuchlichem Beschreiten des Rechtswegs einstecken.

Zwar ist die Liegenschaft der Geschwister Stalder durch Gelder, die Heiri seiner Mutter und der Tante Fini abgeluchst hat, überbelastet. Trotzdem, 1987 nach Rechtskraft des Bundesgerichtsentscheids, lassen Anna und Gregor das Haus mit Einsatz von Eigenmitteln renovieren. Heute steht es da mit den drei schönen Wohnungen und einer für unsere Familie besonderen Geschichte.

 

(1) Haus Fischmattstrasse 5, Buochs. Foto Juli 2019. Als ob es keine Geschichte hätte.

Haus Fischmattstrasse 5, Buochs. Foto Juli 2019. Als ob es keine Geschichte hätte.

 

Ich bin nun in Sempach
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5.  Ich bin nun in Sempach

Sommer 1949. Ich bin ein sechsjähriger Bub. Die Mutter ist krank. Wie schon ein- oder zweimal vorher bin ich in Sempach. Bei Familie Schmid, deren Mutter Anna die Gotte meiner ältesten Schwester ist, die auch Anna heisst.

Auf welchem Weg auch immer, ich höre, dass Muetti gestorben ist. An der Beerdigung bin ich nicht. Man hat mich verschont. Muetti ist ganz einfach nicht mehr da. Ich kann mich an nichts erinnern. Nicht an tröstende Worte. Nicht an ein Gespräch über das, was nun geschieht.

Von Buochs mit dem kleinen Garten hinter dem Haus bin ich für immer weg. Weg von den Geschwistern und den Nachbarn. Angekommen im herrschaftlichen Bauernbetrieb in Sempach. Mit zwölf fast erwachsenen "Brüdern" und "Schwestern". Mehr als 20 Kühe, Guschteli, Kälber und Pferde stehen im Stall. Und es gibt Schweine, Hühner, Katzen, einen Hund und Kaninchen. Es gibt Obst, Kartoffeln, Getreide, Garten und Wald. Und ja, Schmid tönt anders als Barmettler. Barmettlers sind im Luzernerland Hinterwäldler mit einem eigentümlichen Dialekt.

Ich bin jetzt hier und werde hierbleiben bis zum Ende meiner Lehrzeit. Manchmal keimen in mir Hoffnungen auf, nun dazu zu gehören. Doch diese werden sich nicht erfüllen. Und das ist gut so.

Die Bindungen von Stalder und Schmid
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5.1.  Ich bin nun in Sempach – Die Bindungen von Stalder und Schmid.

Im Kindesalter weiss ich, dass zwischen unserer Familie und Mutter Schmid verwandtschaftliche Beziehungen bestehen. Aber wie diese sind, erklärt mir niemand. Auch Anna, die in ihrer Ferienzeit an meiner Stelle hie und da zu ihrer Gotte ins Friedheim darf, kann diese Verbindung nicht enträtseln.

Die Spuren von Buochs nach Sempach
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5.1.  Ich bin nun in Sempach – Die Bindungen von Stalder und Schmid.

Die Spuren von Buochs nach Sempach

Im Nachlass von Tante Fini finde ich diesen Brief mit einem starken Hinweis auf die menschliche Nähe von Anna Schmid zu den Stalder-Schwestern.



(1) Undatierter Brief von Mutter Schmid an die Geschwister Stalder.

Undatierter Brief von Mutter Schmid an die Geschwister Stalder.


Mutter Schmid schreibt von der Geburt ihres jüngsten Sohnes Walterli. Als dreizehntes Kindchen sei er am 30. Oktober auf die Welt gekommen. Am Montag, dem Tag bevor sie diesen Brief schreibe, habe der Älteste ihrer Söhne in die Rekrutenschule einrücken müssen. Das heisst, Mutter Schmid schreibt diese Nachricht im Februar 1938, denn Walter hat Jahrgang 1937 und die RS des 20-jährigen Kaspar beginnt im Februar 1938. Weiter berichtet sie, dass ihre Schwester Elisa acht Tage vor ihr eine Tochter geboren habe. Es gehe ihnen beiden nun wieder gut. Die Stalders sollen doch bald zu ihnen zu Besuch kommen. Zum Beispiel ins Theater "Der Lumpensammler von Paris". Denn es wäre schön, wieder einmal miteinander zu plaudern. Der Hinweis auf das Theater ist an unsere Mutter gerichtet, die in Buochs bekannte Laienschauspielerin.

Bei ihrer Schwester Elisa handelt es sich um Elisabeth Schmid-Arnet von der Neumühle. Elisa starb 1949 im Jahr meiner Ankunft im Friedheim. An ihre 1938 geborene Tochter Elisabeth kann ich mich gut erinnern. Sie arbeitete in Zürich und kam hie und da ins Friedheim als elegante Dame auf Besuch.

Die Verwandtschaft Stalder/Arnet
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5.1.  Ich bin nun in Sempach – Die Bindungen von Stalder und Schmid.

Die Verwandtschaft Stalder/Arnet

Zur offenen Frage unserer Verwandtschaft bringen mich Recherchen in Sempach weiter. Von Daten und Fotos aus dem Portrait-Archiv der Zentralschweizerischen Gesellschaft für Familienforschung lassen sich die verwandtschaftlichen Beziehungen der Stämme Schmid-Arnet und Stalder-Christen genau ableiten.



(1) Verwandtschaft Stalder/Arnet Buochs und Sempach

Verwandtschaft Stalder/Arnet Buochs und Sempach


Anna Risi-Stalder, die Grossmutter von Mutter Schmid, ist die Schwester von Alois Stalder-Christen, dem Vater von Fini und Marie in Buochs. Dieser Alois Stalder ist unser amtlich eingetragener Grossvater, in Tat und Wahrheit aber unser Urgrossvater mütterlicherseits. Als ich meiner Schwester Anna diesen Zusammenhang schildere, ergänzt sie, dass Mutter Schmid nicht nur ihre Gotte (Patin) war, sondern schon die Gotte unserer Mutter.

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Mutter Schmid kannte das Geheimnis
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5.1.  Ich bin nun in Sempach – Die Bindungen von Stalder und Schmid.

Mutter Schmid kannte das Geheimnis

Das bringt mich der Sache noch näher. Traditionell bestehen die Aufgaben der Paten darin, das Patenkind in seiner Entwicklung zu begleiten und für das Kind in Stellvertretung der Eltern zu sorgen. In dieser Rolle hat Anna Schmid unsere Mutter während ihrer Krankheit unterstützt. Sie nahm mich, den ältesten und wohl auch den quirligsten der Buben bei sich auf. Nicht ihr Patenkind Anna, denn die war bei Tante Fini bestens versorgt. Nach dem Tod unserer Mutter ist aus diesen Provisorien eine Dauerlösung geworden.

Es war jedoch nicht ausschliesslich die verwandtschaftliche Beziehung, die mich ins Friedheim brachte. Vater brauchte für uns Kinder den Nachweis von festen Pflegeplätzen, um sich die Pein zu ersparen, uns unter Vormundschaft zu sehen. Dabei wurde er von Tante Fini unterstützt. Unsere Schwester Anna erinnert sich, dass wir im Amtsblatt bereits zur Vormundschaft ausgeschrieben gewesen seien.

Erst mit diesen Recherchen wird mir bewusst, dass Anna Schmid über das Geheimnis um die Abstammung unserer Mutter informiert war. Denn ich erinnere mich ebenso wie meine Schwester, dass bei den Schmids meinen Fragen zu Herkunft und Situation unserer Familie ausgewichen wurde.

Amtliche Grundlage für meinen Pflegeplatz
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5.1.  Ich bin nun in Sempach – Die Bindungen von Stalder und Schmid.

Amtliche Grundlage für meinen Pflegeplatz

Meine Neugier treibt mich dazu herauszufinden, ob für meine Fremdplatzierung amtliche Grundlagen vorhanden sind. Zumindest der Besuch der Schulen dürfte nicht möglich gewesen sein ohne behördliche Bewilligungen. Meine Nachforschungen beim Sozialamt und beim Stadtarchivar in Sempach sind dürftig. Es gibt zwei wenig aussagekräftige Dokumente.

Im August 1954 teilt der Gemeinderat der Jugendschutzkommission des Kreises Sempach mit, dass er die Bewilligung für meinen Pflegeplatz bei Kaspar Schmid-Arnet erteilt habe. Der Brief trägt den offiziellen Stempel der Gemeinde, ist jedoch nicht unterzeichnet.



(1) Schreiben des Gemeinderates von Sempach an die Jugendschutzkommission des Kreises Sempach.
 

Schreiben des Gemeinderates von Sempach an die Jugendschutzkommission des Kreises Sempach.


Die Bewilligung wird fünf Jahre nach meiner Ankunft im Friedheim erteilt. Aber erst im August 1955 ersucht die Gemeindekanzlei Sempach beim offiziellen Ennetmoos um Bekanntgabe der genauen Personalien meiner Mutter. Ihr sechs Jahre davor erfolgter Tod war in Sempach noch nicht registriert.




(2) Anfrage der Gemeindekanzlei Sempach vom 27.8.1955 an die Gemeindekanzlei Ennetmoos zu den Personalien unserer Mutter.


Anfrage der Gemeindekanzlei Sempach vom 27.8.1955 an die Gemeindekanzlei Ennetmoos zu den Personalien unserer Mutter.


Der Stadtarchivar bestätigt mir, dass es zu meinem Aufenthalt im Friedheim keine weiteren Unterlagen gibt. Es ist zu der sechs Jahre nach meiner Platzierung im Friedheim erteilten Bewilligung kein Protokolleintrag vorhanden. Sonderbarerweise erfragt die Gemeindekanzlei auch erst ein Jahr danach die genauen Personalien meiner Mutter. Meine Vermutung ist, dass die Aktivitäten der Behörden einen Zusammenhang haben mit meinem zu jener Zeit erfolgten Übertritt in die Sekundarschule.

Gemeindeschreiber Josef Bucher fällte solche Entscheide wohl in eigener Kompetenz. Denn schliesslich bringe ich ihm jährlich ein- oder zweimal die Metzgete vom Hof Schmid vorbei.

Die Familie Schmid
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5.2.  Ich bin nun in Sempach – Die Familie Schmid.

Die Familie Schmid ist eine angesehene Bauernfamilie. Kaspar und Anna Schmid-Arnet hatten dreizehn Kinder. Ein Bub ist bereits im Kindesalter vor meiner Ankunft gestorben.



(1) Familie Schmid-Arnet, Sempach. Zirka 1948.

 

Familie Schmid-Arnet, Sempach. Zirka 1948.

Vordere Reihe von links: Maria, Kaspar Schmid (Vater), Otto, Walter, Theres, Anna Schmid (Mutter), Hans.
Hintere Reihe von links: Alois, Anna, Josef, Sepp, Kaspar, Werner, Xaver, Elisabeth.

So erlebe ich die Brüder und Schwestern Schmid
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5.2.  Ich bin nun in Sempach – Die Familie Schmid.

So erlebe ich die Brüder und Schwestern Schmid

Kaspar, 1918–1996, 31-jährig.
Er ist verheiratet mit Nina, einer Bauerntochter aus dem Weiler Mettenwil. Die Familie bewirtschaftet den kleinen Bauernbetrieb mit drei bis vier Kühen im Ebersmoos in unmittelbarer Nachbarschaft. Im Haupterwerb ist Kaspar Förster. Er fährt ein Motorrad der Marke BMW mit Seitenwagen und kommt bei seiner Fahrt von oder zur Arbeit regelmässig im Friedheim vorbei. Als ältester Sohn nimmt er sich das Recht heraus, als erster in Familienangelegenheiten mitzureden. Er neigt zu Jähzorn, wohl weil er am Abend oft mehr als einen Kaffee-Schnaps intus hat. Vor ihm habe ich Angst. Zwar gehe ich im Ebersmoos ein und aus, helfe im Stall mit und sitze hie und da am Küchentisch. Aber ich achte darauf, Kaspar wenn möglich nicht in die Quere zu kommen. Eine Begebenheit bleibt mir eindrücklich in Erinnerung. Kaspar, der Patriarch, kommt verspätet von der Arbeit heim. Ich, sieben- oder achtjährig, sitze mit Nina beim Nachtessen. Es gibt Ravioli. Ich glaube nicht, dass Kaspar weiss, was das ist. Aber als er die blecherne Konservendose bemerkt, rastet er aus. Er beginnt, seine Frau zu beschimpfen. Sie sei als Bauernfrau unfähig und zu faul, selbst ein Nachtessen zuzubereiten. Ich verziehe mich auf schnellstem Weg durch den Hinterausgang.

Werner, 1919–1967, 30-jährig.
Er ist eingeheiratet in den Bauernbetrieb Huber im Dorf Buttisholz. Zum Bauernhof gehört das Gasthaus Kreuz. Bei der Familie von Werner bin ich ein- oder zweimal zu Besuch. An Einzelheiten erinnere ich mich nicht.

Xaver, 1920–1982, 29-jährig.
Er ist noch einige Zeit auf dem elterlichen Betrieb tätig. Bald heiratet er ein in den Bauernbetrieb der Familie Schwyzer im Brand ob Eich. Auch bei ihm bin ich später ab und zu als Aushilfskraft zu Gast. Er wird mein Firm-Götti. Ich bin demnach 14- oder 15-jährig. Wie damals üblich erhalte ich als Geschenk meine erste Armbanduhr.

Anna, 1921–2016, 28-jährig.
Kurz nach meiner Ankunft heiratet sie Willy Lüthi, einen Bäcker aus dem Solothurnischen. Die beiden lernen sich in Luzern kennen, wo sie im selben Café mit Konditorei arbeiten. Mutter Schmid hat an dieser Beziehung keine Freude. Aber Anna setzt ihren Willen durch. Sie und Willy eröffnen eine Bäckerei im Nachbardorf Rain. Dort bin ich an Samstagabenden zusammen mit den jüngeren Schmid-Brüdern oft zu Gast. Anna offeriert uns Süssigkeiten aus der Bäckerei, die am Montag nicht mehr verkauft werden können. Wir schlagen uns die Bäuche voll mit dem Gebäck. Weggehen müssen vor allem die schnellverderblichen Cremeschnitten und Cornets.

Im Erdgeschoss ihres Hauses befinden sich Backstube und Verkaufsgeschäft. In den oberen Geschossen die Wohnräume und eine Dachterrasse mit herrlicher Aussicht auf Luzern und die Voralpen. Von dieser Aussichtsplattform aus verfolgen wir aus der Ferne regelmässig das legendäre Feuerwerk zum Seenachtsfest in der Stadt. Natürlich ist der Tisch voll mit Süssigkeiten. Willy holt uns mit seinem Auto vom Friedheim ab. Es ist der VW-Bus, mit dem er seine Kundschaft auf dem Land beliefert. Wir sagen dem d'Cheeri machen. In diesem Auto wird mir regelmässig übel. Noch vor der Ankunft in Rain muss ich eiligst aus dem Wagen springen und mich am Strassenrand übergeben. Aber manchmal verpasse ich den richtigen Zeitpunkt, um den Stopp des Autos zu erbitten.

Maria, 1923–1987, 26-jährig.
Sie führt zuerst den grossen Haushalt im Friedheim. Später heiratet sie Josef Iten, einen Bauern in Retschwil am Baldeggersee. Auch dort bin ich ab und zu im Arbeitseinsatz. Marias Einheirat scheint nicht ein Volltreffer zu sein. Ich habe sie als Frau im Gedächtnis, die oft traurig und unglücklich ist. Was mir von den Aufenthalten bei ihr speziell in Erinnerung bleibt, ist das Zmorge. Nebst Brot und Milchkaffee gibts eine Haferschleimsuppe. Mir kehrt es noch heute den Magen.

Im Friedheim ist das anders. Zum Zmorge wird eine Rösti zubereitet. Die kommt morgens früh in einer grossen runden Platte auf den Stubentisch, zusammen mit Brot und je einer Kanne Milch und Kaffee. Schon am Abend sind Kacheln und Besteck bereitgestellt. Je nach Arbeitsplan bedient sich jeder am Tisch und stopft sich mit einem Löffel noch schnell etwas von der goldgelb gebratenen Rösti in den Mund. 

Für alle meine Besuche bei den Geschwistern Schmid, in Buttisholz, im Brand und in Retschwil benutze ich ein altes Klapperrad. Eines oder zwei davon stehen immer herum. Aber oft muss ich sie vor der Fahrt herrichten, pumpen oder bei Plattfuss den Schlauch flicken, Sattel oder Bremsen richten. Die dafür nötigten Handgriffe lerne ich schnell. Meine wenigen Sachen zum Mitnehmen packe ich in zwei Einkaufstaschen. Sie haben entweder an der Lenkstange Platz oder, sofern die Klemme funktioniert, auf dem Gepäckträger hinter dem Sattel.

Sepp, 1926–2001, 23-jährig.
Er besorgt zusammen mit Vater Schmid das Vieh. Dazu gehört nebst dem Melken, Füttern und der täglichen Pflege eine umsichtige Planung für die zeit- und saisongerechte Bereitstellung des Futters.

Hans, 1928–1987, 21-jährig.
Bald nach meiner Ankunft muss er in die Rekrutenschule einrücken. Ein Jahr verspätet, weil er sich darauf vorbereitet, Dragoner zu werden, wofür ein reiterlicher Eignungstest zu bestehen ist. Bald steht ein drittes Pferd im Stall, ein Eidgenoss.



(1) Kavallerieschwadron, 1972, Wikipedia.

Kavallerieschwadron, 1972, Wikipedia.


Auszug aus Wikipedia
Die Schweizer Kavallerie (Dragoner) wurde als letzte der europäischen Armeen 1972 abgeschafft. Nach der Rekrutenschule kauften die Dragoner ihr Pferd, den Eidgenoss, zu einem ermäßigten Preis von der Armee und rückten damit in die jährlichen Wiederholungskurse ein. Diese Regelung war insbesondere für Ackerbauern attraktiv. In ländlichen Gebieten war der "Eidgenoss" für viele Schweizer ein Symbol des Milizsystems und der Verbundenheit von Heimat und Armee.

Später absolviert Hans die landwirtschaftliche Schule. Danach gibt es auf dem Hof eine Art informelle Aufgabenteilung. Hans ist für alles zuständig, was nicht mit Viehwirtschaft zu tun hat. Pferde, Transport, Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben und Obst. Sepp bleibt bei seinen Kühen.

Elsy (Elisabeth), 1929–2016, 20-jährig.
Zusammen mit Maria und Theres ist sie für den Haushalt zuständig. Sie ist für mich eine Art Ersatzmutter. Wenn die energische Mutter Schmid mit mir schimpft oder wenn ich zur Körperstrafe anzutreten habe, versucht sie mich zu beschützen. Doch diese Idylle nimmt langsam ein Ende, denn ein in Sempach zugezogener Lehrer hat ein Auge auf Elsy geworfen. Er kommt regelmässig ins Friedheim z'Chilt. Zuerst unter dem Vorwand, bei der Arbeit mithelfen zu wollen. Aber wie er sich da anstellt, sind seine Absichten schnell durchschaut. Erwin und Elsy benehmen sich am Küchentisch wie zwei Turteltäubchen. Das gefällt mir nicht. Bin ich eifersüchtig? Bald heiraten die beiden und ein paar Jahre später wird Erwin Oetterli mein Viertklasslehrer sein. Ich werde nichts zu lachen haben.

Theres, 1930–1981, 19-jährig.
Sie besorgt den Schweinestall. In meinen ersten Gedanken an sie sehe ich sie beim Füttern der Schweine. Mit ihrem Gesang versucht sie, das ohrenbetäubende Geschrei der Tiere zu übertönen. Theres singt gern. Sie macht im Kirchenchor mit und in der Trachtengruppe. Später heiratet sie den Bauern Theo Iten aus Rothenburg. Eine Einheirat, wie könnte es anders sein. Zu jener Zeit bin ich schon aus dem Friedheim ausgezogen. 

Alois, 1932–2010, 17-jährig.
Er macht eine Banklehre bei der Spar- und Leihkasse Sempach. Vorher hatte er eine weiterführende Schule in Estavayer-le-Lac besucht und ist jetzt der Akademiker in der Familie.

Otto, 1935–2005, 14-jährig.
Er besucht die zwei Abschlussklassen in Sempach. Später beginnt er eine Lehre als Automechaniker bei der Garage Willy in Luzern. 

Walter, 1937–2019, 12-jährig.
Er geht zur Schule in Sempach. 1950, bei meiner Einschulung, besucht er die 6. Klasse oder gar schon die Sekundarschule. Walterli ist das Liebkind der Mutter Schmid und wird von ihr verwöhnt und verhätschelt. Ich sehe das mit besonders wachen Augen. Später beginnt Walter eine kaufmännische Lehre in Luzern.

 

 

Was auffällt
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5.2.  Ich bin nun in Sempach – Die Familie Schmid.

Was auffällt

Mutter Schmid ist die bestimmende Person in der Familie. Es ist augenfällig, dass sie Wert darauf legt, ihren Kindern durch Heirat eine Existenz zu sichern. Diese Vorgabe hat bei der ältesten Tochter Anna nicht geklappt. Mutter Schmid kann nicht akzeptieren, dass sie einen einfachen Bäcker heiratet. Deshalb meidet sie den Kontakt zu ihm so gut wie möglich. Jedoch, keine der vier Töchter hat die Chance, einen Beruf zu erlernen. Im grossbäuerlichen Umfeld ist es in jener Zeit üblich, dass der künftige Mann Garant für den Lebensunterhalt der Frau zu sein hat.

Auch erst die jüngeren Söhne dürfen einen Ausbildungsweg abseits der Landwirtschaft einschlagen. Für die ersten Kinder wird der Weg der Einheirat gesucht. Es ist eine in jener Zeit übliche Form, um die Nachfolge in den Bauernbetrieben sicher zu stellen. Ein Bauernsohn hält nach einer Bauerntochter Ausschau, auf deren Hof kein männlicher Nachfolger vorhanden ist. Auch die Töchter forschen nach demselben Muster nach einem geeigneten Partner. Die Liebe spielt dabei kaum mehr als eine untergeordnete Rolle.

 

Vom Sepp zum Seppi
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5.2.  Ich bin nun in Sempach – Die Familie Schmid.

Vom Sepp zum Seppi

Nach meiner Ankunft im Friedheim gibt es in der Familiengemeinschaft zwei Sepps. Folgerichtig bleibt mir zur Unterscheidung vom richtigen Sepp der Rufname Seppli. Aber mit meinem Heranwachsen wird das Rufen nach dem Seppli peinlich. Irgendjemand kommt auf die Idee, man könne mich nun Lonzi rufen. Mit der Begründung, ich laufe ohnehin immer wie ein Vagabund herum. Das aber kann und will ich nicht akzeptieren. Meine Abwehr gegen diesen in meinen Augen verächtlichen Namen besteht darin, dass ich weder hinhöre noch reagiere, wenn jemand etwas von dem Lonzi will.

Das sind meine Recherchen zum Lonzi.




(1) Schweizerisches Idiotikon 10.2019, Erklärung des Begriffs "Lonzi" (10.2019).

Schweizerisches Idiotikon 10.2019, Erklärung des Begriffs "Lonzi" (10.2019).


Weil ich in der Zeit der Pubertät nicht mehr der Seppli sein will, wird aus mir der Seppi. Nicht der Sepp, denn der ist weiterhin besetzt. Und nicht der Josef, das passt nicht in unseren Dialekt. Und nicht der Joe oder irgendetwas, was später aus diesem Namen kreiert wird. So bleibe ich bei meinem Rufnamen Seppi. Wobei mein amtlicher Name Josef A. Barmettler ist, was heutzutage doch der Hit wäre.

 

Das Friedheim
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Das Friedheim liegt an der alten Gotthardstrasse, etwa einen Kilometer ausserhalb des Städtchens Richtung Allmend, Trutigen, Rothenburg. Das ist die aus der Römerzeit dokumentierte Verbindung von Basel zum Gotthard via Sursee, Eich, Kirchbühl nach Luzern.



(1) Liegenschaft Friedheim, Sempach, um 1960. Mit Bauernhaus und angebautem Schopf. Scheune rechts an der Strasse Richtung Allmend. © Simone und Othmar Schmid, Sempach.

Liegenschaft Friedheim, Sempach, um 1960. Mit Bauernhaus und angebautem Schopf. Scheune rechts an der Strasse Richtung Allmend. © Simone und Othmar Schmid, Sempach.

 

 

 

 

 

Das Bauernhaus
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Das Bauernhaus



(1) Friedheim (Bauernhaus). Mit der alten Gotthardstrasse im Vordergrund. Foto von Südost Richtung Nordwest, um 1955.

Friedheim (Bauernhaus). Mit der alten Gotthardstrasse im Vordergrund. Foto von Südost Richtung Nordwest, um 1955.


Vom Städtchen kommend links an der Strasse steht das schmuck aussehende, stattliche Holzhaus. Das Haus hat zwei Eingänge. Den Haupteingang erreicht man von der Strasse her über den Plattenweg durch den Vorgarten und danach auf wenigen Stufen der Steintreppe über die Veranda.

 

Die Bauernküche
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Die Bauernküche

In meinen Gedanken schlendere ich jetzt aber auf den rechts des Wohnhauses zu erkennenden Holzschopf zu. Wie von allen anderen im Friedheim ein- und ausgehenden Leuten benutze ich den Seiteneingang und gelange durch das offenstehende Holztor ins Haus. Es ist im Bild rechts zu erkennen, unmittelbar anschliessend an das Wohngebäude. Ich gehe die ausgetretenen Treppen hoch links in die grosse Küche. Der Küchenboden besteht aus ungehobelten Holzbrettern, die auf dem festgestampften Erdboden verlegt sind. Einige Jahre später wird er mit einfachen Steinplatten belegt sein. Direkt beim Eingang steht der grosse, rechteckige und massive Holztisch. Sitzgelegenheiten gibt es auf den herumstehenden Taburettlis und auf der Holzbank hinter dem Tisch. Sie ist lose an die Wand links des Eingangs zur Küche gelehnt.

Rechts sehe ich die Türe zur Speisekammer, d'Spiesi, wie wir sie nennen. Der dunkle Raum auf der Nordseite des Hauses ist etwa zwei Meter breit und fünf Meter lang. Das kleine Fenster ist stets mit einem Fensterladen vor den wenigen Sonnenstrahlen geschützt. Und der hart gestampfte Lehmboden ist kühl. In der Spiesi werden die verderblichen Lebensmittel aufbewahrt. Die frische Milch wird am Morgen in ein grosses, blechernes Becken gegossen. Wenn ich dieses mit beiden Arme umschlingen will, kann ich es kaum zur Hälfte umfassen. Am nächsten Tag hat sich auf der Milch eine dicke Rahmschicht gebildet. Diese wird abgeschöpft und mit dem Rührgerät zu Schlagrahm oder Butter verarbeitet. Eine Arbeit, die mir trotz des lustig drehenden Rades nicht nur Spass macht. Vom unaufhörlichen Drehen beginnt die Schulter regelmässig zu schmerzen.

Für den Milchkaffee wird die entrahmte Milch erhitzt. Diese kommt in einem Krug aus Emaille auf den Tisch. In der Küche sehe ich den an die gekalkte Wand befestigten Waschtrog aus Steingut. Diesem ist ein mit einer Aluminiumplatte verkleideter Spültisch angehängt. Auf die Westseite ausgerichtet befindet sich die Front mit den zwei Fenstern. Vor dem einen steht eine grosse Holzwanne mit Material zum Feuern (Zeitungen und Holzspiggeli zum Anfeuern, Tannen- und Hartholz, Briketts). Dafür zu sorgen, dass immer genügend Nachschub da ist, gehört zu meinen Aufgaben.

An der Wand neben der offenen Tür zur Bauernstube steht der Kochherd. Der Herd hat eine Feuerstelle mit drei oder vier Kochstellen. Diese können mit Eisenringen von unterschiedlichem Umfang bedeckt werden. Um den Durchmesser der Kochstelle zu verändern, setzt oder entfernt man mit dem Feuerhaken so viele Eisenringe, bis die Pfanne in ihrer Grösse ins Feuerloch passt. Der Herd hat einen Backofen, der ausgebrannt und nicht mehr benutzbar ist. Links ist ein Wasserschiff eingebaut mit aus der Abwärme aufgeheiztem Wasser.

Das Elternzimmer
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Das Elternzimmer

Ein paar Schritte links vom Kochherd führen drei Türen aus der Küche: Die erste zum Keller, die zweite in den kleinen Korridor, der zum Stübli und von dort zum Hauptausgang und zur Stiege in die oberen Etagen führt. Die dritte ist die Türe zum Schlafzimmer der Eltern Schmid. Ich werfe einen kurzen Blick in den Raum. Darin sehe ich ein grosses Doppelbett, einen Kleiderschrank und eine Kommode mit Waschbecken und Wasserkrug.

Die Bauernstube
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Die Bauernstube

 

Von der Türe rechts neben dem Kochherd ist der Eingang in die Bauernstube mit dem grossen Kachelofen und Durchreiche zur Küche. Er ist mit der Abwärme des Kochherds beheizt, kann bei Bedarf aber auch direkt durch das kleine Metalltürchen befeuert werden.



(1) Bild eines Kachelofens, so ungefähr stand er in der Bauernstube im Friedheim.

Bild eines Kachelofens, so ungefähr stand er in der Bauernstube im Friedheim.


Die Bauernstube ist der Lebensmittelpunkt im Friedheim. Hier versammeln sich Familie und Angestellte zur Essenszeit. Es ist der Raum für Familiengespräche, den Empfang der Tagesgäste oder kleiner Gesellschaften.

Auch der Samichlaus kommt in der Stube zu Besuch. Die Familie versammelt sich am grossen runden Tisch und auf dem Ofen, der drei Sitzebenen hat. Das Holzbänkli ist für die Kleinsten da. Auf der mittleren Ebene ist Platz für drei bis vier Personen, und unter der Decke kann man sich gar verkriechen. 

Gegen die Aussenwand und die Fenster Richtung Strasse steht der grosse runde Stubentisch mit einer Eckbank und vielen Stühlen. In der Ecke neben dem Ausgang zur Küche ist das Radio mit Metallträgern an der Wand befestigt.

 

Das Stübli
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Das Stübli

Von der Stube aus öffne ich die Türe Richtung Hauptausgang. Zuerst befinde ich mich in einem Vorraum vor der stets von innen verschlossenen Haustüre, die via Veranda zur Strasse führt. Gegenüber sehe ich die mit Schnitzereien verzierte Türe zum schönen Stübli. Dieses wird nur für vornehmen Besuch benutzt. Denn das schöne Riemenparkett ist als einziges im Haus versiegelt. Nur an Weihnachten wird eine Ausnahme gemacht. Vor dem dort stehenden Weihnachtsbaum und der Krippe versammelt sich die Familie zum Fest. Das Stübli ist ausgestattet mit einem kostbaren Tisch aus lackiertem Holz, mit Stühlen, die mit Samt bezogen sind und einem wertvollen Sekretär. Dort bewahrt Mutter Schmid Wertsachen, Bargeld, das Kassabüchlein und ihre Buchhaltung für die Korporation und den Frauenbund auf.

Die Kammern im oberen Stockwerk
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Die Kammern im oberen Stockwerk

Direkt im Vorraum beim Haupteingang beginnt die steile Holztreppe, die hinauf führt in die obere Etage mit fünf bis sechs Schlafräumen. In jedem der Zimmer gibt es zwei oder drei Schlafplätze getrennt für die Söhne und Töchter und für einen oder zwei Bedienstete. Wenn eines der Schmid-Kinder auszieht, beginnt die Neuverteilung. Ich selbst habe kein eigenes Zimmer. Zuerst schlafe ich zusammen mit Otti und Walti in der gleichen Kammer in einem Etagenbett. In den anderen Räumen stehen jeweils zwei Einzelbetten, ein Holzschrank oder ein Buffet und ein Stuhl. Keines der Zimmer hat eine Heizung. Etwas erwärmt wird die obere Etage durch den Kamin, der sich von der Küche über den Kachelofen durchs ganze Haus zieht. Im Winter werden vor dem zu Bett gehen die Zimmertüren geöffnet, damit etwas warme Luft in die Räume fliessen kann. Zudem heizt jedermann vor dem Hochgehen sein Füdli auf dem Kachelofen auf. Auch eine Bettflasche oder ein warm gehaltenes Kirschensteinkissen helfen, das Bett aufzuwärmen. Oft ist es so bitterkalt, dass am Morgen die Zimmerdecke und die Fenster mit Eiskristallen beschlagen sind. Um zu schauen, ob es in der Nacht geschneit hat, kratze ich am Morgen mit den Fingernägeln das Eis vom Fensterglas. In jedem Zimmer gibt es einen Nachttopf zum Verrichten der Notdurft. Denn der Weg zum Plumpsklo im Schopf ist des Nachts zu weit und ohne Taschenlampe nicht zu finden.

 

Der Verschlag von Maria Arnet
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Der Verschlag von Maria Arnet

Über der zweiten Etage liegt der Estrich. Dort oben gibt es noch ein Zimmer, das einem Verschlag ähnlich sieht. Hier haust d'Marei, wie sie im Friedheim genannt wird. Es ist Maria Arnet, die geistig behinderte Schwester von Anna Schmid. Das Einzige, was ich von ihr weiss, ist, dass sie wegen ihrer Behinderung im Friedheim aufgenommen worden ist. Ihr tristes Dasein und mein Umgang mit ihr machen mich im Rückblick tieftraurig. Ich werde dieses Thema wieder aufnehmen müssen.

Der Schopf
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Der Schopf

Vom Estrich hinunter komme ich zurück zum Haupteingang mit der Türe zur Strasse. Von dort gehe ich links auf den Vorplatz am Gemüsegarten vorbei, der mit einem Zaun umgeben ist. Nun bin ich wieder beim Eingang zum Holzschopf. In diesem Gebäudeteil befinden sich der Schweinestall und die grosse Mostpresse. In den Holzfässern werden die nach dem Auspressen des Obstsaftes verbleibenden Rückstände bis zur Vergärung gelagert.

Denke ich an diese Tresterfässer, kommen mir unvermittelt bedrückende Bilder vor Augen. Vor der Obsternte müssen die Fässer gereinigt werden. Dazu wird der massive Holzverschlag entfernt, mit dem das Fass verschlossen ist. Mit einer Taschenlampe ausgerüstet zwänge ich mich ins Innere des Fasses. Als Kleinster bin ich der Einzige, der durch das enge Loch durchschlüpfen kann. Meine Aufgabe ist es, das Fass mit einer Wurzelbürste und dem mir im Kübel hinein gereichten Wasser gründlich zu reinigen. Vor dem Einstieg wird zwar mithilfe einer brennenden Kerze geprüft, ob in der Tonne genügend Sauerstoff vorhanden ist. Doch es kommt nicht selten vor, dass mir in der stickigen und noch mit Alkohol geschwängerten Luft schwindlig wird.

Ich steige nun wieder die Treppe zur Küche hoch, gehe aber eine Etage weiter bis zum Türchen des Plumpsklos. Dieses wird von allen im Friedheim wohnenden Leuten und auch von den Besuchern benutzt. Dem unangenehmen Geruch ausweichend gehe ich in den nebenstehenden oberen Teil des Schopfs. Darin wird das für alle Zwecke benötigte Holz getrocknet und aufbereitet.

Hier befindet sich auch der obere Teil der Mostereianlage. Mit dem Motorantrieb über ein kompliziertes Riemengetriebe, einer Transmission, wird dort das Mostgut in der Obstmühle zerkleinert. Von der Mühle aus fällt das zermalmte Obst in einem Holzkanal direkt in die in der unteren Etage liegende Mostpresse.

Der Schweinestall
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Der Schweinestall

Ich steige hinunter in den Eingangsbereich und gehe links gegen das westseitige Tor in den Schweinestall. Ein Durchgang führt durch die Mitte des Stalls bis zur hinteren Öffnung, durch welche die Tiere zum Auslauf getrieben werden. Beidseitig des Stallgangs sind die Futtertröge befestigt. Links und rechts gibt es je vier bis fünf Sauställe von unterschiedlicher Grösse. Sie sind mit Mauern und Holzläden verbaut. Die massiven Holztüren lassen sich mit den besonderen Klinken von einer Hand öffnen. Das erste Stallgehege rechts ist dem mächtigen Eber vorbehalten. In den anderen gibt es Muttersäue mit Ferkeln, meistens eine oder zwei trächtige Sauen und die Jager. Das sind die Jungschweine, die am Ende der Säugezeit von der Mutter getrennt und nach der nötigen Gewichtszunahme dem Schweinemäster verkauft werden. Jährlich aber bleiben zwei oder drei dieser Jager zur Zucht im Stall.

Keller und Waschküche
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Keller und Waschküche

Gegenüber dem Schweinestall führt die Treppe ins Untergeschoss. Dort gelange ich zur Waschküche und zu den Kellerräumen. Diese Räume sind auch direkt über die von der Küche hinab führende Treppe erreichbar.

Im Kellerraum lagern Obst und Gemüse in Hurden oder Harassen. In den Holzfässern reift der aus den Birnen der Hochstammbäume und den nicht als Tafelobst geernteten Äpfeln gepresste Most.
 
In der Waschküche sehe ich rechts neben dem Eingang den Waschtrog und gegenüber den Wäschekocher. Gegen die Fenster nach Westen steht ein grosser, rechteckiger Tisch aus massivem Holz.

Zu Beginn des Waschvorgangs wird die schmutzige Wäsche auf dem Waschbrett mit Kernseife und Bürste bearbeitet. Dann kommt sie in den Wäschekocher, in dem bereits das mit Waschpulver angereicherte Wasser brodelt und zur Kochwäsche im wahrsten Sinne des Wortes wird. Zum Ausspülen wird die Wäsche mit dem Holzlöffel und der grossen Zange in den Zuber und danach in den mit kaltem Wasser gefüllten Wäschetrog gegeben.

Ausgewrungen wird die Wäsche von blosser Hand, grosse Stücke zu zweit und zwar so, dass die eine Person das Wäschestück nach links und die andere nach rechts dreht, bis das Wasser ausgedrückt ist. Ich habe dabei auch Hand anzulegen.

Zum Trocknen wird die Wäsche an den vor dem Haus an Bäumen und Holzstangen befestigten Wäscheleinen aufgehängt. Das Bild mit der bis zu 200 Metern langen, kreuz und quer im Feld gespannten Wäscheleine und der zu trocknenden Bett- und Körperwäsche bietet jeweils einen faszinierenden Anblick. Allerdings funktioniert die Absprache zwischen den waschenden Schmid-Töchtern und den die Jauche ausbringenden Schmid-Söhnen nicht jedes Mal problemlos.

 

Die Umgebung
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Die Umgebung

Mein Weg führt zurück auf den Vorplatz mit dem an der Wand des Schopfs stehenden Hasenstall. Das ist Walterlis Reich. Er züchtet Kaninchen und hat dafür freie Hand. Für die Zucht, die Fütterung und Pflege der Tiere. Das Futter besorgt er sich auf dem Hof, doch der gesamte Erlös für den Verkauf geht in seine eigene Tasche. Für ihn wird das in seiner Jugendzeit ein florierendes Geschäft. Ich möchte ihm nacheifern, doch das gelingt mir nicht. Will ich für meine zwei Hasen Löwenzahn-Blätter, die sie besonders mögen, aus der Graswiese zupfen, werde ich von den grossen Schmid-Brüdern zurückgepfiffen. Beim Mutterliebling Walterli getrauen sie sich das nicht. Wenn es aber während dessen Abwesenheiten darum geht, die Kaninchenställe auszumisten, bin ich der gefragte Mann.

Mit diesen Gedanken schlendere ich weiter ums Wohnhaus herum. Unterhalb des Schopfs Richtung Erbersmoos ist der Auslauf für die Schweine. Sie können dort im Dreck nach Herzenslust suhlen. Im Sommer bekommen sie in diesem Gehege auch ihr Futter.

Der Hühnerhof
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Der Hühnerhof

Weiter um die Hausecke herum komme ich zu dem angebauten und gegen aussen auf zwei Pfosten stehenden Hühnerstall. Von innen her ist er durch eine kleine Türe erreichbar. Ihre Eier legen die Hühner in die zum Schopf hinführenden Legestellen. Dort kann ich sie bequem abholen, manchmal noch legewarm. Über die vom Stall nach unten führende Hühnerleiter haben die Viecher freien Auslauf auf den mit einem hohen Zaun geschützten Hühnerhof. Bei offenem Ausgang ziehen sie durch das umliegende Gelände. Fast jeden Abend ist es meine Aufgabe, die herumstreunenden Hühner zum Hühnerhof zu bewegen und das Tor zu schliessen. Obwohl sie als dumm gelten, finden sie den Weg über die Hühnerleiter von selbst. Sind die Viecher aber widerspenstig, muss ich sie mithilfe von zwei oder drei Helfern einfangen und zu ihrem eigenen Glück in den Stall zwingen. Doch es gibt auch schlaue Füchse. Es kommt vor, dass einer des Nachts durch den Schopf eindringt und ein tödliches Chaos anrichtet. Das aufgeregte Gegacker der armen Hühner ist bis in die Schlafräume zu hören. Dabei stellt sich morgens regelmässig die Frage, ob die Tore zu Stall und Hof am Abend von mir richtig verschlossen worden sind.

Apropos dummes Huhn
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5.3.  Ich bin nun in Sempach – Das Friedheim.

Apropos dummes Huhn

In meiner Jugendzeit haben Walti und ich uns oft gefragt, ob Hühner dumm sind. Wir haben beobachtet, wie frei herumlaufende Zweibeiner auf der wenig befahrenen Strasse überfahren werden. Jedes Mal hat das Tier irrational reagiert. Sobald es das Geräusch eines herannahenden Fahrzeugs wahrnimmt, bewegt es sich nicht von der Gefahr weg, sondern in die Richtung, in der es seinen Kopf hält. Zeigt dieser zum Auto hin, flieht das Huhn nicht vor der Bedrohung weg, sondern auf diese zu. Eine Kollision wird zwangsläufig. Demzufolge ist das Huhn nicht dumm, sondern wegen des Körperbaus in seiner Beweglichkeit eingeschränkt. Der schlaue Auto- oder Motorradfahrer, der eine Kollision mit einem streunenden Viech vermeiden möchte, sollte darum darauf achten, in welche Richtung dessen Kopf zeigt.

Die Scheune
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5.4.  Ich bin nun in Sempach – Die Scheune.

Nach dem Rundgang ums Bauernhaus erreiche ich wieder die vom Städtchen her kommende Naturstrasse. Gleich gegenüber dem Hauseingang beginnt die mit einer engen Spitzkehre von der Strasse weg führende, steile Einfahrt in den oberen Teil der Scheune.

Über diese Scheuneneinfahrt werden Heu- und Getreideernte eingebracht. Die Auffahrt ist teils mit Steinen und Platten befestigt. Am Bord wachsen Gras und Unkraut. Nach Ansicht der für die Landwirtschaft zuständigen Schmid-Brüder ein ideales Futter für die Kaninchen. Aber meine Hasen lieben gutes, frisches Gras und nicht Spitzgras und Unkraut.

Im Schutz der Scheuneneinfahrt liegt die Remise mit den Ladewagen und den für den Betrieb benötigten Gerätschaften: Egge, Pflug, Heurechen, Wender, Schwader, Striegel, Zettler.

Ställe und Tenne
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5.4.  Ich bin nun in Sempach – Die Scheune.

Ställe und Tenne

Der Remise angebaut ist der Rossstall mit Platz für drei Pferde. Auf dem mit Holzläden bedeckten Güllenloch gehe ich zu den beiden Viehställen. Im ersten sind das Jungvieh und einige Milchkühe untergebracht, im zweiten die Braunkühe. Nur eine Kuh sieht anders aus. Es ist die kräftige Milchkuh der Simmentaler-Rasse. Wenn die Pferdestärken bei der Heuernte nicht ausreichen, wird sie auch als Zugtier eingespannt. Dem mächtigen Stier vorbehalten ist der vorderste Platz beim Eingang des hinteren Viehstalls.

Zwischen den beiden Ställen liegt die Tenne, die für das Bereitstellen des Futters gebraucht wird. Dieses kann von dort aus direkt in die Futtertröge gereicht werden.

Irgendwann während meiner Schulzeit vermeldet Sepp mit Stolz, dass jetzt dreissig Milchkühe in den Ställen stehen.

Hinterer Scheunenteil
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5.4.  Ich bin nun in Sempach – Die Scheune.

Hinterer Scheunenteil
Vorbei am Wachhund Rex und an den herumstreunenden Katzen gehe ich um diesen letzten Stall auf der Strassenseite herum, auf den befestigten Weg Richtung Hubel.

Auf der Rückseite der Scheune steige ich auf die Mauer zum Güllenloch. Auch diese Jauchegrube ist mit einfachen Holzläden bedeckt. Die Güllenpumpe ist fest verankert. Ausserhalb der Mauer liegt der sorgfältig verlegte Miststock. Welch ein Gegensatz zum verlotterten Holzhäuschen, in dem sich das zur Scheune gehörende Plumpsklo befindet.
Die Liegenschaft
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5.5.  Ich bin nun in Sempach – Die Liegenschaft .

Zum Bauernhof, der auf einem Felsrücken über dem Sempacher-See liegt, gehören das Wies- und Ackerland rund um Haus und Scheune. Das flächenmässig grösste Stück Land ist der Hubel als wichtiger Futterlieferant für das Vieh.

Im Hof- und Geschlechterbuch der Gemeinde Sempach (Dr. Alfred Helfenstein, 1967) sehe ich, dass das Gut Benziwinkel 1917 in zwei Höfe aufgeteilt wurde. Dabei wurden dem Friedheim 36¾ Jucharten (1 Jucharte = 36 Aren) Boden zugeteilt. Diese etwas über 13 Hektar Land reichen nicht aus, um die vielfältigen Ansprüche der Familie Schmid an ihre Landwirtschaft abzudecken. Deshalb sind von der Korporation Landflächen auf der Allmend und im Seesatz, dort wo heute die Vogelwarte steht, dazu gepachtet.

Die Betriebszweige
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5.5.  Ich bin nun in Sempach – Die Liegenschaft .

Die Betriebszweige

Im Friedheim wird die vielschichtige, klassische Landwirtschaft mit allen Betriebszweigen gepflegt. Das Kerngeschäft ist die Viehwirtschaft mit Zucht und Milchproduktion.

Obstbau ist gewichtiger Teil des Betriebs. Die Hochstammbäume mit Mostbirnen liefern den Grundstoff für den süssen und vergorenen Most, der als Getränk zu den täglichen Mahlzeiten unverzichtbar ist. Auch die Apfelbäume unterschiedlicher Sorten sind Hochstämmer. Die Tafeläpfel gehen in den Verkauf, der Ausschuss wird im Keller gelagert oder zu Saft verarbeitet. An der Strasse Richtung Benziwinkel gibt es zwei riesengrosse Kirschbäume. Und die beiden Zwetschgen- und Pflaumenbäume stehen direkt beim Haus.

Bedeutsam ist auch der Ackerbau mit Weizen, Korn, Gerste und wenig Hafer als Futter für die Pferde. Daneben werden Kartoffeln und Zuckerrüben angebaut. Auf dem kleinen Stück Land mit sandigem Boden im Seesatz gedeihen eine Zeit lang auch Karotten. Ich erinnere mich, dass kurzzeitig die Pflanzung von Mutterkorn gewagt wird, das als toxischer Grundstoff zur Herstellung von Heilmitteln Verwendung finden soll. Ob der Versuch gelang, weiss ich nicht mehr. Doch die Warnung vor dem Gift in der Pflanze liegt mir noch im Ohr.

Die Milch wird täglich zweimal in die Käserei geliefert. Alle anderen Hofprodukte gehen zum Verkauf an die Landwirtschaftliche Genossenschaft nach Sempach Station, soweit sie nicht für den Eigenbedarf verwendet werden.

 

Mein Leben auf dem Bauernhof
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5.6.  Ich bin nun in Sempach – Mein Leben auf dem Bauernhof.

Meine Zeit im Friedheim beginnt als kleiner Bub. So bin ich ein Rädchen in der Familie und in den Tagesablauf eingegliedert. Ich will alles wissen, will teilhaben, jemand sein und neugierig auf das, was in meinem Umfeld vor sich geht. Wenn mir etwas nicht gelingt, kriege ich Anpfiffe, nicht selten auf unzimperliche Art. Lob höre ich kaum. Das nehme ich hin als in jener Zeit und in jenem Umfeld geltende Selbstverständlichkeit.

Ich darf und muss überall Hand anlegen
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5.6.  Ich bin nun in Sempach – Mein Leben auf dem Bauernhof.

Ich darf und muss überall Hand anlegen

Im Haushalt: Abwaschen, abtrocknen, Holz holen, anfeuern, Parkettboden wischen, spänen, einwachsen und blochen, Mithelfen beim Waschen, beim Kochen. Butter herstellen, einkaufen im Städtli. Für schwere Sachen mit dem Handleiterwagen oder dem Schlitten.

Auf dem Feld: Mithelfen beim Grasen, Heuen und bei der Getreideernte. Dabei ziehe ich den grossen Rechen, damit möglichst jeder Halm zum Futter kommt. Oft ist diese mühsame Arbeit mit schmerzhaften Einstichen in meine blutten Fussballen verbunden. Denn barfussgehen ist in der warmen Jahreszeit selbstverständlich.

Je älter ich werde, desto stärker werde ich in die Arbeit der Erwachsenen eingebunden. Die Schmid-Jugend nimmt nach und nach Abschied von zu Hause. Die Arbeit bleibt, und mein Einsatz ist angesagt. Obwohl ich eher klein gewachsen bin, ist Kraftanstrengung gefragt. Meine Hausaufgaben für die Primarschule erledige ich im Handumdrehen. Doch die dadurch frei werdende Zeit darf ich nicht vertrödeln. Die Schmids merken schnell, wenn ich es mir bequem zu machen versuche.

 

Heuerente
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5.6.  Ich bin nun in Sempach – Mein Leben auf dem Bauernhof.

Heuerente

Beim Heuen braucht es mich beim Zetteln und Wenden. Ist das Gras beidseitig trocken, zieht Hans mit dem vom Pferd gezogenen Schwader reihenförmige Heuschwaden ins Feld. Die Heuer brauchen Kraft und Geschick, um das Heu mit den grossen Gabeln auf den Ladewagen zu heben. Liegt die erste Lage auf dem Wagen, steige ich hinauf, fasse die mir zugereichte Ladung zu einem Bündel, verteile und stampfe sie zu gleichmässigem Ladegut. Nicht selten streift mich dabei eine Gabelzinke an Bauch oder Bein. Ist das Fuder fertig, lege ich längsseitig den Bindebaum und an dessen Ende die dicken Seile mit dem Bindebaum-Lätsch an, wie der Mastwurf hier genannt wird. Mit Hilfe der am Wagenende angebrachten Winde wird die Ladung von den starken Armen der Heuer festgezurrt. Dass ich diesen Knoten blindlings knüpfen kann, wird mir später bei unseren Reisen auf dem Hausboot und mit dem Camper nützlich sein.

Es ist wichtig, dass das Heu satt und im Gleichgewicht auf dem Wagen liegt. Sonst besteht die Gefahr, dass das Pferdefuhrwerk auf der holprigen Strasse kippt, was doch hin und wieder passiert und für Geschimpfe und Mehrarbeit sorgt. Die Heuernte fährt Hans mit dem Zweispänner im Galopp über die steile Einfahrt in die Scheune. Auch dort bin ich gefragt. Denn das Futter muss auf der Heubühne bis in die hinterste Ecke gleichmässig verteilt und zu einem Heustock festgestampft werden.

Wenn Gewitterwolken über dem Sempachersee aufziehen, bricht Hektik aus. Es braucht alle verfügbaren Hände, um die Ernte auf Schöchli oder Heinzen vor dem Regen zu schützen.



(1) Schöchli (gestapeltes Heu).

Schöchli (gestapeltes Heu).

 

(2) Heinzen (Holzgestell) zum Trocknen des Heus.

Heinzen (Holzgestell) zum Trocknen des Heus.

 

 

Getreideernte
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Getreideernte

Bei der Getreideernte helfe ich, das geschnittene Getreide zu bündeln. Wir Erntehelfer tragen die Frucht auf kleine Haufen. Die Männer folgen nach, legen das Getreide in möglichst gleichmässige Bündel, die mit dem dafür hergestellten Garbenseil zu Garben gebunden werden. Sechs der Garben werden mit dem Ährenteil nach oben zu einer Pyramide zusammengestellt. Diese bleiben zur Trocknung auf dem Feld und werden nach ein paar Tagen mit dem Pferdefuhrwerk in die Scheune gebracht. Ich helfe mit, Garbe für Garbe auf der Getreidebühne zu verteilen.

Im Spätherbst oder Winter kommt der Drescher vorbei. Sein Ungetüm von Maschine wird in die Scheune gefahren. Ich helfe mit, die gelagerten Garben zum Drescher zu schleppen. Dabei wird ätzender Staub aufgewirbelt, der mir fast den Atem nimmt. Die Dreschmaschine löst die Körner aus den Ähren heraus und füllt sie in Säcke. Im gleichen Arbeitsgang bündelt sie die Strohballen und spuckt die verbliebene Spreu auf einen Haufen. Spreu wird später als Trockenfutter für die Schweine verwendet, zusammen mit der von der Käserei mitgebrachten Schotte.

Ich hocke auf dem Leiterwagen, wenn die Getreidesäcke in die Landwirtschaftliche Genossenschaft oder in die Neumühle zum Schwager von Mutter Schmid gebracht werden, wo das Mehl für den Eigengebrauch gemahlen wird.

 

Beim Vieh
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Beim Vieh

Misten und Dreck schoren im Kuh-, Pferde- und Schweinestall. Mist zetteln. Schlauch halten, wenn die Schmid-Brüder Gülle spritzen. Mithelfen beim Melken. Den Melkstuhl anziehen, die Euter mit Stroh und Stofftuch reinigen und danach anrüsten. Das heisst, sie mit Melkfett einstreichen und so stimulieren, dass die Milch einfliesst. Vater Schmid und Sepp wollen beim Handmelken zügig vorankommen. Das Fell der Kühe und Rinder putzen. Helfen beim Kalbern. Die Kälber tränken. Auf dem Heuboden Heu entstauben, in die Tenne runterschieben und dem Vieh als Futter verteilen.

Wenn Melken angesagt ist, klopft Sepp frühmorgens an die Zimmertüre: Aufstehen um fünf Uhr. Doch ich weiss. Zuerst wird er den Stall ausmisten. Davor drücke ich mich gern. Bin ich aber nicht zeitig im Stall, höre ich von der Scheune her den schrillen Pfiff und den Ruf, Seppli anrüsten. Das soll mich endgültig aus dem Schlaf holen. Erst danach geht es zum Zmorge und in die Schule.

Sogar Hans steht oft später auf als ich. Er besorgt erst die Pferde und hilft danach im Kuhstall mit. Was mich mehr ärgert, ist, dass der Walterli nie aufstehen muss, um anzupacken. Er besuche schon die Sekundarschule und müsse sich auf den schwierigen Lernstoff konzentrieren, ist die Erklärung der Schmids. Ich tröste mich damit, dass das auch bei mir einmal ein Grund sein wird, um am Morgen auszuschlafen. Doch daraus wird nichts.

Auf der Müseralp, Rigi
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Auf der Müseralp, Rigi

Im Sommer gehen Guschti und Rinder zur Alp. Am Vorabend der Alpauffahrt packen Sepp und ich den Rucksack mit Brot, Käse und Most. Zur Fahrt wird das Vieh am frühen Morgen mit einem Lastwagen abgeholt. Vor dem Verladen binden wir jedem der Tiere eine Glocke um den Hals. Wenn alles Jungvieh auf dem mit einem Pferch versehenen Wagen geladen ist, darf ich im Fahrersitz neben dem Chauffeur und Sepp mitfahren. Die Fahrt ist für mich abenteuerlich und geht nach Weggis gegen die Rigi, bis wir die letzte Wendemöglichkeit erreicht haben. Dort laden wir die Guschteli aus und treiben sie hinauf zur Müseralp. Der Weg ist steil. Auf den Alpwiesen liegen felsige Steinbrocken, teils versteckt im lichten Wald. Die Alp liegt direkt unter dem Felsen von Rigi Känzeli und ist von dort aus auf dem Wanderweg über einen steilen Felsenweg zu erreichen.

Der für die Sömmerung der Rinder verantwortliche Älpler erwartet uns vor seiner Hütte. Beim Znüni aus dem Rucksack bespricht Sepp mit ihm die wichtigsten Daten und Eigenheiten der nun für einen Sommer auf der Rigi weidenden Tiere. Für uns geht es danach zu Fuss hinab nach Weggis. Im Garten des Hotels Post neben der Schiffsstation essen wir eine Suppe. Dann fahren wir mit dem Raddampfer nach Luzern, von dort mit der Bahn nach Sempach-Station und zu Fuss via Seesatz und den Hubel zurück nach Hause.

Einmal muss ein krankes Guschteli von der Müseralp zurück ins Friedheim geholt werden. Sepp und ich fahren mit der Bahn bis nach Luzern und von dort mit dem Schiff nach Weggis. Zu Fuss gehen wir hinauf zur Müseralp. Das Guschteli braucht einen Tierarzt. Behutsam führen wir das Tier hinab nach Weggis, lösen an der Schiffstation einen Frachtbrief, warten auf das nächste Dampfschiff und verschiffen uns zusammen mit dem Guschteli nach Luzern. Das ist für die vielen mitfahrenden Touristen eine Augenweide. Zusammen mit dem jungen Braunvieh werde ich zum begehrten Fotosujet. In Luzern verladen wir das Tier in den Güterbahnwagen, der jedem Bummelzug angehängt ist und fahren zurück nach Sempach-Station.

 
Pferdepflege
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5.6.  Ich bin nun in Sempach – Mein Leben auf dem Bauernhof.

Pferdepflege

Striegeln und Bürsten der Felle, Hufe auskratzen und pflegen, mit den Pferden zum Stadtschmied gehen, um die verlorenen oder abgelaufenen Eisen zu ersetzen. Das ist anstrengende Arbeit, denn das ruhige Halten des Pferdefusses beim Anpassen des glühenden Eisens und beim Beschlagen ist wichtig. Aber nicht einfach, denn die Reaktion des Pferdes bei der Arbeit des Schmieds ist unvorhersehbar.

I d'Chäsi
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5.6.  Ich bin nun in Sempach – Mein Leben auf dem Bauernhof.

I d'Chäsi

Schon ab dem zehnten Altersjahr, und bis zum Beginn meiner Lehrzeit, habe ich am Morgen vor der Schule mit der Milch in die Käserei zu fahren. Am Abend sowieso. Wenn Vater Schmid und die Söhne mit dem Melken fertig sind, laden sie die vollen 50 Liter-Milchkannen auf den speziell konstruierten, zweiachsigen Bockwagen. Auf der vorderen Wagenachse befindet sich der Bock, auf dem der Führer des Pferdes seinen Platz hat. Der hintere Teil ist der mit einer Mitteldeichsel am Bockwagen angebrachte Leiterwagen. Je nach Transportgut hängt man der vorderen Achse den hoch- oder den tiefgestellten Teil des Wagens an. Für den Milchwagen wird das tiefe Teil benutzt. So können die schweren Milchkannen in einem Zug auf- und abgeladen werden.

Im Pferdestall steht Ruedi, ein älterer und gutmütiger Kaltblüter. Er kennt den Weg zur Käserei beinahe von selbst. Neben ihm ist Fritz, ein starker und mächtiger Freiberger, der in seinem Temperament nur schwer zu zügeln ist. Und natürlich der Dragoner. Dieses vollblütige Reitpferd, mit dem Hans hie und da an regionalen Springkonkurrenzen teilnimmt, eignet sich wenig als Zugpferd. Wenn es dazu benötigt wird, lässt es sich nur von ihm bändigen. Also lege ich Ruedi Kummet und Zuggeschirr an. Alleine schaffe ich das erst, als ich grösser bin. Denn das Kummet ist schwer und Ruedi hat nicht immer Lust, seinen Kopf in diesen Teil des Zuggeschirrs zu zwängen. Es liegt ihm eng am Hals und ist unbequem. Angeschirrt führe ich das Ross aus dem Stall, spanne ihn an den Milchwagen. Stolz nehme ich auf dem Bock Platz und lenke Ruedi mit den langen, am Zaumzeug angebrachten Leitzügeln zur Käserei in der Oberstadt.

Dort helfen mir die Käser, die schweren Milchkannen abzuladen. Selbst kann ich sie erst stemmen, als ich grösser bin. Zum Abwägen giessen die Käser die Milch in einen grossen Kessel, von wo sie direkt in die riesigen Kupferbehälter geschüttet und zu Käse verarbeitet wird.

Jetzt geht es zurück ins Friedheim. Ruedi in den Stall bringen und ab zur Schule. Ich muss mich beeilen.

Für die Milchfuhr am Abend gibt es einen weiteren Arbeitsschritt. Mit dem Milchwagen fahre ich auf die Rückseite der Chäsi zum Fassen der Schotte. Wir nennen sie Sirte und es ist die Restflüssigkeit, die bei der Käseherstellung zurückgeblieben ist.

Wenn der Käse hergestellt ist, pumpt der Käser die Sirte in den grossen, hinter der Chäsi angebauten Metallbehälter. Dort wird sie warm gehalten. Zum Abfüllen nehme ich den am Behälter angebrachten dicken Schlauch, lege den Hebel um und lasse die Sirte vom oben liegenden Schottenbehälter direkt in die Milchkannen fliessen. 



(1) Stadtchäsi Sempach. Bild: biokaeserei.ch, 2019.

Stadtchäsi Sempach. Bild: biokaeserei.ch, 2019.

Nun muss der alte Ruedi bei der Rückfahrt ins Friedheim eine schwere Last ziehen. Oft ist er launisch und faul. Er hat die Tendenz, unvermittelt stehen zu bleiben, besonders wenn es nach der Hültschern die steile Rampe hochgeht. Statt zu ziehen, frisst er von dem am Strassenrand wachsenden Gras. Will er sich nur ausruhen oder hat er wieder seine Macken und keine Lust, im Schritttempo nach Hause zu gehen? Manchmal bringen ihn auch kräftige Peitschenhiebe nicht dazu, sich weiter zu bewegen. Doch ich muss aufpassen, wie er reagiert. Entweder wartet er, bis ich vom Bockwagen steige, damit wir, ich neben ihm hergehend das Gefährt zurück ins Friedheim bringen. Oder er schnellt ruckartig nach vorn und versucht, führerlos auszureissen. Zu Hause lade ich die mit der Schotte gefüllten, warmen Milchkannen beim Eingang zum Schopf und Schweinestall ab.

Kartoffeln, Zuckerrüben, Obst
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5.6.  Ich bin nun in Sempach – Mein Leben auf dem Bauernhof.

Kartoffeln, Zuckerrüben, Obst

Im Frühling bin ich beim Kartoffelsetzen dabei. Mit dem Drahtkorb voller Saatkartoffeln in der linken Hand schreite ich barfuss durch die vorbereiteten Förli und lege jede Fusslänge eine der kleinen Kartoffeln in die vorbereitete Erde. Im Sommer bin ich dann bei der Ernte gefragt. Wieder mit Drahtkörben ausgerüstet, lesen wir die mit einer Schleuder ausgefurchten Kartoffeln auf und bringen sie in die bereitgestellten Ladewagen.

Im Herbst helfe ich mit bei der Ernte der Zuckerrüben. Wir reissen jede einzelne Rübe aus dem Boden, befreien sie vom Kraut und werfen sie zum späteren Beladen auf grosse Haufen.

Bei der Obsternte lesen wir Jungen die zum Mosten bestimmten Früchte auf, füllen sie in Jutesäcke, die wir beim Baumstamm deponieren.

Die Landwirtschaft verändert sich rasant
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5.6.  Ich bin nun in Sempach – Mein Leben auf dem Bauernhof.

Die Landwirtschaft verändert sich rasant

In den dreizehn Jahren, in denen ich in Sempach bin, entwickelt sich die Landwirtschaft rasant. Die Pferde werden älter. Der Fritz muss nach einem Durchbrennen an Ort und Stelle notgeschlachtet werden. Das unkontrollierte Davonstürmen des Gespanns mit dem Fuhrwerk endete erst vor dem Stadttor. Ich komme von der Schule und habe noch das Bild mit dem toten Pferd neben dem lädierten Wagen vor Augen. Im Bättig-Haus neben dem Stadttor hat die Deichsel des Fuhrwerks ein tiefes Loch in der Hausmauer hinterlassen. Der Ruedi war an diesem Unfall nicht beteiligt. Aber auch er wird nicht mehr lange im Stall stehen.


(1) Stadttor Sempach heute. Links des Stadttores das ehemalige "Bättig-Haus" mit dem Bogen. Damals eine kleine Kolonialwaren-Handlung.

Stadttor Sempach heute. Links des Stadttores das ehemalige "Bättig-Haus" mit dem Bogen. Damals eine kleine Kolonialwaren-Handlung.


Bald kommt ein Traktor auf den Hof. Wie damals üblich, ist es ein Bührer. Die alten Fuhrwerke und Gerätschaften werden so umgebaut, dass sie auch vom Traktor gezogen werden können.

Es werden weitere Maschinen und Geräte angeschafft, um die Arbeit zu erleichtern. Gemolken wird bald mit der Melkmaschine. Statt dass der Lohndrescher jährlich einmal mit seinem alternden Ungetüm zum Dreschen vorbeikommt, hat er sich einen Mähdrescher beschafft. Die Getreideernte wird dadurch um viele Arbeitsschritte erleichtert. Die fertig gebundenen Strohballen kommen nun direkt vom Feld in die Scheune, und die mit dem Mähdrescher gewonnenen Getreidekörner müssen nur noch getrocknet und in Säcke abgefüllt werden.

Die Landwirtschaft geht zügig in Richtung Spezialisierung. Im Friedheim setzt man primär auf Milchwirtschaft. Die Hochstammbäume altern. Sie brauchen Pflege und bringen mit dem erzeugten Most wenig Ertrag. Dazu beanspruchen sie wertvolles Gras- und Weideland, das für die Viehwirtschaft genutzt werden muss.

Ich selbst fahre schon bald mit dem Bührer statt mit dem Ruedi zur Chäsi und mache eigenständige Transporte in die Genossenschaft. Ich erinnere mich nicht, in welchem Alter ich mit Traktorfahren begonnen habe. Wahrscheinlich sobald ich mit meinen Füssen von dem bis zum letzten Loch heruntergelassenen Fahrersitz Kupplung und Bremse erreichen kann. Das Gaspedal ist leichter zu bedienen und das gefällt mir schnell. Eine Bewilligung für das Traktorfahren braucht es nicht, und meines Wissens gibt es dafür auch keine Vorschriften.

Dazu die Geschichte um meinem Führerausweis
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5.6.  Ich bin nun in Sempach – Mein Leben auf dem Bauernhof.

Dazu die Geschichte um meinem Führerausweis

Als ich im Jahre 1971 bereits 28-jährig mit klopfendem Herzen die Fahrprüfung ablege, setzt sich der Prüfungsexperte staunend neben mich. Es ist Hans Sidler. Wir beide gingen in Sempach zur Schule. Hans ist ein oder zwei Jahre älter als ich und der Sohn des Postautohalters. Vom Friedheim her kommend führt der Weg zur Chäsi an Sidlers Haus mit der Garage vorbei. Hans meint nach dem Einsteigen ins Fahrschulauto, er brauche wohl nicht lange, um meine Fahreigenschaften zu prüfen. Ich sei bereits als Kind mit dem Traktor in seiner Gegend herumgekurvt. Die Fahrprüfung schaffe ich denn auch auf Anhieb und ohne Stress.

Das gesellschaftliche und soziale Umfeld
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

In meinen Erinnerungen an die Buochs-Aufenthalte habe ich dieses Thema aufgenommen. Jetzt und im Rückblick wird mir deutlich bewusst, dass ich in Sempach komplett andere gesellschaftliche und soziale Strukturen und Denkmuster erlebe als in Buochs.

Geld und Geltung
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

Geld und Geltung
Die Schmids gehören zur alteingesessenen, grossbäuerlichen Oberschicht. Schmid ist einer der wenigen durch Abstammung erlangten Bürgernamen der Korporation. Vater Kaspar bekleidet wichtige öffentliche Ämter. Er ist als Kirchenrat einer der sieben gewählten Männer, die verantwortlich sind für die Verwaltung der katholischen Kirchgemeinde. Er ist Kassier der Korporation und Mitglied des Vorstandes der Käsereigenossenschaft Sempach-Stadt. Es ist mehr als eine Ahnung von mir, dass Mutter Schmid ihn zur Annahme solcher, die soziale Stellung der Familie festigenden Funktionen gedrängt hat. Frauen hatten in dieser Epoche zwar keinen Zugang zu öffentlichen Ämtern. Sie nahmen in dieser Form aber indirekt und in geschickter Weise Einfluss auf das öffentliche Leben.

Dem Streben nach Geld und Geltung und dem Angesehensein in der Gesellschaft kommt grösserer Stellenwert zu als der menschlichen Nähe und dem Besorgtsein für Mensch und Kreatur. Hektik und nicht überlegtes Handeln prägen die Arbeitswelt und den Alltag. Im täglichen Leben sind Mensch und Tier Befehlsempfänger, die bei Ungehorsam zu bestrafen sind. Schuld und Sühne sind bei Verletzung von selbst gegebenen Regeln selbstverständlich. Und entschieden wird situativ, ohne Abwägen möglicher Folgen.
Kaspar Schmid-Arnet
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

Kaspar Schmid-Arnet

Vater Schmid ist ein ruhiger und bedächtiger Mann. Meine Erinnerung an ihn ist blass, und ich kann mich nicht an ein direktes Gespräch mit ihm erinnern. Denn Mutter Schmid hat im Friedheim das Sagen. Das weiss auch Kaspar, und so überlässt er das Kommando seiner Frau. Das läuft zwar nicht ohne Spannungen ab, doch Vater Schmid kann diesen gekonnt ausweichen.

Als ich im Friedheim ankomme, ist er 60 Jahre alt und von der körperlichen Arbeit schon etwas gezeichnet. Auf dem Bauernhof hilft er zwar regelmässig mit, vor allem im Stall. Die schwere Arbeit aber überlässt er bald seinen Söhnen Sepp und Hans.

Vater Schmid stirbt mit 65 Jahren am 18. April 1955. Sein Tod ist im Friedheim ein einschneidendes Ereignis. In jener Nacht nach meinem zwölften Geburtstag werden wir Jungen im oberen Stock durch lautes Wehklagen von Mutter Schmid aus dem Schlaf gerissen. Ihr Kaspar liegt leblos im Bett. Im Nacht- oder Unterhemd bekleidet eilen alle herbei und sehen betroffen zu, wie der herbeigerufene Arzt nur noch den Tod von Vater Schmid feststellen kann. Der Tote im Bett, daneben die weinende Mutter Schmid, und die darum herum versammelten Jungen sind für mich eine gespenstige Szenerie. Vater Schmid war am Abend zuvor an einer Sitzung im Städtli und ist nach seiner Heimkehr als Folge eines Herzschlags gestorben. Mutter Schmid kann den Tod ihres Mannes nicht fassen, die Familie ist erschüttert und sucht für diesen plötzlichen Verlust nach Gründen. Die Frage kommt auf, ob eine Rettung möglich gewesen wäre, wenn sich Doktor Geiser nicht vor dem Ausrücken zum Notfall noch die Krawatte umgebunden hätte. Die Familie braucht für den Tod ihres Vaters einen Schuldigen. Ich verschwinde wieder in mein Zimmer und ziehe die Bettdecke über meinen Kopf.



(1) Vater Kaspar Schmid-Arnet, 1890 - 1955 (Leidbild).

Vater Kaspar Schmid-Arnet, 1890 - 1955 (Leidbild).


Am nächsten Tag beobachte ich, wie die Vorbereitungen für das Begräbnis getroffen werden. Der Sargmacher erscheint im Haus, und Vater Schmid wird im Stübli aufgebahrt. Verwandte und Bekannte kommen auf Kondolenzbesuch. Es werden Blumengebinde und Kränze vorbeigebracht und neben dem offenen Sarg aufgestellt. Der Tote bleibt dort drei oder vier Tage aufgebahrt. Für die Beerdigung steht der Leichenwagen mit zwei Pferden als Gespann vor dem Friedheim. Draussen warten die trauernden Angehörigen und viele Leute aus der Verwandtschaft und Bekanntschaft, um am Trauerzug teilzunehmen. Die von der Familie bestimmten Sargträger bringen die Blumen und Kränze und danach den Sarg zum Leichenwagen. Der Trauerzug ordnet sich ein nach Verwandtschaftsgrad. Vorne Mutter Schmid, gestützt von der ältesten Tochter Anna, dann die anderen Kinder entsprechend ihrem Alter. Ich laufe neben den jüngsten Söhnen Otto und Walter mit, dann folgen nahe Verwandte, die anderen Angehörigen und Bekannten. Der von Gebeten begleitete Trauermarsch vorbei an Hültschern durch die Oberstadt bis zur Stadtkirche dauert eine halbe Stunde. Der Tod von Vater Schmid wird im Friedheim vieles verändern.




(2) Leichenwagen, wie er bei der Beerdigung von Vater Schmit vor dem Friedheim stand.

Leichenwagen, wie er bei der Beerdigung von Vater Schmit vor dem Friedheim stand.

@ Leichenwagen
Nidwaldner Museum Stans.

Der Wagen entspricht der Form eines gefederten, von Pferden gezogenen, überdeckten Fuhrwerks aus schwarz bemaltem Holz mit silbernen Dekorationen. Eine Bauzeit im 19. oder anfangs des 20. Jahrhunderts ist wahrscheinlich.


Anna Schmid-Arnet
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

Anna Schmid-Arnet

Mutter Schmid, ebenfalls aus gutbürgerlichen Kreisen der Luzerner Landschaft stammend, hält die Zügel im Friedheim fest in der Hand. Sie prägt die Geschicke der Familie und deren Werdegang und ist verantwortlich dafür, dass ihrer positiven Aussendarstellung oberste Priorität beigemessen wird.

Meine Beziehungen zu ihr sind zwiespältig. Schnell merkt sie, dass ich mich in vielen Arten von Handreichungen in ihrem Aufgabengebiet nützlich machen kann. Dies auch, weil Walterli sich zu schade findet für derartige Hilfeleistungen. Mutter Schmid nimmt das erstaunlich widerspruchslos hin, setzt indes auf meine Wissbegierde und Zuverlässigkeit und überträgt mir schon als Bub verantwortungsvolle Aufgaben.

Als Kassierin des katholischen Frauenbundes ist sie für den Einzug der jährlichen Mitgliederbeiträge verantwortlich. Ich bekomme regelmässig die Aufgabe, jenen Frauen, die ihren Verpflichtungen nicht schon an der Generalversammlung nachgekommen sind, die sogenannte Frauenbund-Karte gegen Entgegennahme des Jahresbeitrags von fünf Franken zu überbringen. Dazu fahre ich mit dem Velo in die entlegensten Höfe, lerne die Umgebung von Sempach kennen und den Umgang mit Leuten aus allen Schichten.

Vater Schmid ist zwar Kassier der Korporation, aber als Landwirt mit diesen Aufgaben nicht vertraut. Deshalb hält Mutter Schmid auch hier das Zepter in der Hand. Faktisch übernimmt sie die Funktionen ihres Mannes, führt das Kassabuch, sorgt für die Ein- und Auszahlungen und besorgt die Löhne für die Waldarbeiter. Es sind die einzigen Angestellten der Korporation und nur saisonal beschäftigt, mit Ausnahme des Unterförsters Kaspar, des ältesten Sohnes der Familie.

Vor der Jahresversammlung, an der die Rechnungslegung erfolgt, wartet Mutter Schmid mit einigem Bibbern auf die Rechnungsrevisoren. Sie stellt ihnen im Stübli die Unterlagen bereit und serviert anschliessend ein gutes Mahl. Mit Stolz verkündet sie am Tag darauf den erfolgreichen Ablauf der Revision.

Schon in meiner Schulzeit punktiere ich mit Mutter Schmid das Kassabuch ab, wenn sie eine Differenz zwischen Soll und Haben feststellt. Sie schickt mich auf die Post, um Einzahlungen zu tätigen oder auf die Spar- und Leihkasse, um Geld für die Löhne der Korporation abzuholen. Manchmal erledige ich solche Aufgaben in einem Arbeitsgang für die Korporation, den Frauenbund und den privaten Haushalt. Ich glaube mich zu erinnern, dass mich Mutter Schmid einmal zum Begleichen der anstehenden Rechnungen in die Landwirtschaftliche Genossenschaft schickt. Dazu fahre ich mit weit mehr als tausend Franken in der Tasche mit dem Velo nach Sempach-Station. Der Kassier hinter dem Schalter schaut mit staunenden Augen zu, wie ich die Noten aus dem mitgebrachten Kuvert zähle.

Zwischen Mutter Schmid und mir entsteht so eine komplexe Beziehung. Ich spüre ihre Wertschätzung in Dingen des Alltags, aber auch immer ihren Drohfinger, aufzupassen und nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Echte Zuneigung oder menschliche Wärme gibt es nicht. Im Rückblick erkläre ich mir das damit, dass Anna Schmid geprägt war von der Geschichte mit unserer Mutter und den Geschwistern Stalder. Sie hatte wohl deren Voreingenommenheit gegenüber den Barmettlers übernommen.

Erziehung
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

Erziehung

Höchstes Ziel für meine Erziehung ist der Gehorsam. Körperstrafen sind eine Selbstverständlichkeit und gelten als wirksames Erziehungsmittel. Diesem Grundsatz wird mir gegenüber mit Nachdruck nachgelebt. Ich empfinde das besonders einprägsam, weil ich sehe, wie der fünf Jahre ältere Walterli tun und lassen kann, was er will. Bei mir hingegen, einem Buben aus der Unterschicht, scheinen nur rabiate Erziehungsmethoden erfolgversprechend zu sein.

Nicht bloss bei den Schmids ist das so, auch Schule und Kirche setzen Kinder der Unterschicht härteren Erziehungsmethoden aus als solchen aus gutbürgerlichen und einflussreichen Kreisen.

Und mir fällt auf, dass ich während meiner Schulzeit bei Lehrer Oetterli übermässig oft zu Körperstrafen antreten muss. Zu ihm gehe ich in den Jahren 1953 bis 1955 in die vierte und fünfte Klasse. Erwin Oetterli ist seit kurzer Zeit mit Elsy verheiratet. Entweder will er nahtlos eintreten ins Erziehungsmodell, das ich im Friedheim erlebe. Oder er will den Eindruck vermeiden, ich würde in seiner Klasse einen Verwandtenbonus geniessen. Zu Hause jammern, es habe in der Schule Strafen abgesetzt, bringt ohnehin nichts, denn dann gibt es höchstens noch eine drauf.

Von den meisten Schülern in Sempach gefürchtet sind die Körperstrafen von Xaver Steiner. Der etwas cholerisch veranlagte Lehrer unterrichtet die sechste Klasse. Zu Steiner komme ich in die letzte Primarklasse. Den Übertritt in die Sekundar- statt in die Oberschule zu schaffen, ist ein Meilenstein für unsere Generation. Denn der erfolgreiche Besuch der Sekundarschule ist Voraussetzung, um eine der begehrten Lehrstellen zu ergattern. Die Oberschule besteht in der Volksmeinung nur für die ohnehin wenig talentierten Kinder der Unterschicht. Im Vergleich zur Oetterli-Zeit ist für mich das bei Lehrer Steiner zur Schule gehen aber keine Strafe, sondern ein Wohlgefühl. Die Übertrittsprüfung in die Sekundarschule schaffe ich locker und mit Auszeichnung.

Besonders schlechte Erinnerungen habe ich an den Religionsunterricht bei Kaplan Alois Koller. Das muss in den Jahren 1953 bis 1955 gewesen sein. Einmal traktiert er mich auf dem Schulzimmer-Boden mit wuchtigen Fusstritten. An den Anlass für seinen Ausbruch erinnere ich mich nicht.

In diesem Umfeld laufe ich oft zur Schule mit der bangen Frage, welche Strafe mich heute erwartet. Ob es dafür einen Grund geben könnte, hinterfrage ich nicht mehr und tröste mich mit dem Gedanken „lass es auf dich zukommen, schimpfen tut nicht weh, und töten darf man mich nicht“.

Warum hast Du Tante Beng nicht gegrüsst?
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

Warum hast Du Tante Beng nicht gegrüsst?

Im Friedheim werde ich zu Höflichkeit, mitunter zu Unterwürfigkeit erzogen. Diese Gedanken führen mich zur Geschichte mit Tante Beng. Mir wird eingebläut, ihr in jedem Fall mit besonderer Höflichkeit zu begegnen. Marie Beng ist alleinstehend und wohnt in dem hoch über Sempach liegenden Chalet Daheim mit Ausblick auf den See und weit darüber hinaus. Vom Hörensagen weiss ich, dass sie reich ist und mögliche Erbtante wird. Eines sonntags nach dem Kirchgang komme ich nach Hause. Statt des üblichen Mittagessens gibt es für mich Schelte von Mutter Schmid. Tante Beng habe sich beklagt, ich hätte sie beim Gang zur Kirche nicht gegrüsst. Bevor es zu Essen gäbe, müsse ich zu ihr gehen und mich bei ihr in aller Form und mit Handschlag entschuldigen. Doch ich kann mich nicht daran erinnern, Tante Beng überhaupt gesehen zu haben. In mir sträubt sich alles gegen die ungerechte Strafe. Doch da nützt alles Wehklagen nichts. Der Seppli nimmt bangen Herzens den zwanzigminütigen Marsch ins Daheim unter die Füsse, klopft bei Tante Beng an und stottert eine Entschuldigung für etwas, was er nicht gemacht hat. Frau Beng staunt. Sie hat sich bei Mutter Schmid weder beschwert noch mich beim Gang zur Kirche ausgemacht. Später stellt sich heraus, dass Maria oder Theres mich beim Kirchgang beobachtet hatten und glaubten, meinen Nichtgruss gesehen zu haben.

Und jetzt, 70 Jahre später, erkenne ich den engeren Zusammenhang. Gemäss dem für meine Recherchen konsultierten Hof- und Geschlechterbuch der Gemeinde Sempach war Marie Beng-Schmid Alleinerbin einer Liegenschaft in der Gegend Honerich. Nach ihrem Tode 1958 sei diese gemäss Vertrag von 1943 in das Eigentum ihres bisherigen Verwalters übergegangen. Von diesem Schriftstück hatten die Schmids natürlich keine Kenntnis. Doch damit blieb die Hoffnung auf eine mögliche Erbschaft unerfüllt.

Und wieder stürzt Ernstli
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

Und wieder stürzt Ernstli

Es sind diese Gedanken, die mich zurückführen auf ein Ereignis meiner frühen Kindheit in Buochs, den Sturz meines kleinen Bruders aus dem Fenster des Schlafzimmers im ersten Stock, den er heil und unverletzt überstanden hatte.

Während der Krankheitszeit unserer Mutter ist der vierjährige Ernstli zusammen mit mir im Friedheim. An gemeinsame Erlebnisse kann ich mich nicht erinnern, ausser an die Sache mit seinem Sturz. Wir spielen zusammen auf dem Milchwagen, so als ob wir in die Chäsi fahren würden. Plötzlich fällt Ernstli vom Bock auf die Holzläden des Güllenlochs. Er weint herzerschütternd und muss nach Luzern ins Spital. Zurück kommt er mit einem eingegipsten Arm. Der Schuldige für dieses Ereignis ist schnell gefunden. Der Seppli hat seinen kleinen Bruder vom Wagen gestossen, wieder, wie beim Sturz aus dem Fenster in Buochs. Meine Unschuldsbezeugungen sind umsonst. Ich bin als Lügner abgestempelt und dabei bleibt es noch für Jahre. Denn für ein Unglück braucht es einen Schuldigen, zumindest als moralische Genugtuung, denn für den finanziellen Schaden, die Kosten des Spitalaufenthalts hatten die Schmids aufzukommen. Denn eine Kranken- oder Unfallversicherung kannten damals weder sie noch die Barmettlers.

Die Geschichte von Maria Arnet
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

Die Geschichte von Maria Arnet

Bei meinem virtuellen Rundgang durch das Bauernhaus habe ich vom Zimmer im Estrich berichtet, in dem Maria hauste, die geistig behinderte Schwester von Mutter Schmid.

"D’Marei“, wie sie im Friedheim genannt wird, lebt ein tristes Leben. Sie haust alleine in ihrem Verschlag auf dem Dachboden. Ihre sozialen Kontakte sind auf das Minimalste beschränkt. Das Essen reicht man ihr in der Küche, abgesondert vom Rest der Familie und der Bediensteten. Sie hat den Befehlen ihrer Schwester Anna oder den Schmid-Töchtern zu gehorchen, etwa wenn man sie mit einfachen Arbeiten im Haushalt beauftragt. Ich kann mich daran erinnern, wie sie den Boden in der Stube aufwischt. Gelenkt wird Maria nicht mit Worten oder Hilfestellungen, sondern mit Fusstritten in den Hintern. Ihr wird gedroht, wenn sie nicht pariere, hole sie das „gelbe Wägeli“ ab und bringe sie nach St. Urban in die psychiatrische Klinik. Oder sie komme nach Hohenrain, in eine damals für schulbildungsunfähige, geistig behinderte Kinder bestehende Einrichtung. Maria wird vor der Öffentlichkeit versteckt. Immer, wenn Besuch oder Spaziergänger in Sicht sind, heisst es, „nämed d’Marei ine“. Dann wird Maria wie ein Stück Vieh in ihren Verschlag gejagt. Oft kommt es gar vor, dass die mit Scharnieren in die Decke eingelassene Türe zum Estrich verschlossen wird. Wenn Maria das merkt, wird sie tobsüchtig und brüllt aus ihrem zur Strasse liegenden Fenster. Leider benehme auch ich mich ihr gegenüber hie und da nach diesem Muster. Im Rückblick ist es für mich unglaublich, dass noch in der damaligen Zeit des 20. Jahrhunderts behinderte Menschen in derart menschenverachtender Weise versorgt sind.

Welcher Art die geistige Behinderung von Maria war und auch, ob sie in ihrer Kindheit oder Jugend medizinisch abgeklärt wurde oder in Behandlung war, weiss ich nicht. Im allgemeinen Sprachgebrauch sagte man damals gemeinhin, „d‘Marei spinnt“. In der Tat waren ihr Reden und ihr Verhalten wirr und unberechenbar.

Aber zur Geschichte von Maria gibt es noch diese Parallele zum Sturz von Ernstli. Ich bin vielleicht 12- oder 13-jährig als ich Maria auf der Treppe zum Estrich von Schmerzen geplagt und jammernd sitzen sehe. Ihr alter Rock ist blutüberströmt. Mutter Schmid und die Töchter kümmern sich um Maria und fragen sie, was passiert sei. Maria gibt mir die Schuld an den Blutungen. Ich hätte sie in den Bauch getreten. Meine Unschuldsbeteuerungen sind umsonst. Natürlich der Seppli! Wieder bin ich der Schuldige an einem Unglück. Maria muss ins Spital. Nach ein paar Tagen kommt sie erholt, körperlich gesund und wohlgepflegt zurück. Ich glaube, im Friedheim hat man inzwischen gehört, dass nicht ein Tritt in den Bauch Ursachen der Blutungen waren. Aber ich erfahre das nur zwischen den Zeilen in ihren Gesprächen der Schmids unter sich.

Bei meinem Besuch im November 2019 bei Othmar und Simone Schmid, die das Friedheim heute bewirtschaften, kommen wir auf Maria Arnet zu sprechen. Othmar ist einer der Söhne von Sepp, 1969 geboren, sieben Jahre nach dem Tod seiner Grossmutter. Marie war demzufolge seine Grosstante. Alles, was er von ihr weiss, ist, dass oben im Estrich eine Hexe gewohnt habe. Simone ergänzt, dass Othmar, als sie beide 2009 ins Friedheim gezogen seien, gar nicht dorthin gehen und beim Aufräumen helfen wollte. Er habe noch immer Angst davor gehabt, der dort wohnenden bösen Fee zu begegnen.

Die beiden jungen Schmids wissen, dass ich zu meinem Aufenthalt in Sempach am Recherchieren bin und sind daran interessiert, über die Lebenssituation von Maria mehr zu erfahren. Meine Anfrage beim Stadtarchivar ergibt, dass für ihren Aufenthalt im Friedheim keine vormundschaftliche Massnahme dokumentiert ist. Maria habe einfach so dort gelebt. Zu vormundschaftlichen Massnahmen sei es erst im Anschluss an das Ableben von Xaver Arnet-Risi (1861–1943) gekommen, dem Vater von Maria. Dabei habe der Gemeinderat von Sempach Mitte der 1940er Jahre zunächst die Erbteilung genehmigt und 1946 auf Geheiss des „Amtsgehülfen“ für Maria eine ständige Beirat- oder Vormundschaft in Sachen Vermögensverwaltung verfügt. Korporationskassier Kaspar Schmid-Arnet habe dieses Amt übernommen. Offensichtlich war Marias Schwester Anna dazu als Frau nicht berechtigt. Über das Ableben von Maria kann ich nichts in Erfahrung bringen.

Die Geschichte von Balz Helfenstein
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Die Geschichte von Balz Helfenstein

Im Friedheim hat auch Balz Helfenstein ein mehr oder weniger festes Logis. Sein Zuhause befindet sich im oberen Teil der Scheune im kleinen Schopf neben dem Eingang zur Auffahrt. Für Balz ist dort ein abschliessbarer Verschlag eingerichtet mit einer Pritsche und einem Spreusack als Schlafstätte. Der übrige Raum dient als Zwischenlager für die nach dem Dreschen abgefüllten Getreidesäcke. Als Knecht verrichtet Balz einfache Gelegenheitsarbeit. Wenn er mit der Behandlung im Friedheim unzufrieden ist, büxt er aus, taucht aber nach ein oder zwei Tagen unverhofft wieder auf, als ob nichts geschehen wäre. Oft bringe ich ihm den Znünikorb zur Scheune. Punkt neun Uhr muss das Körbchen auf dem unter dem Scheunendach abgestellten Milchwagen sein. Balz wird fuchsteufelswild, wenn dieses nicht pünktlich dort ist oder er mich nicht zur Scheune unterwegs sieht. Zornig wird er, wenn im Znünikorb die Flasche mit dem Grünbitter fehlt. Er versucht, mich zu verhauen, aber ich bin schneller auf den Beinen als er. Balz ist vom Alkohol gezeichnet und verwahrlost. Seine Zähne hat er alle verloren und auch seine Blase hat er nicht mehr unter Kontrolle. Wenn er beim Nachtessen zu lange am Stubentisch hockt, bildet sich unter seinem Stuhl bald eine Lache. Diese dann aufzuputzen ist hie und da auch meine Aufgabe.

Seinen Grünbitter braut sich Balz selbst zusammen. Im Frühling geht er zum Allmendwald. Am sonnigen, gegen Westen ausgerichteten Waldrand sucht er nach den noch jungen Blättern des Aronenkrauts. Sie sind zwischen altem Laub versteckt. Er pflückt die Blätter der Pflanze und legt sie in den ihm von den Schmids in einer Zweiliter Korbflasche bereitgestellten Träsch ein. Nach ein paar Wochen hat der Schnaps die Farbe des Aronenkrauts angenommen, und fertig ist der Grünbitter.

Laut „Wikipedia“ (12.2019) handelt es sich beim Aronenkraut um die schweizerische Bezeichnung des „Gefleckten Aronstabs“, der in allen Pflanzenteilen sehr stark giftig sei. Trotzdem seien 60% der gemeldeten Fälle symptomlos verlaufen, bei 40% traten Schleimhautreizungen auf, bei 20% waren Magen und Darm betroffen.

Wenn ich mich nun an diese Geschichte erinnere, wird in mir ein mulmiges Gefühl wach. Denn als neugieriger Bube wollte ich von diesem Kraut auch probieren. Dabei hatte ich das Gefühl, meine Zunge verbrenne allein schon nach einem kurzen Biss auf diese Gewürzpflanze.

Das Dürrejahr 1949 und seine Folgen
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Das Dürrejahr 1949 und seine Folgen

Der Sommer 1949 bringt eine katastrophale Dürre. Es war jener Sommer, in dem unsere Mutter starb. Wegen der herrschenden Hitze und Trockenheit leidet die Landwirtschaft stark. Die Felder sind dürr. Besonders der Hubel, ein wichtiger Futterlieferant im Friedheim, kann nicht mehr für die Graswirtschaft genutzt werden. Täglich schauen die Schmids mit banger Sorge zu der in Richtung Schibler liegenden, langsam versiegenden Trinkwasserquelle. Mensch und Tier brauchen dringend Wasser. Ich bin dabei, wie wir mit Pferd und Wagen Wasser aus dem Stadtbrunnen holen. Dafür werden alle möglichen Behälter benötigt: Wannen aus Holz, Milchkannen und alle verfügbaren Holzfässer. Zu jener Zeit wird darüber gerätselt, welches der beiden Dürrejahre, 1947 oder 1949, das schlimmere sei. Da das Friedheim noch nicht an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen ist, wird nach den beiden Dürreperioden nach Auswegen geforscht. Ein Wasserschmöcker kommt mit seiner Rute vorbei und sucht die umliegenden Felder nach weiteren Quellen ab.

Das fasziniert mich. Ich weiss noch heute, wie man aus einer Weiden- oder Haselholzastgabel eine Wünschelrute herstellt. Ich sehe mich als Bube mit dem auf den Boden zeigenden Winkel der Rute in der Hand bedächtig über die Wiese schreiten. Und ich bilde mir ein, die Kraft des senkrecht nach unten schiessenden Winkels zu verspüren, der in der Tiefe eine Wasserader ortet.

Auch unser Vater spürte die Pendelkraft in sich und hatte das Wissen, mit dem Pendel Wahrheiten zu deuten. Bei einem meiner Besuche in der Linde zeigt er mir das Funktionieren und Deuten der Pendelbewegungen. Er bastelt aus seinem Ehering und einem ausgezupften Haar aus seinem Wuschelkopf ein Pendel und legt ihn mir zwischen Zeigefinger und Daumen meiner rechten Hand. Sorgfältig stütze ich meinen Arm auf den Tisch, führe das Pendel über seine Handfläche und sehe, wie sich dieses immer stärker werdend Hin und Her bewegt. Vater weiss nun, dass ich ebenfalls die Pendelkraft besitze. Doch er will nicht, dass ich das Experiment weiterführe. Den Grund dafür will er mir trotz Nachfrage nicht erklären. und er bleibt sein Geheimnis.

Die Geschichte mit dem Pendeln habe ich Uschi erzählt. Auch sie ist interessiert an meinen übersinnlichen Kräften. Wie mein Vater es mir vorgemacht hat, nehme ich ein Haar von ihr, fädle dieses durch meinen Ehering und führe das Pendel über ihre auf dem Tisch liegende Hand. Und in der Tat, das zwischen meinem Daumen und Zeigfinger gehaltene Pendel beginnt wie wild gegen mich auszuschlagen. Das Experiment macht ihr derart Eindruck, dass sie mir bei nächster Gelegenheit ein goldenfarbiges Pendel schenkt. Dennoch habe ich mich nie mehr mit den Einzelheiten und Hintergründen dieses komplexen esoterischen Wissens befasst.

 

 

Unwetter
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Unwetter

Wenn über dem Sempachersee ein schweres Gewitter aufzieht, herrscht in Haus und Hof Alarmstimmung. Der Familie Schmid ist angst und bange vor allen möglichen Folgen, und sie zittert um ihre Ernte. Wegen der Blitzeinschlaggefahr werden alle Lichter gelöscht. Im Stall werden die Petrollampen angezündet, damit die Melkarbeit fortgesetzt werden kann. Mutter Schmid ruft die Leute in der Küche zusammen, zündet gesegnete Kerzen an und beginnt ihre Gebete. Sie wendet sich in Fürbitten an Gott und die Heiligen, man möge die Familie vor der Unbill des nahenden Unwetters schützen.

Nie vergesse ich den schweren Hagelschlag, der am 5. September 1954 über die Gegend von Sempach zieht. Noch heute habe ich das unheimliche Dröhnen im Ohr, das die Wand mit der von Oberkirch herannahenden Hagelfront vor sich her treibt. Minutenlang prasseln zum Teil eiergrosse Hagelgeschosse nieder. Die Folgen sind verheerend. Die Kulturen sind zerstört, an den Gebäuden entsteht gewaltiger Sachschaden, die Wiesen sind zentimeterhoch mit Hagelkörnern bedeckt und die Strasse Richtung Allmend ist weiss wie im Winter. Sie muss mit dem hölzernen Schneepflug freigemacht werden. Es herrscht Notstand. Der folgende Tag ist schulfrei, damit die grösseren Kinder den Bauern bei den Aufräumarbeiten helfen können. Mit vereinten Kräften versuchen wir, etwas von der Obsternte zu retten. Mit klammen Fingern befreien wir die zerquetschten Früchte vom festgeklebten Hagel, sammeln sie in Körben und Säcken. Aber schnell wird klar, es gibt nichts mehr zu retten. Die Früchte sind unreif, zum Mosten nicht zu gebrauchen. Und auch der aus dem verhagelten Obst gebrannte Trester wird nicht geniessbar sein. Für das Vieh muss Futter zugekauft werden, und in den Wäldern entsteht sehr grosser Schaden. Besonders der Chüserainwald ist so stark betroffen, dass ein Grossteil der Bäume geschlagen werden muss. Das verhilft mir später zu einem gut bezahlten Nebenjob bei der Korporation. Neben anderen Buben darf ich bei der Pflege der zur Wiederaufforstung benötigten Setzlinge mithelfen.

Das Verhältnis zu den Nachbarn
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Das Verhältnis zu den Nachbarn

Richtung Allmend, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Friedheim liegt die Liegenschaft Benziwinkel. Ich habe beschrieben, wie dieses Gut 1917 in zwei Höfe aufgeteilt wurde. Kaspar, der ältere der beiden Söhne, erhielt die Liegenschaft Friedheim. Josef, sein jüngerer Bruder bleibt auf dem um das aufgeteilte Land verkleinerten Benziwinkel, stirbt aber schon 1945 im Alter von 51 Jahren. Danach wird dieser Hof von Witwe Rosa und ihren zwei Söhnen bewirtschaftet



(1) Josef Schmid, Benziwinkel, 1894 -1945.

Josef Schmid, Benziwinkel, 1894 -1945.

 

 

(2) Rosa Schmid, Benziwinkel, 1892 -1981.

Rosa Schmid, Benziwinkel, 1892 -1981.

© Portrait-Archiv der Zentralschweizerischen Gesellschaft für Familienforschung.


Ich spüre früh, dass zwischen den beiden brüderlichen Nachbarn ein frostiges Klima herrscht. Die Kontakte und gegenseitigen Hilfeleistungen sind auf das Nötigste beschränkt. Es kommt vor, dass die von mir gehüteten Kühe von der einen auf die andere Weide durchbrennen. Sind es die Friedheim Kühe, die im Benziwinkel weiden, höre ich Wutausbrüche von dort, und umgekehrt ist es dasselbe. Sogar wenn die gegnerischen Kühe unter dem Elektrozaun durch grasen, gibt es unter den Nachbarn Zwistigkeiten.

Persönlichen Kontakt zum dreihundert Meter vom Friedheim entfernt liegenden Benziwinkel habe ich nur beim Vorbeibringen der Frauenbund-Karte. Mich erstaunt es, wie freundlich mich Witwe Rosa in der Küche empfängt und mir sogar ein Schenkeli anbietet.

Im Friedheim will man immer wissen, wer von den beiden Bauern mehr Milch in die Chäsi bringt. Das kann jedermann von der Schiefertafel neben der Waage ablesen. Gegenüber dem Benziwinkel hat das Friedheim die Nase immer vorn. Das Rennen um den grössten Milchlieferanten machen regelmässig der Friedheim- und der Fluck-Bauer unter sich aus.

Zum Benziwinkel gibt es eine amüsante Besonderheit. Nebst einem oder zwei Pferden besitzen die Bauern einen Esel als Zug- und Lasttier. Wenn Ross oder Mann andere Arbeit zu verrichten haben, muss der Esel alleine in die Chäsi. Der Melker lädt die Milchkannen auf den Wagen, spannt das Tier davor und schickt es mit einem Klaps auf den Hintern auf den Weg. Der Esel findet die Chäsi im Städtli ohne Hilfe. Die Käser laden die Benziwinkel-Milch ab, führen den Esel mit dem Wagen und den leeren Milchkannen auf die Strasse und schicken ihn wieder mit einem Klaps auf den Hintern zurück zum Benziwinkel. Doch der hat es dabei nie eilig. Oft bleibt er auf dem Weg stehen, frisst vom Gras neben der Strasse oder macht einen unverhofften Halt im Friedheim und prüft aufmerksam, was um ihn herum passiert.

 

 

Kirche
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Kirche
Die katholische Kirche spielt in der Gesellschaft von Sempach eine zentrale Rolle. Ich bin katholisch getauft und bekomme mit, was das in einem katholisch-konservativ geprägten Milieu bedeutet. Gehorsam und Disziplin hat im kirchlichen Umfeld oberste Priorität. Sonntags ist der Gang zur Messe Pflicht. Zur Vorbereitung auf die erste Kommunion gehen wir Kinder sonntags in die Kinder- und später in die Christenlehre als Voraussetzung für die Firmung. Für uns Schüler sind am Freitag Kirchgang und Kommunion Pflicht. Das Sakrament darf nur auf nüchternen Magen empfangen werden. Das hat sein Gutes. Denn nach der Messe und vor Schulbeginn darf ich beim Bäcker Stirnimann eine Tasse Kakao und ein Mutschli geniessen, wohingegen die Schüler aus dem Städtli das Frühstück zu Hause nachholen. Ich lasse die kirchlichen Pflichten über mich ergehen, anfänglich im Glauben an die Wahrheit der gepredigten Lehre. Doch ich beginne bald, diese zu hinterfragen. Daraus wird ein über Jahre in mir ablaufender Prozess. Ursprung ist wohl, dass ich während der Sonntagsmesse mehr als einmal und beäugt von allen Kirchenbesuchern von irgendeiner Aufsichtsperson zum Hinausknien in den steinernen Hauptgang des Kirchenschiffes befohlen werde. Entweder, weil ich mit einem anderen Buben geschwatzt habe oder weil ich neugierig zurückschaue auf die Empore mit der Orgel und dem Chor. Oder ganz einfach grundlos. Das zur Kirche gehen müssen ist deshalb schon während meiner letzten Schuljahre mit quälenden Gefühlen verbunden. Allerdings noch übertroffen von den besonders schlechten Erinnerungen an die Religionslehre bei Kaplan Koller. Als sich die Haltung der römisch-katholischen Kirche unter dem Papst aus Polen in gesellschaftspolitischen Fragen den sich wandelnden Bedürfnissen der Menschen zunehmend widersetzt, treten Uschi und ich aus der Institution aus. Ein Akt, dem noch rein formeller Charakter zukommt. Als geschiedene und wieder verheiratete Katholiken sind wir faktisch ohnehin von dieser Gemeinschaft ausgeschlossen.
Der Auffahrtsumritt von Sempach
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

Der Auffahrtsumritt von Sempach

Ein besonderes Ereignis im Kirchenkalender von Sempach ist der Auffahrtsumritt. Am Tag von Christi Himmelfahrt findet seit fünfhundert Jahren ein Umritt entlang der Grenze der Pfarrgemeinde statt. Gläubige zu Pferd und zu Fuss, eine berittene Musik in historischen Uniformen und der örtliche Kavallerieverein in Militäruniform nehmen daran teil.

Im Sekundarschulalter bekomme ich die Aufgabe, den Stadtpfarrer Furrer im Sattel unseres Rosses Ruedi am Umritt zu führen. Der Pfarrer kann nicht reiten, sitzt ängstlich auf dem Pferdesattel und hält mich stets an, dafür zu sorgen, dass das Pferd seinen Kopf nicht Richtung Boden hängen lässt. Weil er die Monstranz in der einen Hand hat, kann er sich nicht beidhändig am Sattel- oder Zaumzeug festhalten. Er hat Angst davor, vornüber vom Pferd zu fallen. Für mich ist das nicht nur deswegen eine anstrengende Prozession. Aufbruch bei der Kirche in Sempach ist morgens um fünf Uhr. Die erste Etappe führt hinauf nach Kirchbühl. In diesem Weiler, auf einer Anhöhe über dem Sempachersee, befindet sich eine der ältesten Kirchen im Kanton Luzern, die damals verlottert war und heute ein baugeschichtliches Kulturdenkmal ist.

Während der Messe versorge ich den Ruedi in einem benachbarten Stall. Nach einer Stunde geht der Umritt weiter über die Höfe Horlachen und Schopfen nach Hildisrieden mit einem Festgottesdienst und anschliessendem Mittagessen. Hier führe ich Ruedi zur Tränke und bringe ihn in einen benachbarten Stall, wo für ihn das Futter bereitsteht. Manchmal ist mir ein mitreitender Kavallerist bei der Versorgung des Pferdes behilflich. Nach der Mittagspause führt die Prozession von Hildisrieden via die Weiler St. Anna und Mettenwil zur Kapelle Adelwil und zurück via Seesatz zum feierlichen Einzug gegen 14 Uhr ins Städtchen Sempach. Bei der Treppe vor der Kirche steigt Pfarrer Furrer vom Pferd. Als Dank und Entgelt für meinen Tageseinsatz erhalte ich von ihm einen Fünfliber. Den Ruedi führe ich zurück ins Friedheim, befreie ihn von der eigens für den Umritt im Pfarramt abgeholten gestickten Pferdedecke und nehme ihm Sattel und Zaumzeug ab. Müde sind wir beide, denn die ganze Umrittsroute ist gegen 20 Kilometer lang.



(1) Auffahrtsumritt Sempach 1958. Ich führe das Ross Ruedi in Hildisrieden hin zur Kirche für den Weiterritt Richtung Sempach. © SRF.

Auffahrtsumritt Sempach 1958. Ich führe das Ross Ruedi in Hildisrieden hin zur Kirche für den Weiterritt Richtung Sempach. © SRF.

 

 

   

(2) Pfarrer Furrer sitzt im Sattel, bereit für den Weiterritt von Hildisrieden zum nächsten Halt in St. Anna. © SRF.

Pfarrer Furrer sitzt im Sattel, bereit für den Weiterritt von Hildisrieden zum nächsten Halt in St. Anna. © SRF.

 

   

Zwei Ereignisse bleiben haften
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

Zwei Ereignisse bleiben haften

Zwei Ereignisse, die schicksalhaft hätten enden können, bleiben in meiner Erinnerung haften. Einmal, als ich Ruedi im Stall von Kirchbühl abhole, werde ich von einem ausschlagenden Eidgenoss an der rechten Hand getroffen. Anfänglich mache ich mir nichts daraus. Aber mit der Zeit schwillt die Hand stark an. Zudem ist es an diesem Frühlingstag bitterkalt. Kurz oberhalb Kirchbühl beginnt es sogar zu schneien. Ich habe weder warme Kleider noch einen Regenschutz, noch Handschuhe dabei und richtige Schuhe schon gar nicht. Auf dem Weg nach Hildisrieden beginne ich vor Kälte und Schmerzen zu schlottern. Doch ich sehe keine andere Wahl, als mich durchzubeissen. Ob der Pfarrer oder einer seiner Begleiter wegen der fürchterlich schmerzenden Hand auf mich aufmerksam werden, weiss ich nicht mehr. Jedenfalls führe ich Pfarrer Furrer auf dem Rücken von Ruedi auf der ganzen Umrittsroute zurück ins Städtli. Erst als die Schmerzen am folgenden Tag nicht nachlassen, schickt mich eine der Schmid-Töchter zu Doktor Geiser, dem Arzt im Städtli. Dieser schaut die geschwollene Hand an und ist erstaunt, dass ich nicht schon gestern zu ihm gekommen bin. Wegen der latenten Gefahr von Starrkrampf setzt er mir meine erste Spritze in den Hintern, legt einen Verband an und stützt den Arm mit einer schwarzen Armschlinge. Zurück im Friedheim komme ich mir derart verarztet vor wie ein kleiner Held.

Das zweite Ereignis hätte fatal enden können. Vom Umritt zurück in Sempach reift in mir die Idee, Ruedi nicht einfach heimwärts zu führen, sondern bequem auf seinem noch mit der weissen Pferdedecke geschmückten Rücken zu reiten. Sobald Pfarrer Furrer zur Schlussandacht in der Kirche verschwunden ist, schwinge ich mich in den Sattel. Aber hoppla, da habe ich die Rechnung ohne die Macken von Ruedi gemacht. Offenbar genervt von meinen nicht zimperlichen Zurechtweisungen während des Umritts, beginnt das sonst zahme Ross im Galopp durch die Oberstadt auszubrechen. Mit wildem Ausschlagen der Hinterbeine versucht es, mich aus dem Sattel zu heben. Ein Kavallerist beobachtet das Durchbrennen und meine Hilflosigkeit beim Versuch, das Pferd zu zügeln. Er galoppiert uns nach, und kurz vor der Kreuzung der von Rain kommenden Strasse gelingt es ihm, das Ross am Zaumzeug festzuhalten. Erleichtert, aber zu Tode erschrocken, steige ich aus dem Sattel und führe das Pferd zu Fuss zurück ins Friedheim. Ich ordne diesen Vorfall in den Auffahrtstag des Jahres 1959 ein, wenige Wochen nach Beginn meiner Lehrzeit. Er ist das Ende der Auffahrtsumritte von Ruedi und mir mit Pfarrer Furrer. Will der ängstliche Geistliche ihn und mich nicht mehr einsetzen, oder fürchten sich die Schmids vor weiteren Zwischenfällen? Ich bekomme den Grund nicht mit, doch mir kommt es gelegen, dass der Pfarrer von nun an auf ein anderes Pferd setzt.

Politik
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5.7.  Ich bin nun in Sempach – Das gesellschaftliche und soziale Umfeld.

Politik

In den 1950er und 60er Jahren sind Politik und katholische Kirche eng miteinander verwoben. Die katholisch-konservative Partei, im Gegensatz zur übrigen Schweiz im Kanton Luzern als die Roten bezeichnet, beherrscht das politische Geschäft in der Mehrheit der Gemeinden der Luzerner Landschaft. Ihr Gegenpart, die Liberalen, die Schwarzen wie die Freisinnigen genannt werden, spielen in der Sempacher Politik eine untergeordnete Rolle. Praktisch jedermann weiss, welche der Familiendynastien welcher Partei zugeneigt ist. Das lässt sich allein schon an der abonnierten Tageszeitung erkennen. Das Vaterland kommt bei den Roten ins Haus, das Luzerner Tagblatt bei den Schwarzen. Und auch der Besuch der Beizen ist ein klarer Hinweis auf die Parteisympathie. Die Roten gehen in den Ochsen, den Adler oder ins Kreuz, die Schwarzen in den Herrenkeller oder den Winkelried. Und auch die Ortsvereine legen sich ein politisches Mäntelchen um. Die katholische Jungmannschaft versus den Gesellenverein, der Turnverein ETV ist schwarz und der Katholische Turnverein rot. Allerdings gibt es in Sempach nicht zwei Musikvereine, wie in anderen Dörfern der Luzerner Landschaft. Aber in der Musikgesellschaft spielen die Roten klar die erste Geige. Fakt ist, dass im Umfeld der Familie Schmid die Roten als die Guten und Gläubigen wahrgenommen werden, während die Schwarzen ihren Himmel noch verdienen müssen. Was auch daran sichtbar ist, dass diese in der Sonntagsmesse in den hinteren Bänken des Kirchenschiffs Platz nehmen. Oder stehend im sogenannten Vorzeichen, dem Vorbau der Kirche, via den man durch das Hauptportal in den Innenraum gelangt. Einige dieser Kirchgänger verschwinden allerdings vor dem Ende der Liturgie im nahen Herrenkeller.

Keine Rolle spielen die Sozialdemokraten, denn die klassische Arbeiterschaft wohnt unisono in der industrialisierten Zone von Stadt und Agglomeration Luzern. Auf der Landschaft verdient man sich sein Geld entweder in der Landwirtschaft, im Gewerbe oder als Akademiker. So ist der Blickwinkel der Gesellschaft, in der ich mich bewege.

In diesem Kontext bleibt mir ein besonderes Ereignis in Erinnerung. In der Sempacher Unterstadt wohnt ein Arbeiter in einem verfallenen Holzhaus. Vom Hörensagen weiss ich, dass er bei der Viscosi, der Viscosuisse in Emmenbrücke Nachtschicht arbeitet und deswegen im Städtli kaum zu sehen ist. Als in den 1950er Jahren in Sempach bei den kantonalen Wahlen eine einzige Stimme für die SP abgegeben wird, ist der Fall klar. Der Mann von der Viscosi ist der gottlose Nestbeschmutzer. Dem Vernehmen nach soll das sogar ein Thema in der Sonntagspredigt gewesen sein. Tatsache ist, dass in meiner Jugendzeit die SP mit der in der Sowjetunion herrschenden atheistischen Kommunistischen Partei praktisch gleichgesetzt wird. Als sich im März 1953 die Nachricht vom Tod des Diktators Stalin in Windeseile verbreitet, herrscht auch in der Schweiz ein Gefühl von Befreiung. Man glaubt sich erlöst von der Gefahr, durch eine militärische Intervention der sowjetischen Armee im geschwächten Westen Europas der Ideologie des Kommunismus unterworfen zu werden. An jenem 5. März 1953, dem Todestag von Stalin, bin ich dabei, als sich nach Schulschluss ein Rudel Schüler zum Haus des Arbeiters in der Unterstadt bewegt und mit dem Ruf „de Stalin isch verreckt“ jaulend um sein Anwesen tanzt. Schülerinnen sind, glaube ich, keine beteiligt. Von dem Arbeiter ist nichts zu sehen.

In diesem Umfeld beginnen ich als Bub und Jugendlicher die ersten politischen An- und Einsichten zu bilden. In den Schulen bin ich ab den Themen der Verfassungs- oder Staatskunde interessiert dabei. Und Radio Beromünster ist mein tägliches Medium für Information, Wissen und Unterhaltung. Die Nachrichtensendungen am Abend sind für mich Pflicht, und ich klebe am Apparat, wenn die legendären Stimmen der Auslandkorrespondenten des „Echo der Zeit“, Heiner Gautschy aus New York, Annemarie Schwyter aus Spanien, Hans O. Staub aus Paris oder Theodor Haller aus London mit ihren spannenden Berichten und Kommentaren zu hören sind.

Spätestens seit dem Erhalt des Stimmrechts im Alter von 20 Jahren packt mich das mir in meiner Jugendzeit eingepflanzte politische Gen in mehr oder weniger starker Intensität. Meine ersten Sympathien als Stimmbürger sind eher linkslastig. Gegen Ende der 1950er-Jahre nähern sich die Konservativen und die Christlichsozialen an, womit sich die neu CVP nennende Partei einen sozialen Mantel verpasst. Das bringt mich ihrer Politik nahe. In meinem späteren Berufsleben wird die Sozial- und Gesundheitspolitik eine zentrale Rolle spielen. Doch dafür, mich aktiv in der Parteipolitik zu engagieren, fühle ich mich nicht geeignet.

Lebensmittelversorgung
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5.8.  Ich bin nun in Sempach – Lebensmittelversorgung.

Im Grossen und Ganzen gilt im Friedheim das Prinzip der Selbstversorgung. Alles was in Haus und Hof gedeiht, kommt auf den Tisch. Der Kühlschrank hat noch nicht Einzug gehalten. Die verderblichen Speisen kommen in die „Spiesi“. Sicher lagern dort immer gekochte Erdäpfel, Eier und ein Topf mit Schweineschmalz.

Kartoffeln und Wintergemüse werden im Kellerboden mit trockener Erde belegt. Äpfel lagern im Keller auf den Hurden. Im Dezember sind sie „g‘schmurret“ und kaum noch geniessbar. Ich muss immer öfter faule Früchte auf den Mist werfen.

Birnen und Zwetschgen werden im Herbst sterilisiert und in den Einmachgläsern im Keller gelagert. Die an der Holzwand des Schopfs wachsenden Spalierbirnen eignen sich gut zum Trocknen im elektrischen Dörrofen. Das geschieht über Nacht, und am Morgen füllen wir die getrockneten Birnen in grosse Papiersäcke zur Lagerung unter der Stiege, die zum Estrich führt.

Zum Trinken gibt es Most, süss oder gegärt, Milchkaffee oder dünnen Kaffee mit kalter Milch oder dem selbstgebrannten Träsch.

 

Die Sache mit dem Brot
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5.8.  Ich bin nun in Sempach – Lebensmittelversorgung.

Die Sache mit dem Brot

Freitags kommt der Bäcker auf der Cheri vorbei. Er bringt das Brot für die ganze Woche anfänglich mit Ross und Wagen, später mit dem Auto. Es gibt Zweikilo-Laibe Schwarz- und Sauerteigbrot in Weggenform. Frisch riecht und schmeckt dieses Brot herrlich. Aber frisch kommt es niemals auf den Tisch. Die Wochenration der Brotweggen wird zum Brotlager auf das Holzgestell neben der Kellertreppe gelegt. Das frisch gekaufte Brot kommt erst auf den Tisch, wenn jenes der Vorwoche aufgebraucht ist, frühestens sonntags. Freitags ist der Tag, an dem ein Gericht mit altem Brot auf dem Menüplan steht. Doch nicht immer gelingt es mir, mich vom Knabbern des frischen Brots zurückzuhalten. Hie und da werde ich dabei erwischt, wie ich mir mit blossen Fingern ein Stückchen stibitze. Nicht immer ist die Maus Ursache für einen angeknabberten Brotlaib.

Anfänglich ist nicht Willy Lüthi der Brotlieferant im Friedheim. Denn Mutter Schmid trägt noch Groll in sich wegen der nicht standesgemässen Heirat von Anna, ihrer Tochter. Doch als sie sieht, wie die beiden mit ihrer Bäckerei in Rain ein blühendes Geschäft betreiben, ist sie bereit, wieder in echten Kontakt mit ihr zu treten. Ab jetzt darf auch Willy mit seinem VW-Bus ins Friedheim auf die Cheri kommen. Erklärungen dazu gibt es in der Familie keine. Mutter Schmid hatte so entschieden, Punktum.

 

Die Metzgete
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5.8.  Ich bin nun in Sempach – Lebensmittelversorgung.

Die Metzgete

Die Metzgete ist wichtiger Bestandteil der bäuerlichen Selbstversorgung. Zur Herbst- und Winterzeit wird ein Schwein geschlachtet. Meistens muss eine ältere More, wie wir dem Mutterschwein sagen, daran glauben. Um ihr und dem Schlachtgut unnötige Aufregung zu ersparen, kommt sie Wochen vor dem Schlachttag in den hintersten Stall, isoliert vom Eber, der im vordersten Gehege eingesperrt ist. Diese Sau wird besonders reichhaltig mit Futter versorgt. Theres kocht die kleinen, nach der Ernte aussortierten verwertbaren Erdäpfel, wir nennen sie Säuhärdöpfel, im Wäschekocher ab. Zusammen mit der von der Chäsi zurückgeführten Schotte verfüttert sie dieses Gemisch dem Schlachtschwein in einer Sonderration. Dazu bekommt es das Gwäsch, wie wir die Küchenabfälle nennen, das mit Spreu oder Kleie angereichert wird.

Am Schlachttag wird in aller Herrgottsfrühe alles für das Metzgen vorbereitet. Wichtig ist, dass schnell genügend heisses Wasser bereitsteht. Ich bin bei den Arbeiten dabei. Die grosse Holzwanne, Wäschekocher und Waschzuber draussen bereitstellen, Gartenschlauch anschliessen, den Kocher auffüllen, Holz holen, Anheizen, das brühende Wasser mit dem Zuber in die Wanne schütten, bis sie mindestens zur Hälfte gefüllt ist.

Frühmorgens kommt Störmetzger Fritz Genhart auf den Hof. Wenn er nicht schlachtet, ist er als Holzer bei Kaspar im Wald beschäftigt. Dieser weiss so immer zeitig, wann im Hause Schlachttag ist. Die grossen Metzgerwerkzeuge hat Genhart am Vortag mit dem Velo und dem angehängten Leiterwägeli gebracht und vor dem Schopf deponiert. Den Rest hat er jetzt im ledrigen Rucksack. Für die Metzgete braucht er Bolzenschussgerät, Knochensäge, Metzgerbeil, Wurstpresse, grosse und kleine Metzgermesser, Wetzstahl, Borstenschaber, Federwaage, Bindfaden und anderes mehr. In der Waschküche wird der Fleischwolf mit den verschieden grossen Lochscheiben bereitgestellt.

Ein Schmid-Bub und der Metzger führen das gemästete Schwein zum Schlachten aus dem Stall. Dazu binden sie ihm einen Strick um ein Hinterbein. Das Tier wird am nahen Zwetschgenbaum festgebunden. Genhart betäubt es mit dem Bolzenschussgerät und sticht ihm danach ein Stechmesser in den Hals. Das ausströmende Blut fängt er in einem Kessel auf. Ich muss den roten Saft mit einem Holzlöffel rühren, damit er nicht gerinnt. Nach dem Ausbluten wird die Sau mithilfe der Seilwinde in das heisse Wasser der Holzwanne gehoben. Danach schaben Metzger und Helfer dem Tier mit dem speziell dafür vorgesehenen Werkzeug, dem Borstenschaber, die Borsten und die obere Hautschicht ab. Ist das erledigt, wird die Sau mit der Seilwinde herausgehoben und am Deckenbalken des Schopfs aufgehängt. Der Störmetzger entfernt Därme und Innereien und zerlegt das Tier in zwei Hälften. Sepp und Hans tragen die beiden Teile in die Waschküche, wo Genhart sofort mit dem Verarbeiten des Fleisches beginnt.

Fachmännisch zerlegt er sie in die Einzelteile. Er löst die Schwarten- und Fettteile weg und sortiert das Fleisch in Stücke, die für Braten, Voressen oder als Wurstfleisch Verwendung finden. Die Schwartenstücke schneidet er in vier bis fünf Zentimeter breite Streifen. Mit einem scharfen Messer mit abgewetzter Klinge trennt er die Fettschicht von der Schwarte. Innereien und Därme werden gesäubert. Haxen und Füsse bereitet er zur Herstellung von Gnagis vor. Die noch auf der Haut vorhandenen Borstenstücke brennt er mit der Lötlampe ab. So wird jedes Stück des Tieres verwertet, vom Schnörrli bis zum Schwänzli. Zwar versuchen die Schmids auch Lunge und Herz, das sogenannte Grick auf den Speiseplan zu bringen. Doch dieses Menü findet nicht nur bei mir keinen Anklang.

Jener Anteil des Fetts, den der Metzger nicht für die Wurstmasse benötigt, drehe ich durch den Fleischwolf und bringe dieses in einem Gefäss in die Küche. Dort geben die Schmid-Töchter die Fettmasse in die auf dem Holzfeuer bereitstehenden Kochtöpfe, wo sie zu Schweineschmalz ausgelassen wird. Die obenauf schwimmenden Gräubi, wie wir die Grieben nennen, schöpfen sie mit der Schaumkelle zum Entfetten auf Zeitungspapier. Eigentlich können die Gräubi als Zugabe zur Rösti weiterverwendet werden. Aber im Friedheim mag man Rösti lieber ohne diesen Zusatz.

Mir kommt beim Beschreiben dieses Vorgangs in den Sinn, dass der Begriff „Gräubiheuscher“ im Luzerner Dialekt gang und gäbe war. Ich deute diesen so, dass zu noch früheren Zeiten arme Leute auf dem Bauernhof vorbeikamen, um für sich eine Gabe aus der Metzgete zu erbitten, im Volksmund heuschen oder betteln gesagt.

Ich schaue Metzger Genhart zu, wie er die Würste herstellt und helfe ihm, das Wurstfleisch und den Speck durch den Wolf zu treiben. Die Bratwurstmasse gibt er in einen Zuber, fügt grosszügig Salz, Pfeffer und seine vorbereitete Würzmischung hinzu. Für jede der Wurstsorten hat er sein Geheimrezept. Er knetet die Masse von Hand, bis sie die nötige Konsistenz hat. Dann füllt er das Brät in die Wurstpresse und drückt es in den an der Tube aufgestreiften, fein säuberlich gewaschenen Darm. Daraus bindet er gleichmässig grosse Bratwürste ab. Die Würste hängen für ein paar Tage an den Wäschedrähten in der Waschküche. Trocknen oder räuchern kann man sie nicht, weil die im Kamin eingebaute kleine Rauchkammer nicht mehr funktionstüchtig ist.

Während Genhart mit den Bratwürsten beschäftigt ist, garen Leber und die Abschnitte der Schwarten im Wäschekocher. Das Blut ist noch im Zuber. Der Metzger gibt Mehl und Gewürze dazu, rührt die Masse tüchtig und füllt sie mit einer Kaffeetasse in die grossen Schweinedärme. Die gegarte Leber und die Schwarte treibe ich durch den Wolf. Daraus erstellt Genhart die Leberwurstmasse. Die Blut- und Leberwürste kommen nicht frisch auf den Tisch. Um sie für einige Tage lagerfähig zu halten, werden sie im kochenden Wasser gebrüht und zum Trocknen ebenfalls an die Wäschedrähte gehängt. Das Bild mit den in der Waschküche hängenden Würsten gefällt mir.

So gegen vier Uhr endet der Arbeitstag des Störmetzgers. Die Schmid-Töchter bereiten ihm zum späten Zvieri die frischen Nierli zu. Ich mag mich erinnern, dass für dieses Mahl auch ein Gast ins Friedheim kommt. Ein behäbiger Mann. An sein wohliges Schmatzen erinnere ich mich, nicht aber an seinen Namen. Und am Tag der Metzgete schaut regelmässig auch Kaspar vorbei, um das für ihn bereitstehende Metzgetepaket abzuholen.

Sobald die Wursterei erledigt und das Fleisch sortiert ist, tritt Mutter Schmid in Aktion. Es ist Brauch, dass sie einige der Honoratioren1 mit einem Metzgete-Paket beschenkt. Sorgfältig bedacht auf den Stand des Beschenkten wählt sie aus, wer wie viele von welchen Würsten und Fleischstücken erhalten soll. Ich lege die mit den Namen versehenen Pakete in einen Korb und fahre sie mit dem Velo zu den von Mutter Schmid bezeichneten Empfängern. Das tue ich gerne, denn manchmal bekomme ich für diese Botengänge ein Trinkgeld. Wer zu den Glücklichen gehörte, die mit dem Metzgetepaket rechnen durften, weiss ich nicht mehr genau. Sicher dabei waren Pfarrer Furrer und Gemeindeschreiber Bucher in der Oberstadt. Situativ entscheidet Mutter Schmid, ob und welcher der Gemeinderäte ein Paket erhält.

1 Wikipedia (11.2019):
Mit Honoratioren bezeichnet man Bürger, die aufgrund ihres herausgehobenen sozialen Status im überwiegend kleinstädtischen Milieu (…) grosses Ansehen geniessen und dort gegebenenfalls informellen Einfluss ausüben können.

 

Wie lagern wir die vielen Eier?
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5.8.  Ich bin nun in Sempach – Lebensmittelversorgung.

Wie lagern wir die vielen Eier?

Im Frühling legen die vielen Hühner mehr Eier, als für den täglichen Gebrauch benötigt werden. Ich erinnere mich, dass wir sie zur Haltbarmachung in einen mit einer Geliermasse gefüllten Steingut-Topf geben. Und weil ich jetzt in dieser Erinnerung krame, will ich wissen, wie diese Methode funktioniert. Das Internet hilft weiter. 


Eier frisch aus dem Nest haltbar machen

Du brauchst…
Einen Topf mit Deckel (lichtundurchlässig), Löschkalk, Wasser und natürlich frische Eier. Du füllst jetzt einen Liter Wasser in den Topf und verrührst zwei Esslöffel Löschkalk darin, bis er sich aufgelöst hat und das Wasser milchig trüb ist. Dann schichtest du die Eier mit der Spitze nach unten in den Topf. Die Eier sollten immer mit Flüssigkeit bedeckt sein.

Wenn ich im Winter Eier brauche, nehme ich sie einfach aus dem Eimer, wasche sie einmal kurz ab und verwende sie genau wie frische Eier.

Aber …
Das Ganze funktioniert nicht mit gekauften Eiern, weil sie gewaschen sind. Durch das Waschen wird die Schutzschicht, die das Ei umgibt, zerstört, sodass die Eier nicht mehr lange haltbar sind. Auch verdreckte Eier solltest du nicht zum Haltbarmachen verwenden, sondern frisch essen.

Was ist Löschkalk überhaupt? Vereinfacht ausgedrückt besteht Löschkalk aus Muschelschalen oder Kalkstein, die verbrannt und anschließend gelöscht werden. Es ist wichtig, dass du Löschkalk verwendest, nicht etwa ungelöschten Kalk oder gemahlenen Kalkstein.

Quelle:
www.wurzelwerk.net.

Im Friedheim kennt man diese Vorgaben nicht derart genau. Denn die Eier, die ich im Winter aus dem Steingut-Topf hole, riechen beim Aufschlagen nicht Jedesmal frisch. Ich weiss also genau, wie faule Eier stinken!

Backofen und Räucherkammer funktionieren nicht
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5.8.  Ich bin nun in Sempach – Lebensmittelversorgung.

Backofen und Räucherkammer funktionieren nicht

Als ich sechsjährig im Friedheim ankomme, ist das Bauernhaus mehr als 30 Jahre alt. Für Unterhalt und Erneuerung sind offenbar nur wenige Mittel vorhanden. Zwei wichtige Gerätschaften für die Selbstversorgung sind nicht funktionsfähig, der Backofen und die Räucherkammer.

Im Herbst und Winter bringe ich am Freitagmorgen geraffelte Äpfel in einem Milchkessel als Zutaten für eine Apfelwähe zum Beck Stirnimann. Nach der Schule hole ich die köstlich duftende Wähe in einem rechteckigen Kuchenblech für das Mittagessen ab. Und zur Weihnachtszeit bringe ich dem Bäcker die für Lebkuchen und Birnenweggen benötigten Grundzutaten. Am Vorabend des Backtages drehe ich die weich gekochten gedörrten Birnen durch den Wolf und liefere die Masse im Bäckerladen ab.

Gesalzene Speckstücke von der Metzgete bringen wir zum Räuchern dem Metzger Baumgartner im Städtli.

Selber Konserven herstellen
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5.8.  Ich bin nun in Sempach – Lebensmittelversorgung.

Selber Konserven herstellen

Nach der Metzgete werden Fleisch- und Wurstwaren haltbar gemacht. Die vom Störmetzger geschnittenen Voressen-Stücke werden im Schmalz scharf angebraten. gewürzt und mit Wasser abgelöscht. Danach wird das Fleisch mit der entstandenen Sauce in etwa einen Liter fassende Konservendosen gefüllt und mit der Verschliessmaschine hermetisch verschlossen. Das Prinzip der Maschine ist einfach. Der Deckel wird durch Drehen des Gewindes am Rand der Dose gebördelt mit dieser verbunden. Die Maschine fasziniert mich, aber irgendwie klemmt es beim Verschliessen der Dosen trotzdem öfters.

Die Konserven geben wir in den auf dem Siedepunkt gehaltenen Waschzuber. Nach etwa einer Stunde kommen sie aus dem Wasser und zum Lagern in den Keller. Vom Inhalt bekommen die eigenen Leute kaum etwas ab. Die köstlichen Fleischstücke tischt Mutter Schmid ihrem ausgesuchten Besuch auf. Ich bin in der Küche immer neugierig, helfe mit und schaue beim Zubereiten der Speisen hin. So gelingt es zwischendurch, mir eines der für den hohen Besuch bestimmten Stückchen zu schnappen.

Das nicht zu Wurst gepresste Brät wird in gleicher Art konserviert. Ergebnis ist ein köstlicher Hackbraten, der in Tranchen geschnitten kalt serviert wird.

 

Die Tiefkühlanlage in der Chäsi
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5.8.  Ich bin nun in Sempach – Lebensmittelversorgung.

Die Tiefkühlanlage in der Chäsi

Mitte der 1950er Jahre wird in der Stadt-Chäsi ein Tiefkühlraum gebaut. Die Bauern lagern dort in gemieteten Gefrierfächern ihr selbst produziertes Fleisch und Gemüse ein. Bei meinen Gängen zur Chäsi nehme ich bei Bedarf den Schlüssel zum Fach mit und bringe die benötigten Sachen nach Hause.

Die Mahlzeiten
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5.8.  Ich bin nun in Sempach – Lebensmittelversorgung.

Die Mahlzeiten

Zu den Mahlzeiten trifft man sich in der grossen Bauernstube. Die Küchenarbeit teilen sich die Schmid-Töchter auf, allerdings, ohne sich ihr mit besonderer Hingabe zu widmen. Oft ist Maria für die Küche zuständig. Sie ist aber keine leidenschaftliche Köchin. Auch hier ist die Arbeit ohne Liebe und von Hektik begleitet.

An einige der Alltagsgerichte kann ich mich gut erinnern.

Brotsuppe:
Altes Brot mit gehackten Zwiebeln in Schmalz anbraten, Ablöschen mit warmem Wasser aus dem Schiff, mit Salz und Bouillon abchmecken und köcheln lassen.

Vogelheu:
Altes Brot mit Ei und Milch vermischen. In der Bratpfanne mit Schmalz anbraten.

Apfelrösti:
Altbackenes Brot mit geraffelten Äpfeln wie eine Rösti in der Bratpfanne braten. Mit Zucker und Zimt bestreuen.

Luzerner Käsesuppe:
Mit lauwarmem Wasser getränktes, nicht mehr frisches Brot mit Emmentaler Käse durch den Fleischwolf drehen, mit warmer Milch zu einem Brei verrühren, aufkochen und mit einer Zwiebelschwitze garnieren.

Metzgete.
Am Abend gibt es für alle am Tisch eine Bratwurst mit Rösti. Auch an den Wochen danach stehen die selbst hergestellten Würste auf dem Menüplan.

Blut- und Leberwurst:
Der vorgeschwellte Wurstinhalt wird in der Bratpfanne mit Schweineschmalz angebraten. Dazu gibt es Salzkartoffeln und Apfelschnitze. Wenn möglich, drücke ich mich vor diesem Mahl.

Sind Würste und Fleisch aufgebraucht, bleiben noch die Gnagi aus dem Salz. Ich hole die Dinger aus dem Steinguttopf im Keller. Aber essen kann ich das Gschludder nicht.

Anderes Fleisch kommt nur am Sonntag auf den Tisch. Ich kann mich an Rindsplätzli in einer lauen Sauce schwimmend erinnern. Und auch daran, dass ich beim Metzger hie und da gespickten Rindsbraten hole. Das Fleischstück wird in der Bratpfanne gebraten und in einem Kochtopf schwimmend fertig gekocht. Duft und Geschmack halten keinem Vergleich stand mit dem Braten, wie ihn Vater zubereitet hat.

Auf dem Menüplan stehen oft Milchreis mit Apfelschnitzen, Spiegeleier mit Rösti, Brei aus Haferflocken mit geraffeltem Obst, Gemüse und Salat aus dem Garten, Wienerli oder Schüblige, Kartoffeln gebraten oder im Salzwasser gekocht. Wenn Siedfleisch mit Sauerkraut auf dem Speiseplan steht, gibt es davor Fleischsuppe mit nicht mehr frischem Brot als Einlage.

Im Ohr ist mir noch immer die Bäjeschnitte. Dieses Gericht gibt es in vielen Variationen. Mit Apfelmus bestrichen, mit Tomatensauce und Spiegelei drauf. Oder auch ohne Zutaten. Wenn ich Hunger habe, sagt man mir in der Küche „de nimmsch halt no e Bäjeschnitte“. Das sind Schnitten von altbackenem Brot, die in der Bratpfanne im Schweineschmalz gebacken sind.

Altes Brot:
Es fällt auf, dass oft altes Brot in unterschiedlichen Verarbeitungsformen auf dem Speisezettel steht. Dass frisches Brot nur einmal in der Woche ins Friedheim kommt, hat nicht nur einen logistischen, sondern einen wirtschaftlichen Grund. Denn frisches Brot isst sich öfter und in grösserer Menge als das mehre Tage alte Schwarzbrot. Und Hunger ist bekanntlich der beste Koch.

In der Erntezeit liegen Cervelats und Landjäger, Käse und Brot im Zmittagkorb. Denn in dieser strengen Zeit essen wir nicht in der Stube, sondern draussen auf dem Feld, wenn möglich unter einem Schatten spendenden Baum. Den aus Weide geflochtenen Korb hole ich in der Küche ab und bringe ihn zu den Leuten. Den Durst löschen wir mit süssem oder saurem Most.

Die Geschäfte im Städtli
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5.8.  Ich bin nun in Sempach – Lebensmittelversorgung.

Die Geschäfte im Städtli

Was nicht auf dem Bauernhof produziert wird, kaufen wir im Städtli ein. Meistens schicken mich Mutter Schmid oder eine der Töchter zum Einkaufen zum Siegrist, dem grösseren Einkaufsladen, oder zum Bättig Käthy, wie der kleine Tante Emma Laden neben dem vorderen Stadttor genannt wird. Ich kaufe Kolonialwaren wie Reis, Zucker, Kakao, Gewürze wie Maggi in Würfel oder den typischen Fläschchen, Franck Aroma, Suppenwürfel, Teigwaren und Tomatenpüree.

Gut erinnere ich mich an die als Wurst geformte Fertigsuppe Erbs mit Sago von Knorr. Die trockenen Wurstwürfel werden ins heisse Wasser gerieben, mit dem Schwingbesen verrührt und fertig ist die dampfende Suppe. Die im Teller herum hüpfenden kleinen Sago-Kügelchen kriege mit meinen Fingern nie zu fassen.

Salz gibt es in fünfzig Kilo Säcken in der Landwirtschaftlichen Genossenschaft. Denn auch das Vieh braucht täglich Salz. Auch Kaffee wird im Grossen eingekauft, anfänglich noch rohe Kaffeebohnen, die Mutter Schmid in der Bratpfanne selber röstet. Nach dem Abkühlen holt sie die Kaffeemühle, legt Zeitungspapier auf den Stubentisch, Ich drehe die Mühle und leere das Mahlgut aus dem Schublädchen portionenweise aufs Papier. Während mir der Arm vom ständigen Drehen der Kurbel schmerzt, mischt Mutter Schmid dem frisch gemahlenen Kaffee Franck Aroma bei. Sie hat ein genaues Augenmass für die Stärke der Mischung.

Wenn am Sonntag Fleisch auf den Tisch kommen soll, mache ich die Einkäufe beim Metzger Baumgartner. Wasch- und Putzmittel gibt es in der Drogerie Faden.

 

Hygiene
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5.9.  Ich bin nun in Sempach – Hygiene .

In meinem Zuhause als Kleinkind in Buochs sehe ich das Badezimmer, eine Badewanne mit einer Warmwasseraufbereitung, dem Waschbecken und dem an der Wand hängenden Spiegel. Es gibt das WC mit dem Spülkasten, den ich durch Ziehen an der Kette mit einem Griff aus weiss bemaltem Holz bedienen kann.

Auf dem Bauernhof ist davon nichts vorhanden. Für Hausbewohner und Gäste ist für die Notdurft das Plumpsklo bei der Treppe zum Holzschopf vorhanden und bei der Arbeit das Holzhäuschen über dem Güllenloch. Beide Klos sind gleichermassen konstruiert. Du sitzt auf einem Holzkasten mit eingebautem Loch. Die Exkremente plumpsen mit Geräusch direkt in die darunter liegende Jauchegrube. Zum Putzen des Hinteren liegen Abschnitte aus Zeitungspapier oder dem ausgedienten Telefonbuch bereit. Für mich ist es interessant zu sehen, mit welchem Namen ich gerade das Füdli putze. Erinnern tue ich mich gut an die Art, wie wir die Seiten des Telefonbuchs auseinandernehmen. Ich falte sie je in vier Teile und schneide diese mit einem scharfen Messer entlang der Faltkanten in gleichmässig grosse Blättchen. Die Verarbeitung des ganzen Telefonbuchs wird dabei zu einer Art Fliessbandarbeit.

Nach dem Toilettengang waschen wir die Hände entweder in der Küche. Dort und in der Waschküche gibt es die einzigen Anschlüsse mit fliessendem Wasser. Oder am Steinbrunnen auf der Strassenseite der Scheune, aus dem ähnlich wie auf einer Alpweide kaltes Wasser fliesst. Der Brunnen ist auch die Wasserquelle für das Vieh und die Reinigungsarbeiten im Stall.

Die Körperpflege, wenn man dem denn so sagen darf, besorge ich wie alle Leute im Friedheim in der Küche. Dort steht der Spültrog aus Steingut als Waschbecken für alle und alles da: Hände, Füsse und Gesicht waschen. Es ist der Trog, in dem auch Geschirr, Pfannen und Gemüse gereinigt werden. An zwei Nägeln daneben hängen die Tücher zum Trocknen, je eines für die Hände und das Gesicht und eines zum Abtrocknen des Geschirrs. Nur für die Eltern Schmid gibt es im Schlafzimmer das kleine Spülbecken, auf dem ein grosser Wasserkrug steht, den Mutter Schmid vor dem zu Bett gehen bereitstellt.

Von Zeit zu Zeit ist eine gründliche Ganzkörperwäsche in der Waschküche angesagt. Dafür stellen die Schmid-Töchter die grosse Holzwanne, in der auch das Schwein am Schlachttag gesäubert wird, mit warmem Wasser aus dem Wäschekocher bereit.

Im Sommer steht diese Wanne unter dem Zwetschgenbaum vor dem Haus. Diese füllen wir morgens mit Kaltwasser aus der Waschküche und lassen dieses von der Sonne aufwärmen. Gegen Abend geniessen wir das Bad im Freien und ich probe dabei meine ersten Schwimmzüge. Vom Zähneputzen ist in jener Zeit kaum die Rede. Ich glaube, Zahnbürsten kommen erst ins Haus, als ich in der Lehre bin. Dieses Versäumnis muss ich später teuer bezahlen.

Etwas Besonderes ist für mich das Füsse waschen in der Schotte. Nach der Rückkehr aus der Chäsi stehen drei oder vier 50-Liter Milchkannen mit der warmen Sirte beim Eingang zum Schopf. Ich nehme von einer Milchkanne den Deckel weg, platziere die Zweite so, dass ich hockend meine Füsse in die Kanne stecken kann. Jetzt folgt die Fusswäsche in wohliger Wärme in der weichen Sirte. Erst danach bekommen die Schweine ihr Znacht. Theres ermahnt mich, vorwärtszumachen. Die Schweine haben die Geräusche mit den abgestellten Milchkannen genau registriert und wissen, dass jetzt die Zeit für ihr Fressen gekommen ist. Mit ihrem typischen und unter die Haut gehenden Gekreische machen sie unmissverständlich auf ihren Drang nach Futter aufmerksam.

Meine Schulzeit
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6.  Meine Schulzeit

Wenn ich an den Beginn meiner Schulzeit denke, sehe ich mich zum Kindergarten neben dem Dorfschulhaus laufen, nur wenige Gehminuten oberhalb unseres Zuhauses. Das markante Schulgebäude hoch über Buochs auf dem Weg zur Kirche, steht noch heute. Ich weiss, dass ich ein paar Mal dort im Kindergarten bin, aber an mehr erinnere ich mich nicht.





(1) Buochs. Im Vordergrund das Gebäude, in dem sich im Erdgeschoss der Kindergarten befand (1948/1949). Hintergrund: Dorfschulhaus Buochs. Foto Klara Fricker-Barmettler, 1995.

Buochs. Im Vordergrund das Gebäude, in dem sich im Erdgeschoss der Kindergarten befand (1948/1949). Hintergrund: Dorfschulhaus Buochs. Foto Klara Fricker-Barmettler, 1995.

 

Kindergarten in Sempach
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6.  Meine Schulzeit

Kindergarten in Sempach

Irgendwann im Jahr 1949 finde ich mich im Kindergarten in Sempach. Es ist Elsy Schmid, die mich dorthin bringt. Ich erlebe diese Zeit ohne besondere Erinnerung an Gschpänli. Unsere Kindergärtnerin ist eine der zwei in Sempach tätigen Ordensfrauen. Es ist jene mit dem gutmütigen und liebevollen Blick. Die andere Schwester, meine künftige Erstklasslehrerin, nehme ich als streng und fordernd wahr. Die beiden Ordensfrauen leben in der Oberstadt nahe der Kirche und besuchen jeden Morgen die Frühmesse.

Erste Klasse
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6.  Meine Schulzeit

Erste Klasse

Im April 1950. bringt mich Mutter Schmid zum Schulanfang ins Schulhaus schräg gegenüber dem Stadttor. Dieses liegt gegenüber der Kreuzkapelle links auf den mit Kastanienbäumen umgebenen, gekiesten Pausenplatz.



(1) Kreuzkapelle an der Rainerstrasse, neben dem alten Schulhaus. © Sempach online

Kreuzkapelle an der Rainerstrasse, neben dem alten Schulhaus. © Sempach online


Den Eingang zum Schulhaus erreichen wir über die beidseitig vom Pausenplatz wegführende Steintreppe. Es ist der Haupteingang, der zu Beginn der Unterrichtszeit stets offen steht. Denn alleine haben wir Kleinen nicht die Kraft, die massive Holztüre zu bewegen. Hier beginnt das markante Treppenhaus, über das man in die auf drei Stockwerken liegenden Schulzimmer gelangt.

Wie alle Erstklässler trage ich eine lederne Schultasche auf dem Rücken mit einem Felldeckel und einem metallenen Klappverschluss. Darin befinden sich die Schiefertafel, ein Kreidestift und das Schächtelchen mit dem Schwamm. Es sind die Utensilien, mit denen wir das Schreiben lernen. Schwester Winfrieda, die Erstklasslehrerin, steht vorne im Klassenzimmer neben ihrem Pult und begrüsst jedes einzelne ihrer neuen Erstklasskinder. Brav sind wir in der Kolonne eingereiht und warten auf ihren freundlichen Händedruck. Wir sind 41 Kinder der Jahrgänge 1942 (ab Oktober) und 1943 (bis September), 22 Knaben und 19 Mädchen. Unsere Erstklasslehrerin nehme ich als eine etwas runzlige Frau wahr, wenig herzlich, aber gerecht und unparteiisch. In der Realität ist sie 54 Jahre alt.

 

(2) Schwester Winfrieda, unsere Erstklasse-Lehrerin. © Portrait-Archiv der Zentralschweizerischen Gesellschaft für Familienforschung.


Schwester Winfrieda, unsere Erstklasse-Lehrerin. © Portrait-Archiv der Zentralschweizerischen Gesellschaft für Familienforschung.


Das Schulzimmer ist ein rechteckiger Raum mit Fenstern gegen Südwesten mit Blick gegen das Gebäude der Spar- und Leihkasse und die Wiese Richtung Felsenegg. Dort blühen im Frühling Obstbäume, und dazwischen weiden Kühe und Guschteli. Wir Kinder sitzen in den geometrisch aufgestellten Holzpulten mit je zwei Plätzen pro Pult. Die beiden Reihen neben den Fenstern sind den Mädchen zugeteilt, den Buben jene neben der Wand. Das ist kaum Zufall, denn allgemein gilt, dass Mädchen brav sind, und nicht wie die Buben während des Unterrichts zum Fenster hinaus schauen.

Vorne links beim Fenster auf einem Podest steht das Pult unserer Lehrerin. So hat sie eine gute Übersicht über die Klasse. Zwischen Türe und Podest hängt die grosse Wandtafel aus Schiefer mit dem daneben bereitstehenden Zeigestock aus Bambusholz. Das sind die wichtigsten Lehrmittel der ersten Klasse.

Zum Schulalltag, Episoden davon oder der Art, wie Schwester Winfrieda uns den Lehrstoff vermittelt, habe ich kaum Erinnerungen.

Zum Ende des Schuljahres erhalten wir Schüler das rote Schlusszeugnis mit den Fachnoten 6 (sehr gut) bis 1 (wertlos). Die Noten für Fleiss und Betragen sind in Worten oder in römischen Ziffern ausgedrückt (I = gut, II = mangelhaft, III schlecht).





(3) Jahres-Schlusszeugnis Kanton Luzern, Primar- und Sekundarschule, 1950 - 1959.

Jahres-Schlusszeugnis Kanton Luzern, Primar- und Sekundarschule, 1950 - 1959.

 

Zweite Klasse
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6.  Meine Schulzeit

Zweite Klasse

Unser Lehrer der zweiten Klasse ist Joseph Marfurt. Bei ihm lerne ich im Fach Zeichnen und Gestalten auch die bildhafte Sprache. In meinen Schulthek packe ich jetzt eine Schachtel Caran d’Ache Farbstifte in den sechs Grundfarben schwarz, rot, grün, weiss, gelb und blau. Zeichnen und Gestalten ist eines der Lieblingsfächer unseres Lehrers. Der 40-Jährige ist ein kreativer und musischer Mensch, geht mit allen Kindern väterlich, fürsorglich und korrekt um. Nebst seiner Aufgabe als Lehrer ist er Organist und Leiter des Kirchenchors. 

 

(1) 2. Klasse mit Lehrer Joseph Marfurt (im Hintergrund das Kasperlitheater). © Archiv Stadt Sempach (Ausstellung "Schule damals, Schule heute", 2017 im Rathausmuseum Sempach).

2. Klasse mit Lehrer Joseph Marfurt (im Hintergrund das Kasperlitheater). © Archiv Stadt Sempach (Ausstellung "Schule damals, Schule heute", 2017 im Rathausmuseum Sempach).


Einige der Mitschülerinnen und Mitschüler kann ich auf dem Bild noch namentlich erkennen. Der kleine Seppli sitzt unweit des Klassenlehrers in der zweithintersten Reihe als Dritter von links

Der Zusammenhalt unserer Klasse
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6.  Meine Schulzeit

Der Zusammenhalt unserer Klasse

Dass mir noch viele der Namen und Gesichter unserer zweiten Klasse präsent sind, liegt weniger an meinem guten Erinnerungsvermögen als am Engagement einiger meiner Mitschülerinnen und Mitschüler. In den neun Primar- und Sekundarschuljahren hat sich bei uns Jahrgängern ein positiver Klassengeist und ein Zusammenhalt entwickelt, der über die Schulzeit hinaus gepflegt werden soll. Noch vor dem letzten Schultag 1959 setzt sich die Klasse zum Ziel, sich alle fünf Jahre zu einer Klassentagung zu treffen. Drei oder vier Mädchen und Buben erklären sich bereit, sich dafür zu engagieren. In der Tat trifft sich die Klasse 1942/43 seither regelmässig zu Klassenzusammenkünften, Wanderungen und Höcks. Ich selber nable mich bis in die 1980er Jahre von diesen Treffen ab. Mit meiner Flucht aus dem Friedheim, unmittelbar nach Abschluss meiner Lehrzeit, wollte ich doch meine Jugendzeit in Sempach hinter mir lassen.





(1) Klasssentreffen 1983 in Sempach. Ich bin hinten rechts auf der ersten Treppenstufe.

Klasssentreffen 1983 in Sempach. Ich bin hinten rechts auf der ersten Treppenstufe.


Die Aufnahme zeigt im Hintergrund das alte Schulhaus mit der beidseitig vom Pausenplatz wegführenden Steintreppe und der massiven Holztüre des Haupteingangs. Unten steht der Kohlenkeller offen, in dem hie und da besonders renitente Schüler eingesperrt waren. Ich gehörte nie dazu und bin dafür dankbar.



(2) Klassentreffen 2003. Aufnahme vor der Seevogtei, Sempach. Mich sieht man vorne knieend, Dritter von rechts.

Klassentreffen 2003. Aufnahme vor der Seevogtei, Sempach. Mich sieht man vorne knieend, Dritter von rechts.

 

 

 



(3) Klassentreffen 2013. Aufnahme vor dem Wirtshaus zur Schlacht, Sempach. Ich bin in der zweiten Reihe, Erster von rechts.

Klassentreffen 2013. Aufnahme vor dem Wirtshaus zur Schlacht, Sempach. Ich bin in der zweiten Reihe, Erster von rechts.

 

Die nächsten Klassen der Primarstufe
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6.  Meine Schulzeit

Die nächsten Klassen der Primarstufe

Vom Zeichenunterricht bei Lehrer Marfurt bleibt mir eine Episode in Erinnerung. Im Unterricht und zu Hause kreiere ich ein Bild mit einem Pferd in schimmligen Farben, eine Zeichnung, die bei Marfurt besonderen Anklang findet. Er hängt sie in den Aushang an der Wand des Schulzimmers, was als Auszeichnung für eine besonders gute Arbeit gilt. Ich bin stolz, als ich vernehme, dass die Schmids via Lehrer Oetterli davon erfahren. Aber warum mir diese Zeichnung besonders gut gelungen ist, bleibt mir ein Rätsel.



(1) Fächer und Zeugnis 1. und 2. Klasse, 1950 - 1952, Sempach.

Fächer und Zeugnis 1. und 2. Klasse, 1950 - 1952, Sempach.


Verborgen bleibt mir auch der Grund für die Fleissnote mangelhaft im Jahreszeugnis der zweiten Klasse. Ich sehe mich nicht als stets fleissigen Schüler. Vieles geht mir leicht von der Hand und meine Gedanken sind oft anderswo. Und es stimmt, dass ich mit mehr Aufmerksamkeit und Anstrengung, besonders in der Sekundarschule, zu besseren Schulleistungen fähig gewesen wäre. Nun versetze ich mich aber in die Lage des notengebenden Lehrers Marfurt. Dabei frage ich mich, ob er einem fleissigen Seppli in den Kernfächern Rechnen und Sprache statt einer 5 eine Note 6 ins Zeugnis geschrieben hätte mit dem Ergebnis eines blanken 6ers im Durchschnitt.



(2) Seppli 9-jährig.

Seppli 9-jährig.

 




(3) Seppli 11-jährig.

Seppli 11-jährig.

 
In der dritten Klasse müsste Paul Hunger unsere Klasse übernehmen, ein bei Schülern und in der Gemeinde beliebter Lehrer. Doch Hunger muss einige Monate in den Militärdienst und wird durch Alois Bösch vertreten. Auch er behandelt alle Schüler gradlinig und korrekt, ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und den sozialen Status.



(4) Fächer und Zeugnis 3. und 4. Klasse, 1952 - 1954, Sempach.

Fächer und Zeugnis 3. und 4. Klasse, 1952 - 1954, Sempach.


Meine Empfindungen und das Umfeld in der Schulzeit habe ich im Kapitel "Das gesellschaftliche und soziale Umfeld" beschrieben. Auch wie ich das zur Schule gehen bei Erwin Oetterli empfand. Aus Kontakten mit Schulkollegen weiss ich, dass er in der Gemeinde als polarisierende Persönlichkeit wahrgenommen wurde. Er hatte aber mit Elsy, meiner gelegentlichen Ersatzmutter, eine ausgleichende Partnerin zur Seite.



(5) 53 Schülerinnen und Schüler der 4. und 5. Klasse mit Lehrer Erwin Oetterli (1954/55). Ich bin in der hintersten Reihe, Zweiter von links.

53 Schülerinnen und Schüler der 4. und 5. Klasse mit Lehrer Erwin Oetterli (1954/55). Ich bin in der hintersten Reihe, Zweiter von links.




(6) Fächer und Zeugnis 5. und 6. Klasse, 1954 - 1956, Sempach.

Fächer und Zeugnis 5. und 6. Klasse, 1954 - 1956, Sempach.

 

Sekundarschule
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6.1.  Meine Schulzeit – Sekundarschule .

In meinen Erinnerungen gehen die zwei Jahre Sekundarschule unmerklich an mir vorbei. Mir ist klar, dass ich diese Zeit möglichst schadlos überstehen und nach Ende der Schulzeit eine Lehrstelle finden will. Ich habe nur andeutungsweise Vorstellungen, was mein Wunschberuf sein könnte. Freude habe ich am Kochen und ich glaube eine Zeit lang, das sei mein Traumberuf. Doch bei Mutter Schmid kommt diese Idee nicht gut an. Sie ortet diesen Beruf für mich als Schwelle zum Taugenichts, denn die meisten Köche seien Säufer.


(1) Fächer und Zeugnis Sekundarschule, 1956 - 1959, Sempach.

Fächer und Zeugnis Sekundarschule, 1956 - 1959, Sempach.

 

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
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6.1.  Meine Schulzeit – Sekundarschule .

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Wie auch später in meinem Leben kommt jetzt das Glück an meine Seite, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin. 1953 führt der Kanton Luzern das achte obligatorische Schuljahr ein und überlässt es den Schulgemeinden, zusätzlich das neunte obligatorisch zu erklären. In diesem Kontext macht Sek-Lehrer Müller in der zweiten Sekundarklasse eine formlose Umfrage. Er will wissen, wer von seinen Schülerinnen und Schülern Interesse daran hat, in die Dritte Sek zu gehen. Spontan strecken um die zwanzig Buben und Mädchen ihre Hand in die Höhe. Wir werden für die Gemeinde zu einem Problem, denn eine 3. Sekundarschule gibt es in Sempach noch nicht. Bis 1957 müssen jene Handvoll Kinder aus der Schulgemeinde, die eine über die obligatorische Schulpflicht hinausgehende Schule (Gymnasium oder 3. Sekundar) besuchen wollen, entweder den Weg nach Sursee, Reussbühl oder Luzern auf sich nehmen oder in ein Internat ausweichen. Das ist mit Kosten und Umtrieben verbunden, die von vielen Eltern der bildungswilligen Jugend nicht problemlos bewältigt werden können. Das trifft fraglos auch auf mich zu. Doch die Gemeinde reagiert schnell. Innerhalb eines Jahres werden Schulraum und eine Lehrperson mit der notwendigen Qualifikation organisiert, damit ab dem Schuljahr 1958/59 die erste dritte Sekundarklasse unterrichtet werden kann. Mutter Schmid erlaubt mir, die 3. Sek zu besuchen. So bleibe ich, wie viele von unserer Klasse, die als 7-Jährige bei Schwester Winfrieda eingeschult wurden, als 15-Jähriger im freiwilligen neunten Schuljahr im selben Klassenverbund.




(1) 3. Sekundarklasse mit Lehrer Franz Wey, 1958/1959, mit mir direkt neben dem Lehrer.

3. Sekundarklasse mit Lehrer Franz Wey, 1958/1959, mit mir direkt neben dem Lehrer.


Damit eröffnet sich mir für mein späteres Berufsleben eine grosse Chance. Zwar wird der erfolgreiche Besuch der 3. Sek noch nicht für alle kaufmännischen Lehrstellen vorausgesetzt. In manchen Branchen aber haben Schüler, die nur die obligatorische Schulzeit abgeschlossen haben, keine Chance, eine Lehrstelle zu erhalten. Kommt hinzu, dass Absolventen der 3. Sek in der kaufmännischen Berufsschule (KV) viel weniger Mühe haben, dem Lehrstoff zu folgen. Für mein späteres Berufsleben spielt es eine wichtige Rolle, dass Französisch ein weiteres Jahr Pflichtfach ist. Dazu erhalte ich mit dem Wahlfach Italienisch die Grundlagen für das Erlernen der dritten Landessprache. Das ist purer Zufall. Mit Lehrer Wey übernimmt eine Lehrperson die Klasse, die als sprachliches Wahlfach nicht Englisch unterrichtet, obwohl diese Weltsprache im Trend liegt. Später, im KV, nehme ich Abendkurse, um die Kenntnisse in der italienischen Sprache zu verbessern.

In meiner Sekundarschulzeit wird im Friedheim die Anstellung eines weiteren Knechts akut. Die Schmid-Töchter und Söhne sind ausgeflogen. Es ist die Zeit, in der sogenannte Fremdarbeiter aus Italien in die Schweiz geholt werden. Eines Tages ist Gaetano im Friedheim, ein junger und sympathischer Bursche. Er spricht kein Wort Deutsch, bei den Schmids niemand Italienisch. Man verständigt sich mit Gesten und Zeichen. Zwischen Gaetano und mir entsteht guter Kontakt. In seinen Arbeitspausen hocken wir zusammen unter einem Baum und bemühen uns um Verständigung in unseren beiden Muttersprachen. Diese Plaudereien mit dem aus der Region Bergamo stammenden Gaetano fördern mein Verständnis und mein Empfinden für unsere dritte Landessprache.

Die Berufswahl
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6.2.  Meine Schulzeit – Die Berufswahl.

Mit vierzehn Jahren kommt die Zeit, in der ich mich mit der Berufswahl auseinandersetzen muss. Von Mutter Schmid oder der Familie erhalte ich keine Hilfe. Ich weiss, dass ich nicht Koch werden darf. Und vage ist mir in Erinnerung, dass in der zweiten oder dritten Sek einmal ein Berufsberater in die Schule kommt. An ein persönliches Gespräch mit ihm erinnere ich mich nicht. Zum Handwerklichen habe ich wenig Hang, und so entscheide ich mich für das Naheliegende. Alois und Walti Schmid haben sich für die kaufmännische Ausbildung entschieden, eine Berufswahl mit guten Zukunftsaussichten. Mit wenig Ahnung, was auf mich wartet, entscheide auch ich mich dafür, diesen Berufsweg zu gehen.

So komme ich zu meiner Lehrstelle
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6.2.  Meine Schulzeit – Die Berufswahl.

So komme ich zu meiner Lehrstelle

Im Vaterland, der von Schmids abonnierten Tageszeitung sehe ich ein Inserat für eine kaufmännische Lehrstelle bei der Elektro-Isenschmid & Cie. in Emmenbrücke. Kurzerhand schicke ich meine Bewerbung ab, einen handgeschriebenen Brief mit Lebenslauf und Schulzeugnis. Ich halte mich an die Form, die wir in der zweiten oder dritten Sek geübt und besprochen haben.

Neugierig schaue ich täglich auf die auf dem Stubentisch liegende Post. Und tatsächlich, nach wenigen Tagen erhalte ich eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Mutter Schmid bringt mich nach Emmenbrücke an den Hauptsitz der Firma. Wir gehen vom Bahnhof hinab und überqueren die kleine Emme auf der mit einem Eisengeländer versehenen Brücke. Ich wundere mich, dass beim Brückenausgang rechts neben der Strasse ein gegen den Fluss hin abgesperrter Brückenkopf steht. Erst später erfahre ich die Geschichte der alten Holzbrücke über die kleine Emme, die anfangs der 1900er Jahre dem Bau des Trams von Luzern nach Emmenbrücke weichen musste.

Von der Brücke her kommend ist das Haus mit der markanten Glühlampe über dem Ladeneingang und der auffälligen Leuchtschrift gut zu erkennen.

Als Zugang zum Geschäft finden wir den im Hochparterre eingerichteten Verkaufsladen. Wir werden durch eine hinter dem Ladenkorpus offen stehende schmale Türe ins kleine Büro geführt. Der Seniorchef mustert mich kurz, stellt mir seinen Sohn Walter vor, der für die Büroarbeit zuständig ist. Es folgt eine nicht lange dauernde Unterredung des Seniorchefs mit Mutter Schmid unter vier Augen, währenddessen ich draussen vor der Türe warten muss. Ich erfahre nicht, was da noch verhandelt wird. Aber nach wenigen Tagen erhalte ich die Zusage, im Frühling 1959 die freie Lehrstelle als KV-Stift antreten zu können. Der offizielle Lehrvertrag wird durch Mutter Schmid unterzeichnet, muss aber noch durch das Lehrlingsamt des Kantons genehmigt werden. Jetzt erst frage ich mich, ob nicht mein Vater als Sorgeberechtigter diese Unterschrift hätte leisten müssen, wie übrigens auch unter alle meine Schulzeugnisse. 

Jetzt brauche ich eine Krankenkasse
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6.2.  Meine Schulzeit – Die Berufswahl.

Jetzt brauche ich eine Krankenkasse

Voraussetzung, dass der Lehrvertrag genehmigt wird, ist der Nachweis, dass ich krankenversichert bin. Das ist für die Leute im Friedheim neu. Zum Versicherungsabschluss kommen die Oetterlis ins Haus. Erwin ist Kassier der Ortssektion der Christlichsozialen Krankenkasse. Er hat diesen Nebenjob kurze Zeit vorher von Tante Scherer übernommen, einer Schwester der Brüder Kaspar vom Friedheim und Josef vom Benziwinkel und seit 1950 verwitwet.

Schon zwei oder drei Jahre vorher bekomme ich am Küchentisch mit, dass Elsy und Erwin diesen gesuchten Nebenerwerb für sich sichern wollen. Sie legen dabei die verwandtschaftliche Bande zu Tante Scherer in die Waagschale. Als Mitarbeiter dieser Krankenkasse vernehme ich später, dass Elisabeth Scherer mit sanftem Druck angehalten wurde, nach einer Nachfolge Ausschau zu halten. Sie war ihren Aufgaben, in denen sie vor dessen Tod von ihrem Mann unterstützt wurde, nicht mehr gewachsen. Die Oetterlis hatten ihre Fäden zur Sicherung dieses Nebenjobs richtig und rechtzeitig geknüpft. Ein Nebenjob, der später lukrativ wird, denn mit der steigenden Nachfrage und der Bevölkerungszunahme verzeichnen die Krankenkassen in den 1960er und 70er Jahren ein fulminantes Wachstum.

Die Entlassung aus der Schulpflicht
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6.3.  Meine Schulzeit – Die Entlassung aus der Schulpflicht.

Auf meinem Schulzeugnis wird mir die Entlassung aus der Schulpflicht mit dem 27. März 1958 bescheinigt. Meine Schulzeit endet jedoch erst ein Jahr später, nach Abschluss der dritten Sek, des freiwilligen neunten Schuljahres.

 





(1) Bescheinigung der ordentlichen Entlassung aus der Schulpflicht, 27. März 1958.

Bescheinigung der ordentlichen Entlassung aus der Schulpflicht, 27. März 1958.


Dieses Schulzeugnis ist das einzige Dokument, das ich von meiner Schule aufbewahrt habe. Alles andere, auch die fein säuberlich gebundenen Arbeiten aus der Sekundarschulzeit werde ich drei Jahre später auf einem Motthaufen vor dem Friedheim ohne sentimentale Rückschau verbrennen. Es sind die Tage meiner Flucht aus Sempach nach Abschluss meiner Lehrzeit. Opfer dieser Entrümpelung werden viele andere Erinnerungsstücke aus meiner Bubenzeit. Für sie finde ich weder in meinem Koffer noch in meinem Gedächtnis einen Platz. Es ist ein Zwang, der mich zu dieser Aktion treibt, den ich nicht hinterfrage.

Ich bin jetzt KV-Stift
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7.  Ich bin jetzt KV-Stift

Dass meine kaufmännische Lehre schon zehn Tage nach Ende der Schulzeit am 6. April 1959 beginnt, sehe aus dem Lehrzeugnis. An eine Vorbereitung dafür kann ich mich nicht erinnern. Einzig meinen Arbeitsweg nach Reussbühl kenne ich. Vom Friedheim gehts zum Städtli, von dort mit dem Postauto nach Sempach-Station. Oder je nach Wetter mit dem Velo direkt zur Station. Dort steige ich mit anderen Pendlern in den Bummler Richtung Luzern. Ausstieg in Emmenbrücke und über die Brücke der Kleinen Emme zu meinem Arbeitsort.

Meine Lehrfirma
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7.1.  Ich bin jetzt KV-Stift – Meine Lehrfirma.

Elektro-Isenschmid & Cie. hat ihren Standort in Emmenbrücke. Das Geschäfts- und Wohnhaus befindet sich in Reussbühl an der Kantonsstrasse, die von Luzern kommend vor der Brücke über die Kleine Emme abzweigt. Das schon baufällige Haus gehört zum Gebiet Rothen ausserhalb des Ortskerns. 

Die Bezeichnung & Cie. zeigt, dass meine Lehrfirma als Kommanditgesellschaft eingetragen ist. Klar wird mir schnell, dass der Seniorchef Walter Isenschmid allein das Zepter führt. Er ist ein behäbiger Mann um die sechzig, immer in einer beigen Arbeitsschürze daherkommend. Sein Führungsstil ist autoritär und verbunden mit seinen cholerischen Charakterzügen, oft angsteinflössend. Die Firma beschäftigt fünf oder sechs Elektromonteure.

Die fachliche Schlüsselrolle nimmt der Chefmonteur ein, der als einziger im Unternehmen das Eidgenössische Diplom besitzt. Dieses ist für die Konzession in der Elektrobranche nötig und berechtigt zur Ausbildung von Lehrlingen. Der Seniorchef will, dass in seiner Firma in jedem der vier Lehrjahre ein Elektromonteur ausgebildet wird. Es geht ihm nicht primär darum, für die Ausbildung von Nachwuchskräften zu sorgen. Lehrlinge sind ihm als kostengünstige Arbeitskräfte willkommen. Hierarchisch sind sie, natürlich alles Buben, wie er sie despektierlich nennt, dem Seniorchef unterstellt, fachlich dem Chefmonteur. Diese Besonderheit führt zu im Betrieb gut wahrnehmbaren Disputen zwischen den beiden Alphatieren. Besonders dann, wenn der Seniorchef den Burschen ihre jugendlichen Flausen mit Handgreiflichkeiten austreiben will. In diesen Momenten bin ich froh, als KV-Stift seinen Sohn Walter als Chef zu haben. Arbeiten gehört allerdings nicht zu seiner Lieblingsbeschäftigung. Oft bleibt der Junior nach dem Mittagessen im Restaurant Zollhaus bei einem Jass mit sogenannten Geschäftspartnern hängen. Diese Meetings, wie man heute sagen würde, dauern länger, als es dem Vater lieb ist. Deswegen wird auch der Junior, immerhin schon über die dreissig, nicht vor tätlichen Ausbrüchen des Seniorchefs verschont.

Mein Arbeitsplatz
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7.1.  Ich bin jetzt KV-Stift – Meine Lehrfirma.

Mein Arbeitsplatz

Das einzige Büro der Firma ist etwa 6 x 2.50 Meter gross und durch eine schmale Türe vom Verkaufsladen abgetrennt. Es hat zwei Arbeitsplätze mit einem grösseren Chefpult an der Wand mit Fenster und Blick auf die Strasse und zur Kleinen Emme. Mein Pult ist an die gegenüberliegende Wand angelehnt. So arbeiten der Juniorchef und ich in den nächsten drei Jahren Rücken an Rücken. Mein Blick zum Fenster ist versperrt vom neben meinem Pult stehenden, massiven Kassenschrank. Hinter der Türe ist der kleine Holzofen versteckt, der die Heizung von Büro und Verkaufsladen ist. Daneben steht der massive Schrank mit den Ordnern und dem Büromaterial.

Meine Aufgaben im Büro
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7.1.  Ich bin jetzt KV-Stift – Meine Lehrfirma.

Meine Aufgaben im Büro

Lernen durch Handeln gehört schon während meiner Lehrzeit zu den unbewussten Maximen meines beruflichen Werdegangs. Einen Lehrplan gibt es nicht. Die Arbeit wird durch das Tagesgeschäft bestimmt. Anfänglich werde ich durch meinen Vorgänger in das Leben als Stift eingeführt. Dazu gehört im Winter zum Beispiel das Anfeuern des Holzofens. Wenn der Juniorchef zwischen halb neun und neun zur Arbeit kommt, sollen Büro und Verkaufsladen aufgeheizt sein. In kalten Wintern dauert das oft eine halbe Stunde oder mehr. Erst dann kann ich mit meinen klammen Fingern die Tasten der Schreibmaschine mit voller Kraft bedienen.

Offerten und Rechnungen schreiben gehört zu meinen Kernaufgaben. Für die Buchhaltung führt Walter Junior handschriftlich eine Art Buchungsjournal. Die Jahresabschlussarbeiten werden extern erledigt. Hie und da gibt es einen Brief zu schreiben. Dann nehme ich ab dem zweiten Lehrjahr beim Juniorchef das Diktat in Stenografie auf. Wichtigstes Arbeitsgerät ist und bleibt während meiner dreijährigen Lehrzeit die Underwood-Schreibmaschine.

 

(1) Underwood Schreibmaschine, Modell Ende 1950er Jahre.

Underwood Schreibmaschine, Modell Ende 1950er Jahre.


Ich muss und will auf saubere Schriftstücke achten. Sie sind erster Eindruck und die Visitenkarte der Firma. Einfach ist das nicht, besonders wenn Offerten oder Rechnungen in zwei- oder mehrfacher Ausführung an Architekten oder Bauherren verschickt werden. Kopien entstehen direkt beim Schreiben, indem zwischen jedes Blatt ein Kohlepapier gelegt wird. Die Seiten spanne ich zwei- oder mehrfach in die Rolle der Underwood. Tippfehler kann ich auf dem Original mit einem speziellen Radierer ausmerzen. Doch Korrekturen auf der Kopie sind nicht zu übersehen. Sind sie zu auffällig, wird mit dem Schreiben der Seite von Neuem begonnen. Stressig ist das besonders dann, wenn die Eingabefrist für die Offerte vor deinen Augen abläuft.

Mithelfen tue ich beim allmonatlichen Vorbereiten der Zahltagsäckchen für Monteure und Lehrlinge. Aber die Höhe der Löhne ist geheime Chefsache. Ich werde lediglich als Gehilfe gebraucht beim Abzählen von Noten und Münzen.

 

Das Elektro-Fachgeschäft
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7.1.  Ich bin jetzt KV-Stift – Meine Lehrfirma.

Das Elektro-Fachgeschäft

Der Gewerbebetrieb mit dem Verkaufsgeschäft befindet sich im Hochparterre und in den Kellerräumen des schon stark ins Alter gekommenen Hauses. An seiner Frontseite erreicht man über eine zweiseitig begehbare Steintreppe den Verkaufsladen. Auffallend ist die Vielzahl der darin ausgestellten Beleuchtungskörper. Teilweise sind sie in das Beleuchtungssystem des Ladens integriert, damit sich der Kunde ein direktes Bild von der Wirkungskraft der Lichtquellen machen kann. Eindrücklich ist der stets in der Mitte des Verkaufsraums zur Ausstellung aufgehängte fünfarmige Kronleuchter.

Hinter dem Ladenkorpus sind die Verbindungstüren zum Büro und zum Gewerbeteil mit Werkstatt und Lager. Der Laden kann so von Juniorchef und Stift und auch von den Arbeitsräumen her bedient werden.

Der Hauptzutritt zum Gewerbeteil führt durch den Hintereingang via Treppenhaus der über dem Elektro-Fachgeschäft liegenden Wohnungen. Lager und Arbeitsräume sind zudem im Kellergeschoss eingerichtet. Diese Räume benutzen die Elektromonteure für die Vorarbeiten der Installationen und die Reparaturen an den Elektrogeräten. Jeden Morgen treffen sich dort die Monteure zur Arbeitsplanung mit dem Seniorchef und dem Chefmonteur.

Die Geschäftstätigkeit meiner Lehrfirma konzentriert sich auf elektrische Installationen in Neu- und Umbauten. Das ersehe ich als KV-Stift schon an Menge und Umfang der Offerten und Rechnungen, die ich täglich zur Post bringe. Monteure und Lehrlinge sind ausgelastet und stehen oft unter Zeitdruck. Denn im Baugewerbe sind Maurer, Eisenleger, Gipser und Bodenleger auf das Abstimmen ihrer Arbeitsprozesse mit dem Elektriker wie auch mit Sanitär, Schreiner und Maler angewiesen.

Die laut dem Briefkopf von Isenschmid & Cie. in Luzern betriebene Filiale hat steuerliche Zwecke und soll zeigen, dass das Unternehmen auf Stadtgebiet präsent ist. Denn bei der Auftragserteilung spielt oft der Firmensitz das Zünglein an der Waage. An der Adresse an der Pilatusstrasse befindet sich der Wohnsitz des Seniorchefs. Das sehe ich, wenn ich gelegentlich in sein Büro in der Wohnung in Luzern fahre, zum Abholen einer Unterschrift.

Das Verkaufsgeschäft am Hauptsitz ist schon wegen seines Standortes kein Ladenrenner. Das Gebiet Rothen liegt abseits des Dorfzentrums ohne Laufkundschaft. Es besteht aus ein paar Häuserzeilen mit wegen des sumpfigen Untergrunds teils schon schräg stehenden Gebäuden. Sie sind allesamt nach dem Ersten Weltkrieg erstellt worden. Die Mieterschaft besteht aus älteren, wenig zahlungskräftigen Menschen, die sich kaum Neuanschaffungen leisten können. Sie sind darauf angewiesen, ihre Bügeleisen, Rasierapparate oder Staubsauger mit Reparaturen funktionsfähig zu halten.

Der Standort des Verkaufsgeschäfts in Kriens ist attraktiv. Dieses befindet sich ausgangs des Dorfes direkt bei der Endstation der Tramlinie 1. Ich habe gelegentlich hier zu tun, sei es als Aushilfe im Laden oder wenn mich einer der Chefs für eine Besorgung dorthin schickt.

Als Lehrling aus der tiefsten Luzerner Landschaft erlebe ich dabei die letzten Tage der Trambahn. Sie ist das Verkehrsmittel bei meinen Fahrten nach Kriens mit der Linie 2 ab der Haltestelle Zollhaus mit Umsteigen auf die Linie 1 oder zur Berufsschule an der Frankenstrasse. Die Tramlinie 2 Emmenbrücke-Luzern wird schon im Herbst 1959 eingestellt, die Strecke 1 gegen Ende 1961. Nach langen politischen Diskussionen und einer Volksabstimmung hatte sich die Meinung des Stadtrates durchgesetzt. Die Tramhaltestellen nähmen Platz für den motorisierten Individualverkehr weg und ein Busbetrieb schütze die Anwohner vor den starken Lärmimmissionen des in Kurven und beim Bremsen quietschenden Trams. Die Trambahn wird durch den Trolleybus ersetzt und gehört endgültig zur Geschichte von Luzern.

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Branchenkunde
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7.1.  Ich bin jetzt KV-Stift – Meine Lehrfirma.

Branchenkunde

Branchenkunde gehört zu meinem Pflichtfach als KV-Stift. Die Elektrobranche ist spannend und mit Spannung verbunden. Ich lerne Wichtiges über die Hoch- (Elektro) und Niederspannung (Telefon), muss Bescheid wissen über Volt, Watt und Ampere. Ich kenne die Merkmale der Glühlampen (E14, E27, Birne, Kerze, Krypto) und der Leuchtstoffröhren (Fluoreszenz) mit ihren normierten Längen und begreife, was ein Starter ist. Ich weiss Bescheid über die Unterschiede in den Farbtönen ihres Lichts (warm oder weiss) und mit welchem Material diese erzielt werden (opal, matt, klar). Ich lasse mir erklären, was im Elektrojargon Pole, Nullleiter und Erden sind und wie ihre Abkürzungen lauten (2P, 2P plus 0, 2P plus E). Mir ist geläufig, dass der Elektriker Leitungen, Schalter und Steckdosen auf oder unter Putz (aP, uP) verlegt, auch wenn Wände oder Böden aus Holz sind. Das alles lerne ich nicht in der Theorie, sondern durch praktisches Handwerk. Wenn Not am Mann ist, schickt mich der Seniorchef mit dem Monteur auf die Baustelle. Zu Beginn des modernen Bauens werden die elektrischen Leitungen in sogenannte Symalenrohre gezogen. Diese Rohre aus Kunststoff müssen vor dem Betonieren zwischen die vom Eisenleger platzierten Gitternetze aus Stahl verlegt sein. Dafür braucht es mindestens vier Hände. Erst wenn die Rohre plangenau verlegt sind, kann die Maurerarbeit fortgesetzt werden. Der Elektriker ist zwischen die Arbeitsprozesse von Maurer und Eisenleger eingeklemmt. Auch gebraucht werde ich zum Einziehen der Elektrodrähte in die verlegten Rohre, denn dafür werden mindestens zwei Leute mit dem KV-Stift als gelegentliche Hilfskraft benötigt.

Branchenkundig werde ich zudem im Verkaufsgeschäft. Im Laden bediene ich schon bald die Kundschaft aus dem nahen Wohngebiet und verkaufe Sicherungen, Leuchtmittel, Kabel und Stecker. Ich berate sie in den raren Fällen, in denen ein Bügeleisen, ein Rasierer oder ein neuer Beleuchtungskörper gebraucht wird. Ich bin dabei, wenn der Juniorchef neuartige Haushaltapparate wie Mixer und Staubsauger vorführt oder im Laden Kleinwaschmaschinen und Kühlschränke verkauft. Besonders gefragt sind in jener Zeit die neu aufkommenden Kühlschrankmodelle in der Absorbertechnik, die gegenüber den grösseren Typen mit Kompressormotoren kostengünstiger und leiser sind. 

Mit den Elektrostiften experimentiere ich in der Mittagspause an der für Lernzwecke und Reparaturen eingerichteten Schalttafel. Wir produzieren Kurzschlüsse in Hochspannung. Dabei bringen wir es fertig, zum Zmittag Wienerli zu erhitzen. An ein Klemmkabel schliessen wir zwei kleine Kupferdrähte an und stöpseln diese in die beiden Wurstende. Dann stecken wir das Kabel an die 220 Volt-Strom-Steckdose mit Knopfsicherung.

 
(1) 2-poliges Klemmkabel. In die Klemmen kommt je ein kleiner Kupferdraht, der in die beiden Wurstenden gesteckt wird.

2-poliges Klemmkabel. In die Klemmen kommt je ein kleiner Kupferdraht, der in die beiden Wurstenden gesteckt wird.


Nach mehreren Versuchen mit geplatzten Würstchen und Kurzschluss wissen wir, dass ein Wienerli in genau 16 Sekunden heiss ist und bei spätestens 20 Sekunden platzt. Die Chefs bekommen von diesen Experimenten in der Mittagspause natürlich nichts mit.

Meine Samstagsarbeit
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7.1.  Ich bin jetzt KV-Stift – Meine Lehrfirma.

Meine Samstagsarbeit

Anfänglich kennen wir im kaufmännischen Bereich weder eine 5½-Tage- noch eine 5-Tagewoche. Der Verkaufsladen muss auch samstags geöffnet bleiben. An Samstagnachmittagen bin ich oft als Einziger im Betrieb. Ich hüte den Laden und versuche, verzweifelten Kunden bei Störungen der Stromzuleitung oder von elektrischen Apparaten zu helfen. Dabei führe ich auch Reparaturen an Bügeleisen oder in der Wohnung aus. Meistens handelt es sich um Wackelkontakte, durchgebrannte Sicherungen oder geplatzte Glühbirnen. Diese Dienste erledige ich gelegentlich auf eigene Rechnung in Schwarzarbeit und in meine Tasche. Mit diesen kleinen Betrügereien bessere ich das bescheidene Taschengeld auf, das mir Mutter Schmid zugesteht.

Meine soziale Situation
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7.1.  Ich bin jetzt KV-Stift – Meine Lehrfirma.

Meine soziale Situation

Mein Lehrlingslohn ist laut Lehrvertrag auf minimale KV-Norm mit monatlich 80 Franken im ersten, 100 Franken im zweiten und 120 Franken im dritten Lehrjahr festgesetzt. Mutter Schmid verlangt, dass ich diesen Lohn Ende Monat nach Hause bringe. Ich erhalte wöchentlich fünf Franken Taschengeld. Mutter Schmid übernimmt die Fahrtkosten zur Arbeit und in die Schule, das Mittagessen (Menu 1) im Restaurant mit einem Getränk. Wöchentlich bringe ich ihr die Rechnung vom Zollhaus mit und bezahle sie am folgenden Montag an der Theke. Ich kann den Fünfliber drehen und wenden, wie ich will. Das reicht nirgendwo hin, nicht zum Bezahlen von Znüni oder Zvieri. Kommt dazu, dass ich viel zu früh angefangen habe mit Rauchen, was ebenfalls eine Stange Geld kostet. Die Samstagsarbeit und andere Trinkgelder für Besorgungen oder Handreichungen und manchmal ein Betteln bei Mutter Schmid helfen, meine finanziellen Löcher zu stopfen. Ihr Rat, "Höre auf zu rauchen!" geht ungehört in Gottes Ohr.

Die Berufsschule
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7.1.  Ich bin jetzt KV-Stift – Meine Lehrfirma.

Die Berufsschule

Meine Berufsschule ist die Kaufmännische Berufsschule (KV) Luzern. Der Unterricht findet zwei Mal wöchentlich je halbtags statt. Dazu kommt ein- oder zweimal eine Lektion Italienisch als freiwilliger Abendkurs. Karl Zoller ist mein Hauptlehrer und mit seinen träfen Sprüchen schon zu Lebzeiten eine KV-Legende. Er ist menschlich korrekt, legt Wert auf Präzision in der deutschen Sprache und ist ein Rechengenie. Er bleibt mein geschätzter Klassenlehrer in den Kernfächern Deutsch, Rechnen, Buchhaltung, Rechts-, Wirtschafts- und Staatskunde. Für die Schulaufgaben nutze ich regelmässig den letzten Moment, den Sonntag. Lernen macht mir keine grosse Mühe. Mit etwas mehr Anstrengung könnte ich auch im KV mit den Besten mithalten. Schwierigkeiten bekunde ich mit der Einordnung von theoretischen Begrifflichkeiten zu Wortarten und Fall-Bezeichnungen im Sprachunterricht. Nominativ für Wer-Fall oder Verb für Tätigkeitswort sind für mich zum Beispiel mit sieben Siegeln versehene Ausdrücke. In der Schule in Sempach wurden für diese Erklärungen stets die deutschen Begriffe verwendet. Ich schreibe lieber von der Leber weg.

Mein Lehrabschluss
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7.2.  Ich bin jetzt KV-Stift – Mein Lehrabschluss.

Die Lehrabschlussprüfungen finden im Frühjahr 1962 statt. Es gibt strenge Regeln und Aufsicht. Schummeleien werden mit scharfen Sanktionen geahndet. Ich schaffe die Prüfungen locker und mit einem guten Notendurchschnitt. Am 2. Mai 1962 erhalte ich im grossen Saal des Kunst- und Kongresshauses zusammen mit den anderen KV-Lehrlingen des Kantons das Fähigkeitszeugnis der Schweizerischen Eidgenossenschaft als Kaufmännischer Angestellter.

Fussball statt Lehrabschlussfeier
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7.2.  Ich bin jetzt KV-Stift – Mein Lehrabschluss.

Fussball statt Lehrabschlussfeier

Mit ein paar Kollegen feiern wir den Anlass in einer Beiz in der Stadt vor dem Fernseher. Auf dem kleinen Bildschirm über der Theke sehen wir uns das in die Fussballgeschichte eingehende Finale des Europacups der Meister Benfica Lissabon gegen Real Madrid an. Das Spiel endet 5 zu 3 für den Aussenseiter Benfica. 65‘000 Zuschauer sehen in Amsterdam, wie die geniale Angriffsreihe von Real Madrid mit Di Stéfano-Puskas-Gento von Benfica entzaubert wird. Sie erleben gleichzeitig mit Eusébio, dem Schwarzen Panther, das Aufgehen eines neuen Sterns am Fussballhimmel.

 

Fähigkeitszeugnis
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7.2.  Ich bin jetzt KV-Stift – Mein Lehrabschluss.

Fähigkeitszeugnis

Nach dem Spiel fahre ich mit dem letzten Bummler zurück nach Sempach-Station und mit dem Velo ins Friedheim. Alles ist dunkel und ich schleiche mich ins Bett. Mein Fähigkeitsausweis liegt in der Schulmappe. Am Morgen sehe ich, dass Walti neugierig ist auf meine Noten. Er tut etwas beschämt, und ich merke, dass er sich ärgert. Es gefällt ihm nicht, dass er von mir ertappt wird, ungefragt in mein Zeugnis zu schauen. Noch mehr wird ihn geärgert haben, dass meine Schlussnote mit 1.7 deutlich besser ist als die Seine vor ein paar Jahren. Mir ist es egal. Ein wenig stolz bin ich trotzdem.



(1) Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis als Kaufm. Angestellter, Kanton Luzern mit Noten der Lehrabschlussprüfung. 02.05.1962.

Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis als Kaufm. Angestellter, Kanton Luzern mit Noten der Lehrabschlussprüfung. 02.05.1962.

 

Das Ende meiner Lehrzeit
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7.2.  Ich bin jetzt KV-Stift – Mein Lehrabschluss.

Das Ende meiner Lehrzeit

Am 5. April 1962 endet meine Lehrzeit. Ich habe keine Erinnerung daran, wie ich mich von meinen Lehrmeistern und von der Firma verabschiedete. Einziges Dokument an jene Zeit ist mein Lehrzeugnis unterzeichnet vom Juniorchef Walter Isenschmid. Wahrscheinlich habe ich das Zeugnis per Briefpost erhalten.



Lehrzeugnis, 27. April 1962.


Später habe ich keinen Kontakt mehr zu meiner ehemaligen Lehrfirma. Ich erfahre, dass der Seniorchef bald einmal stirbt. Ein paar Jahre später sehe ich, dass die Leuchtschrift am Haus erloschen ist. Walter Junior hat es nicht geschafft, die Firma in die Zukunft zu führen. Sein Vater hatte das geahnt.





Weg vom Friedheim
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8.  Weg vom Friedheim

Wer bin ich und wohin gehöre ich? Meine hilflose Suche nach dem eigenen Ich quält mich während der drei Jahre meiner Lehrzeit noch ausgeprägter als während meiner Schuljahre. Mein Alltag im Friedheim gestaltet sich so, als gehörte ich zur Familie. Doch ich finde nie meine Rolle in diesem heterogenen Gefüge der Schmids. Stehen besondere Ausgaben an, zum Beispiel für Kleider oder Schulsachen, bekomme ich zu spüren, dass ich für die Familie eine Last bin. Falls überhaupt Gespräche zu meiner Situation stattfinden, bin ich nicht dabei. Ob ich das vermisse? Ich bin mir darüber nicht im Klaren. Ich mag es nicht, wenn man in mein Innerstes blicken will. Ich bleibe in dieser eigenartig funktionierenden Familie eine Art vorwärtsschauender Trittbrettfahrer in einer Gemeinschaft, in der jeder sich selbst der Nächste ist. Auch die wenigen Kontakte zu meinem Vater sind eingeschlafen. Er weiss mich bei den Schmids in sicherer Obhut und auf dem Weg ins Arbeitsleben. Selber hat er genügend andere Sorgen und ist an Krebs erkrankt.

Die Schmids driften auseinander
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8.1.  Weg vom Friedheim – Die Schmids driften auseinander.

Mutter Schmid will Ansehen und gesellschaftliche Stellung im grossbäuerlichen Umfeld in die Zukunft retten. Was im Hause fehlt, ist eine gemeinsam getragene Idee, wie der Zusammenhalt gestärkt und das Geschaffene erhalten bleibt. Sepp und Hans führen den Bauernbetrieb während sieben Jahren in einer informellen Zweckgemeinschaft. Als einzige der Schmid-Töchter ist Theres im Haus verblieben. Hie und da kommt die Lehrersfrau Elsy vorbei, um im Haushalt mitzuhelfen.

Zerstrittener Familienrat
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8.1.  Weg vom Friedheim – Die Schmids driften auseinander.

Zerstrittener Familienrat

Gelegentlich trifft sich die Familie zum Familienrat. Der älteste Sohn Kaspar sorgt dafür, dass ich ausser Sichtweite bin. Er merkt nicht, dass ich in der Küche die Ohren spitze und via die Durchreiche zur Stube die Gespräche mithören kann. Mutter Schmid gelingt es nicht, zu verhindern, dass sich Kaspar mit seinen cholerischen Charakterzügen als Wortführer aufspielt. Dabei vernehme ich, dass er ihr Vorwürfe macht, mit mir einen Zögling aufgenommen zu haben, der das Familienbudget belastet.

Die Gespräche sind stets geprägt von Nervosität und Gezänke. Sepp und Hans sind ledig. Das ist eine schlechte Voraussetzung für die Übernahme des Hofes, denn zu einem Bauernbetrieb gehört eine tüchtige Bauersfrau. Kaspar dagegen ist verheiratet und hat drei oder vier Kinder. Das bringt ihn dazu, als ältester Ansprüche auf den Hof anzumelden, obwohl er mit dem kleinen Nachbarbetrieb im Ebersmoos und seinem Haupterwerb als Förster eine gesicherte Existenz hat. Knackpunkt bleibt der Wert der Liegenschaft und die gerechte Aufteilung der Anwartschaften. Die auf dem Hof verbliebenen Familienmitglieder haben jahrelang ohne Lohn gearbeitet. Bei den Diskussionen steht die Zukunft des Hubels mit seiner prächtigen Aussichtsplattform im Mittelpunkt. Der auf dem Hof verbleibende Bauer möchte ihn weiter als Kulturland nutzen. Wird er aber zum Bauland, winkt ein schöner Batzen Geld. In diesem Umfeld schafft es die Familie nicht, sich Klarheit zu verschaffen, wer unter welchen Bedingungen das Friedheim übernimmt. Wenn Kaspar ausser Haus ist, sind sich die Schmids in einem Punkt einig. Es darf nicht so weit kommen, dass er Besitzer des Hofes wird. Ich glaube mich zu erinnern, dass dabei Alois die Rolle eines informellen Mediators übernimmt.

Das Friedheim um das Ende meiner Lehrzeit
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8.1.  Weg vom Friedheim – Die Schmids driften auseinander.

Das Friedheim um das Ende meiner Lehrzeit

Im Frühjahr 1962 endet meine KV-Lehre. Mutter Schmid ist kränklich und oft bettlägerig. Sepp (36) hat Bekanntschaft mit einer Bauerntochter aus der Region und bringt sich in Position für die Übernahme des Hofes. Hans (34) weiss, dass für ihn der Verbleib im Friedheim nicht möglich sein wird. Zu unterschiedlich sind die Charaktere der beiden den Hof bewirtschaftenden Brüder. Deshalb macht er die Lastwagenprüfung und will Transportunternehmer werden. Alois hat sich bei der Luzerner Kantonalbank in eine erste Kaderposition hochgearbeitet. Er hat anfangs der 1960er Jahre geheiratet. Otti ist mit einer Lehrerstochter aus Rain verheiratet und will sich als Garagist mit dem Fokus auf Traktoren selbstständig machen. Walti arbeitet als kaufmännischer Angestellter bei der Kantonalen Finanzverwaltung. Er hat Bekanntschaft mit Margrit, einer Tochter des Zimmereibetriebs Wiederkehr in Neuenkirch. Zu dessen Besitz gehören Land und Liegenschaften mit Zweifamilienhäusern in Luzern an einer bevorzugten Wohnlage. Walti wittert Geschäfte, gibt sich gerne als Macht- und Lebemensch und ortet auch bei seiner hübschen Braut eine Geldquelle.

Es ist ein wirres und verwirrendes Umfeld, in dem ich mich am Ende meiner Lehrzeit Richtung Erwachsenwerden bewege. Die dem Sterben nahe Mutter Schmid wird das Auseinanderdriften der Familie spüren. Aufhalten kann sie es nicht mehr.

Erst im Nachhinein wird mir bewusst, dass ich in meiner späten Jugendzeit den Beginn des Zerfalls einer stolzen Grossbauernfamilie miterlebe.

Meine Flucht aus Sempach
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8.2.  Weg vom Friedheim – Meine Flucht aus Sempach .

Ich will mich von den Fesseln mit Dressur und Lieblosigkeit befreien. Wenn es sich einrichten lässt, lungere ich mit Gleichaltrigen lieber im Städtchen herum, als mich im Friedheim für die Arbeit einspannen zu lassen. Das kommt bei Mutter Schmid nicht gut an. Auf meinem Weg Richtung Erwachsensein begleitet mich ihr Drohfinger. Aus dir wird nichts, wenn du dich nicht änderst. Das wird für mich kein Wegweiser, den ich hätte gebrauchen können. Was ich weiss, ist, dass ich nach meiner Lehre auf eigenen Beinen stehen will und muss.

Mein Weg in die Fremde
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8.2.  Weg vom Friedheim – Meine Flucht aus Sempach .

Mein Weg in die Fremde

Gegen Ende meiner Lehrzeit sehe ich ein Inserat im Baublatt, der Fachzeitschrift für das Baugewerbe. Das Baugeschäft Mötteli in Frauenfeld sucht einen kaufmännischen Angestellten. Ich glaube, mich zu erinnern, dass sogar die Höhe des Lohnes genannt ist. Es sind über tausend Franken im Monat. Ungewöhnlich hoch für einen aus der Lehre kommenden Büroangestellten. Das kommt mir gelegen. Mit diesem Lohn werde ich ein Krösus und Frauenfeld ist weit weg von Sempach. Kurzentschlossen bewerbe ich mich um die Stelle, formgerecht, wie wir es im KV gelernt haben.




(1) Passbild, als Foto zu meiner Bewerbung für die erste Arbeitsstelle (1962, 19-jährig).

Passbild, als Foto zu meiner Bewerbung für die erste Arbeitsstelle (1962, 19-jährig).


Nebst dem Wirrwarr im Friedheim schwebt ein Damoklesschwert über meinem Kopf, die im Februar des nächsten Jahres anstehende Rekrutenschule. Ich habe eine Abneigung gegen das Militär mit seinem Drill, aber auch Angst davor, wie ich mich in dieser Zeit wirtschaftlich über die Runden bringe. Zwei Franken pro Tag beträgt der Sold des Rekruten, und nochmals zwei Franken erhält er von der Ausgleichskasse. So gebe ich mich der Illusion hin, dass ich im abgelegenen Frauenfeld für das Militär unauffindbar bin oder vielleicht sogar vergessen werde.

Ich stelle mir nicht die Frage, ob ich ein Nest brauche, in das ich in der Not zurückfinden kann. Mit dem Verschwinden meiner eigenen Geschwister in alle Himmelsrichtungen und durch die Krankheit des Vaters habe ich keine Familienbande. Das Friedheim und ich haben uns entfremdet. Bei der Suche nach dem Ich entscheide ich mich für die Flucht aus meinem bisherigen Leben. Es wird eine fiktive Flucht bleiben. Erst viele Jahre später wird mir bewusst, dass ich meinem eigenen Leben nicht entfliehen kann.

 

So komme ich zu meiner ersten Arbeitsstelle
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8.2.  Weg vom Friedheim – Meine Flucht aus Sempach .

So komme ich zu meiner ersten Arbeitsstelle

Max Mötteli, der Bauunternehmer, antwortet persönlich auf mein Bewerbungsschreiben. Er lädt mich zu einem Vorstellungsgespräch ein. Es wird meine erste längere Reise auf eigene Faust. Von Sempach nach Frauenfeld und retour. Der Unternehmer selbst holt mich am Bahnhof ab zeigt mir Büro und Betrieb und lädt mich zum Mittagessen in einem bahnhofsnahen Restaurant ein. Danach überreicht er mir ein Kuvert mit einer 50er-Note als Ersatz für meine Spesen. Ich bin perplex ob dieser Grosszügigkeit. Die Stelle erhalte ich ohne Formalitäten. Der Arbeitsvertrag wird per Handschlag abgeschlossen. Ich bin auch froh, dass mir Mötteli bei einer bewährten Schlummermutter ein Zimmer besorgen wird.

 

Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort
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8.3.  Weg vom Friedheim – Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort.

Wie ich die Wochen nach der Lehrzeit bis zum Stellenantritt erlebe, ist aus meinem Gedächtnis gelöscht. Ebenso, ob, wie und von wem ich im Friedheim Abschied nehme. Ich glaube, niemand interessiert sich für mein Weggehen. Für meine Siebensachen besorge ich mir im Estrich einen Koffer. Was sich für mein neues Leben nicht brauchen lässt, wird entsorgt. Dazu gehören bestimmt meine für die Hofarbeit benutzten Arbeitskleider.

Mein Logis
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8.3.  Weg vom Friedheim – Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort.

Mein Logis

Mein Zuhause ist ein Zimmer in der Wohnung eines Mehrfamilienhauses im Hochparterre quer gegenüber dem Baugeschäft. Im möblierten Zimmer gibt es ein Bett, einen Kleiderschrank, eine Kommode und das Nachttischchen. Im Zimmerpreis von 120 Franken sind Reinigung, Wäsche für Bett und Bad, Benutzung der sanitären Einrichtungen und tägliches Frühstück inbegriffen. Meine Schlummermutter ist verwitwet und nett zu mir. Ich spüre, dass sie mich gerne in ihre Obhut nehmen würde. Aber das will ich nicht zulassen, denn schliesslich bin ich jetzt ein eigenständiger Erwachsener und will mir nicht mehr dreinreden lassen.

An Adresse und Name der Schlummermutter erinnere ich mich nicht. Doch jetzt hilft mir das Dienstbüchlein der Schweizerischen Eidgenossenschaft über meine Erinnerungslücken hinweg. Dieses hochoffizielle und schlaue Büchlein weiss, dass ich, 19-jährig, am 09. März 1962 in Sempach als Dienstpflichtiger das Dienstbüchlein in Empfang nehme, mich am 10. Mai in Sempach militärisch ab- und am 19. Mai 1962 in Frauenfeld anmelde. Meine Adresse lautet Walzmühlestrasse 15b und die Logisgeberin heisst Frau Dippel. Damit ist schon gesagt, dass meine Idee, mit der Flucht nach Frauenfeld den Fängen des Militärs zu entgehen, mehr als naiv war.

Mein Arbeitgeber
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Mein Arbeitgeber

Das Baugeschäft beschäftigt 20 bis 30 Bauarbeiter, Max Mötteli ist Inhaber und Patron. Im grosszügig eingerichteten Büro gibt es Arbeitsplätze für den Chef und zwei Angestellte. Das Chefpult ist selten besetzt, denn der Patron muss auf den Baustellen zum Rechten sehen. Ich werde von einer ungefähr 50-jährigen Frau, die ich im Laufe der Zeit ersetzen soll, in meine Aufgaben eingeführt. Offerten und Rechnungen schreiben sind wieder meine Kerntätigkeiten.

Meine soziale Situation
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8.3.  Weg vom Friedheim – Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort.

Meine soziale Situation

Mit über 1000 Franken im Monat habe ich ein gutes Gehalt, und auch die Versicherungen sind via Arbeitgeber geregelt. Der Lohn wird in bar ausbezahlt. Die 120 Franken für Zimmer und Frühstück bringe ich so locker auf. Dazu leiste ich mir Essen in Restaurants, schicke Kleidung, den monatlichen Gang zum Coiffeur und drehe nicht jeden Batzen um. Zwar lege ich mir bei der örtlichen Bank ein Sparheft an, damit mein Geld vor Verlust geschützt ist. Aber ich habe nicht gelernt, eigenständig mit Geld umzugehen. Das Heftchen auf der Bank ist deshalb nur dem Namen nach mein Sparheft. Ende Monat bin ich regelmässig pleite und froh, dass wieder Zahltag ist.

In der Zeit des aufkommenden Transistorradios halte ich mich via Radio Beromünster über das wichtigste Geschehen auf dem Laufenden und am Bahnhofkiosk besorge ich mir täglich das Vaterland. Meine Person ist zwar weg von Luzern, aber emotional bleibe ich in meiner ehemaligen Heimat. Im fernen Thurgau komme ich nicht an. Mir fehlen Bezugspersonen, Freunde und Gemeinschaft. Ich bin scheu und nicht gewohnt, selbst auf Menschen zuzugehen. Fernweh wird durch Heimweh ersetzt, obwohl ich nirgendwo zu Hause bin.

 

Mutter Schmid ist tot
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8.3.  Weg vom Friedheim – Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort.

Mutter Schmid ist tot

Anfangs September stosse ich im Vaterland auf eine Todesanzeige, die mich aufschreckt. Anna Schmid-Arnet ist am 30. August 1962 gestorben. Aus der Todesanzeige kann ich Tag und Zeit der Beerdigung sehen. Aber niemand von der Familie nimmt mit mir Kontakt auf. Erwartet man überhaupt, dass ich zur Beerdigung ins Friedheim zurückkehre? Hat mich niemand informiert, weil man mich nicht dabei haben will? Beerdigungsgottesdienste finden in Sempach am frühen Vormittag statt. Ich müsste am Vorabend anreisen und bräuchte eine Übernachtungsmöglichkeit. Ich bin verunsichert und weiss nicht, was tun. Deshalb entschliesse ich mich, in Frauenfeld zu bleiben.




(1) Leidbild Anna Schmid-Arnet, †30.08.1962.
Leidbild Anna Schmid-Arnet, †30.08.1962.


Jahre später vernehme ich von Elsy, man sei überrascht gewesen, mich an der Beerdigung nicht anzutreffen. Jedermann sei davon ausgegangen, irgendjemand von der Familie habe mich benachrichtigt. Nur, wusste denn überhaupt jemand von meiner Familie, wo ich mich aufhalte? 

Das Militär holt mich zurück
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8.3.  Weg vom Friedheim – Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort.

Das Militär holt mich zurück

Wegen meines Wegzugs nach Frauenfeld muss ich den Termin für die militärische Aushebung im Kanton Luzern nicht wahrnehmen. Die offiziellen Aushebungsaufgebote werden in öffentlichen Aushängen in Form von amtlichen Bekanntmachungen bekannt gemacht. Diese Aufgebote sehe ich zwar, folge ihnen aber nicht in der Hoffnung, das Militär werde mich vergessen. Doch eines Tages liegt eine militärpolizeiliche Aufforderung auf dem Tisch meiner Schlummermutter, mich unverzüglich auf dem örtlichen Polizeiposten zu melden. Mit Angst gehe ich auf den Posten und suche nach einer Ausrede für das Verpassen des Aushebungstermins. Der Polizeimann klärt mich über den letztmöglichen Termin für die Rekrutierung auf und weist mich auf die strafrechtlichen Sanktionen bei Nichtbefolgung des Aufgebots hin.

Mit dem Dienstbüchlein und den eiligst gekauften Turnsachen im Sack melde ich mich am 30. Oktober 1962 in der Kaserne Frauenfeld pflichtgemäss den mit strengem Blick wartenden Militärs. Ausser mir gibt es noch ein paar andere versprengte Jungen, die als Nachzügler zum letztmöglichen Aushebungstermin anzutreten haben. Die vier Turnübungen absolviere ich barfuss und die sanitarische Untersuchung verläuft reibungslos. Am Aushebungstag mache ich erste Bekanntschaft mit dem auf mich wartenden militärischen Alltag. Zwei davon sind Warten und Abkürzungen lernen. DB ist die offizielle militärische Abkürzung des viele Geheimnisse und schutzwürdige Daten enthaltenden Dienstbüchleins.



(1) DB mit Aushebungsergebnis. 30.10.1962.

DB mit Aushebungsergebnis. 30.10.1962.


Bei dem im DB als Ziffer 250/55 eingetragenen Gebrechen handelt es sich um meine Plattfüsse. Behindert hatten mich diese nie. Aber ich erinnere mich sehr genau an den Ausspruch des Sanitätsoffiziers, als ich vor ihm barfuss durchmarschiere: "Schon wieder ein Plattfussindianer". Im abschliessenden Gespräch fragt mich der Aushebungsoffizier nach meinen Wünschen zur militärischen Einteilung. Ebenso will er wissen, welchem Kanton ich zur Einberufung zugeteilt werden wolle. Schlagfertig nutze ich die Gunst der Stunde. Ich hätte wegen der Einteilung keine besonderen Wünsche, ausser das Marschieren sei für mich beschwerlich. Ich behalte für mich, dass meine allergrösste Furcht dem Dienst bei der Infanterie gilt. Das ist dem Vernehmen nach das Los der meisten Nachzügler. Als aufbietender Kanton wähle ich Luzern in der Hoffnung, im Militär mit Menschen meines Schlags zusammen zu sein. Denn die Thurgauer mit ihrem aggressiven Mundwerk bleiben mir fremd. Nach einigem Überlegen fragt mich der Offizier, ob ich Schreibmaschine schreiben könne. Die Armee baue bei den Funkern etwas Neues auf. Dafür brauche es noch Leute. Im DB notiert er unter Ausgehoben als mit Bleistift: „Schreibmaschinensoldat bei den Übermittlungstruppen“. Diese Einteilung sei provisorisch. Endgültig erfolge sie durch den aufbietenden Kanton Luzern. So werde ich Funkerpionier (Fk.Pi.) bei der Schweizer Armee und in die Zentralschweizer Fk.Kp.8 eingeteilt.

Mein Weg zurück nach Luzern
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8.3.  Weg vom Friedheim – Frauenfeld wird nicht mein Zufluchtsort.

Mein Weg zurück nach Luzern

Jetzt hält mich nichts mehr im Thurgau, wo ich weder in der Arbeit noch bei den Menschen angekommen bin. Kurzerhand kündige ich Stelle und Zimmer und beginne mit der Suche nach einer vorübergehenden Arbeitsstelle in meiner alten Heimat. Im Vaterland sehe ich ein Inserat, mit dem die Christlichsoziale Kranken- und Unfallkasse Aushilfsangestellte für die Monate Dezember bis Februar sucht. Der Name ist mir geläufig, denn Erwin Oetterli ist Ortskassier in Sempach. Auf meine Rückfrage erklärt mir eine Mitarbeiterin, ich bräuchte keine formelle Bewerbung einzureichen. Ich solle mich am Montag, 03. Dezember 1962, morgens um acht Uhr zum Arbeitsbeginn melden. Das passt mir, denn im folgenden Februar muss ich in die Rekrutenschule einrücken. Danach werde ich mich um eine richtige Stelle umsehen. Das ist mein Plan.

Jetzt brauche ich nur noch eine Unterkunft. Walti und Margrit wohnen in einem der Doppel-Einfamilienhäuser im Luzerner Untergütschquartier. Ich frage ihn an, ob er für mich vorübergehend ein freies Zimmer hätte. Das hat er, und ich erhalte bei den beiden Jungvermählten Kost und Logis zu noch zu vereinbarenden Konditionen

CKUS - Der Beginn
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9.  CKUS - Der Beginn

CKUS, so lautet die zungenbrecherische, aber offizielle Abkürzung meines vorübergehend neuen Arbeitgebers, der Christlichsozialen Kranken- und Unfallkasse der Schweiz. Die Zentralverwaltung mit etwa 140 Mitarbeitenden befindet sich in einem Wohn- und Geschäftshaus unmittelbar beim Luzerner Bahnhof. Im Erd- und Untergeschoss des Hauses ist die Autogarage Zai eingemietet, mit Werkstatt und Ausstellungsräumen. Die erste Etage belegt das Möbelhaus Zehnder-Lordelli als Verkaufs- und Ausstellungslokal. Die CKUS hat ihre Büros in den ehemaligen Wohnräumen auf den Geschossen zwei und drei eingerichtet. Die beiden darüber liegenden Stockwerke sind Mietwohnungen.



(1) Gebäude der Zentralverwaltung der CKUS, Ecke Zentralstrasse 18, Morgartenstrasse 19, Luzern. © Zentralplus. Bild: Stadtarchiv Luzern. Fotograf: F. Rindlisbacher, Buttisholz, 1985.

Gebäude der Zentralverwaltung der CKUS, Ecke Zentralstrasse 18, Morgartenstrasse 19, Luzern. © Zentralplus. Bild: Stadtarchiv Luzern. Fotograf: F. Rindlisbacher, Buttisholz, 1985.

 

 

 

Montag, 3. Dezember 1962
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9.  CKUS - Der Beginn

Montag, 3. Dezember 1962

An diesem Montagmorgen, ich bin noch nicht 20-jährig, melde ich mich am Empfangsschalter auf der zweiten Etage. Der Patron, Herr Zentralverwalter Abel Froidevaux, begrüsst mich in seinem Chefbüro auf Schweizerdeutsch mit deutlich welschem Akzent.

Die Vorstellungsrunde ist kurz. Ich würde in einem Team von Aushilfsangestellten zur Erfassung von Massendaten für den Jahresabschluss arbeiten. Mein Monatslohn betrage 650 Franken und das Arbeitsverhältnis ende mit Beginn der Rekrutenschule Mitte Februar 1963.

Drei Monate Fliessbandarbeit
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9.  CKUS - Der Beginn

Drei Monate Fliessbandarbeit

Nach dem Vorstellungsgespräch holt mich Herr Grüter ab, ein übergrosser hagerer Mann, der bei den Türen den Kopf einziehen muss. Er führt mich an meinen Arbeitsplatz, einen saalartigen Raum, in dem sechs bis acht mechanische Rechner stehen. Drei oder vier Leute hantieren an diesen Maschinen, die einen Höllenlärm verursachen.



(1) Mechanischer Rechner der Marke Burroughs mit drei Zählwerken. Maschinen ungefähr dieser Art stehen an meinem ersten Arbeitsplatz bei der CKUS. © www.pinterest.co.kr

Mechanischer Rechner der Marke Burroughs mit drei Zählwerken. Maschinen ungefähr dieser Art stehen an meinem ersten Arbeitsplatz bei der CKUS. © www.pinterest.co.kr


In die Arbeit eingeführt werde ich durch eine vor der Maschine sitzende, etwa sechzigjährige Frau, die mich an eine Bauersfrau erinnert. Ich vernehme, dass sie als zuverlässige und exakte Arbeitskraft regelmässig mit diesen Aushilfsarbeiten betraut ist und die Aufsichtsfunktion wahrnimmt. Sie hat ein wachsames Auge auf mich und die beiden zu uns stossenden Jungen in meinem Alter. Mit der Zeit kommen weitere Aushilfskräfte dazu, sodass alle bereitstehenden Maschinen besetzt sind. Als Springer arbeitet ein etwas beleibter Mann in der Gruppe, der sonst in einer anderen Abteilung fest angestellt ist. Ich schätze sein Alter auf etwa fünfzig. Immer am Montag erzählt er mit einem Lächeln im Gesicht, was ihm seine Mutter am Wochenende auf den Tisch gezaubert hat.

Grüter ist verantwortlich für den Arbeitsablauf. Jeden Morgen fährt er mit seinem Wägelchen zu den Abteilungen und holt dort die in dunkelgrünem Leineneinband gefassten Sektionsbücher ab. Er deponiert sie zur Bearbeitung neben der Türe in unserem Grossraumbüro. Die dicken Bände enthalten die Mitgliederkarteien, alphabetisch und in unterschiedlichen Farben, gegebenenfalls nach Familie eingeordnet. Gelb für Männer, Grün für Frauen und Rosa für Kinder. Auf der Vorderseite jeder Mitgliederkarte ist handschriftlich die Zahl der jährlich bezahlten Monatsbeiträge eingetragen. Daneben in roter Farbe jene der am Jahresende noch offenen Monate. Eine der Aufgaben unserer Gruppe ist es, auf den mechanischen Rechnern das Total der bezahlten und nicht bezahlten Beitragsmonate nach den drei Mitgliederkategorien zu ermitteln. Dank der drei Zählwerke ist das in einem Arbeitsgang möglich. Allerdings wird unsere Intelligenz bei dieser Tätigkeit nicht stark gefordert. Die Eingabe der Zahlenreihen beherrschen wir bald im zeitsparenden Blindverfahren. Das verführt uns Jungspunde gelegentlich dazu, die monotone Fliessbandarbeit mit Witzen und kleinen Streichen auflockern.

Für die Auslösung der Eingabetaste am rechten Rand des Rechners reicht unsere Fingerkraft nicht. Ich betätige die Taste abwechselnd mit dem Ballen oder dem Rücken der Hand. Nach Tagen beginnt meine Hand zu schmerzen und es zeigen sich Schwellungen. Deshalb muss ich mir eine erleichterte Arbeitsmethode einfallen lassen. Herr Grüter macht grosse Augen, als er sieht, wie wir Jungen eines Morgens die Zahleneingabe mit einem Pedaltritt betätigen. Ich besorge mir eine Kordel, deren Länge von der Maschine bis zum Boden reicht. Das eine Ende befestigte ich an der Eingabetaste, das andere binde ich um meinen rechten Schuh. So ist es nun der Fuss, der in wippender Pedalbewegung die längsseitig an der Maschine angebrachte Taste des Druckmechanismus betätigt. Diese händeschonende Erfindung entspricht allerdings nicht dem Gusto der älteren Semester in unserer Gruppe. Er findet dort keinen Anklang.

Unsere Arbeitsergebnisse werden auf den durch die Maschine fliessenden Papierrollen aufgezeichnet. Sobald ein Sektionsbuch bearbeitet ist, trennen wir den Papierstreifen von der Rolle. Das Endergebnis unserer Rechnerei steht auf dem gefalteten und mit dem Namen der Sektion beschrifteten Zettel, den wir hinter den Deckeleinband des Buches klemmen.

Zur Aufgabe gehört nebst der Ermittlung der bezahlten Beitragsmonate auch die Erfassung von Rückständen und Vorauszahlungen. Hie und da frage ich mich, mit welchem Zweck wir diese Zahlenreihen auflisten. Grüter ist einsilbig und murmelt etwas von Jahresabschluss. Für mich ist diese Auskunft einigermassen suspekt. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere nicht kontrollierte Fliessbandarbeit fehlerlose Soll- und Habenergebnisse liefern. Erst später erfasse ich die Zusammenhänge. Die Krankenkassen erhalten zu jener Zeit unterschiedliche Kopfbeiträge für Männer, Frauen und Kinder. Diese werden anhand der Beitragsmonate ermittelt. Unserer Zählmethode bildet Grundlage für die offizielle Eingabe an den Bund. Jährlich prüft ein Revisor an Ort und Stelle stichprobenweise die ermittelten Zahlen. Mir ist nie zu Ohren gekommen, dass unsere Erfassungsarbeit zu Beanstandungen geführt hätte. Es bleibt offen, ob das auf die Qualität der Stichproben oder auf jene unserer Fliessbandarbeit zurückzuführen war.

Der eisige Winter 1962/63
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9.  CKUS - Der Beginn

Der eisige Winter 1962/63

1962/63 erlebe ich den kältesten Winter des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Mittellandseen sind zugefroren, in unserer Region der Sempacher-, Baldegger- und Sarnersee. Im Februar bilden sich auch tragfähige Eisflächen über dem gesamten Zürich- und dem Bodensee. Es ist die Zeit der Seegfrörni, die bis in den März hinein andauert. Die Seen werden zu Tummelfeldern für Schlittschuhläufer und Fussgänger. Ich lese von Seeüberquerungen mit allen möglichen Gefährten, und auf den Eisflächen finden eigentliche Volksfeste statt.

 

Der wegweisende Zwischenfall
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9.  CKUS - Der Beginn

Der wegweisende Zwischenfall

Es ist die Zeit, in der ich bei Margrit und Walti wohne. Eines Sonntags fragen mich die beiden, ob ich mit nach Beckenried fahren wolle. Walti gehe zum Skifahren auf die Klewenalp und ich könne mit Margrit einen Rundgang im Schnee machen. Ich besitze weder Skis noch kann ich Skifahren. Das war in meiner Schulzeit hie und da vom Hubel hinab Richtung Seesatz möglich gewesen, mit Holzskiern, die im Friedheim herumstanden. Aber diese Skier beherrsche ich unmöglich, allein deshalb, weil sie für mich viel zu lang sind.

Zu dritt fahren wir im schnittigen hellblauen Karmann Ghia zeitig los, dem Lopper entlang nach Stansstad und weiter nach Stans. Walti ist am Steuer, Margrit sitzt auf dem Beifahrersitz. Ich klemme mich hinten auf den Notsitz im engen Sportwagen.

Ausgangs Stans gibt Walti Gas und das Auto beginnt auf der mit Glatteis bedeckten Strasse zu schleudern. Unsere Fahrt endet nach Durchbrechen des Zauns kurz vor dem Baum im Garten eines Einfamilienhauses. Walti hält sich am Steuer fest. Margrit wird gegen die Frontscheibe geschleudert und ich pralle kopfvoran gegen die Dachfront. Sofort eilt Hilfe herbei, und auf der gegenüberliegenden Strassenseite befindet sich gar die Arztpraxis, in der wir erstversorgt werden. Margrit erleidet im Gesicht und im Kieferbereich schwere Verletzungen. Diese müssen später im Spital operativ behandelt werden. Walti hat Prellungen im Brustbereich, ist sonst aber unverletzt. Ich komme mit einer Schramme an der Stirne davon, die im Spital Stans genäht wird.

Kann ich jetzt der Armee entwischen?
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9.  CKUS - Der Beginn

Kann ich jetzt der Armee entwischen?

Am Montag bin ich wieder an der Arbeit. Jetzt dreht sich in mir das Rädchen im Kopf. Kann mir dieser Autounfall nutzen, um die Armee von mir fernzuhalten? Natürlich ist das eine weltfremde Idee, denn wegen einer Schramme am Kopf wird auch der grösste Optimist nicht für dienstuntauglich erklärt. Bei meinem Arztbesuch spreche ich das Thema Rekrutenschule an. Der Doktor stellt mir ein Arztzeugnis aus, und mein RS-Aufgebot wird von der eisigen Winterzeit in den Sommer verlegt. Ich erhalte fünf Monate Gnadenfrist, immerhin!

Mein Aushilfsjob wird verlängert
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9.  CKUS - Der Beginn

Mein Aushilfsjob wird verlängert

Für die Erfassung der Zahlen zum Jahresabschluss herrscht im Februar Hochbetrieb. Herr Grüter ist froh, dass ich nicht in die RS einrücken muss und noch etwas länger im Team bleibe. Zwischendurch werde ich auch in der Buchhaltung zur Erfassung von Daten gebraucht.

Die CKUS legt mir monetäre Fesseln an
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9.1.  CKUS - Der Beginn – Die CKUS legt mir monetäre Fesseln an.

Im März halte ich es an der Zeit zu klären, wie es mit mir weitergeht. Dabei bedrückt mich der Gedanke, wie ich die vier Monate Rekrutenschule finanziell überstehe. Immerhin, Kost, Logis und Kleidung stellt das Militär zur Verfügung. Die Uniform legitimiert Soldaten und Rekruten zum kostenlosen Reisen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Und für die Kranken- und Unfallversicherung ist das Militär zuständig. Der Sold beträgt zwei Franken pro Tag. Dazu kommt die Vergütung der Erwerbsersatzordnung in gleicher Höhe. Das ergibt zusammen vier Franken Einkommen pro Tag. Mit diesem Geld kann ich das Zimmer während der RS nicht bezahlen. Und auch sonst werde ich mir keine grossen Sprünge erlauben können.

Die Atmosphäre bei der CKUS gefällt mir. Ich arbeite mit jungen Leuten in meinem Alter zusammen, mit erfahrenen Fachpersonen und mit Menschen unterschiedlicher sozialer und sprachlicher Herkunft. Mein Arbeitgeber erschliesst mir Möglichkeiten des beruflichen Fortkommens, und es herrscht ein familiärer Zusammenhalt.

Ich muss klären, ob es für mich bei der CKUS nach der RS eine interessante Stelle gibt. Vielleicht kann ich auch etwas Lohn für die Dauer der vier Monate Militärdienst aushandeln, obwohl das Personalreglement für Rekruten keine Lohnzahlung erlaubt. Für alle Personalangelegenheiten ist der Zentralverwalter Abel Froidevaux zuständig. Sparsamkeit ist die ihm vorgegebene Devise. Und ich weiss, dass er ein autoritär daherkommender und cholerischer Chef sein kann. Wir hören das auch bei geschlossener Bürotür, als ich in der Buchhaltung auf dieser Chefetage arbeite. Das bringt mich in eine denkbar schlechte Verhandlungsposition. Mit klopfendem Herzen stehe ich vor seinem Büro, bis das grüne Licht erscheint, das mir den Eintritt in seinen grossen Arbeitsraum mit Besprechungstisch erlaubt.

Das Ergebnis des Gesprächs ist ernüchternd. Bei der Abteilung Kollektivversicherung sei ab sofort ein Job frei. Lohn bezahle mir die CKUS während der RS keinen. Falls ich mich aber für drei Jahre verpflichte, könne ich nach dem Militärdienst wieder an denselben Arbeitsplatz zurückkehren. Zudem offeriere er mir einmalig 1'200 Franken als Lohnnachzahlung, zahlbar nach Ablauf der drei Jahre. Das entspricht für die RS-Zeit etwa der Hälfte meines Aushilfslohnes, natürlich abgerundet.

Ich bin in der Klemme. Ein gesicherter Job nach der RS und die über tausend Franken sind verlockend. Ohne zu wissen, welche Aufgaben und welches Umfeld mich in der neuen Arbeitsstelle erwarten, gehe ich auf das Angebot ein.

Engelbert Lammer - mein neuer Chef
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9.2.  CKUS - Der Beginn – Engelbert Lammer - mein neuer Chef.

Am 1. April 1963, 20-jährig, starte ich als Mitarbeiter bei Engelbert Lammer, meinem neuen Chef. Bei der CKUS wird gemunkelt, er sei eine eigenwillige Persönlichkeit mit eigenartigen Arbeits- und Verhaltensmustern. Zu den Aufgaben, die mich erwarten, erhalte ich schemenhafte Informationen, ohne sie einordnen zu können. Und ich mache mir dazu auch nicht gross Gedanken. Schon gar nicht zu meiner Zukunft, für die ich weder greifbare Vorstellungen noch irgendeinen Plan habe. Bezugspersonen, mit denen ich über die Zukunft sprechen könnte, habe ich nicht und suche auch nicht danach.

Eine Person, die polarisiert
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9.2.  CKUS - Der Beginn – Engelbert Lammer - mein neuer Chef.

Eine Person, die polarisiert

Mit Blick auf das damalige Arbeitsumfeld, ist es nicht verwunderlich, dass Engelbert Lammer für seine Vorgesetzten und Kollegen eine polarisierende Persönlichkeit ist. Denn bei der CKUS herrscht eine verstaubte Beamtenmentalität. Sie ist geprägt durch Personen im obersten Milizführungsorgan (Zentralausschuss), die bei Bund oder Kanton im soliden Beamtenstatus wichtige Funktionen innehaben. Für sie gelten die Beamtenregeln der öffentlichen Hand als Richtschnur für alle wichtigen Entscheide. So gibt es bei der CKUS zum Beispiel hochoffiziell drei Kategorien von Arbeitskräften:

  • Aushilfen und provisorisch Angestellte
    sind Mitarbeitende bis zum Ablauf der ordentlichen Probezeit von mindestens drei Monaten.
  • Angestellte
    werden nach erfolgreichem Abschluss der Probezeit durch den Zentralverwalter ernannt. Nach fünf Jahren Dienstzeit, frühestens ab dem 25. Altersjahr, kann die Aufnahme in die Personalfürsorgestiftung, die Pensionskasse erfolgen. Der Entscheid darüber liegt beim Stiftungsrat, zusammengesetzt aus Arbeitgebervertretern.
  • Beamter
    wird man in den obersten Führungspositionen. Für Beamte gilt ein Lohnregulativ nach dem Muster des Kantons Luzern. Sie haben Anspruch auf Aufnahme in die Pensionskasse und mehr Ferien. Im Beamtenstatus gibt es allerdings praktisch keine weiblichen Arbeitskräfte.

Obwohl er den Status eines Beamten innehat, ist Engelbert Lammer alles andere als ein Beamter. Er wirbelt die CKUS und sein Umfeld mit neuen Ideen auf. Er ist aktiv und ein erfolgreicher Verkäufer. Er ist unkonventionell und schwer führbar. Die Facetten seiner markanten Persönlichkeit werde ich in den nächsten zwanzig Jahren in allen ihren Ausprägungen hautnah erleben. Und ich selbst werde mich als Jungspund auch bald einmischen und mich dafür engagieren, dass bei der CKUS beamtenhafte, verkrustete Strukturen und Denkweisen durch zeitgemässe Regeln abgelöst werden.

 

Die Abteilung
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9.2.  CKUS - Der Beginn – Engelbert Lammer - mein neuer Chef.

Die Abteilung

Engelbert Lammer, um die Vierzig, leitet die Abteilung Kollektivversicherungen. Ich vernehme später, dass er 1947 als 26-jähriger bei der CKUS eingetreten ist und seine Funktion ein paar Jahre vor meinem Stellenantritt übernommen hat. Er hat das Gymnasium der Stiftsschule Einsiedeln besucht, offenbar mit dem Ziel, Theologe zu werden. Später lerne ich seine Familie kennen, darunter seine kleine Tochter Rita. Wir beiden werden uns in den 2000er Jahren wieder begegnen. Sie als Wiedereinsteigerin ins Berufsleben, heisst nun Rita Helbling und ist Assistentin des Finanzchefs der CSS.

Die Abteilung von Lammer ist ein eigentlicher Gemischtwarenladen, in der praktisch alle Aufgaben mit Aussenbeziehungen zusammenlaufen. Kollektivversicherungen, Propaganda und Werbung, Drucksachen sowie die Betreuung von Einzel-, Kollektiv- und Auslandversicherten, die nicht einer Sektion angeschlossenen sind.

Von Lammers selbstbewusster Sekretärin werde ich in die Arbeit und in die Gepflogenheiten der Abteilung eingeführt.

Mein Arbeitsplatz
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9.2.  CKUS - Der Beginn – Engelbert Lammer - mein neuer Chef.

Mein Arbeitsplatz

Das Büro der Abteilung ist im vor Kurzem in Büroräume umfunktionierten vierten Stock des Gebäudes der Zentralverwaltung eingerichtet. Aus den ehemaligen Wohnräumen sind mit einfachsten Mitteln Arbeitsplätze entstanden. Der Grundriss unseres Arbeitsraums ist identisch mit jenem des Wohn- und Schlafzimmers der 4-Zimmerwohnung an der Seite Morgartenstrasse 19. Die Wand zwischen den beiden Wohnräumen ist entfernt. Parkett, Korridor, Türen und Fenster sind in der ursprünglichen Form erhalten. Küche und Bad dienen als Stauraum, und die grosszügigen Wandschränke in den Korridoren werden zur Ablage genutzt. Im sechzig bis siebzig Quadratmeter grossen Büro sind zwei Arbeitszonen mit einfachen Holzpulten und Tischen als Ablageflächen eingerichtet. Linker Hand arbeiten die deutsch-, rechts die französischsprachigen Mitarbeiter. In der Mitte des Raumes befinden sich zwei Arbeitsplätze als Reserve. Jener gegen das Balkonfenster wird mir als mein Arbeitsplatz zugewiesen. Ich kann nicht ahnen, dass das für die nächsten Jahre so bleiben wird.




(1) Gedächtnisskizze des Büroraums der Abteilung Kollektivversicherungen im 4. Stock der Zentralverwaltung, Seite Morgartenstrasse.
Gedächtnisskizze des Büroraums der Abteilung Kollektivversicherungen im 4. Stock der Zentralverwaltung, Seite Morgartenstrasse.


Engelbert Lammer hat von seinem Chefpult aus den Überblick über die Abteilung. Angelika Rupp ist als Sekretärin seine rechte Hand. Ich schätze sie gegen dreissig. Sie gibt sich selbstbewusst und ist eine fröhliche Natur. Nebst den Schreibarbeiten für die Kollektivversicherung erledigt sie Arbeiten aus den Bereichen Propaganda und Drucksachen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes arbeiten die beiden für die Romandie zuständigen Leute.

Meine ersten Gehversuche
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9.2.  CKUS - Der Beginn – Engelbert Lammer - mein neuer Chef.

Meine ersten Gehversuche

Mein Einsatzgebiet beschränkt sich auf den Bereich Kollektivversicherung. Ich bin Gehilfe für einfache Dinge, schreibe Offerten, Verträge und Korrespondenzen nach Vorlage oder Diktat. Diese nehme ich am Pult von Engelbert Lammer stenografisch auf. Für komplexe Geschäfte bleibt die Chefsekretärin zuständig. Lammer ist oft im Aussendienst, kommt aber regelmässig auch spät nachts noch ins Büro, um die während des Tages bearbeiteten Dokumente zu unterschreiben. Praktisch dauert meine Einarbeitungszeit von April bis Juli 1963, dem Beginn der Rekrutenschule. Das mit Abel Froidevaux getroffene Übereinkommen stellt sicher, dass ich nach Ende der 17-wöchigen RS ab Mitte November wieder an meinen Arbeitsplatz zurückkehren werde.

Das Militär
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10.  Das Militär

Wie jeder Schweizer Bürger, der nicht schwerwiegende gesundheitliche Handicaps hat, kann auch ich mich vor dem Militärdienst nicht drücken. Zivildienst kennt die Schweiz in dieser Periode des Kalten Krieges keinen. Wer den Militärdienst verweigert, landet im Gefängnis. Mitte der 1960er Jahre hat die Schweiz bei 5,5 Mio. Einwohnern rund 800‘000 Armeeangehörige. Sogar Männer mit leichten physischen oder psychischen Behinderungen werden zum Hilfsdienst, den HD-Soldaten eingezogen. Dementsprechend ist ihr Ansehen. Der in jenen Jahren entstandene und in Stadt und Land erfolgreiche Film HD Soldat Läppli von und mit dem legendären Alfred Rasser ist dafür treffende Karikatur.

Meine Haltung zum Militär neigt nicht nur wegen der fehlenden sozialen Absicherung ins Negative. Unter uns Jungen hat Militärdienstleisten generell ein angeschlagenes Image. Dieses ist geprägt von Geschichten über autoritäre Machtausübung und militärischem Leerlauf.

 

Meine Rolle im Militär
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10.1.  Das Militär – Meine Rolle im Militär.

Neugier fürs Militär lässt sich in mir nicht wecken. Ich gehe dorthin mit der Devise, weder auf- noch abzufallen. Ich will mich als einer unter vielen durch Drill und Kommandos durchschleichen.

Mein schlaues Büchlein der Armee erinnert mich daran, dass ich von 1963 bis 1993 mit insgesamt 339 Tagen fast ein Jahr lang bei den Truppen war. Das ist die minimale Dauer, die jeder Soldat meiner Generation bei voll absolvierter Dienstzeit im Militär verbringt. Trotzdem kann ich mich weder mit einem Dienstabzeichen für besonderes Geschick im Umgang mit Waffen oder Geräten schmücken, noch zeige ich die zur Beförderung zum Gefreiten nötigen Kompetenzen. Aber ich werde auch nie mit einem Verweis oder gar mit leichtem oder scharfem Arrest bestraft. Das beweist mir, dass ich meiner Strategie passabel gefolgt bin.

Die Rekrutenschule
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10.2.  Das Militär – Die Rekrutenschule.

Vom 22. Juli bis 16. November 1963 absolviere ich die Rekrutenschule als Funkerpionier der Übermittlungstruppen in der Kaserne Bülach, zusammen mit etwa zweihundert anderen Gleichaltrigen aus der ganzen Schweiz. Die Unterkunft ist eine Art Barackenlager mit je einem Gebäudekomplex für jede der drei Kompanien mit einem Bestand von jeweils 60 Mann.




(1) Sommer-RS 1963. Ich bin in der Kolonne ganz links, dritter von hinten. Der Zug hat vier Gruppen, die jede von einem Korporal (vorne) geführt werden.

Sommer-RS 1963. Ich bin in der Kolonne ganz links, dritter von hinten. Der Zug hat vier Gruppen, die jede von einem Korporal (vorne) geführt werden.

 

Die Silbergrauen
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10.3.  Das Militär – Die Silbergrauen.

Als Rekrut und Soldat der Übermittlungstruppen, den Silbergrauen, bin ich Teil einer Truppengattung, die sich mit Stolz als fachliche Elitetruppe versteht. Viele Rekruten absolvieren anspruchsvolle Ausbildungen oder Studien in technischen Berufen. Bis vor meinem Jahrgang ist sogar ein militärischer Vorkurs Voraussetzung für die Einteilung bei den Funkern. Ich hatte Glück oder war wieder einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort, dass ich als Nachzügler in der Aushebung als Schreibmaschinensoldat zum Auffüllen des Kontingents in dieser Truppe landete.



(1) Kragenspiegel der Übermittlungstruppen (1963). Erkennungsmarke, im Volksmund Grabstein genannt.

Kragenspiegel der Übermittlungstruppen (1963). Erkennungsmarke, im Volksmund Grabstein genannt.


Jede Funkstation wird von einer sechs Mann starken Gruppe betrieben, der ein Korporal als Gruppenführer vorsteht. Für Betrieb und Führen der Fahrzeuge sind Pioniermotorfahrer (Pi.Mot.) verantwortlich, die dafür eine Zusatzausbildung benötigen. Vier Gruppen bilden einen Zug, vier Züge eine Kompanie. Die Funkerkompanie 8 (Fk.Kp), der ich nach der RS zugeteilt werde, ist die Übermittlungseinheit der Felddivision 8.

Die Fachausbildung
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10.4.  Das Militär – Die Fachausbildung .

Nebst der militärischen Grundschulung bildet die Fachausbildung das Kernelement der RS. Laut meinem schlauen Büchlein werde ich auf die Systeme KFF, SE 222, SE 400 und SE 407 ausgebildet (SE = Sender-Empfänger). Die Fachausbildung erfolgt im Theoriesaal oder in Form von Übungen mit den Funksystemen auf der Allmend Bülach oder in der nahen Umgebung. Im letzten Drittel der RS geht die ganze Kompanie in die Verlegung mit Einsätzen im Gelände.

Der Kommandofunk
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10.4.  Das Militär – Die Fachausbildung .

Der Kommandofunk

KFF ist der Krypto-Funk-Fernschreiber, der bei der Armee seit Anfang der 1960er Jahre als Kommandofunk im Einsatz steht. Die zu übermittelnden Texte werden mit einem Fernschreibgerät, ähnlich einer Schreibmaschine erfasst, auf dem angeschlossenen Chiffriergerät verschlüsselt und via die Kurzwellenstation SE 222 per Funk übermittelt. Die im Netz verbundenen Empfänger erhalten die Nachrichten auf einer ablaufenden Rolle mit Papierstreifen. Dazu müssen die Geräte korrekt synchronisiert und mit dem richtigen Chiffriercode eingestellt sein. Die mobile Funkstation ist in zwei VW-Bussen eingebaut, der eine mit den Gerätschaften für den Funk und der andere mit dem Material für den Fernbetrieb und die Mannschaft. Fernbetrieb heisst, dass Fernschreiber und Station an zwei mit einer Drahtleitung verbundenen unabhängigen Standorten betrieben werden.

Die Speisung der Station erfolgt via öffentliches Stromnetz oder mit einem benzinbetriebenen Aggregat zur Stromherstellung.


(1) SE 222 mit Funkfernschreiber und Chiffriergerät. SE 222 VW-Bus herausgezogenem Benzinaggregat.

SE 222 mit Funkfernschreiber und Chiffriergerät. SE 222 VW-Bus herausgezogenem Benzinaggregat.


Im mobilen Betrieb erfolgt die Übermittlung mit der auf dem VW-Bus montierten Rutenantenne via Bodenwellen. Wird die Funkstation stationär betrieben, werden die Signale über die Mast- oder die Dipolantenne via Raumwellen gesendet. Diese kann am Mast oder an frei stehenden Dächern befestigt werden. Die Reichweite der Übermittlung via Bodenwellen hängt stark von der Geländebeschaffenheit ab. Über Raumwellen jedoch werden grosse bis sehr grosse Distanzen überbrückt.

Das Zusammenstecken, Hochziehen und Abspannen der 13 Meter hohen Mastantenne erfordert den Einsatz der ganzen Mannschaft.

 

 

(2) Links: Vorbereiten des Antennenbaus (ich bin hinten, ohne Mütze). Rechts: Mastantenne mit Dipol (abgespannte Dipolantennendrähte unter der Mastspitze). Skizze aus der Kurzbeschreibung und Bedienungsanleitung "Die Funkstation SE 222/m". Schweizer Armee, 58.124.d.

Links: Vorbereiten des Antennenbaus (ich bin hinten, ohne Mütze). Rechts: Mastantenne mit Dipol (abgespannte Dipolantennendrähte unter der Mastspitze). Skizze aus der Kurzbeschreibung und Bedienungsanleitung "Die Funkstation SE 222/m". Schweizer Armee, 58.124.d.

 

Der Führungsfunk
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10.4.  Das Militär – Die Fachausbildung .

Der Führungsfunk

SE 400 ist die nach dem Krieg aus amerikanischen Beständen beschaffte Funkstation zur Übermittlung von Sprachnachrichten auf kurze Distanz. Diese Geräte werden nur noch sporadisch zu Übungszwecken eingesetzt.

SE 407 ist ab den 1960er Jahren ihr Nachfolgemodell für den Führungsfunk. Dieses wird bei mobilen Einheiten für die Übermittlung von Befehlen des Kommandanten eingesetzt. Die Funkstation ist in einem MOWAG eingebaut, kann im Orts- und Fernbetrieb und auch als Relaisstation betrieben werden.

Die Speisung erfolgt im Fahrmodus via Autobatterie, an den Standorten via Stromnetz oder mit einem benzinbetriebenen Aggregat.

Die Meldungen werden als Telegramme mit einem einfachen, aber raffinierten Codiersystem verschlüsselt und als Sprachnachrichten in Buchstabenreihen übermittelt.

Der Kommandant kann die Funkstation via Feldtelefonleitung auch im Fernbetrieb nutzen.


(1) Von links: Fahrzeug mit eingebautem Funksystem SE 400. Funksystgem SE 407, eingebaut in ein MOWAG Geländefahrzeug.Geländefahrzeug.

Von links: Fahrzeug mit eingebautem Funksystem SE 400. Funksystgem SE 407, eingebaut in ein MOWAG Geländefahrzeug.Geländefahrzeug.


Die drahtlose Übermittlung erfolgt via die auf dem Kommandofahrzeug montierte Ruten- oder mit einer mitgeführten, zusammensetzbaren Feldantenne. Damit sind je nach Gelände Reichweiten zwischen 15 und 30 Kilometern möglich, mit Relaisstationen von mehr als 100 Kilometern.

Auch das ist Nachrichtenübermittlung
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10.4.  Das Militär – Die Fachausbildung .

Auch das ist Nachrichtenübermittlung

Nicht in meinem schlauen Büchlein der Armee vermerkt ist, dass zur Fachausbildung anfänglich das Kennenlernen des Morsealphabets gehört. Denn jede der Funkstationen hat Morseflaggen an Bord, damit bei Ausfall des Funksystems Notrufe übermittelt werden können. Dazu ist allerdings gegenseitiger Sichtkontakt Voraussetzung.

Auch nicht erwähnt ist, dass ich in meinen späten Jahren der Militärdienstzeit noch mit der Brieftaube als militärischer Nachrichtenübermittlerin Erfahrung sammle. Am letzten zweiwöchigen Ergänzungskurs mit der Gz Uem Kp 11 (= Grenzübermittlungs-Kompanie) im Oktober 1986 in Brig bin ich als 43-Jähriger eine Woche in einer Gruppe der Brieftübeler eingeteilt und kann so an Kenntnissen schnuppern in dieser jahrhundertealten Form der Nachrichtenübermittlung.


(1) Links: Morsen mit Flaggen. © Pfadi Lachen. Rechts: Brieftaubenpatrouille auf der Simplonstrasse, Aktivdienst (1940). © Archäologie und Museum Baselland. Fotograf Theodor Strübin.

Links: Morsen mit Flaggen. © Pfadi Lachen. Rechts: Brieftaubenpatrouille auf der Simplonstrasse, Aktivdienst (1940). © Archäologie und Museum Baselland. Fotograf Theodor Strübin.


Die Bildaufnahme der Brieftaubenpatrouille stammt aus einer Generation vor mir. Aber ich erlebe im Wallis unsere Übungen mit den Brieftauben in genau dieser Form. Auch das Tenue der Soldaten und das gezeigte Material sind praktisch unverändert.

Im Reformprogramm Armee 95 wird dann der Brieftaubendienst abgerüstet. Die NZZ meldet sinngemäss, dass getreu dem neuen Motto schlank und schlagfertig ausgemistet werde. Man sei nach einer Kosten-Nutzen-Analyse zu dem Schluss gekommen, dass eine Weiterführung dieses kleinen, aber populären Dienstzweigs angesichts des Spardrucks nicht mehr zu verantworten sei. Die 30 000 diensttauglichen Tauben würden ausgemustert und die 266 im Vogelflug eingeteilten Milizsoldaten umgeschult. Kosteneinsparung pro Jahr rund 600 000 Franken zugunsten moderner elektronischer Übermittlungssysteme. Die daraufhin lancierte Volksinitiative für eine Schweizer Armee mit Tieren, die Brieftaubeninitiative, scheitert 1996 im Sammelstadium.




Die persönliche Ausrüstung
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10.5.  Das Militär – Die persönliche Ausrüstung .

Zur persönlichen Ausrüstung der Rekruten der Übermittlungstruppen gehört der Tornister, zu dem als Waffe ab Sommer-RS 1963 erstmals das Sturmgewehr 57 abgegeben wird. So sind wir Jungspunde am ersten Wiederholungskurs 1964 klar gekennzeichnete Exoten neben allen anderen noch mit dem Holzgewehr, dem Karabiner ausgerüsteten Soldaten. Ebenfalls als sonderbarer Soldat empfinde ich mich mit geschultertem Sturmgewehr und dem gepackten Tornister am Rücken, auf den der vorschriftsgemäss faltenfrei gerollte Kaput, der Militärmantel geschnallt ist.


(1) Von Links: Mein Tornister 1963 bis 1983 mit Teilinhalt. Rechts Karabiner 31 und Stgw. 57. © commons.wikimedia.

Von Links: Mein Tornister 1963 bis 1983 mit Teilinhalt. Rechts Karabiner 31 und Stgw. 57. © commons.wikimedia.

 

 




 

Die Schweiz in Uniform erleben
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10.6.  Das Militär – Die Schweiz in Uniform erleben .

Mein schlaues Büchlein erinnert mich daran, dass ich

  • in den insgesamt acht dreiwöchigen Wiederholungskursen (WK) 1964 bis 1971 Infrastruktur, Gewohnheiten und Landsleute der Dörfer und Gegenden von Le Landeron NE, Wasen i.E., Magden AG, Buochs NW, meinem Geburtsort, Eschenbach LU, Haegglingen AG, Wolhusen LU, Wohlen AG mit Verlegung nach Wiesen/Davos GR
  • und in den zwei dreiwöchigen Ergänzungskursen (EK) in Neudorf LU, Remigen AG und im zwei Wochen dauernden EK in Brig im Oberwallis

Orte, Dörfer und Regionen kennenlerne, die ich als nicht diensttuende Person in dieser Nähe kaum je gesehen hätte.

Bei Gefechtsübungen und Manövern ist der Zug- oder Gruppenführer dafür verantwortlich, für Mannschaft und Fahrzeuge gefechts- und funktechnisch geeignete Standorte zu finden. Es muss zudem eine Unterkunft in einem geschützten Raum vorhanden sein. Zu diesem Zweck sind Scheunen und Bauernküchen in abgelegenen Höfen von uns gern angesteuerte Orte. Die Regel ist, dass wir dafür als Uniformierte von der Bevölkerung grosszügig Unterstützung erhalten. So kommen wir in Kontakt mit unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen und Menschen, vor allem im Gewerbe und in der Landwirtschaft.

 

Ein Rückblick, der sich lohnt
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10.7.  Das Militär – Ein Rückblick, der sich lohnt.

Dieser Streifzug durch meine militärischen Erlebnisse und Erfahrungen zeigt, dass ich mich in meiner Dienstzeit mit vielfältigen und interessanten Aufgaben vertraut machen kann, die nur gemeinsam erfüllt werden können. Wie in meiner Berufslaufbahn gilt im Militär der Grundsatz Lernen durch Handeln. Ich werde in spannende Wissensgebiete eingeführt, die weit über meinen beruflichen Horizont hinausgehen. Ich komme mit Menschen und Führungsprinzipien in Kontakt, die meine Persönlichkeit beeinflussen. Im Rückblick kann ich den ebenfalls miterlebten militärischen Leerlauf mit einem Augenzwinkern als Klacks auf meinem Lebensweg ad acta legen.

Am 3. Dezember 1993, dreissig Jahre nach Ende der Rekrutenschule, werde ich nach meinem fünfzigsten Altersjahr aus der Wehrpflicht entlassen.
(1) Marschbefehl zur Entlassung aus der Wehrpflicht, 1993.

Marschbefehl zur Entlassung aus der Wehrpflicht, 1993.


Zum Zeitpunkt meiner Entlassung aus der Wehrpflicht bin ich als Fünfzigjähriger in meiner beruflichen Laufbahn vorangekommen. Es ist die Zeit, in der ich bei der bald hundertjährigen Krankenkasse mit inzwischen über einer Million Versicherten für den umfassendsten Strukturwandel ihrer Geschichte verantwortlich bin.

 

Der Froidevaux der Rekrutenschule
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10.7.  Das Militär – Ein Rückblick, der sich lohnt.

Der Froidevaux der Rekrutenschule

Mit Abel Froidevaux, dem Zentralverwalter und meinem obersten Chef hatte ich ein paar Wochen vor Beginn der Rekrutenschule über meine weitere Anstellung gesprochen.

In der 3. Kompanie der RS in Bülach sind die Welschen eingeteilt, die französisch und italienisch sprechenden Schweizer. An den dienstfreien Abenden haben die Rekruten der gesamten Schule auf dem Platz vor der Kaserne zum Hauptverlesen anzutreten. Hie und da höre ich beim Appell in französischer Sprache Rufe nach einem Pionier Froidevaux. Er hat die Schuhe wieder lausig geputzt und jetzt muss die ganze Kompanie auf den Ausgang warten. Es ist ein Name, der mir geläufig ist. Neugierig gehe nach Ende eines Appells auf diesen Dienstkameraden zu. Auf meine Frage, ich versuche es auf Französisch, ob ihm ein Herr Froidevaux aus Luzern bekannt sei, antwortete er auf Deutsch und mit trockenem Humor. Ja, den kenne ich. Es ist mein Vater. Ich bin der Pierre.

Aus dieser Begegnung wird eine jahrzehntelange Freundschaft. Im Militärdienst bilden wir beide ein schwer zu schlagendes Jassduo. Wir absolvieren alle acht Wiederholungskurse in derselben Einheit. Pierre kommt an den Freitagsstamm nach Luzern, auch in Zeiten, in denen er in Genf und Lausanne arbeitet. Später treffen wir uns dann als Familien. Infolge unserer mit zunehmendem Alter divergierenden Persönlichkeitsentwicklungen schlummert diese Freundschaft ab anfangs der 1990er Jahre ein.

 

Wo bin ich zuhause?
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11.  Wo bin ich zuhause?

Samstag, 16. November 1963. Ich werde aus der Rekrutenschule entlassen. Meine Siebensachen sind noch bei Walti und Margrit Schmid eingelagert in ihrem Haus im Untergütsch, wo ich nach meiner Rückkehr aus Frauenfeld eine provisorische Bleibe gefunden hatte. Aber jetzt brauche ich ein neues Zuhause.

Zu Walti kann oder will ich nicht mehr. Auch meine Kontakte zu den Schmids in Sempach habe ich abgebrochen. Mein Weg weg vom Friedheim begann damit, dass ich nicht an der Trauerzeremonie von Mutter Schmid dabei war.

Ich suche genauso keine Verbindung zu Buochs und den dort lebenden Verwandten. Von meinen Geschwistern habe ich seit dem Tod unseres Vaters im vergangenen August nichts mehr gehört. Ich weiss nicht, wo sie sind, und ich selbst suche den Kontakt nicht. Ich will mein eigenständiges Leben beginnen, die Vergangenheit hinter mir lassen.

Im Rückblick scheint mir, als wollte ich alles Bisherige ungeschehen machen, abstreifen wie eine Schlange ihre Haut. Über das Warum meines Verhaltens hatte ich mir Antworten zurecht gelegt. Den eigentlichen Grund für mein Abkapseln von der Vergangenheit würde ich aber nur durch eine professionelle Analyse meines Unterbewusstseins erfahren. Diese würde mir dann auch Klarheit darüber verschaffen, ob die in meiner Jugendzeit erlebten massiven sexuellen Übergriffe von Mutter Schmids Liebkind Walterli Grund dafür sein könnten. Sie würde mir aufzeigen, welche Schäden diese quälenden Handlungen in meiner Gefühlswelt für immer hinterlassen hatten.

In Luzern besorge ich mir den Stadtanzeiger, jenes Blatt mit dem umfassenden Angebot von Unterkünften in der Region. Ich entscheide mich für ein Zimmer bei einer Schlummermutter an der Ulmenstrasse. Einziehen kann ich dort sofort. Im Zimmer stehen ein Bett, ein Schrank und eine Kommode. Toilette und Bad kann ich mitbenutzen.

Sonnenklar ist, dass ich am Montag nach der RS wieder an meinem Arbeitsplatz sein werde.

Was ist aus dem Friedheim geworden?
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11.1.  Wo bin ich zuhause? – Was ist aus dem Friedheim geworden?.

Wenn ich mich jetzt an das Damals erinnere, frage ich mich, wie es in jener Zeit im Friedheim weiterging. Ich weiss, dass Sepp mit seiner Frau Maria nach dem Tod von Mutter Schmid den Hof bewirtschaftete.

Im Internet finde ich die Friedheim-Website. So erfahre ich, dass Othmar Schmid, ein Sohn von Sepp, zusammen mit seiner Ehepartnerin Simone die Liegenschaft als Pferde-Paradies betreibt. Schon als meine Gedanken zur Aufarbeitung meiner Lebensgeschichte zu reifen begannen, führte eine meiner Biketouren vorbei am Friedheim. Bei einem Zwischenhalt hatte ich mit Simone gesprochen und ihr von meiner Jugendzeit bei den Schmids erzählt.

Im Herbst 2019 nehme ich mit ihr wieder Kontakt auf und sage ihr, dass ich mich kundig machen wolle über jene Zeit. Spontan lädt sie mich zu einem Besuch ein, und ich werde von ihr und Othmar mit offenen Armen empfangen. Die beiden wollen mir bei meiner Spurensuche helfen. Othmar ist erstaunt, dass sein Vater nie etwas von mir erzählt hat. Ich kann den Grund dafür gut erklären. Ich selbst hatte nach meiner Lehrzeit nichts mehr von mir hören lassen und auch später keinen Kontakt zu meinem frühen Zuhause gesucht.


Der Hubel wird zum Goldenen Kalb
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11.1.  Wo bin ich zuhause? – Was ist aus dem Friedheim geworden?.

Der Hubel wird zum Goldenen Kalb

Von den beiden erfahre ich von der Knacknuss der Erbteilung nach dem Ableben von Sepps Mutter. Die Erbengemeinschaft einigt sich nach einem langwierigen Prozess darauf, Sepp, Othmars Vater, das Friedheim gegen eine Auszahlung von 150'000 Franken an jeden der direkten Erben zu übertragen. Bei insgesamt zwölf Erbbeteiligten ergibt das die erkleckliche Summe von 1,8 Millionen. Sepp muss das attraktive Hubelland zu Geld machen, um die Ansprüche seiner Geschwister abzugelten. Diesem Handel fällt wertvolles Kulturland zum Opfer, das zur existenzsichernden Bewirtschaftung des Hofes nötig wäre.

Sepp und Maria Schmid-Hüsler
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11.1.  Wo bin ich zuhause? – Was ist aus dem Friedheim geworden?.

Sepp und Maria Schmid-Hüsler

Bei meinem Auszug aus dem Friedheim ist Sepp mit seiner Braut Maria Hüsler in den Startlöchern für die Übernahme des Hofes. Die für September 1962 angesagte Hochzeit wird wegen des Todes von Mutter Schmid auf den November verschoben. Die beiden haben sieben Kinder, die in den 1960er- und 1970er Jahren geboren werden. Einer der Buben stirbt 2003 nach einem Unfall.

1981 kauft Sepp Schmid den 1978 erbauten Landwirtschaftsbetrieb Neuhof in Neudorf. Mit diesen beiden Betrieben kann er seine Leidenschaft für Viehzucht und Milchwirtschaft in vollen Zügen ausleben und für sich und seine Familie existenzsichernde Grundlagen schaffen. Und dort, wo früher im Friedheim der Schweinestall stand, entstehen moderne Landwohnungen und ein Alterssitz für die beiden.

Nach dem Tod von Sepp im Jahre 2001 bewirtschaften seine beiden Söhne Thomas und Othmar das Friedheim und den Neuhof in einer Zweckgemeinschaft. 2009 endet diese damit, dass Othmar als diplomierter Meisterlandwirt mit Handelsschule seine Geschwister auszahlt und beide Betriebe zusammen mit Simone übernimmt. Das Friedheim wird auf Pferdehaltung mit Zucht- und Pensionsstall spezialisiert, der Neuhof auf Viehhaltung zur Produktion von hochwertiger Milch zur Herstellung von Käse der Marke Sbrinz. Halt wieder der Sbrinz!

Aus den Gesprächen mit Othmar und Simone schliesse ich, dass sich die Nachkommen der grossen und ehemals stolzen Schmid-Dynastie nicht mehr viel zu sagen haben. Ich tippe darauf, dass die Wurzeln dieses familiären Auseinanderdriftens im Tanz um das Goldene Kalb wegen der 1963 erfolgten Erbteilung zu finden wären.

Im Friedheim ist Frieden eingekehrt
Seite 186
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11.2.  Wo bin ich zuhause? – Im Friedheim ist Frieden eingekehrt.

Bei meiner Spurensuche spüre ich, dass Simone und Othmar ihr Familienerbe unter Beachtung der in der Moderne geltenden Regeln der landwirtschaftlichen Betriebsführung erhalten wollen. Wie weit das in Sempach gelingen wird, ist mit Blick auf den anhaltenden Druck zur Einzonung des begehrten Baulands ungewiss. Ihre beiden jungen Töchter lieben den Umgang mit Pferden. Doch ist ihr Weg zur späteren Übernahme des Betriebs nicht vorgezeichnet. Alessia ist in Ausbildung als Schreinerin, Finja geht in die Sekundarschule und übt leidenschaftlich auf dem im Musikzimmer stehenden Schlagzeug.

Das Friedheim im Herbst 2019
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11.2.  Wo bin ich zuhause? – Im Friedheim ist Frieden eingekehrt.

Das Friedheim im Herbst 2019

Nach 57 Jahren bin ich erstmals wieder im Friedheim. Simone führt mich durch alle Räume. Ich staune. Nicht nur die Grundrisse sind so, wie ich sie in Erinnerung habe, auch viele Räume sind seit meiner Bubenzeit dank sanfter Renovierung unverändert. Der hintere Eingangsbereich ist vollständig erneuert. Der Schopf ist weg. Im Hochparterre sind Küche, Wohn- und Schlafzimmer modernisiert. Sanitäranlagen und elektrische Installationen sind überall erneuert und eine Zentralheizung ist vorhanden. Die Zimmer im oberen Stock, in denen ich als Bub geschlafen hatte, erkenne ich. Die alten Parkette und Täfer sind erhalten und aufgefrischt. Auch Schränke und Kommoden stehen noch hier. Wir steigen die Treppe zum Estrich hoch zur Kammer von Maria. Sie ist kaum verändert. Der Dachboden kann noch jetzt durch eine Türe mit Scharnieren nach unten verschlossen werden und die alten Korbflaschen mit dem Schnaps aus den 1960er Jahren stehen noch herum.



(1) Das Friedheim hat seit 1917 viele Stürme erlebt. Links: Das Friedheim im Abendlicht von der Strassenseite aus gesehen (November 2019). Rechts: Veranda mit Haupteingang. Über der Türe ist das Baujahr 1917 eingeschnitzt.

Das Friedheim hat seit 1917 viele Stürme erlebt. Links: Das Friedheim im Abendlicht von der Strassenseite aus gesehen (November 2019). Rechts: Veranda mit Haupteingang. Über der Türe ist das Baujahr 1917 eingeschnitzt.

 




Die Pferde
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11.2.  Wo bin ich zuhause? – Im Friedheim ist Frieden eingekehrt.

Die Pferde

Simone zeigt mir die für Pferde modern eingerichteten Gebäude mit Einzelboxen und Bewegungsstall. Mehr als 30 Rösser sind in sauberen und hellen Stallungen mit individueller Futterzusammenstellung in Pension. Und es stehen ihnen grosszügige Auslaufflächen und viel Weideland zur Verfügung.



(1) Pferdepension Friedheim Sempach. Foto aus der Fotogalerie der Website des Betriebs (November 2019).

Pferdepension Friedheim Sempach. Foto aus der Fotogalerie der Website des Betriebs (November 2019).


Simone und ich wollen uns eine Woche später im Pfarrhaus wieder treffen. Anhand der Tauf- und Sterbebücher möchten wir Fragen klären, im Zusammenhang mit meiner und der Lebensgeschichte der Familien Schmid und Arnet. Am Tag vor dem abgemachten Termin erhalte ich von Simone eine Nachricht, in der sie mir mitteilt, dass sie einen Unfall hatte, weshalb sie im Kantonsspital liege. Sie bittet mich, alleine aufs Pfarramt zu gehen.

 

Simones folgenschwerer Unfall
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11.2.  Wo bin ich zuhause? – Im Friedheim ist Frieden eingekehrt.

Simones folgenschwerer Unfall

Ich will Simones Wunsch erfüllen, bin aber auch in Sorge über ihre Gesundheit und gehe sie ins Kantonsspital besuchen. Sie erzählt, wie sie von einem Pferd am rechten Arm getroffen worden sei. In der Ambulanz seien für die Infusion Ampullen mit Adrenalin statt mit schmerzstillenden Mitteln verwendet worden. Ihr sonst gut trainiertes Herz habe nur noch zu 38 Prozent funktioniert. Bis sie die volle Leistungsfähigkeit erreicht habe, benötige sie lange und aufbauende Therapien.

 

Mit meiner Schwester im Friedheim
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11.2.  Wo bin ich zuhause? – Im Friedheim ist Frieden eingekehrt.

Mit meiner Schwester im Friedheim

Als Simone wieder auf den Beinen ist, organisiere ich einen Besuch im Friedheim zusammen mit meiner Schwester Anna. Sie durfte als Mädchen im Austausch mit mir dort regelmässig ein oder zwei Wochen Ferien geniessen. Mir gelingt es, einige für meine Lebensgeschichte offene Fragen zu klären. Für Anna ist der Besuch mit dem Austausch von Geschichten und Erinnerungen aus ihrer frühen Jugend ein besonderes Erlebnis.

Meine späteren Begegnungen mit den Schmids
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11.3.  Wo bin ich zuhause? – Meine späteren Begegnungen mit den Schmids.

Mit einigen der Schmids gibt es bis in die 2000er Jahre einige zufällige oder zwangsläufige Kontakte. Ich nehme diese hin, ohne sie emotional einzuordnen in das in unterschiedlichen Lebensepochen gemeinsam Erlebte.

Vereinzelte berufliche Kontakte habe ich mit Elsy und Erwin Oetterli-Schmid, die in Sempach die Sektion der Christlichsozialen Krankenkasse führen. Ich arbeite zwar beim gleichen Arbeitgeber. Doch in meinem Bereich gibt es wenige Berührungspunkte mit Aussenstellen wie Sempach, die keine Kollektivversicherungen betreuen. Als Elsy und Erwin ihre Kassiertätigkeit anfangs der 1990er Jahre beenden, lasse ich es mir dennoch nicht nehmen, ihnen an der Generalversammlung der Ortssektion den Dank der Geschäftsleitung für ihr 30-jähriges Engagement zu überbringen, samt dem dafür vorgesehenen Goldvreneli.

Erwin stirbt 2010 im Alter von 83 Jahren. Zusammen mit meiner Schwester Anna bin ich an der Trauerfeier dabei. Ich will von meinem ehemals gestrengen Erzieher und einem im Alter sanfter gewordenen ehemaligen Arbeitskollegen Abschied nehmen. Meinen Platz in der Kirche finde ich ausgerechnet neben dem von uns Schülern überaus beliebten Lehrer Paul Hunger. Bei ihm durfte ich wegen seiner Militärdienstzeit nur wenige Wochen zur Schule gehen.

Ein paar Jahre wohnt Elsy noch in ihrem in den 1960er Jahren erbauten Haus. Sie erkrankt an Demenz und stirbt 2016 87-jährig nach kurzem Aufenthalt in einer Pflegeeinrichtung. Nach der Trauerfeier komme ich ins Gespräch mit den Oetterli-Kindern. Ich erinnere mich an Episoden in der Küche im Friedheim, als Elsy eine der Töchter auf meinen Schoss lupft. Als junger Bursche kann ich mit Guschtelis und Pferden umgehen, habe aber keine Ahnung, was ich mit dem kleinen Geschöpf anfangen soll.

Wir tauschen gemeinsame Erinnerungen aus und ich verspreche Ursula, gelegentlich auf einer meiner Biketouren bei ihr vorbeizuschauen.

Das mache ich noch im selben Frühling. Ursula Arnet-Oetterli und ihr Mann Franz wohnen naturnah in einem ehemaligen Bauernhaus im Weiler Gundolinge oberhalb von Rain. Im grossen Garten unter dem Schatten spendenden Pflümlibaum gibt es für uns genügend gemeinsamen Gesprächsstoff. Ursula und Franz Arnet sind als Lehrpersonen in Rain engagierte Persönlichkeiten. Uschis Tochter ging in den 1980er Jahren bei ihm zur Schule und hat mit Begeisterung von ihrer Schulzeit bei ihm erzählt.

Nur Monate später, im September 2016, stossen wir auf die Todesanzeige von Franz Arnet in der NLZ. Mit Betroffenheit vernehmen wir, dass er im Alter von erst 57 Jahren als Folge eines Risses der Aorta aus seinem blühenden Leben gerissen worden ist.

Ende August 2020 zeigt sich unser Hausberg in dicken Nebelwolken verhüllt. Kurzentschlossen entscheide ich mich, meine Biketour weg vom Pilatus in Richtung Sonnenhänge von Hildisrieden zu verlegen. Ich will dort via den Höhenweg weiter und zurück nach Horw radeln. Bei der Verzweigung in Rain sehe ich zwei Frauen im angeregten Gespräch. Ich glaube, in der beim Fahrrad stehenden Person mit Helm Ursula Arnet zu erkennen. Etwas abseits warte ich am Wegrand, bis die beiden ihren Schwatz beendet haben. Meine Wahrnehmung ist richtig. Ursula ist auf dem Weg nach Hause. Ich verzichte auf die Weiterfahrt Richtung Hildisrieden und begleitete sie nach Gundolinge. Wie vier Jahre zuvor sitzen wir in ihrem Garten unter dem Pflümlibaum. Ursula berichtet von der viel emotionale Kraft kostenden Zeit nach dem Tod ihres Partners Franz. Ich erfahre, wie sie seither mit Beruf und grossem Haus mit Garten ihr Leben meistert.

Viel mehr als ich pflegte Schwester Anna Beziehungen zu jenen Schmid-Kindern, mit denen sie bei ihren Ferienaufenthalten im Friedheim in Kontakt war. Ihr bleiben davon nur frohe Erinnerungen, weil sie das Geschehen als Ferienmädchen aus einer anderen Perspektive als ich erlebt hatte. Mit ihr fahre ich 1988 zur Trauerfeier von Bäckermeister Lüthy, dem Ehepartner von Anna Schmid nach Rain. Ich will Abschied nehmen von dem Mann mit dem gütigen Blick, von dem ich als Bub so viele Süssigkeiten geniessen durfte. Wir bleiben bei der Zeremonie im Hintergrund.

Erst wieder gegen Ende 2015 entschliessen wir uns, der schon betagten Anna Lüthy-Schmid in ihrem Haus in Rain einen Besuch abzustatten. Sie erzählt lebhaft aus ihrem jetzigen Alltag als alleinstehende Betagte, sie berichtet von ihrer Familie und kramt in Erinnerungen vom Friedheim. Mir wird dabei bewusst, dass Geschichtenerzählen auch von selektiver Wahrnehmung beeinflusst ist. Dieser Hinweis sei mir mit Blick auf meine eigene Lebensgeschichte gestattet.

Wenige Monate später stirbt Anna Lüthy. Meine Schwester und ich begegnen bei der Trauerfeier auch ihren Kindern. Diese haben keine Erinnerungen an mich als Bub, der bei ihrer Mutter am Küchentisch die vielen Stückli verschlang.

Mit Otti Schmid, der in Sandblatten bei Rain einen weitherum bekannten Garagenbetrieb besitzt, komme ich anfangs der 1990er Jahre in Kontakt. Uschi, meine Partnerin, erlebte Otto Schmid in ihrem früheren Leben als cleveren Geschäftsmann. Ich werde für kurze Zeit sein persönlicher Kunde, bis mir mein Arbeitgeber ein Geschäftsfahrzeug zur Verfügung stellt. Otti stirbt 2005 im Alter von erst 70 Jahren an Leukämie. Mit Uschi und meiner Schwester nehme ich an der Trauerzeremonie teil und begegne wieder einigen weiteren Schmid-Verwandten.

An der Hochzeit von Alois Schmid zu Beginn der 1960er Jahre war ich dabei. Später begegne ich ihm hie und da in der Stadt auf dem Weg von oder zur Arbeit und später im Fitnesscenter. Doch ich weiss nicht, ob er mich erkennt. Kontakte entstehen keine. Irgendwann vernehme ich, dass seine erste Ehe auseinandergegangen ist. Alois stirbt 2010 nach einer Krebserkrankung 78-jährig. Anna und ich nehmen von ihm am Vorabend der Beerdigung in der Kirche Bertiswil Abschied.

Mit Walti Schmid gibt es einige Zufallstreffen. Dabei vernehme ich von ihm, dass er sich im Streit von seiner Frau Margrit getrennt hat. Deswegen wechselt er seinen Lebensmittelpunkt je nach Jahreszeit zwischen Luzern und Kuba. Margrit stirbt 2009 im Alter von 69 Jahren nach längerem Aufenthalt in einem Pflegeheim.

Über Waltis letzte Lebensphase und seinen Aufenthalt ist die Schmid-Verwandtschaft im Ungewissen. Weil Walti Teil meiner Lebensgeschichte ist, will ich im Herbst 2019 herausfinden, ob er sich noch in der Region Luzern aufhält. Meine Recherchen führen mich zu seiner 1966 geborenen Tochter Conny. Dunkel erinnere ich mich an eine Begegnung mit ihr gegen Ende der 1980er Jahre als sie Kassierin an einer Tankstelle im Schönbühlquartier war. Dort sitzt eine junge Frau mit dem Namen Schmid. Ich bin neugierig und erkundige mich, ob sie mit den Schmids von Sempach etwas zu tun habe. Ja, sie sei die Tochter von Walter und im Untergütsch auf die Welt gekommen. Später sehe und höre ich nichts mehr von Conny.

Meine Telefonanrufe bei ihr im November 2019 via Festnetz bleiben unbeantwortet. Ich hinterlasse auf der Sprachbox meine Handynummer und schildere ihr mein Anliegen. Zwei Tage später, ausgerechnet während meines Besuchs im Friedheim, ruft mich Conny an. Simone Schmid und ich sind gerade daran zu rätseln, ob die Geschichten um Waltis Ableben zutreffen.

Conny berichtet, dass ihr Vater am 9. Dezember 2018 verstorben sei. Für sein Ableben habe er selbst alles vorbereitet gehabt. Am frühen Morgen seines Todestages habe sie einen Anruf vom Vater erhalten mit der Nachricht, dass er nun sterben werde. Nach ihrem Eintreffen in der Wohnung habe sie vom schon tot im Bett liegenden Papa Abschied genommen. Es sei sein Wille gewesen, dass nur eine Handvoll von ihm ausgesuchter Personen über sein Ableben informiert würde. Sie selbst sei seit Jahren behindert, lebe als IV-Rentnerin und sei auf fremde Hilfe angewiesen.

Als Letztes bleibt mir eine zufällige Begebenheit mit Walti im Schönbühlcenter in Luzern in Erinnerung. Ich ordne sie zeitlich in den Herbst des Jahres 2018 ein. Statt eines Gehwagens hält sich der eigenwillige Walter an einem rollenden Bürostuhl fest. Diesen schiebt er neben dem Einkaufswagen vor sich her. Zwischendurch setzt er sich vor den Auslagen auf den Stuhl hin, um sich in Ruhe mit den passenden Produkten einzudecken. Für mich bleibt es ein seltsames letztes Bild von Walti. Aber ich hatte weder die Courage noch das Bedürfnis, ihm bei dieser Begegnung näher zu kommen. Mein Fazit ist, dass ihn das Schicksal eingeholt hat.

Keinen Kontakt mehr gab es nach meinem Wegzug aus Sempach mit den anderen Schmid- Kindern, obwohl ich jedem und jeder von ihnen in meiner Sempach-Zeit kürzer oder länger nahe war.

Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

Curt Jauch nimmt als Freund in meinem Leben einen gewichtigen Platz ein. Wir vertrauen uns, ohne jeden unserer Schritte zu hinterfragen oder gar zu verstehen. Wenn einer den anderen braucht, sind wir füreinander da. Aber wir vereinbaren eine unüberschreitbare Grenze. Geld leihen wir einander nie.

So lernen wir uns kennen
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

So lernen wir uns kennen

Seit dem Besuch der Berufsschule in Luzern ist mir das Restaurant Du Nord an der Ecke Franken-/Morgartenstrasse ein Begriff. Anfangs Dezember 1963 trinke ich dort an der Theke ein Bier. Am anderen Ende der Bar sitzt ein junger Mann in meinem Alter und überfliegt wie ich eine der aufliegenden Zeitungen. Wir beide sind die einzigen Gäste an dem langen Schanktisch. Nach kurzer Zeit schaut er zu mir und meint, "zwei typische Schweizer. Jeder hockt für sich alleine da". Wir stellen uns vor und Curt betont, er schreibe seinen Vornamen mit C und nicht mit K. Schnell finden wir Gemeinsamkeiten. Wir beide haben Urschweizer Wurzeln und die gleiche Ausbildung. Er stammt aus Erstfeld und ist auf sein Urnersein stolz. Seine KV-Lehre hat er wie ich in der Elektrobranche gemacht. Mit Jahrgang 1944 ist er ein Jahr jünger. Er arbeitet bei der vor wenigen Monaten vom Privatmann Ernst Brunner gegründeten Bank. Wir wohnen im gleichen Quartier. Er komfortabel, in einer uralten Zweizimmerwohnung an der Waldstätterstrasse, mit einer grossen Küche und einem kleinen WC, ohne Bad und Dusche. Ich fünf Gehminuten weiter weg bei einer Schlummermutter. Schon bald werde ich aus dieser einsamen Bleibe aus- und als Untermieter bei Curt in das leer stehende Zimmer einziehen. Die nächsten paar Monate sehen wir uns praktisch jeden Tag.

Der Freitagsstamm im Du Nord
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

Der Freitagsstamm im Du Nord

Das Du Nord wird anfänglich unser Verpflegungsort. Später wechseln wir aus Kostengründen für den Mittagstisch in die Pension Huez in unserem Nachbarhaus. Aber hie und da brauchen wir ein Bierchen, etwas Geselligkeit und eine gehobene Esskultur. Für lange Jahre wird das Du Nord unser zweites Domizil. Curt und ich sind Gründer des Freitagsstamms. In die Stammkasse fliessen fünf Franken pro Monat als fester Beitrag, 50 Rappen Bussgeld für Zuspätkommen, das Doppelte bei Abwesenheit sowie das Jassgeld. Mit dem Geld gehen wir bis in die 1980er Jahre auf Reisen in umliegende Länder. Im gereiften Alter nach Dreissig gar auf die dreitägige Strada-Alta-Wanderung an der Sonnenseite der Leventina, das andere Mal mit Ross und Wagen in die Freiberge im Kanton Jura.



(1) Freitagsstamm im Restaurant Du Nord, Luzern, 1. August 1969. Hinten von links Pierre, Franz Muheim der Wirt, Jacques, Curt. Vorne Vlady und ich beim Bierausschank. Rechts: Stammreise in Ulm am Marktbrunnen beim Rathaus, Ende der 1970er Jahre, von links Pierre, Kurt, Jacques, Curt, Vlady und ich.

Freitagsstamm im Restaurant Du Nord, Luzern, 1. August 1969. Hinten von links Pierre, Franz Muheim der Wirt, Jacques, Curt. Vorne Vlady und ich beim Bierausschank. Rechts: Stammreise in Ulm am Marktbrunnen beim Rathaus, Ende der 1970er Jahre, von links Pierre, Kurt, Jacques, Curt, Vlady und ich.


Der Freitagsstamm funktioniert bis Ende der 1970er Jahre nach strikten Regeln. Treffpunkt jeden Freitag spätestens 21 Uhr im Du Nord, ohne Frauen, wir bleiben zu sechst, maximal erlaubt sind zwei Jassrunden, damit Gespräche und Fröhlichkeit nicht zu kurz kommen.

Bald gelangen Partnerinnen in unser Leben. Es folgen Heirat und Kinder. Wir organisieren unregelmässige Treffen mit den Familien. Gegen Ende der 1970er Jahre geht Franz Muheim als Gastgeber in den Ruhestand. Das Du Nord schliesst.

Der Schweizergarten
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

Der Schweizergarten

Unser neues Stammlokal wird das Restaurant zum Schweizergarten am Bundesplatz. Max, der jüngste und einzige noch im Haus verbliebene Sohn der alteingesessenen Wirtsfamilie Benninger, ist in unserem Alter. Freitags am späten Nachmittag geht er mit seinem Weidenkörbchen am Arm im Quartier auf Einkaufstour. Abgeschlossen wird diese regelmässig mit einem Besuch bei dem einen oder anderen seiner Wirtskollegen. Im Du Nord erleben wir Max als launigen Erzähler. Nicht selten holt ihn Kitty, die Serviertochter von den Tischgesprächen weg zur Telefonkabine. Seine Mutter erinnert ihren Sohn eindringlich daran, dass der Ring Cervelats, den er bei Metzger Tschanz besorgen musste, jetzt dringend in der Küche gebraucht werde.

Der Schweizergarten ist Vereinslokal des Veloclubs der Stadt Luzern. Wir Stammfreunde werden Mitglieder des Clubs, nehmen an den Plauschrennen am Sonntagvormittag teil und engagieren uns im Verein. Als junger Schnösel werde ich im Vereinslotto als zahlenziehender Speaker mit sonorer Stimme sogar von den alteingefleischten Lottofrauen akzeptiert.

Nach unserer Heirat wohnen Gaby und ich an der Neustadtstrasse in unmittelbarer Nähe zum Schweizergarten. Das gemütliche Wirtshaus mit dem Gärtchen und den schattenspendenden Kastanienbäumen wird für uns ein gern besuchter Treffpunkt. Mutter Benninger führt das Lokal nach dem frühen Tod ihres Mannes mit Unterstützung von Max und der legendären Köchin Käthy. Eine bessere Rösti als bei ihr habe ich nie mehr gegessen. Nach einer starken Sehbehinderung erblindet Max's Mutter ganz. Sie will aber auch künftig ihre Gäste im Wirtshaus persönlich begrüssen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Noch im hohen Alter lernt sie beim Blindenverein selbstständiges Gehen und in Blindenschrift lesen. Bei ihrem Rundgang im Restaurant mit der dunklen Sonnenbrille im Gesicht begrüsst Mutter Benninger ihre Gäste persönlich. Mir legt sie regelmässig die linke Hand auf die Schulter, sucht den Kontakt zum sanften Handschlag und sagt dann herzlich, „aha de Seppi“. Ich staune jedes Mal, denn wirklich gesehen hat mich Mutter Benninger nie.

1977 schliesst der Schweizergarten. Max muss die Pacht aufgeben. Die Besitzerin der Liegenschaft macht aus dem traditionellen Wirtshaus das Nobelrestaurant Le Manoir. Ab 2008 wird daraus das heutige Fanlokal Zone 5 des FCL.



(1) Gebäude des ehemaligen Schweizergartens am Bundesplatz. Die Aussenansicht, ausser der Farbe des blauen Vordachs beim Eingang ist seit den 1960er Jahren unverändert.

Gebäude des ehemaligen Schweizergartens am Bundesplatz. Die Aussenansicht, ausser der Farbe des blauen Vordachs beim Eingang ist seit den 1960er Jahren unverändert.

 

 

 

 

Die Geschichte mit Emil
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

Die Geschichte mit Emil

Ab und zu ist auch Emil Steinberger Gast im Schweizergarten. Er richtet in jener Zeit im einen Steinwurf entfernten Tele-Café sein Kleintheater ein, in dem hochkarätige Künstler der europäischen Kleinkunst auftreten. Später startet Emil in diesem Haus mit seinen "Geschichten die das Leben schrieb" zu seiner spektakulären Solokarriere.

Max ist immer für einen Jux zu haben. Er hat die Idee, dass wir gemeinsam – Curt ist auch dabei – eine dieser Vorstellungen besuchen. Dazu denkt er sich etwas Besonderes aus. Er packt in sein Weidenkörbchen für jeden von uns einen Teller, Messer und Gabel, Servietten, ein Stück Brot und ein Gnagi. Für die Vorstellung nehmen wir auf der Empore an zwei der vom Tele-Café her verbliebenen Tischen Platz. In der Pause der unsere Lachmuskeln strapazierenden Emil-Vorstellung geniessen wir die von Max bereitgestellte Zwischenverpflegung. Emil hat unser Treiben mitverfolgt. Er nimmt das Gnagi-Essen sogleich als improvisierte Kabarettnummer ins Programm dieses Abends auf. Wir ahnen nicht, dass Emil zum wohl berühmtesten Luzerner unserer Generation wird. 

Das Ende des Freitagsstamms
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

Das Ende des Freitagsstamms

Der Schweizergarten ist weg. Wir Stammbrüder wechseln alternierend in den Alpenhof am Paulusplatz, der heute ein Geschäftshaus ist, ins Helvetia, im Hirschmattquartier oder ins Fass an der Obergrundstrasse. Unsere Frauen gründen in den 1970er Jahren eine Art Gegenbewegung, den Frauenstamm, der sich ebenfalls wöchentlich trifft. Die Männer haben an jenen Abenden Kinderhütedienst.

Zwanzig Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Curt beginnt 1983 das Aus für unseren Freitagsstamm. Ich habe keine Lust mehr an den Treffen mit meinen Freunden, die sich nach meiner Scheidung auf Drängen ihrer Partnerinnen mit Gaby solidarisieren. Mit Pierre, der in Lausanne arbeitet und mit seiner Familie im Waadtland wohnt, halte ich lose Kontakte aufrecht. Curt aber bleibt mein engster Freund bis zu seinem frühen Tod im Juli 2011.

Curt bei der Bank Brunner
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

Curt bei der Bank Brunner

Curt ist 1963 einer der ersten Angestellten der neu gegründeten Bank Brunner an der Pilatusstrasse. Zu deren Geschäftsfeld gehört nebst der Entgegennahme von Spargeldern auch der Verkauf von günstigen Haftpflichtversicherungen für Fahrräder mit Abgabe der Nummernschilder. Später kauft Bankier Brunner eine Liegenschaft an der Ecke Sempacher-/Habsburgerstrasse, einen Steinwurf weg von meinem Arbeitsplatz an der Morgartenstrasse. Curt berät Kunden am Bankschalter, verwaltet Liegenschaften, organisiert Kunstausstellungen und ist Privatchauffeur seines extravaganten Chefs.

Ende 1970 nimmt sich Ernst Brunner inmitten einer rauschenden Party in seiner Villa in Kastanienbaum mit einer Zyankali-Kapsel das Leben. Die Umstände seines Todes und der darauffolgende Zusammenbruch des verschachtelten Brunner-Imperiums lösen in weiten Kreisen der Luzerner Gesellschaft ein mittleres Beben aus. Wie viele in Brunners Umfeld schaut auch Curt zu seinem Patron auf. Aber er spürt gegen dessen Ende, dass im Hause Brunner nicht alles mit rechten Dingen zugeht.

 

Curt und sein bewegtes Leben
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

Curt und sein bewegtes Leben

Curt ist ein Charmeur. Mit seiner unvergleichlichen Art, dem schönen Geschlecht mit Komplimenten den Schmus zu bringen, und mit seiner Leutseligkeit bricht er viele Frauenherzen. Zusammen mit Anny, seiner ersten Liebe und mit meiner Partnerin Gaby erleben wir Reisen und Geselligkeit. Curt wird unser Trauzeuge.

1972 heiratet er Ruth, eine weltoffene und kulturell interessierte Frau, die erst vor ein paar Monaten aus Südafrika in die Schweiz zurückgekehrt ist. Gaby und ich sind an der Ziviltrauung Zeugen. Am kirchlichen Hochzeitstag im Juni 1972 kommen wir beide von einem Ferienaufenthalt aus Jugoslawien zurück. Es wird ein gelungenes Fest mit Familien und engen Freunden. Nach zweiwöchiger mieser Kost im sozialistischen Ferienbunker geniessen Gaby und ich das Galadiner im Hotel Tivoli mit Heisshunger. Das Bäuchlein von Ruth verrät am Hochzeitstag unmissverständlich, warum die beiden es mit der Heirat eilig hatten. Im November 1972 kommt der Sohn Thomas auf die Welt, 1975 ihr zweiter Spross Philippe.

Die Familie wohnt in einem kleinen Häuschen im Fildernquartier in Ebikon, das Curt mit hartnäckiger Arbeit herrichtet und nach ein paar Jahren von Grund auf renoviert. Hie und da bin ich ihm am Samstag behilflich. Ich bin dabei sein Zudiener, denn im Vergleich zu ihm hält sich mein handwerkliches Geschick in engen Grenzen.

Nach dem Ende der Bank Brunner setzt Curt auf sein sprichwörtliches Verkaufstalent. Er wird Agenturleiter bei Kleinkreditbanken mit Fokus auf das in Mode kommende Leasinggeschäft im Autogewerbe. Ende der 1980er Jahre geht er mit einer eigenen Geschäftsidee auf den Markt. Er gründet den Wohnservice Luzern, der für Wohnungssuchende und Anbieter die Selektion von passenden Objekten und Mietern spürbar erleichtert. Gegen Ende seines Berufslebens bietet er über seine eigene Treuhandfirma ein breites Spektrum von Angeboten für Versicherungen, Vorsorge und Kredite an.

Mit seiner Ausstrahlung bei den Frauen und bei seiner Suche nach lukrativen Geschäftsmodellen stolpert Curt zwischendurch über seine eigenen Beine. In den 1980er Jahren geht es bei ihm turbulent zu und her. Er ist beruflich und privat viel unterwegs. Sein Charme strahlt bis nach Tokio aus. Curt und Ruth gehen getrennte Wege, halten aber respektvollen Kontakt zueinander, auch mit Blick auf das Wohl ihrer beiden Söhne.

1991 wagt Curt mit Silvia einen Neuanfang. Er unterstützt sie beim Aufbau einer Bar mit dem kleinen Restaurant Time-out am Hirschengraben.

 

Curt als Gesellschafter
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

Curt als Gesellschafter

Wenn es bei unseren Familien etwas zum Feiern gibt, ist Curt Garant dafür, dass es hoch zu und her geht. Unvergessen bleibt sein Auftritt am gemeinsamen Fest zu den runden Geburtstagen von Alain und mir in der Alpwirtschaft auf dem Haldi ob Schattdorf. Bei der Ankunft begrüssen Curt und Silvia, die wir bei der Besammlung zur Bahnfahrt so sehr vermissten, uns und unsere Gäste als Urner Älpler Paar mit launischer Musik.



(1) Silvia und Curt Jauch als Älplerpaar am Fest zu den runden Geburtstagen (Alain zwanzig, ich fünfzig) auf Haldi UR. Rechts Curt als Stimmungsmacher. 6. Juni 1993.

Silvia und Curt Jauch als Älplerpaar am Fest zu den runden Geburtstagen (Alain zwanzig, ich fünfzig) auf Haldi UR. Rechts Curt als Stimmungsmacher. 6. Juni 1993.




Curts Innenleben
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

Curts Innenleben

Curt hat auch eine introvertierte Seite. Er kann bockig sein, ein typischer Urner Grind. Wenn ihn ein Problem beschäftigt, versucht er das für sich zu behalten. Frage ich ihn danach, ist seine lakonische Antwort: "Es kommt schon gut". Helfen lassen will er sich nicht. Nicht von mir und nicht von seinen Angehörigen. In den schlimmsten Fällen taucht er für Tage ab. Niemand weiss, wo er steckt. Unverhofft aber ist er wieder da, als ob nichts passiert wäre. Curts Innenleben ist undurchschaubar.

Im Umgang mit seinen Nächsten und in seinem Geschäftsgebaren gibt er nicht selten Rätsel auf. Das erfahre ich auf Umwegen. Curt ist ein Schlitzohr und lässt sich auch nicht von mir in die Karten blicken. Es ist so, dass er in seinem Leben bei einigen seiner Lieben sehr viel Schmerz hinterlassen hat.

Besonders deutlich werden seine Charakterzüge in der letzten Zeit der Krankheit. Er weiss, dass er an Leukämie erkranken wird. In der akuten Phase der Krankheit unterzieht sich Curt allen medizinischen Untersuchungen und Therapien. Doch mit der Zeit wird ihm das zu viel. Die Knochenmarktransplantation macht ihm zu schaffen. Das Leben fällt ihm schwer und das sagt er mir auch.

"Ich mag nicht mehr" sind seine Worte bei unserer letzten Begegnung bei einem Nachtessen in einem seiner Lieblingsrestaurants im Mai 2011. Zu Ende essen mag er sein mit Lust bestelltes Entrecôte auch nicht mehr.

 



Abschied von Curt
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11.4.  Wo bin ich zuhause? – Curt – ein wichtiger Mensch in meinem Leben.

Abschied von Curt

Nach der Rückkehr aus den Ferien im Juni 2011 erfahren Uschi und ich, dass Curt bewusstlos im Spital liegt. Seine Familie bittet mich darum, sie beim Entscheid über die Weiterführung der lebenserhaltenden Massnahmen zu unterstützen. "Ich mag nicht mehr, ich mag nicht mehr ins Spital", sind die letzten Worte von Curt, die in meinem Herzen fest verankert sind.

Am 4. Juli, seinem 67. Geburtstag, besuche ich ihn mit seiner Familie im Luzerner Kantonsspital. Traurig stossen wir mit einem Glas Prosecco auf den bewusstlos daliegenden Curt und sein Leben an. In der Nacht auf den 10. Juli 2011 wird er von seinem irdischen Dasein erlöst.

Nur wer vergessen wird, ist tot. Du wirst ewig leben.
So lautet die Überschrift der Traueranzeige von Curt. Seine Familie bittet mich, an der Abdankung in meinen eigenen Gedanken auf Curts Leben zurückzublicken. Was ich hier in meine Lebensgeschichte schreibe, ist Teil dieses persönlichen Abschieds.

 


(1) Curt in seiner letzten Lebensphase. Dankeskarte der Familie.

Curt in seiner letzten Lebensphase. Dankeskarte der Familie.

 

Zurück bei der CKUS
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12.  Zurück bei der CKUS

Nach Abschluss der Rekrutenschule melde ich mich zurück zur Arbeit. Engelbert Lammer weiss, dass ich für die nächsten drei Jahre in seiner Abteilung beschäftigt sein werde. Ich bleibe seine Schreibkraft, trete regelmässig zum Diktat an, verschicke die von ihm unterschriebenen Briefe, Offerten und Verträge und besorge die Ablage. Im Team finde ich mich schnell wieder zurecht.

Der Innenhof im dritten Stock ist inzwischen ausgebaut. Die CKUS hat nun den ersten Sitzungssaal erhalten, mit einem wuchtigen achteckigen Konferenztisch, um den markante Polstersessel angeordnet sind.

Im selben Raum ist eine Pausenecke eingerichtet mit einem neuartigen Automaten für warme Getränke. Es ist der erste Schritt im Angebot von kostengünstigen Verpflegungsmöglichkeiten. Ein Kartonbecher Kaffee mit oder ohne Milch und Zucker, Schoggigetränke, Bouillon oder Suppe kostet fünfzig Rappen. Platz bietet die mit einem runden Tisch und einer Theke mit Barstühlen eingerichtete Ecke für zwölf bis fünfzehn Leute. Im Haus arbeiten zwar schon gegen 150 Personen. Aber es gibt Dienste und altgediente Angestellte, für die eine Kaffeepause oder die Verpflegung vor Ort tabu sind. Die Abteilung Lammer gehört nicht dazu, obwohl unser Chef nie einen Schritt in diese Plauderzone macht.

Für mich entstehen im Pausenraum zwischenmenschliche Beziehungen über die Sprachgrenzen hinweg. Die Welschen und Tessiner bilden Klicken, zu denen ich schnell Kontakte finde, auch weil ich mich gerne mit ihnen in ihrer Sprache unterhalte. Die CKUS wird zu meinem Ersatz-Daheim.

So fasse ich Fuss
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12.1.  Zurück bei der CKUS – So fasse ich Fuss .

Die paar Wochen Einsatzzeit im Sommer 1963 waren meine Schnupperlehre im Spezialgebiet Kollektivversicherungen. Vertiefte Informationen und Kenntnisse zur Branche und zur Organisation des Betriebs erlange ich jetzt in der täglichen Arbeit. Später beginnt das Konkordat der Schweizerischen Krankenkassen als Branchenverband mit dem zaghaften Versuch, für neue Mitarbeiter seiner Mitglieder ein Schulungsprogramm aufzubauen. Ich bekomme die Chance, als einer der ersten CKUS-Angestellten an einem einwöchigen Schulungskurs dabei zu sein.

Als Lehrling und in meiner vorherigen Arbeitsstelle erlebte ich zwei Gewerbebetriebe mit einem starken Patron, der den Ton angibt. Für sie war Büroarbeit eine lästige Pflicht. Mein jetziger Arbeitgeber jedoch ist eine umfassende Verwaltungsorganisation und ein Grossbetrieb mit einer komplexen Struktur. Wie die meisten der grossen Konkurrenten hat die CKUS die Organisationsform eines Vereins. Mit ihren gegen 600’000 Mitgliedern ist sie die zweitgrösste vom Bund anerkannte Krankenkasse und auch im Fürstentum Liechtenstein tätig. Die Versicherten verteilen sich auf über 800 Ortssektionen. Jede Sektion hat einen Vorstand. Dessen Präsident, ja, es ist meistens ein Mann, hat die Oberaufsicht, der Kassier erledigt die Verwaltungsarbeit in nebenberuflicher Tätigkeit. Nur bei grösseren Sektionen sind sie als Sektionsverwalter im Hauptberuf engagiert. Die Verwaltungsarbeit umfasst die Akquisition, das Prämieninkasso und die Abrechnung der Leistungen für die Mitglieder. Der Zentralpräsident führt die Gesamtorganisation mit ihren kantonalen und regionalen Einheiten. Der Zentralverwalter ist der hierarchische Vorgesetzte bei der Zentralverwaltung, dem Hauptsitz in Luzern. Diese unterstützt als Logistikzentrum die Tätigkeit der Sektionen, kontrolliert die Leistungsabrechnungen, steuert die Finanzen, bezahlt Ärzten und Spitälern die abgerechneten Leistungen oder gibt sie den Sektionen zur Rückvergütung an die Mitglieder frei.

Lernen durch Handeln
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12.2.  Zurück bei der CKUS – Lernen durch Handeln.

Der Bereich der Kollektivversicherung wurde gegen Ende der 1950er Jahre aufgebaut. Engelbert Lammer ist seit 1957 ihr Chef und hat dieses Geschäft innert kurzer Zeit als Motor des Wachstums zur Blüte gebracht. Bei ihm lerne ich dieses Spezialgebiet in der täglichen Arbeit und ohne Lernprogramm gründlich kennen.

Lammer hat noch andere Aufgaben. Er organisiert als Propagandachef die Gründung neuer Sektionen, hält Vorträge und zeigt Filme an ihren Generalversammlungen. Darüber hinaus ist er zuständig für das Erstellen von Drucksachen und Redaktor der monatlich erscheinenden Mitgliederzeitung. Als Vorstandsmitglied der Stadtsektion begibt er sich in Luzern noch auf abendliche Kundenakquisition. Und eine Zeit lang ist er Parlamentarier im Grossen Stadtrat, 1962/63 gar dessen Präsident. Dieses vielfältige Engagement führt zwangsläufig dazu, dass wir die Büroarbeit selbstständig erledigen. Ich komme mit Geschäftskunden in Kontakt, erledige und beantworte Rückfragen von Kunden zu Offerten und Verträgen. Meinem Chef gefällt es, wenn wir ihn entlasten, und er spürt, dass ich Freude habe an der Arbeit. Schon bald nimmt er mich in seinem VW-Käfer als Begleiter in den Aussendienst mit. Ich erlebe die Kundengespräche hautnah und lerne Unternehmen und Wirtschaftszweige in allen Ausprägungen kennen. Als junger Angestellter mit wenig Lebenserfahrung komme ich mit Menschen und Führungspersönlichkeiten unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten in Kontakt. Ein Nebeneffekt der gemeinsamen Aussendienstfahrten mit meinem Chef ist, dass ich dank seiner guten Nase Gastbetriebe kennenlerne, die für schmackhafte Mittag- oder Abendessen innerhalb der Vorgaben des Spesenreglements liegen.

Nach der Rückkehr von den Aussendiensteinsätzen übernehme ich die Nachbearbeitung der Geschäfte. Dabei entlaste ich meinen Vorgesetzten vom administrativen Kleinkram, der ohnehin nicht zu seinen Stärken zählt. Mir nützt das. Ich kann damit sukzessive an fachlicher und persönlicher Kompetenz zulegen und bald in seine informelle Stellvertreterrolle wachsen.

Oft ist der Terminkalender von Engelbert Lammer übervoll. Deshalb schickt er mich bald alleine zu Kundengesprächen. Auto habe ich keines. Meine Reisen plane ich mithilfe des amtlichen Kursbuchs der SBB. Mit diesem Reiseplaner, der für viele Nutzer des ÖVs ein Buch mit sieben Siegeln ist, bin ich bald per Du. Ich finde schnell die günstigste Verbindung mit Bahn, Postauto oder Schiff. Für Fahrten zu abgelegenen Kunden nutze ich gelegentlich am nächstgelegenen Bahnhof ein SBB-Mietvelo.

An eine Velofahrt zu einem Verkaufstermin nach Wangen/SO erinnere ich mich gut. Bei schönem Wetter fahre ich mit der Bahn und nehme in Olten zur Fahrt an den Zielort einen alten SBB-Drahtesel in Empfang. Auf halbem Weg überrascht mich ein starkes Gewitter. Meine Kleidung ist tropfnass. In dieser Aufmachung kann ich mich unmöglich beim Kunden zeigen. Kurzerhand entschliesse ich mich, die Reise abzubrechen. Aus der nächsten Telefonkabine rufe ich den Unternehmer an und entschuldige mich wegen des verpassen Termins mit einer Notlüge. Auf der Rückfahrt nach Luzern weiche ich den fragenden Blicken der Mitreisenden zu meinem Aussehen mit tropfnassem Kittel, Krawatte und Ausgehhose mit von Regen und Wind zerzauster Frisur aus.

In jener Zeit ist die Kollektivversicherung ein sich neu entwickelnder Bereich der sozialen Krankenversicherung mit praktisch unbegrenzter Gestaltungsfreiheit. Er wird für mehr als 25 Jahre zum Dreh- und Angelpunkt meiner beruflichen Tätigkeit.

 

 













 

 

 

 

 

 

 

 

Mein Arbeitgeber als soziales Netz
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12.3.  Zurück bei der CKUS – Mein Arbeitgeber als soziales Netz.

Das Arbeitsumfeld bei meinem Arbeitgeber lässt menschliche Nähe zu. Die Abteilungschefs, ja es sind wieder nur Männer, übernehmen die informelle Vorbildfunktion. Auffallend ist, dass in jeder der zwölf Abteilungen der Zusammenhalt und der zwischenmenschliche Umgang den Charakter und die Persönlichkeit der Führungspersonen ziemlich genau widerspiegeln.

Bei Lammer mit den unterschiedlichsten Aufgabenstellungen ist das Gärtchendenken verpönt. Nicht wie andere Chefs achtet er peinlich genau auf das pünktliche Einhalten der vorgegebenen Arbeitszeiten oder weiterer althergebrachter Regeln. Unser Vorgesetzter legt dagegen Wert auf termingerechte und saubere Erledigung der Arbeiten. Das führt zwangsläufig zu Einsätzen über die Fixzeiten hinaus mit einem anderntags verspäteten Arbeitsbeginn. Dafür brauchen wir aber keine formelle Bewilligung des Chefs.

Das Arbeitsklima in unserer Abteilung ist offen. Auch ein Gespräch über Privates hat Platz. Nach meiner Erinnerung ist die Abteilung Lammer die erste, die regelmässig vor der Weihnachtszeit ein gemeinsames Nachtessen organisiert. Dieses wird mit einem monatlichen Beitrag von fünf Franken bezahlt. Wenn das zusammengetragene Geld nicht ausreicht, übernimmt unser Chef grosszügig den Rest der Zeche.

 

(1) Engelbert Lammer beim Kegelschub.

Engelbert Lammer beim Kegelschub.


 

(2) Abteilungsessen vor der Weihnachtszeit. Fotos Mitte/Ende der 1960er Jahre.

Abteilungsessen vor der Weihnachtszeit. Fotos Mitte/Ende der 1960er Jahre.


Auch mit aufgeschlossenen Arbeitskolleginnen und -kollegen aus anderen Abteilungen entstehen bereichernde zwischenmenschliche Kontakte bis hin zu gemeinsamen Aktivitäten in der Freizeit.

Jahrzehnte später würde man im gepflegten Managerdeutsch davon sprechen, dass wir in einer intakten Unternehmens- und Führungskultur arbeiten durften.

Gaby und ich
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13.  Gaby und ich
Unter den Jungen aus dem Tessin und dem Welschland, die sich im Pausenraum zum Kaffeeklatsch treffen, springt mir eine hübsche Frau ins Auge. Sie gibt sich zurückhaltend und bleibt auffällig im Hintergrund. Ich fühle mich von ihrem diskreten Charme angezogen und erwische mich dabei, wie ich versuche, unsere Pausenzeiten so abzustimmen, dass wir uns begegnen. Aber wie ich es schaffe, sie Ende 1963 zum ersten Rendezvous zu gewinnen, weiss ich nicht mehr. Bald sind Gaby und ich ein Liebespaar, das sich nach der Arbeit hinter der nächsten Hausecke händchenhaltend auf den Weg nach Hause macht. Sie wohnt im Neustadtquartier, einen Steinwurf weit weg von mir, ebenfalls bei einer Schlummermutter. Später sagt mir Gaby, weshalb sie auf mein Liebeswerben erst skeptisch bis abweisend reagierte. Mir sei der Ruf eines Frauenhelden vorausgeeilt. Sie hätte selbst erlebt, wie ich mich in den Pausengesprächen für eine hübsche Tessinerin interessierte.
Gaby gibt mir Halt
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13.  Gaby und ich

Gaby gibt mir Halt

Gaby ist für mich die richtige Partnerin zur richtigen Zeit. Sie gibt mir Halt. Sie hilft mir, Stetigkeit ins Leben zu bringen und zeigt mir auf, wie ich mit dem knappen Verdienst haushalten muss. Mir ist es recht, dass sie in unserer Beziehung Nägel mit Köpfen machen will. Dazu gehört, dass unsere Verbindung von ihren Eltern abgesegnet sein muss. Sie bereitet mich auf unseren ersten Besuch bei ihrer französischsprachigen Familie in Fribourg vor. Ich mache mir keine grossen Sorgen, denn Gaby und ich unterhalten uns immer in ihrer Muttersprache. Das ist zwar unlogisch, denn sie ist von Freiburg nach Luzern gezogen, um ihre deutsche Sprache zu verbessern. Aber die Romands lernen Hochdeutsch in der Schule. Bei uns sind sie dann mit einem Dialekt konfrontiert, den sie kaum verstehen. Andererseits ist das Mundwerk von uns Deutschschweizern für das Sprechen der Schriftsprache nicht geschliffen genug. Deshalb verbringen die vielen in Luzern bei der SUVA, der Krankenkasse Konkordia oder der CKUS arbeitenden Romands die Freizeit unter sich. Ich hingegen kann dank der Beziehung mit Gaby und den Kontakten zu den Westschweizern meine Fähigkeiten in unserer zweiten Landessprache ohne grosse Anstrengung verbessern. Das wird mir beruflich von grossem Nutzen sein.

 

 

Ihr Elternhaus
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13.  Gaby und ich

Ihr Elternhaus

Gaby stammt aus einem strenggläubigen, den katholisch-konservativen Grundsätzen der Zeit verpflichteten Haus. Ihr Vater, Henri Brulhart, hat bei der Post Karriere gemacht und sich zum Direktor der städtischen Hauptpost hochgearbeitet. Ihre Mutter Jeanne, geborene Theurillat, entstammt einer stolzen Bauernfamilie aus den Freibergen im Jura. Gaby ist die älteste der drei Töchter der Familie. Ihre beiden Schwestern wohnen zu Hause. Marianne, die zweitälteste, besucht die Handelsschule, Béatrice ist Gymnasiastin. Der Familienname „Brülhart“ ist ein deutschsprachiges Freiburger Geschlecht. Doch Mutter und Töchter legen Wert auf das Einhalten der französischen Schreibweise. Als Angehörige der französischsprachigen Mehrheit der Hauptstadt wollen sie nicht zur Deutsch sprechenden, in der Unterstadt wohnenden Unterschicht, den „Senslern“, gehören. Für Maman Brulhart, einer waschechten Jurassierin, ist die Abgrenzung von den „Suisse-Totos“, wie die Deutschschweizer ab und zu despektierlich genannt werden, wichtig.

Die Familie wohnt im Stadtzentrum in einer gutbürgerlichen Mietwohnung am Boulevard de Pérolles. Das ist die breite Allee, die als Ausfallstrasse vom Bahnhof Richtung Industriequartier mit der Brasserie Cardinal und der Fabrik von Chocolat Villars nach Westen führt. Maman Brulhart legt Wert auf ihren Status. Ich erfahre das später, als ich sie zum Samstagseinkauf beim Metzger im Quartier begleite, wo sie als Madame le Directeur angesprochen werden will. Dagegen ist Vater Henri, trotz seiner in der Stadt angesehenen sozialen und gesellschaftlichen Stellung, ein umgänglicher und bescheidener Mensch. Er ist perfekt „bilingue“, in beiden Sprachen belesen und kann sich auch im Sensler Dialekt gewandt unterhalten. Ich erlebe das hautnah, wenn er mich mitnimmt an seinen Stammtisch, an dem die Runde bei einem Chübel Bier querdurcheinander in Französisch oder Deutsch über Politik, Gott und die Welt plaudert.

 

 

Ich gehöre bald zur Familie
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13.  Gaby und ich

Ich gehöre bald zur Familie

An Einzelheiten meines Vorstellungsbesuchs in Fribourg erinnere ich mich nicht. Wahrscheinlich ist, dass Gaby ihre Eltern über meine Herkunft informiert hat. Wohl deshalb kommen peinliche Fragen zu diesem Thema nicht zur Sprache. Was mir als Erstes auffällt, ist der formelle persönliche Umgang in der Familie. Die Töchter reden ihre Eltern mit „papa vous“ und „maman vous“, also in der höflichen „Sie-Form“, an. Das ist für mich gewöhnungsbedürftig, wird sich aber während der 20 Jahre, die ich mit Gaby zusammen bin, nicht ändern. Meine offizielle Ansprache für die Eltern lautet Monsieur et Madame. Ich selbst werde ebenfalls als „Seppi vous“ angesprochen.



(1) Zu Tisch bei Papa und Maman Brulhart. Wahrscheinlich das Essen (Fondue Bourguignonne) zu meiner formellen Vorstellung bei der Familie (1963/1964). Vage habe ich in Erinnerung, dass es sich bei der jungen Frau im Bild rechts um das Kommunion-Gspänli von Gaby handeln könnte.

Zu Tisch bei Papa und Maman Brulhart. Wahrscheinlich das Essen (Fondue Bourguignonne) zu meiner formellen Vorstellung bei der Familie (1963/1964). Vage habe ich in Erinnerung, dass es sich bei der jungen Frau im Bild rechts um das Kommunion-Gspänli von Gaby handeln könnte.


Für das Einleben in der Familie muss ich zwar auf förmliche Regeln achten, aber das ist mir nicht unangenehm. Jedenfalls scheine ich die Reifeprüfung des Heiratskandidaten problemlos geschafft zu haben. Denn schon bald bin ich Teil dieses mir nicht bekannten bürgerlichen Milieus. Gaby und ich verbringen die Wochenenden oft in Fribourg. Für die Reise packt sie ihr Köfferchen mit der von „Maman“ zu besorgenden Wäsche. Das erinnert mich daran, wie ich meine Unterwäsche, Hemden und Socken zu einer italienischen Nonna im Luzerner Neustadtquartier bringe, die in einer Art Baracke eine private Wäscherei betreibt.

Unsere Reisen nach Fribourg dauern zwischen zweieinhalb und drei Stunden mit der Bahn auf der Linie durchs Entlebuch bis Bern. Dort umsteigen auf den Schnellzug aus Zürich, der via Fribourg nach Lausanne und Genf verkehrt.

Diese Besuche gleichen sich anfänglich wie ein Ei dem anderen. Samstags fahren wir zeitig von Luzern los. Mittagessen bei Maman, Verdauungsspaziergang im Quartier, Nachmittagskaffee, abends jassen. Am Sonntag nach dem Frühstück ist der gemeinsame Besuch der Messe mit Gang zur Kommunion Pflicht. Zum von Maman zubereiteten Mittagessen holt Papa eine Flasche des selbst abgefüllten Weins vom Keller.

Dazu gehört diese Geschichte. Für die Angestellten des Bundes und seiner Regiebetriebe SBB und PTT gibt es eine Einkaufsgenossenschaft mit Sitz in Biel. Dort können die Genossenschafter unter anderem fassweise importierte Weine beziehen. Papa Brulhart ist Mitglied und bestellt periodisch ein 50-Liter Fass, das er selbst in der Küche in die gesammelten Flaschen abzapft. Auch die Korken werden mehr als einmal verwendet. Dazu benötigt er einen sonderbaren Korkenzieher, mit dem die Zapfen durch Einführen von zwei federnden Metallstreifen unbeschädigt aus dem Flaschenhals entfernt werden können. An zwei dieser im Keller lagernden Rotweine erinnere ich mich: Der eine stammt aus Algerien und kostet weniger als zwei Franken der Liter, der andere, ein Côtes du Rhône, ist für weit unter drei Franken zu haben.

Bei den Besuchen in Fribourg wird streng auf Einhaltung der Keuschheitsregeln geachtet. Ich schlafe im Wohnzimmer auf der Auszugscouch. Für Gaby und Marianne steht noch das frühere Kinderzimmer bereit. Béatrice hat ihr Zimmer in eine kleine Studentenbude umgewandelt.

Maman Brulhart mag mich. Sie ist eine hervorragende Köchin und hat Freude, wenn ich mich für ihre Kochkunst und die mir nicht bekannten Hausrezepte aus der Romandie interessiere. Auch Jassen ist eine Leidenschaft, die wir teilen. Wenn wir zu viert spielen, scheut sie keinen Trick, um mich als ihren Partner zugelost zu erhalten. Erst muss ich mich mit den ungewohnten französischen Karten zurechtfinden. Maman ist clever im Spiel, und unsere Spielweisen verstehen sich schnell. Verlieren tut sie allerdings nicht gerne. Das kommt öfter vor, als ihr lieb ist, wenn sie mit Gaby oder Papa zusammen spielen muss. Die beiden sind keine Spielertypen, lassen aber das fiebrige Spiel von Maman über sich ergehen, damit der Friede im Hause bleibt. Papa Brulhart löst lieber Kreuzworträtsel auf Deutsch und Französisch und übt sich im Schachspiel, das niemand von der Familie beherrscht. Mir zeigt er die ersten Schritte darin, doch ich habe Mühe, die Grundregeln dieses Spiels zu verinnerlichen.

 

Die erste Auslandreise
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13.1.  Gaby und ich – Die erste Auslandreise.

In den 1960er Jahren fährt die Familie Brulhart regelmässig für zwei Wochen in die Ferien an die Riviera dei Fiori nach Italien. Via das Reisebüro Popularis Tours mietet sie ihre Ferienwohnung im ersten Stock eines Privathauses in Meeresnähe. Nachdem Gaby und ich uns im Dezember 1963 kennengelernt haben, stehen im Sommer 1964 die Familienferien an. Gaby arrangiert es, dass ich dabei sein darf. Ich bin begeistert. Ferien in Italien und erst noch am Meer sind eine neue Dimension in meinem Leben.

Wohnen kann ich allerdings nicht bei der Familie. Papa und Maman Brulhart besorgen mir in einem nahe gelegenen Erholungshaus ein Zimmer mit der Möglichkeit von Halbpension. Das Angebot ist kostengünstig. Ich glaube, es sind weniger als 500 Franken für zwei Wochen einschliesslich der Reise. Mit meinem kleinen Lohn kann ich mir ohnehin keine grossen Sprünge erlauben. Aber die Eltern von Gaby wollen uns Jungverliebte eben auch vor dem Brechen des vorehelichen Keuschheitsgebots schützen. Obwohl... in Luzern sind wir nicht unter ihrer elterlichen Aufsicht. 

 

Eine aufregende Zugfahrt
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13.1.  Gaby und ich – Die erste Auslandreise.

Eine aufregende Zugfahrt

Die Fahrt nach Italien wird zu einem aufregenden Erlebnis. Spätabends treffen sich Gaby und ich mit dem Rest der Familie im Bahnhof Bern. Mit einem Extrazug des Reisebüros fahren wir zusammen mit etwa 300 sonnenhungrigen Schweizern an die ligurische Küste. Ankunft in Genua ist samstags am frühen Morgen. Dort trennen sich die Wege der nach Süden reisenden Feriengäste. Unsere Bahnwagen werden ab- und dem fahrplanmässigen Zug nach Imperia Richtung Westen angehängt, mit Halt an den wichtigen Feriendestinationen der Blumenriviera. Der Rest der Reisenden fährt weiter gegen Süden.

Doch schon vor Alassio legt unser Zug auf offener Strecke einen unerwarteten Stopp ein. Lange zwei Stunden harren wir in der beginnenden Mittagshitze aus, ohne Informationen, wie es weitergeht. Erstaunt schauen wir zu, wie die defekte Lokomotive unseres Zugs durch eine nostalgische Dampflok ersetzt wird, die nach der Weiterfahrt regelmässig Zwischenhalte zum Nachfüllen von Wasser einlegen muss.

Unser Ferienort ist San Bartolomeo del Cervo, ein Dörfchen in der Nähe des schmucken Städtchens Diano Marina, dem nächstgelegenen Zugshalt und Endstation unserer Reise. Unser Feriendomizil erreichen wir am späten Samstagnachmittag mit dem Ortsbus. Mit radebrechender Zeichensprache macht Papa Brulhart dem Busfahrer verständlich, an welcher Haltestelle wir aussteigen wollen. Auch dass er dort Geduld brauche, bis das ganze Gepäck seiner sechs Gäste aus dem Bus gehoben sei.

Ich bin bei den Nonnen einquartiert
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13.1.  Gaby und ich – Die erste Auslandreise.

Ich bin bei den Nonnen einquartiert

Mein Quartier in den nächsten zwei Wochen ist das von Nonnen geführte Erholungshaus eines Schweizer Frauenklosters. Nebst den erholungssuchenden Schwestern beherbergt das Haus auch andere Feriengäste aus der Schweiz. Das einfache, aber gepflegte Gebäude liegt in einem mit Rosen und schattenspendenden Bäumen bepflanzten Garten direkt an der Promenade. Es trägt den Namen San Giuseppe, zu dessen Ehren die kleine Kapelle bei der Eingangspforte gebaut ist.

Von den in Weiss gekleideten Klosterfrauen werde ich korrekt und gar vornehm behandelt. Mit einem Augenzwinkern meint eine Schwester, dass ich mit meinem Vornamen das richtige Haus für meine Ferien gewählt habe. Doch ich fühle mich in dieser Umgebung nicht sehr wohl. Im Gästehaus wohnen vorwiegend ältere und fromme Menschen. Ein oder zwei Priester drehen morgens und abends, im Breviergebet vertieft die Runden im Garten. Ich bin als junger Bursche in diesem Haus der einzige Gast, der nicht direkt mit den kirchlichen Institutionen verbandelt zu sein scheint. Und das, nachdem ich mit dem Auszug aus Sempach der katholischen Kirche zum ersten Mal ab dem Wagen gesprungen bin.

Familienferien
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13.1.  Gaby und ich – Die erste Auslandreise.

Familienferien

So viel ich noch weiss, verbringe ich dreimal mit Gabys Familie die Sommerferien in San Bartolomeo. In den späteren Jahren kann ich ein Zimmer in der unteren Wohnung der Besitzerfamilie beziehen. Die Abläufe ähneln sich. Sonnenbaden und schwimmen im Meer. Ich bin der Einzige der Familie, der das Schwimmen einigermassen beherrscht. Im Vergleich zum Sempachersee ist für mich das Bewegen im salzhaltigen Meer eine Leichtigkeit. Mit dem am Markt erstandenen Schnorchel kann ich lange Zeit und bequem das warme Wasser des Mittelmeers geniessen.

Die Nichtschwimmer tummeln sich stattdessen in dem vom offenen Meer mit einem Steinwall abgetrennten Innenbereich. Papa und Maman Brulhart versuchen, sich das Schwimmen beizubringen. Mit der Zeit gelingt es ihnen, im sicheren Nichtschwimmer Bereich einige Meter zurückzulegen. Aber vor dem offenen Meer haben sie Respekt und Angst. Gaby und Marianne gehen bis zum Hüftbereich ins Wasser und ergeben sich sonst dem Sonnenbad. Abwechslung gibt es tagsüber nicht viel. Wir fahren mit dem Bus ins nächstgelegene Städtchen Diano Marina. Oder wir besuchen den Nachbarort Cervo mit der hoch über dem Dorf auf einem Felsvorsprung liegenden imposanten Kirche. An der Ecke auf dem kurzen Weg vom Garten zum Meer liegt eine Bar, an der ich mit Papa Brulhart zum Apéro regelmässig ein Glas Weisswein geniesse. Eine Attraktion ist die hoch über dem Dorf angelegte Kartbahn. Dort mache ich meine ersten Fahrversuche auf den schnittigen kleinen Flitzern.



(1) Ferien in San Bartolomeo del Cervo. Familie Brulhart mit Papa und Maman Brulhart, Marianne, Gaby, ich und Béatrice. Gaby und ich am Strand hinter der Promenade. Zirka 1965.

Ferien in San Bartolomeo del Cervo. Familie Brulhart mit Papa und Maman Brulhart, Marianne, Gaby, ich und Béatrice. Gaby und ich am Strand hinter der Promenade. Zirka 1965.

 

Jungverheiratet
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13.2.  Gaby und ich – Jungverheiratet.

Gaby bringt schon früh das Thema Heirat aufs Tapet. Ich selber habe es nicht eilig mit der Legalisierung unserer Beziehung. Dem Vorbild von Freund Curt folgend könnte ich ebenso gut in einer nicht abgesegneten Verbindung glücklich sein. Aber meine Liebste hat Respekt vor ihrem konservativen Elternhaus und auch vor der mit einer „wilden Ehe“ verbundenen gesellschaftlichen Ächtung. Gaby und ich lieben einander, und wir fühlen uns glücklich in unserem Umfeld. Also gibt es keinen Grund, ihrem Wunsch nicht zu folgen.

Unsere zivile Trauung wird auf den Freitag, 22. April 1966, angesetzt. Curt und seine Freundin Anny sind unsere Trauzeugen. Zu viert haben wir am Abend vorher mit der Vorfeier etwas übertrieben. Der Termin der Zivilhochzeit ist um neun Uhr. Wir verabreden, dass Gaby Curt und mich zwanzig Minuten vorher in unserer Behausung in der Waldstätterstrasse abholt. Sie ist überrascht, mich aus dem Tiefschlaf schütteln zu müssen. Bei Curt im anderen Zimmer rührt sich auch noch nichts. Mit fünf Minuten Verspätung erreichen wir ausser Atem das Luzerner Rathaus an der Reuss.

Unsere alleinige Erwartung ist, dass wir beim Zivilstandsbeamten unsere Unterschriften unter das Dokument setzen müssen, das es braucht für die kirchliche Eheschliessung. So habe ich das in Erinnerung von den Ziviltrauungen der Schmid-Kinder auf der Gemeindekanzlei in Sempach. Anny, Curt und ich sind weder festlich gekleidet noch in würdevoller Stimmung. Keine Ahnung haben wir, dass die zivile Trauung im prächtigen Saal des Luzerner Rathauses stattfindet. Und auch nicht, dass der Zivilstandsbeamte den formellen Akt mit einer würdevollen Rede begleitet. Wir kommen uns am grossen Tisch des leeren Trauungslokals verloren vor. Gedankenversunken schaut uns der festlich gestimmte Zivilstandsbeamte an, als keine weiteren Gäste auf den bereitstehenden Plüschbänken Platz nehmen. Curt und ich können unseren spontanen Lachanfall während der Zeremonie nur mit grösster Mühe unterdrücken.



(1) Portraitsaal im Rathaus von Luzern. Ort unserer Ziviltrauung 1963. ©www.ziviltrauung.ch.

Portraitsaal im Rathaus von Luzern. Ort unserer Ziviltrauung 1963. ©www.ziviltrauung.ch.


Nach der zivilen Trauung wird uns das in akkurater Handschrift gefertigte Familienbüchlein feierlich überreicht. Es ist das offizielle Dokument, in dem alle Ereignisse der Familie (Geburten, Tod) amtlich festgehalten sind.




(2) Familienbüchlein, ausgestellt am 22.04.1966.

Familienbüchlein, ausgestellt am 22.04.1966.


Gaby ärgert sich, dass ihr Familienname mit „ü“ geschrieben ist. Auf ihre Rückfrage beim Zivilstandsamt erhält sie den Bescheid, dass es sich um die korrekte Schreibweise aus den offiziellen Papieren ihres Heimatorts handelt. So muss sie hinnehmen, dass ihr Papa einer früher im französischsprachigen Teil des Kantons angesiedelten deutschstämmigen Freiburger Familie entstammt. 

 

Die Hochzeitsfeier
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13.2.  Gaby und ich – Jungverheiratet.

Die Hochzeitsfeier

Zwei Wochen später wird die kirchliche Hochzeit stattfinden. Gaby und ich brauchen uns um nichts zu kümmern. Papa Brulhart hat die Autofahrprüfung geschafft. Eine der Sonntagsausfahrten mit ihm und Maman im neuen hellgrauen Opel Kadett führt uns ins Greyerzerland. Wir besuchen den Ort, wo die Trauung stattfinden soll. Danach geht die Fahrt zum Landgasthof in Stadtnähe zur Besprechung von Menü und Ablauf des Festes.

Getraut werden wir am 7. Mai 1966 in der Chapelle Notre-Dame des Marches in Broc von dem dort zuständigen Priester. Die idyllische Wallfahrtskapelle im urtümlichen Gruyère liegt etwas ausserhalb des Dorfes am Ende einer von Linden gesäumten Allee. Während der feierlichen Zeremonie gehen meine Gefühle auf Wanderschaft. Sie sind im Zwiespalt zwischen wahrem Glück und der im Unterbewusstsein lauernden Frage, ob ich mich mit dieser Heirat auf den richtigen Weg begebe.

An der Hochzeit sind Gabys Familie dabei und einige Gäste der Eltern. Anna trommelt meine anderen Geschwister zusammen und organisiert ihre Reise nach Fribourg. Mein Freund Curt kann wegen des Militärdienstes erst zum Essen zu uns stossen. Präsent ist mir noch, wie unsere kleine Gesellschaft bei Schneetreiben in einem Sonderbus der Chemins de fer fribourgeois (GFM) ins Greyerzerland gefahren wird.

 

Gaby und ich als Hochzeitspaar vor der Kapelle, 07.05.1966.

 

 



(2) ... und mit ihren Eltern.

... und mit ihren Eltern.

 

 

(3) Gaby und ich als Hochzeitspaar mit ihrer Schwester Marianne als Brautführerin und mit Brautführer Amatus.

Gaby und ich als Hochzeitspaar mit ihrer Schwester Marianne als Brautführerin und mit Brautführer Amatus.

 

 

 

(4) Hochzeitsgäste in der Kapelle. Eltern Brulhart, Béatrice und ihr Freund. Hintere Reihe Anna und Gregor, dahinter Klara und Ernst.

Hochzeitsgäste in der Kapelle. Eltern Brulhart, Béatrice und ihr Freund. Hintere Reihe Anna und Gregor, dahinter Klara und Ernst.

 

Vom Hochzeitsfest mit der Feier im Landgasthof lassen einzig einige Fotos aus dem Nachlass von Gaby schwache Erinnerungen an diesen Tag in mir wach werden.



Unser erstes Daheim
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13.2.  Gaby und ich – Jungverheiratet.

Unser erstes Daheim

Unser erstes Daheim finden wir an der Neustadtstrasse 26 in Luzern. Es ist eine 3½-Zimmerwohnung mit einem geräumigen Wohn- und Esszimmer, je einem Eltern- und Kinderzimmer, Küche mit Gasherd und Bad. Das Wohnzimmer mit der angrenzenden kleinen Loggia befindet sich auf der Strassenseite mit direktem Blick auf die Gleise der Schmalspurstrecken Richtung Innerschweiz und einer prächtigen Fernsicht in die Voralpen. Die Wohnung liegt im obersten Stock des Wohn- und Geschäftshauses von Motoren-Rossel. Im Hochparterre sind Verkaufsgeschäfte untergebracht. Im ersten Stock befindet sich die Werkstatt, darüber zwei Wohnetagen. Der eine der beiden Brüder Rossel ist für die Werkstatt zuständig und wohnt mit seiner Frau im Haus. Der Andere gibt sich als Geschäftsherr und ist etwas bärbeissig. Ich erinnere mich nicht, wie viel Miete die gepflegte Altbauwohnung kostete. Jedenfalls liegt sie im damals empfohlenen Richtwert von einem Viertel des Einkommens. Das können wir uns mit unseren beiden Gehältern locker leisten.

 

Sieben Jahre kinderlos
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13.2.  Gaby und ich – Jungverheiratet.

Sieben Jahre kinderlos

Schon zwölf Monate nach unserer Hochzeit beginnen Leute in unserem Umfeld zu staunen, dass das Bäuchlein von Gaby keine frohe Kunde verheisst. Es ist so. Wir möchten eine Familie sein. Aber das funktioniert trotz medizinischer Abklärungen und Hilfe nicht. Gaby ist erst traurig, dass ihr Kinderwunsch nicht in Erfüllung geht. Doch nach ein paar Jahren nehmen wir dieses wahrscheinliche Szenario hin. Wir richten uns ein, die Freiheit eines jungen, ungebundenen Paares zu geniessen.

Unser erstes Auto
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13.2.  Gaby und ich – Jungverheiratet.

Unser erstes Auto

Anfangs der 1970er Jahre nehme ich Fahrstunden und besitze ab März 1971 den Führerschein. Bei Gregor Gut, meinem Schwager, kaufen wir das erste Auto für um die 3’000 Franken. Es ist ein dunkelgrüner Simca mit etwa 50’000 Kilometern auf dem Tacho. Gaby meint, es mache Sinn, einen Wagen französischer Marke zu kaufen. Denn sie will ihren Traum wahr machen und via die Loire-Schlösser in die Bretagne fahren. Sollten wir auf der langen Fahrt durch Frankreich eine Panne erleben, würden wir so rasch Hilfe in einer Werkstatt finden. Es ist ein wichtiges Kriterium für unseren Kaufentscheid.

Loire-Schlösser und Bretagne
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13.3.  Gaby und ich – Loire-Schlösser und Bretagne.

Unsere Frankreichreise im Vorsommer 1971 zeigt bildhaft, wie unbedarft wir an eine Geschichte herangehen, die zu einem Abenteuer hätte werden können. Und sie gibt Einblick in eine Lebensphase, wie wir sie in der uns anerzogenen Verklemmtheit gestalten.

Das Studium der Strassenkarte ist die einzige Vorbereitung für unsere Reise entlang der Loire mit den Ferien im fernen Westzipfel von Frankreich als Ziel. Wir sind jung und naiv. Gaby hat die Namen und Orte der Schlösser im Kopf, die sie auf der Fahrt entlang der Loire besuchen möchte. Wir malen uns aus, dass wir nach drei oder vier Tagen Fahrt in der Bretagne eine passende Unterkunft finden. Am Sonnenstrand des rauschenden Atlantiks wollen wir eine Woche dem Nichtstun frönen.

Mit gepackten Koffern, Liegestühlen und Sonnenschirm im Kofferraum fahren wir los. Die „Schlösserfahrt“ mache ich widerwillig mit. Ich kann der Geschichte dieser Zeit mit dem feudalen Luxus des französischen Adels nicht viel abgewinnen. Gegen die auf Einlass zur geführten Besichtigung wartenden Menschenschlangen habe ich eine Aversion. Und auch die abendliche Suche nach einer Unterkunft ist für beide mühselig. Wir spüren Mal für Mal die Anspannung, welche Bleibe uns erwartet. Nach drei oder vier Tagen Fahrt in angespannter Atmosphäre erreichen wir Angers, unseren letzten Etappenort vor unserem Ferienziel. Morgen früh wollen wir uns eine schöne Gegend am Meer aussuchen. Bei einem Kaffeehalt in der Nähe des Golfs von Morbihan schauen wir auf der Karte, wo wir für die nächsten Tage unsere Zelte aufschlagen wollen. Unser Blick fällt auf eine weit in den Atlantik reichende Landzunge. Penerf, das ist unser Ort, ringsum umgeben vom Meer!






Doublezero Penerf
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13.3.  Gaby und ich – Loire-Schlösser und Bretagne.

Doublezero Penerf

Vor dem Mittag kommen wir am äussersten Zipfel der Landzunge an. Penerf ist ein Dorf mit wenigen, etwas heruntergekommenen Häusern. In der Dorfmitte, unweit des kleinen Fischerhafens, ist das ordentlich aussehende Gasthaus nicht zu übersehen. Gaby erkundigt sich an der Theke nach einem Zimmer für einen einwöchigen Aufenthalt. Ja, sagt der Chef. Es sei ein Doppelzimmer frei. Das Zimmer ist sauber, in altem Stil eingerichtet, mit quietschendem Doppelbett und einem Schrank aus massivem Holz. Vom einzigen Fenster aus geht der Blick auf Gemüsegarten, Hühnerhof und einen Schopf mit Zeltanbau, in dem sich die Küche des Hauses befindet. Gaby und ich schauen uns an. Wir hatten uns etwas Gemütlicheres vorgestellt, trauen uns aber nicht, Nein zu sagen zu dieser Unterkunft. Für eine Woche werden wir es aushalten.

Unsere Gastgeber sind nett und zuvorkommend. Unter sich sprechen sie Bretonisch. Ihr Französisch ist für unsere Ohren ungewohnt. Das Restaurant des Hauses ist Anziehungspunkt für Feinschmecker und Freunde allen Essens aus dem Meer. Meeresfische, Krabben, Seeschnecken, Muscheln, Austern, Langusten, Hummer sind die Leckereien, die von den Gästen mit strahlenden Gesichtern genossen werden. „Plat du mer royale“ nennt sich die Hausspezialität, wie mir die Speisekarte verrät. In unserer Halbpension wären diese Köstlichkeiten der Einheimischen zu haben. Doch wir „Landeier“ können nichts anfangen mit diesem Getier des Meeres. Bei der täglichen Menüauswahl ist unsere alleinige Alternative der Gigot d’Agneau. Doch auch Lamm essen wir ungern. Praktisch das Einzige, was Gaby mag, sind Crêpes oder Galettes.

Abends ist das Bistro von Einheimischen gut besucht. Unüberhörbar oft klingelt das Telefon. Die Frau am Ausschank nimmt die Anrufe mit der seltsamen Meldung „doublezero Penerf“ entgegen. Von der Bar aus ruft sie den Gast, der zum Gespräch angerufen wird. Ist er nicht anwesend, schickt sie jemanden ins Dorf, um die Person zu holen. Mit der Zeit finde ich heraus, was hinter diesem Prozedere steckt. Im Bistro befindet sich das einzige Telefon im Ort. Dieses hat die Gemeinde wegen der Notfälle eingerichtet. Die Telefonnummern sind nach Ortschaften vergeben, und die Anrufe erfolgen via die bediente Telefonzentrale im fernen Paris. 00 ist die Nummer des Dorfanschlusses. Mit der Anmeldung „doublezero Penerf“ erhält der Anrufer die Gewissheit, richtig verbunden zu sein.

Wir haben Mühe mit den ungewohnten Situationen in diesem abgelegenen Ort. Unser Zimmer liegt direkt über der Bar. Das Geplauder der Gäste dauert bis spät abends und geht uns bald auf die Nerven. Der seltsame Geruch des Schwemmlandes stört unsere Nasen. Vom Meeresstrand ist nichts zu sehen. Die Küste ist seicht und mit Muschel- und Austernzuchten belegt. Hie und da finden wir hinter windgeschützten Dünen einen Sonnenplatz. Wir müssen das Auto benutzen, um mit unseren Liegestühlen und dem Sonnenschirm dorthin zu gelangen. Keine Ahnung haben wir von den Gezeiten und von ihrem Einfluss auf das Leben am Atlantik. Uns mangelt es an Ideen, wie wir mit der Umgebung vertraut werden könnten. Es fehlt uns die Freude, Unbekanntes zu entdecken. „Meer“ ist für Gaby gleichbedeutend mit der Küste der italienischen Riviera. Ich habe dem nicht viel entgegenzusetzen. Wir sind in der Bretagene verloren!

„On ose pas!“ Diese von Gaby oft gebrauchten Worte liegen mir im Ohr, wenn ich sie frage, ob wir nicht doch nach einer anderen Unterkunft oder einem anderen Ort Ausschau halten sollten. Es geziemt sich nicht, einen einmal getroffenen Entscheid umzustossen. Sie und ich haben in unserem bisherigen Leben nichts anderes erfahren.

Ein paar Tage vor unserer Abreise setzt sich der Chef des Hauses an unseren Tisch. Pierre, wie er sich vorstellt, fragt nach unserer Herkunft. Er will wissen, warum wir seine Spezialitäten des Meeres verschmähen. Wir versuchen, ihm zu erklären, dass wir weder Fisch noch Meeresfrüchte mögen. Einordnen kann er unsere Abneigung gegen die Ernte des Meeres nicht. Er berichtet uns von seiner Reise vor zwei Jahren in die Innerschweiz. Die Landschaft, ja, das sei für ihn ein Erlebnis gewesen. Aber die vielen Berge! Das sei auf die Dauer kein Leben. Und erst das Essen. Nichts als Schwein sei auf den Speisekarten gestanden, ein Graus. Er überredet mich, sein Muschelgericht zu versuchen. Widerwillig bin ich dazu bereit. Das Versucherli mundet mir aber bestens, und Pierre ist stolz, dass mir diese Köstlichkeit gefällt. „Moules marinières“ wird ab sofort zu meinem Lieblingsgericht am Meer. Gaby hingegen kann sich nicht überwinden, eine der Muscheln zu probieren. Im Rückblick bin auch ich dankbar, dass mir der Gastgeber nicht seine berühmten Langusten oder Crevetten zum Versuch serviert hat. Denn ich erlebe erst Jahre später, welche allergische Reaktion der Genuss von Krustentieren in meinem Körper auslöst.

Die Bretagne in Wirklichkeit erleben
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13.3.  Gaby und ich – Loire-Schlösser und Bretagne.

Die Bretagne in Wirklichkeit erleben

Erst zu Beginn der 2000er Jahre werde ich wieder auf diese besondere Gegend von Frankreich aufmerksam. Ich lese die im deutschsprachigen Raum zum Kult gewordenen Kriminalromane mit den Fällen von „Kommissar Dupin“. Wer kann Geschichte, Leben, Leute, Kultur, Meer, Licht und Kulinarik der Bretagne echter und spannender beschreiben als der unter dem Pseudonym „Jean-Luc Bannalec“ dort lebende deutsche Autor? In den Jahren 2015 und 2017 mieten Uschi und ich erstmals ein Wohnmobil für mehr als zwei Wochen. Bei unserer Rundreise auf der Halbinsel erleben wir die Landschaft, die faszinierende Küste, Dörfer und Kleinstädte mit ihren Märkten in all ihren Facetten. Wir sind von der Bretagne fasziniert und begeistert.

Auf unserer Reise im Juni 2015 will ich Penerf nochmals sehen. Wir lassen unsere mobile Behausung auf dem grossen Parkplatz vor dem Dorf stehen und schlendern Richtung Fischerhafen. Sofort erkenne ich das Haus wieder, in dem Gaby und ich 1971 Gäste waren. Die Aussenansicht ist unverändert. Doch alles andere im Haus ist neu, und das Dorf und seine Umgebung sind in der heutigen Zeit angekommen. Das Café scheint noch immer gepflegte Adresse für die Früchte des Meeres zu sein. Ich erkundige mich, ob man sich an Pierre erinnere, den früheren Chef des Hauses. Ja, er sei eine Legende. Vor Jahren habe er das Haus verkauft und sei in eine andere Gegend gezogen.

Zum Mittagessen auf dem Vorplatz gönne ich mir sechs Austern mit einem Glas Sauvignon blanc. Uschi geniesst eine Galette.

Wie war die Welt vor 44 Jahren doch anders!



(1) Le Café Pécheur, Penerf, (Morbihan), Bretagne. 05.06.2015 um die Mittagszeit.

Le Café Pécheur, Penerf, (Morbihan), Bretagne. 05.06.2015 um die Mittagszeit.



Meine Gehversuche im Hochgebirge
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13.4.  Gaby und ich – Meine Gehversuche im Hochgebirge.
An Wochenenden sind Gaby und ich mit René und Marta Felber, dem ebenfalls bei der CKUS beschäftigten und kinderlosen Ehepaar, unterwegs auf interessanten Bergwanderungen. René selbst macht auch hie und da Touren in höhere Bergregionen mit Kari Aragi und Edi Blättler. Es sind die zwei Arbeitskollegen, denen ich auf derselben Etage fast täglich begegne. Die drei ermuntern mich, einmal auf eine ihrer Hochtouren mitzukommen. Ich kümmere mich nicht darum, ob sie dafür genügend alpine Erfahrung besitzen und die Risiken richtig einschätzen können. Und ich selbst hinterfrage meine körperliche Leistungsfähigkeit ob der zu erwartenden Strapazen im Hochgebirge kaum.
Tracuithütte, 3250 m / Bishorn VS (4150m)
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13.4.  Gaby und ich – Meine Gehversuche im Hochgebirge.

Tracuithütte, 3250 m / Bishorn VS (4150m)

Als Erstes lasse ich mich von Kari und Edi zu einer Tour im Wallis überreden. Gutes Schuhwerk gehört bereits zu meiner Ausrüstung für anspruchsvolle Bergwanderungen. Die Kollegen erklären mir, dass ich für die Tour Eispickel, Steigeisen, Gamaschen und Kletterseil brauche. Diese Sachen besorge ich mir in einem bekannten Geschäft für Alpinsport. Für die Bergtour seien zwei Tage einzuplanen. Im Auto würden wir am Samstag am frühen Morgen nach Zinal im hinteren Val d’Anniviers fahren. Übernachtet werde in der Tracuithütte. Anderntags würde in aller Früh der Aufstieg aufs Bishorn in Angriff genommen. Dieser Gipfel gehöre zu den leichtesten Viertausendern der Alpen.

Im Hüttenaufstieg halte ich das eingeschlagene Tempo gut mit, doch die 1580 Höhenmeter bis zur SAC-Hütte auf 3250 Metern haben es in sich. Vor dem Abendessen erahnen wir von der Hütte aus den Verlauf der Route auf den Viertausender. Die imposante Fels- und Gletscherwelt hinterlässt in mir ein mulmiges Gefühl. Mit Tagwache in aller Herrgottsfrühe sind am Sonntag noch einmal fast tausend Höhenmeter Aufstieg, aber in Schnee und Eis angesagt. Danach folgen der Abstieg zum Auto und die Rückfahrt über die Pässe Grimsel und Brünig nach Luzern.

In der SAC-Hütte treffe ich als Greenhorn auf routinierte Bergsteiger. Ich höre Berichte über ihre eindrücklichen Erlebnisse und Erfahrungen im Hochgebirge. Nachtruhe ist früh. Trotz müden Beinen finde ich im Massenlager kaum Schlaf. Immer wieder werde ich durch Schnarchgeräusche aufgeweckt. So kommt die Tagwache für mich wie gerufen.

Die Berggänger machen sich vor der Hütte schon früh kundig über das Wetter. Ich höre, dass dichter Nebel die Sicht behindere. Bei diesen Verhältnissen sei ein Aufstieg zum Gipfel riskant. Mir fallen Felsbrocken vom Herzen. Meine Kollegen sind zwar unschlüssig, ob sie doch den Versuch zum Aufstieg wagen wollen. Vielleicht lichte sich der Nebel schneller als erwartet. Ich bin nicht zu haben. Allenfalls würde ich in der Hütte auf ihre Rückkehr warten. Meine Erleichterung ist gross, als sich Edi und Kari nach Rücksprache mit dem Hüttenwart davon überzeugen lassen, dass es vernünftiger sei, auf den Aufstieg zu verzichten. Nach dem Frühstück erlebe ich den Hüttenabstieg bei schönstem Sonnenschein mit erleichtertem Herzen. Im Gegensatz zu meinen Kollegen hadere ich auch nicht mit dem Wetterpech, das uns das Besteigen des ersten Viertausenders verunmöglichte. Der Muskelkater zu Beginn der neuen Arbeitswoche ist Quittung für meine ungenügende körperliche Verfassung für ein gewagtes Bergabenteuer.

Reissend Nollen OW, 3003 m
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13.4.  Gaby und ich – Meine Gehversuche im Hochgebirge.

Reissend Nollen OW, 3003 m

Die nächste Alpintour planen René und sein Freund Sepp Berwert, der Bäckermeister aus Wilen ob Sarnen. Wir wollen den Reissend Nollen im Titlisgebiet besteigen. Ohne Kenntnis von Einzelheiten und Schweregrad der Tour bin ich dabei. Mit der Drahtseilbahn fahren wir von Engelberg auf Trübsee, von dort zu Fuss dem Bergsee entlang zur Sesselbahn auf den Jochpass (2200 m). In der Jochpasshütte verpflegen wir uns in aller Gemütlichkeit. Dabei fällt mir das an der Wand hängende Bild auf. Es stellt die Tour auf den Reissend Nollen dar mit dem oberhalb der Hütte beginnenden steilen Aufstieg über Firn, Eis und Felsen. An einigen Stellen sind Kreuzchen zu sehen, denen ich keine grosse Beachtung schenke.

Es ist später Vormittag, als wir den Aufstieg in Angriff nehmen. Nach zwei- oder dreihundert Höhenmetern gelangen wir zum Firn, wo wir uns zur Dreier-Seilschaft formieren. Die Oberfläche des Firns ist mit einer Eisschicht bedeckt. Doch diese hält unserem Körpergewicht nicht stand. Mit praktisch jedem Tritt sinken wir bis auf Kniehöhe in den Weichschnee ein. Dabei werden meine Schienbeine trotz der schützenden Gamaschen bis zum Bluten strapaziert. Mit einiger Verspätung erreichen wir den Gipfel müde, aber ohne Zwischenfall.

Den steilen Abstieg bewältigen wir teilweise im Laufschritt und im Schnee rutschend. Wir müssen uns beeilen, um die letzte Fahrt der Jochpassbahn nicht zu verpassen. Das gelingt uns nur, weil ein Angestellter der Bahn unsere verwegene Tour die ganze Zeit mit dem Feldstecher verfolgt hat. Mit fünf Minuten Verspätung erreichen wir die Jochpass Bergstation. Als letzte Gäste werden wir zur Talstation gefahren. Dort nimmt uns der Bahnangestellte mit seinem Schilter-Fahrzeug mit zur Station Trübsee. Auch hier wartet die Luftseilbahn auf uns für die letzte Fahrt zurück nach Engelberg.

Bei einer späteren Wanderung in der Gegend des Jochpasses erklärt mir René die Bedeutung der Kreuzchen auf der in der Hütte hängenden Tourenkarte. Es seien die Markierungen der um die zehn bis dahin bei der Begehung des Reissend Nollen tödlich verunglückten Bergsteiger. Erst jetzt wird mir bewusst, wie viel Glück uns beistand, dass wir von dieser ungenügend vorbereiteten Tour ohne Zwischenfall nach Hause gekommen sind.

 

 

(1) Anfangs der 1970er-Jahre. Seilschaft am Reissend Nollen. Rene Felber unten, ich oben.

Anfangs der 1970er-Jahre. Seilschaft am Reissend Nollen. Rene Felber unten, ich oben.

 

(2) Auftstieg Reissend Nollen. Sepp Berwert oben, ich unten, der Schatten zeigt den fotografierenden René.

Auftstieg Reissend Nollen. Sepp Berwert oben, ich unten, der Schatten zeigt den fotografierenden René.

 

 

 

 

Gross-Spannort UR, 3198 m
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13.4.  Gaby und ich – Meine Gehversuche im Hochgebirge.

Gross-Spannort UR, 3198 m

Von Engelberg aus ist der zum Kanton Uri gehörende Gross-Spannort mit seinen Nadeln ein unübersehbarer Felsturm. Unsere Fünfergruppe mit Kari, Sepp, Edi und René will in einer Zweitagestour diesen markanten Gipfel mit Gletscher- und einfachen Kletterpassagen besteigen. Beim Parkplatz der Talstation der Fürenalpbahn (1084 m) beginnt der Hüttenanstieg via Alp Stäfeli (1394 m). Im Alprestaurant steht für uns ein Tisch für ein frühes Znacht bereit. Es ist schon dunkel, als wir mit dem eigentlichen Hüttenaufstieg beginnen. In der klaren Nacht ist der Bergweg gut sichtbar. Im oberen Teil aber hindern Nebelschwaden die Sicht. Wir sind jetzt froh um die Taschenlampen, mit denen wir die weiss-rot-weissen Wegmarkierungen orten und dem nächstfolgenden Kollegen durch Blinkzeichen und Zurufe den Weg weisen. Erst nach zweiundzwanzig Uhr erreichen wir die Spannorthütte SAC auf 1956 m. Mir macht die kurze Nacht nichts aus, denn Schlaf finde ich im Massenlager ohnehin kaum.

Der Aufstieg zum Gipfel am frühen Morgen wird für mich zu einer Mutprobe. Angeseilt und mit Steigeisen gelangen wir zum Einstieg bei der Schlossberglücke. Die folgende luftige Kletterei über Steilstufen bis zum Gipfel schaffe ich mit bergsteigerischer Hilfestellung durch meine Bergkollegen. Unser Lohn für den anstrengenden Gipfelaufstieg ist die phänomenale Aussicht auf Engelberg.


(1) Kletteranstieg zum Gipfel Gross Spannort. Edi Blättler, Sepp Berwert und ich (von oben nach unten).

Kletteranstieg zum Gipfel Gross Spannort. Edi Blättler, Sepp Berwert und ich (von oben nach unten).

 



(2) Unsere Seilschaft vor dem Gipfelkreuz. Von links: Kari Aragi, Sepp Berwert, René Felber, ich und Edi Blättler. August 1972.

Unsere Seilschaft vor dem Gipfelkreuz. Von links: Kari Aragi, Sepp Berwert, René Felber, ich und Edi Blättler. August 1972.

 

 



Grassenbiwak 2650 m / Grassen 2950 m
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13.4.  Gaby und ich – Meine Gehversuche im Hochgebirge.

Grassenbiwak 2650 m / Grassen 2950 m

Eine weitere zweitägige Tour führt unsere Gruppe zum hinter der Titlis-Südflanke an der Berner Grenze liegenden Grassen. Mit der Bahn fahren wir hoch zur Titlis-Bergstation. Dort erwartet uns ein Engelberger Bergführer. Er wird auf der Tour unser verantwortungsbewusster Führer sein. Über den Gletscher gelangen wir hinunter zum markanten Couloir zwischen Titlis und Reissend Nollen. Dort macht uns der Guide mit den Grundzügen der Abseiltechnik vertraut. Unter seiner Anleitung seilen wir uns einzeln bis zur etwa dreissig Meter weiter unten liegenden Felsplatte ab. Obwohl ich ohne Erfahrung bin, gelingt mir das gut. Der anschliessende Zustieg zum Grassenbiwak in den Felsen entlang der markanten Titlis-Südwand erfordert Trittsicherheit und Geduld.


(1) Beim Abseilen und Abklettern im Couloir an der Titlis-Südwand.

 

Beim Abseilen und Abklettern im Couloir an der Titlis-Südwand.

 

 

(2) Zustieg zum Grassenbiwak in der Titlis-Südwand. In Felsen sind wir als winzige Männchen erkennbar.

Zustieg zum Grassenbiwak in der Titlis-Südwand. In Felsen sind wir als winzige Männchen erkennbar.


Die Nacht im engen Biwak verbringe ich grösstenteils unter dem Sternenhimmel auf dem Bänkchen vor dem als Schutzraum konzipierten Hüttchen. Am frühen Sonntagmorgen nehmen wir den Aufstieg über den steilen Firn zum Grassen in Angriff. Den schon mit viel Volk besetzten Gipfel erreichen wir am späten Vormittag. Der Abstieg nach Herrenrüti bei Engelberg führt am Biwak vorbei auf die Geröllhalde hinter der Ostflanke des Titlis. Er ist anstrengend und erfordert nochmals höchste Konzentration. Muskelkater an den Folgetagen ist garantiert.

Jungfraujoch, (3354 m), Berglihütte SAC, 3299 m und Mönch (4107 m)
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13.4.  Gaby und ich – Meine Gehversuche im Hochgebirge.

Jungfraujoch, (3354 m), Berglihütte SAC, 3299 m und Mönch (4107 m)

Diese Tour mit meinen fünf Bergkollegen wird zum eindrücklichen Erlebnis und Abenteuer. Die Bahnfahrt von Lauterbrunnen via Wengen und Kleine Scheidegg zum Jungfraujoch ist in meinen jungen Jahren ein Erlebnis sondergleichen. Dank der von der CKUS zur Verfügung gestellten Reka-Checks können wir die teuren Billetts günstiger beziehen.

Beim Stollenausgang auf dem Jungfraujoch bin ich überwältigt. Diese Bergwelt mit Aussicht über den Aletschgletscher zum Konkordiaplatz und in die Walliser Hochalpen bleibt mir unvergessen. Dort machen wir uns bereit zum Aufstieg über den Firn Richtung Mönchsjoch mit Abstieg über die Felsen zur Berglihütte. Das Gestein ist teilweise vereist und nur mit äusserster Vorsicht begehbar. Unser Ziel erreichen wir glücklicherweise in der Abenddämmerung ohne Zwischenfall.

Die Lage der Berglihütte in den Felsen am Rand des Eismeeres östlich der Eigernordwand ist einmalig. In der unbewarteten Hütte gelingt es meinen Bergkollegen nicht nur Rauch zu entfachen. Mit der Zeit lodert im kleinen Holzofen ein echtes Feuer. Aus dem vor der Hütte liegenden Schnee entsteht warmes Wasser. Unser Znacht ist die darin gekochte Päcklisuppe mit Brot, Käse und Wurst. Dazu ein Gläschen Wein und wärmender Tee.

Anderntags wollen wir in der Früh den Aufstieg zum Mönch in Angriff nehmen. Aber schon ein Blick von der Hütte aus Richtung der imposanten Viertausender trübt die Freude meiner Bergkollegen. Wieder könnte uns der Nebel die Tour vermasseln. Zwar erreichen wir den Einstieg zum Mönch in den Nebelschwaden mühelos. Sepp glaubt, wir sollten wenigstens einen Versuch wagen, den Aufstieg in Angriff zu nehmen. René hingegen ist skeptisch und ich sowieso. Bei dieser Sicht wäre auch der Abstieg mit zu grossen Gefahren verbunden. So entschliessen wir uns noch am Vormittag zur Rückkehr aufs Jungfraujoch und fahren mit der Bahn zum Zwischenhalt mit Zmittag auf die Kleine Scheidegg.

Das Ende meiner hochalpinen Abenteuer
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13.4.  Gaby und ich – Meine Gehversuche im Hochgebirge.

Das Ende meiner hochalpinen Abenteuer

Es sind die Erfahrungen auf dieser Tour, die in mir die Frage nach der Sinnhaftigkeit meiner Bergabenteuer aufkommen lassen. Ich selber habe nicht die für das hochalpine Berggehen erforderlichen Kenntnisse. Meine Bergkollegen sind zwar besser bewandert als ich, aber auch ohne tiefere Ausbildung in der Technik und im Einschätzen der Bedingungen für das Hochgebirge. Mir fehlt zudem die Leidenschaft, um mich den technischen und körperlichen Herausforderungen dieser Sparte des Bergsteigens zu stellen. Ich entscheide mich, dem hochalpinen Tourismus Adieu zu sagen. Bestärkt wird mein Entschluss dadurch, dass ich nach der Geburt von Alain meiner Verantwortung als Familienvater nachkommen will. Riskante Touren im Hochgebirge finden darin keinen Platz. Was mir bleibt, ist die Ehrfurcht vor dieser nur im Kleinen erlebten grossartigen Bergwelt.

Alain kommt in unsere Welt
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13.5.  Gaby und ich – Alain kommt in unsere Welt .

Im Frühjahr 1972 zeigen sich bei Gaby Anzeichen einer Schwangerschaft. Sie nimmt diese Situation mit widersprüchlichen Gefühlen an. Wir haben uns in diesen fast sieben Jahren in einem Zusammenleben ohne Kinder eingerichtet. Gaby arbeitet jetzt bei der Sektion Luzern der CKUS, hat einen guten Verdienst, und wir sind unabhängig. Eine nicht mehr erwartete Schwangerschaft würde unser Leben radikal ändern. Vor der Konsultation bei ihrem Frauenarzt meint sie sogar zu mir: „Si tu m’as fait ça!“. Ich bin verwirrt, kann diese Bemerkung nicht einordnen. Aber ihr Gefühlsausbruch dürfte Ausdruck davon sein, wie schwer es ihr fällt, mit unerwarteten Weichenstellungen in ihrem Leben zurechtzukommen.

Alains Geburt
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13.5.  Gaby und ich – Alain kommt in unsere Welt .

Alains Geburt

Bald hat sich Gaby mit der neuen Lebenssituation versöhnt. Drei Monate vor der Geburt hört sie auf zu arbeiten. Sie bereitet sich gewissenhaft auf ihr Mutterwerden vor. Am 12. Juni 1973 ist es soweit. Morgens fahren wir in die Klinik St. Anna. Doch es dauert. Die Hebamme schickt mich ins nahe gelegene Restaurant Bäckerstube. Dort wissen Personal und Gäste, was es heisst, wenn ein junger Mann ans Telefon gerufen wird, in aller Eile seine Konsumation bezahlt und im Laufschritt das Haus verlässt. So geht es mir kurz nach Mittag. Rechtzeitig zur Geburt bin ich wieder im Spital. Am frühen Nachmittag bringt Gaby einen gesunden Knaben zu Welt. Ich bin erleichtert. Denn ich bilde mir ein, dass ich der Rolle als Vater eines Mädchens nicht gewachsen wäre. Dass der Bubenname Alain sein würde, war im Voraus abgemacht, denn für Gaby ist Alain Delon, der französische Kinostar, das Idol jener Zeit. Marianne, Gabys Schwester, und Amatus, mein Bruder, werden Gotte und Götti unseres Sohnes.

Unser Leben als junge Familie
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13.6.  Gaby und ich – Unser Leben als junge Familie.
Für Gaby wie für mich ist klar, dass unser Sohn in beiden Sprachen aufwachsen soll. Die Mutter kommuniziert mit ihm in ihrer Muttersprache und ich im Schweizerdeutsch. Selbstverständlich will ich mich als Vater auch in der Betreuung des Kindes engagieren. Gaby hat ihre Arbeitsstelle bei der CKUS aufgegeben. Sie will dem Kind nahe und eine gute Maman sein. Dass die Frau sich voll der Kinderbetreuung annimmt, ist bis in die 1970er Jahre eine Selbstverständlichkeit. Angebote zur Fremdbetreuung gibt es kaum.



(1) Alain im Fotostudio Scheiwiller am Bundesplatz, um 1975.

 

Alain im Fotostudio Scheiwiller am Bundesplatz, um 1975.

Bis Alain zweijährig ist, sind wir im Neustadtquartier daheim. Doch die Lage unserer Wohnung direkt an der Strasse und ohne Auslauf erachten wir als nicht kindergerecht und gefährlich. Im Frühling 1975 finden wir eine schöne 4-Zimmerwohnung an der Berglistrasse 38. Vor dem Haus gibt es einen kleinen Vorplatz, und in Sichtweite befindet sich der neugestaltete Spielplatz des Säliquartiers. In der Attikawohnung lebt die Familie der Hauseigentümerin. Ihre zwei Buben sind etwas älter als Alain. Vielleicht finden sich die Kinder als Spielkameraden.

Zu dritt leben wir nun das Leben einer Familie jener Zeit. Ich arbeite während der Woche. Am Samstag ist Einkaufen angesagt, und am Sonntag stehen Ausflüge in der Umgebung auf dem Programm. Die Familien meiner Stammfreunde haben Kinder im Alter von Alain. So ergibt es sich fast zwangsläufig, dass wir unsere Freizeit oft mit diesen Familien teilen. Einmal im Monat fahren Gaby und ich zu ihren Eltern. Alain ist ihr einziges Grosskind und wird von ihnen vergöttert.



(2) Alain mit grand-papa, ca. 1975 beim Lesen der Liberté.

 

Alain mit grand-papa, ca. 1975 beim Lesen der Liberté.

 





 




Alain, Nanny und Tonton
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13.6.  Gaby und ich – Unser Leben als junge Familie.

Alain, Nanny und Tonton
Marianne ist von Fribourg weg nach Luzern gezogen und hat eine Arbeitsstelle angenommen. Mit Lesly Hogg lernt sie hier ihren Lebenspartner kennen. Dass er als Engländer nicht katholisch ist und dazu noch geschieden, wird im Hause Brulhart nicht akzeptiert. Die Eltern überwerfen sich mit ihrer Tochter. Sie weigern sich gar, an ihrer Hochzeit dabei zu sein. Mich beginnen diese unglaublichen Konventionen zu ärgern. Als das Thema „Heirat von Marianne“ bei einem unserer Besuche am Mittagstisch zur Sprache kommt, drücke ich mich klar und deutlich aus. Ich kann es nicht begreifen, dass Eltern ihr eigenes Kind in einer weichenstellenden Lebenssituation alleine lassen. Meine Parteinahme führt zu einer empfindlichen Störung der Beziehungen unserer Familie zu meinen Schwiegereltern.

Marianne und Lesly bleiben kinderlos. Wenn Gaby und ich ausgehen wollen, übernehmen sie den Kinderhütedienst. In ihrer Wohnung im Moosmattquartier haben sie für Alain das Gästezimmer kindergerecht eingerichtet und verwöhnen ihn nach allen Regeln der Kunst.


 

Alain mit Gotte Marianne (Nanny) und Onkel Lesly (Tonton). 1975 / 1974.

 

 

 

Ferien und Freizeit
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13.6.  Gaby und ich – Unser Leben als junge Familie.

Ferien und Freizeit

Dreimal verbringen wir Ferien mit Familien aus dem Freitagsstamm. Im Frühsommer 1974 mieten wir uns zusammen mit Erna und Vlady Manz und dem dreijährigen Reto zwei Wochen in einem komfortablen Chalet im kleinen Walliser Bergdorf Bürchen ein. Im Jahr darauf sind Ferien mit Jacques und Erika Gehrer und dem einjährigen Michael in einer Altbauwohnung im Zentrum von Riva San Vitale am Südufer des Lago di Lugano angesagt. Ein Jahr später sind wir zwei Wochen mit der Familie von Erika und Kurt Gehri und ihrem Sohn Armin in einer Ferienwohnung in Zermatt.



(1) Bürchen VS 1974. Alain im Huckepack, Vlady, Erna und Reto Manz.

Bürchen VS 1974. Alain im Huckepack, Vlady, Erna und Reto Manz.



(2) Mit der Familie von Kurt und Erika Gehri (Bild Mitte) in Zermatt.

Mit der Familie von Kurt und Erika Gehri (Bild Mitte) in Zermatt.


Im Rückblick dünkt mich, dass es uns in diesen gemeinsamen Ferien nicht gelungen ist, die eigenen und die gemeinschaftlichen Interessen unter einen Hut zu bringen. Gaby mochte die aus diesen Gründen auftretenden Spannungen nicht ansprechen. Es war wohl deshalb für sie schwierig, sich in diesen Gemeinschaften wohlzufühlen.

Das ist mit ein Grund, unsere Ferien künftig als Familie zu dritt zu planen. Eine welsche Kollegin bringt Gaby auf die Idee, den für Kinder ungefährlichen Sandstrand von Narbonne Plage in Südfrankreich als nächstes Feriendomizil anzupeilen. Ende der 1970er Jahre, im Vorschulalter von Alain, verbringen wir unsere Sommerferien im Juni bei kühlen Temperaturen und mit der steifen Brise, dem Tramontana vom Baskenland her ziehend zweimal in einem Häuschen direkt an der weitläufigen Strandpromenade dieses bei den Franzosen beliebten Sommerferienortes. Die jeweils um die tausend Kilometer lange Hin- und Rückfahrt schaffen wir in zwei Etappen. Dabei sind wir jetzt unterwegs in unserem neuen, in der Schweiz anfänglich für Aufsehen sorgenden Citroën GS mit dem einzigartigen Federungs- und Dämpfungssystem Hydropneumatik.



(3) Mit Alain am menschenleeren Sandstrand von Narbonne Plage. Ich baue mit der Luftmatratze einen Windschutz.

Mit Alain am menschenleeren Sandstrand von Narbonne Plage. Ich baue mit der Luftmatratze einen Windschutz.



(4) Gaby zeigt Alain, wie er seine Augen vor den Sandwirbeln schützen kann.

Gaby zeigt Alain, wie er seine Augen vor den Sandwirbeln schützen kann.


An den Wochenenden stehen oft Ausflüge und Wanderungen mit den Familien meiner Stammfreunde auf dem Programm. Gemeinsam treffen wir uns zum Hüttenbesuch oder Picknick an den Hängen des Pilatus.

Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur
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14.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur

Etwa zur gleichen Zeit wie ich zur CKUS komme, wird Dr. Beat Weber ihr Zentralpräsident. In dieser obersten Führungsfunktion hat er die Oberaufsicht über das Gesamtunternehmen, präsidiert die Milizführungsorgane (Zentralvorstand und Zentralausschuss), ist Ansprechperson für die kantonalen Organisationen (Kantonalvorstände) und die Sektionen. Über ihn laufen alle Aussenbeziehungen. Er wird alle drei Jahre durch die Schweizerische Delegiertenversammlung gewählt.

Das Zentralsekretariat - Die Stabsstelle des Präsidenten
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14.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur

Das Zentralsekretariat - Die Stabsstelle des Präsidenten

Der Zentralsekretär ist als Leiter dieser Stabsstelle verantwortlich für die Organisation und Vorbereitung der Versammlungen und Sitzungen der zentralen Organe (Schweizerische Delegiertenversammlung, Zentralvorstand, Zentralausschuss und dessen Kommissionen) und besorgt die Protokollführung. Er wird durch eine Sekretärin unterstützt. In Absprache mit dem Zentralpräsidenten bearbeitet er auch die Rechtsfälle. Als gewiefter Jurist behält Beat Weber jedoch das Heft in allen Rechtsfragen in der Hand. Er ist bekennender „Christlich-Sozialer“ und achtet sorgsam darauf, dass die CKUS die mit ihrem Ursprung verknüpften sozialen Grundsätze nicht nur im Namen trägt.

Als ich Jahre später mit dem Zentralpräsidenten in einem engen Vertrauensverhältnis zusammenarbeite, erklärt er mir das so.

Ein Jurist hat zwei Möglichkeiten, wie er an eine Streitfrage herangeht. Entweder er sucht nach einer Bestimmung, die es ihm erlaubt, zugunsten des Schwachen zu entscheiden. Oder er klemmt sich an einen Paragrafen fest, mit dem er einen negativen Entscheid begründet. Für mich gilt der Grundsatz, dass bei der CKUS in Streitfragen nach dem ersten Prinzip zugunsten des Mitglieds vorgegangen wird.

Nicht alle Verantwortlichen innerhalb des Unternehmens finden Gefallen an dieser Maxime.

Die Zentralverwaltung in der Matrix-Organisation
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14.1.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Die Zentralverwaltung in der Matrix-Organisation.

Die Zentralverwaltung mit ihren etwa 150 Mitarbeitenden wird von Zentralverwalter Abel Froidevaux geführt. Als administrative Kontrollinstanz überwacht diese die Arbeit der Sektionen und sorgt für das finanzielle Gleichgewicht der Krankenkasse.

Für die von Engelbert Lammer, meinem direkten Vorgesetzten, geführte Abteilung ergibt sich in dieser Organisation zwangsläufig eine klassische Doppelunterstellung. Personell sind wir dem Zentralverwalter unterstellt. Mit den vielen Aussenbeziehungen (Kollektivversicherungen, Propaganda und Werbung) ist jedoch der Zentralpräsident unsere fachliche Ansprechstelle.

Lammer und Weber - Zwei unterschiedliche Charaktere
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14.1.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Die Zentralverwaltung in der Matrix-Organisation.

Lammer und Weber - Zwei unterschiedliche Charaktere

Die geschäftlichen Zielsetzungen des Zentralpräsidenten und von Lammer sind deckungsgleich. Die CKUS soll eine mitgliederstarke und führende Krankenkasse der Schweiz werden. Diametral unterscheiden sich jedoch die Persönlichkeiten und die Arbeitsweise der beiden Männer.

Beat Weber ist ein hochintelligenter und einfühlsamer Mensch und begegnet seinem Umfeld mit einem hohen Mass an Empathie. Er hat ein starkes soziales Verantwortungsbewusstsein, das sich in seinem Wirken im Unternehmen und in der Branche widerspiegelt. Sitzungen, Besprechungen und Versammlungen führt er, ohne dass das Thema zerredet wird. Er lässt Raum für alle Meinungen, aber die Ergebnisse entsprechen seinen Zielen. Dennoch lassen sie den Sitzungsteilnehmern die Überzeugung, sie widerspiegelten auch ihre Ideen. Er kommuniziert in den drei Landessprachen schriftlich und mündlich gepflegt, lebendig und ausdrucksvoll. Nicht selten hilft er seinen eigenen Kadermitarbeitern französischer oder italienischer Muttersprache in wichtigen Texten die richtige Wortwahl zu finden. Seine Vorträge und Reden sind kurz und prägnant und oft mit einer Prise verstecktem Schalk gespickt.

Engelbert Lammer dagegen, mein direkter Vorgesetzte, ist Hansdampf in allen Gassen mit einem eigenwilligen Charakter. Seine unkonventionellen Ideen verfolgt er mit einem Quäntchen Sturheit. Dabei nimmt er in Kauf, bei nicht pflegeleichten Aussenstellen, Chefkollegen oder gar Kunden anzuecken. Sein Beliebtheitsgrad hält sich deswegen in Grenzen, und auch bei einigen Sektionen und Vertragspartnern ist er ungern gesehen. Im Hause spielen dabei Neid und Missgunst eine Rolle, denn die positive Mitgliederentwicklung ist seine Erfolgsgeschichte.

Kollektivversicherungen - Mein Einsatzgebiet
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14.2.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Kollektivversicherungen - Mein Einsatzgebiet .

Bis zu Beginn der 1970er Jahre wachse ich im Kollektivgeschäft des deutschsprachigen Tätigkeitsgebiets in eine informelle Stellvertreterrolle von Engelbert Lammer. Mein Chef schickt mich zu Vertragsgesprächen mit bisherigen und potenziellen Kunden. Ein- oder zweimal wöchentlich bin ich im Aussendienst. Für die anfallenden administrativen Arbeiten kann ich jetzt auf die Hilfe einer Sekretärin zählen.

Als offensichtlich wird, dass Engelbert Lammer sich für seine Tätigkeit die Rosinen herauspickt, muss ich ein erstes Mal auf meine Hinterbeine stehen. Ich nehme meinen Mut zusammen und stelle ihn vor die Wahl, unsere Aufgaben im Kollektivbereich künftig nicht mehr situativ aufzuteilen. Ich sehe die Lösung darin, unsere Tätigkeitsgebiete nach geografischen Gesichtspunkten abzugrenzen. Andernfalls müsste ich mir eine berufliche Neuorientierung überlegen. Mit etwas Murren erfüllt Lammer meinen Wunsch.

Hautnahe Einblicke
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14.2.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Kollektivversicherungen - Mein Einsatzgebiet .

Hautnahe Einblicke

Schon in jungen Jahren komme ich jetzt mit schweizweit wichtigen Unternehmen in geschäftlichen Kontakt. In den Verhandlungen vor Ort geht es oft nicht nur um Versicherungsfragen. Meine Gesprächspartner schätzen es, wenn ich mich für die Produkte und Dienstleistungen meiner Kunden interessiere. Weil ich neugierig bin, wie die Unternehmen funktionieren, werde ich nicht selten zu Betriebsbesichtigungen eingeladen. Dabei erlebe ich Betriebsabläufe und industrielle Tätigkeiten hautnah mit.

In Erinnerung sind mir Führungen mit Patrons oder Personalchefs in Industrieunternehmen mit grossen Namen wie Victorinox in Ingenbohl, Geberit in Rapperswil, Keramik und Ricola in Laufen, Zyliss in Lyss, Schindler in Ebikon, Glashütte Wauwil LU und bei den von Moos’schen Eisenwerken in Emmenbrücke. Solche Kontakte und Einblicke in die Welt des Unternehmertums erweitern meinen Horizont und tragen zu meiner Persönlichkeitsentwicklung bei.

Blick hinter die Klostermauern
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14.2.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Kollektivversicherungen - Mein Einsatzgebiet .

Blick hinter die Klostermauern

Erinnern will ich mich hier auch an meine geschäftlichen Besuche in Frauenklöstern. Ich berate Franziskanerinnen (Kloster Menzingen ZG), Benediktinerinnen (Kloster Sarnen OW und Seedorf UR), Dominikanerinnen (Bethanien St. Niklausen OW) und Kapuzinerinnen (Gubel ZG, Notkersegg SG, Solothurn). Mit den für das wirtschaftliche Wohl ihrer Ordensgemeinschaft verantwortlichen Schwestern zimmere ich spezielle Vertragsregeln. Diese ermöglichen es den Gemeinschaften, via die CKUS auf legale Weise von den Subventionen des Bundes zu profitieren. Diese sind gedacht für die höheren Krankheitskosten der Frauen, die wegen ihrer im Zusammenhang mit Mutterschaft beanspruchten medizinischen Behandlung entstehen. Meine mit den Klöstern vereinbarten Regeln stellen dabei sicher, dass die Schwesterngemeinschaften ihre Eigenverantwortung in der Betreuung und Pflege ihrer Mitschwestern nicht aufzugeben brauchen. Unser nicht gewinnorientiertes System mit den günstigen Prämien funktioniert so lange gut, als sich Ärzte und Spitäler bei den Honoraren weiter an das Gebot des „Vergelts Gott!“ halten.

Die Besuche in den Klöstern laufen nach den besonderen Regeln der Gemeinschaft ab. Besonders erinnere ich mich an die strikte Einhaltung der Klausur bei den Kapuzinerinnen in Solothurn. Nach Betätigung der Klosterglocke gelange ich über die Klosterpforte in den kleinen Besucherraum. Dieser ist mit einem massiven Holzgitter vom dahinter liegenden Besprechungszimmer getrennt. Die Oberin und ihre Mitschwester gelangen durch die aus der Klausur führende Türe in diesen Raum. Mit dem sinnbildlichen Abstand zur Aussenwelt begrüssen mich die Schwestern freundlich und mit Zuvorkommenheit. In einer knappen Stunde sind die Bedingungen für die kollektive Krankenversicherung ihrer Gemeinschaft ausgehandelt.

Eine Regel bei diesen Klosterbesuchen ist, dass ich mit einem Präsent aus der klostereigenen Bäckerei oder dem Kräutergarten nach Hause gehe.

Diese ungewöhnlichen Begegnungen mit der besonderen Welt der Klostergemeinschaften vermögen meine Skepsis gegenüber den Dogmen der katholischen Kirche zwar nicht ins Wanken zu bringen. Aber sie gehören zu meinen beeindruckenden und positiven beruflichen Erfahrungen.

Kontakte mit den Behörden
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14.2.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Kollektivversicherungen - Mein Einsatzgebiet .

Kontakte mit den Behörden

Aufsichtsbehörde für die vom Bund subventionierten Krankenkassen ist das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV). Für die Kollektivversicherung gelten besondere bundesrechtliche Vorschriften. Eine beim BSV eigens für diesen Bereich zuständige Abteilung überwacht die Einhaltung der Regeln. Jeder neue oder geänderte Kollektivvertrag muss dem Amt in dreifacher Ausfertigung zur Genehmigung eingereicht werden. Entspricht er allen Vorschriften, erhalten das für den Vertragspartner und die Kasse bestimmte Exemplar den behördlichen Genehmigungsstempel. Das dritte Dokument bleibt beim Amt. Erst mit dieser formellen Genehmigung wird das Geschäft rechtskräftig. Jährlich ist zudem in einem administrativ aufwendigen Verfahren die Rentabilität jedes einzelnen Vertrages gegenüber dem Amt auszuweisen.

Beat Weber, unser Zentralpräsident, war vor seinem Amtsantritt bei der CKUS in leitender Stellung beim Bundesamt und kennt das Gesetz und die für die Kassen geltenden Vorschriften genau. Er legt Wert darauf, dass wir uns stets an diese engen Regeln halten. Ausserdem empfiehlt er uns einen freundlichen und korrekten Umgang mit den Beamten in Bern. Wenn es um Entscheide in Ermessensfragen gehe, könne uns dies nur nützen.

Kollektivversicherung in der Romandie und im Tessin
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14.2.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Kollektivversicherungen - Mein Einsatzgebiet .

Kollektivversicherung in der Romandie und im Tessin

Für alle Aufgaben unserer Abteilung in französischer Sprache ist Denis Simon-Vermot, ein aus dem Kanton Neuchâtel zugezogener Wahlluzerner, zuständig. Mit seiner Sekretärin arbeitet er im gleichen Büro wie unser deutschsprachiges Team. Hierarchisch ist er Engelbert Lammer unterstellt. Simon-Vermot ist etwa zehn Jahre älter als ich und formell sein Stellvertreter. Wenn ich eigene Ideen in unseren Bereich einbringen will, spreche ich sie vorher mit Denis ab. Auf diese Weise lässt sich Lammer bequem für neue Abläufe und Arbeitsweisen ins Boot holen.

Ansprechperson für alle Belange im Tessin ist der aus der Region Lugano stammende Sergio Piattini. Er steuert das Kollektivgeschäft im italienischen Sprachgebiet unter der formellen Aufsicht durch Engelbert Lammer. In der Praxis ist dieses Geschäft aber in der starken Hand der OCST (Organizzazione Cristiano Sociale Ticinese), die ihre Mitglieder als Sozialpartner gegenüber den Tessiner Arbeitgebern vertritt.

Von Denis und von Sergio Piattini lerne ich die Spezialformen der Kollektivbranche in der Westschweiz und im Kanton Tessin kennen.

 

Zentralsekretär-Stellvertreter als Sprungbrett der Karriere
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14.3.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Zentralsekretär-Stellvertreter als Sprungbrett der Karriere.

Mit Blick auf die Nachfolgeregelung des bald in Pension gehenden Stelleninhabers wird Ende der 1960er Jahre die Stelle des Zentralsekretär-Stellvertreters neu geschaffen. Der Zentralpräsident legt Wert darauf, dass bei der Zentralverwaltung die starke Stellung der CKUS in der Westschweiz mit Besetzung von Kaderpersonen aus der französischsprachigen Schweiz untermauert wird. Das ist für Denis Simon-Vermot die Gelegenheit, diese Funktion zusätzlich zu seinen Aufgaben in unserer Abteilung zu übernehmen. Sie umfasst die Stabsaufgaben und spezifischen Aufgaben für den Zentralpräsidenten in Französisch. Dabei beginnt er in Absprache mit ihm Rechtsfälle der Westschweiz zu bearbeiten. In unserer Bürogemeinschaft bekomme ich mit, wie er sich als einfacher kaufmännischer Angestellter in diese neuen Aufgaben einarbeitet. Für mich sind das spannende Themen. Ich freunde mich mit der Idee an, in seine Fussstapfen zu treten, sobald er in die Position des Zentralsekretärs nachgerückt sein wird.

Beat Weber – Mein Förderer
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14.4.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Beat Weber – Mein Förderer.

Nicht selten werden Themen, Fragen oder Beschwerden von Aussenstellen und Sektionen direkt an den Zentralpräsidenten herangetragen. Er ist bekannt dafür, Ungereimtheiten speditiv zu klären und so komme ich früh in Kontakt mit unserem obersten Vorgesetzten. Schon bald werde ich von ihm nicht nur als „Briefträger“ zu Lammer eingesetzt. Beat Weber geht dazu über, mit mir die Sachverhalte direkt zu klären und die richtigen Lösungen zu finden. Darauf bin ich mächtig stolz. Mit der Zeit entsteht ein Vertrauensverhältnis, das über die beruflichen Themen hinausgeht. Besonders schätzt er meine Kreativität und mein Flair in der Kommunikation in den anderen Landessprachen.

Der Kanton Freiburg und die deutsche Sprache
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14.4.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Beat Weber – Mein Förderer.

Der Kanton Freiburg und die deutsche Sprache

Diese Gedanken bringen mir diese Geschichte in Erinnerung: Ende der 1960er, anfangs der 1970er Jahre erlässt der zweisprachige Kanton Fribourg ein Gesetz über die obligatorische Krankenversicherung. Beat Weber hat aus seiner früheren Tätigkeit Kontakte zum dafür zuständigen kantonalen Amt. Von dort erreicht ihn ein Hilferuf. Die kaum mit Deutsch sprechenden Mitarbeitern dotierte Behörde sucht händeringend nach Hilfe für die Übersetzung der Gesetzes- und Verordnungstexte in die deutsche Sprache. Weber lässt mich zu sich ins Büro kommen. Er glaube, dass ich fähig sei, diese französischsprachigen Gesetzestexte zu übersetzen. Für diese Arbeit in meiner Freizeit würde mich der Kanton nach den üblichen Tarifen grosszügig entschädigen. Er selbst sei bereit, mein Werk vor der Ablieferung zu begutachten.

Übersetzungen von Texten mit dieser rechtlichen Tragweite sind für mich neu. Doch ich will den Versuch mit seiner Hilfe wagen. Zum vereinbarten Zeitpunkt lege ich ihm den ersten Textentwurf zum Gegenlesen in die interne Post. Als ich von Beat Weber zum Gespräch in sein Büro gerufen werde, habe ich ein mulmiges Gefühl. Doch ich bin überrascht. Weber lobt meine Präzision in der Sprache. Er bespricht mit mir die wenigen Korrekturvorschläge. Schon vor der abgemachten Frist liegt das übersetzte Gesetz beim Amtsleiter in Fribourg auf dem Tisch. Während der nächsten paar Wochen bin ich abends damit beschäftigt, die Verordnungstexte zu übersetzen. Der Lohn ist reichlich. Ich glaube, auf mein Konto fliessen gesamthaft gegen 3’000 Franken für diese nebenberufliche Tätigkeit. Kommt hinzu, dass ich mit dieser Arbeit neue Fähigkeiten im Umgang mit der französischen Sprache erwerbe. Das ist der über das erhaltene Geld hinausgehende Lohn, der mich beruflich weiterbringt. Erst jetzt, beinahe fünfzig Jahre später, wird mir obendrein bewusst, dass diese Nebeneinnahme mangels Lohnausweis beim Ausfüllen meiner Steuererklärung „unterging“.

Es versteht sich, dass diese Freizeitarbeit auch Gesprächsthema mit meinem bilingualen Schwiegervater ist. Wir beide sind verwundert über das mangelnde Sprachverständnis der Staatsangestellten seines Wohnkantons. Denn ich weiss aus meinen Kontakten mit Kollektivkunden in Deutschfreiburg, dass sich die deutschsprachige Minderheit auf den kantonalen Amtsstellen nur auf Französisch verständigen kann. Wir beide staunen, wie die lammfrommen Deutschfreiburger diese sprachliche Diskriminierung im Vergleich zu den gegen Bern revoltierenden Jurassiern hinnehmen.

Mein erster Karriereschritt
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14.5.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Mein erster Karriereschritt.

Am 1. Oktober 1981 wird Denis Simon-Vermot erwartungsgemäss Zentralsekretär. Er ist nun nicht mehr Teil unserer Bürogemeinschaft, sondern arbeitet im eigenen Büro im ersten Stock. Ich rücke in seine Position nach, werde sein Stellvertreter und übernehme die Stellvertretung von Engelbert Lammer in der Abteilung Kollektivversicherung und Propaganda. Damit bin ich deutschsprachiges Spiegelbild von Denis in dessen früheren und sein engster Mitarbeiter in seiner neuen Funktion. Auch in dieser neuen Rolle bleibt meine Hauptarbeit der Innen- und Aussendienst im Kollektivgeschäft.

An Neuem wachsen
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14.5.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Mein erster Karriereschritt.

An Neuem wachsen

In seiner Stabsarbeit für den Zentralpräsidenten und die zentralen Organe ist Denis als Zentralsekretär zuständig für den französisch-, ich als sein Stellvertreter für den deutschsprachigen Teilbereich. Ich helfe auch bei der Organisation und Vorbereitung der Sitzungen von Zentralvorstand und Zentralausschuss mit. Die Beratungen in diesen Gremien finden in den beiden Landessprachen Deutsch und Französisch statt. Ich bin zuständig für die konsekutive Übersetzung mit Zusammenfassung der französischsprachigen Voten ins Deutsche, Denis für die deutschsprachigen ins Französische. Zudem übernehme ich an diesen Tagungen den in deutscher Sprache zu verfassenden Teil des Protokolls. Auch die Mithilfe bei der Organisation der alle drei Jahre stattfindenden Schweizerischen Delegiertenversammlung mit über tausend Delegierten und Gästen zählt zu meinen Aufgaben.

Die wichtigen Geschäfte des Zentralausschusses werden in Kommissionen vorberaten. Diesen gehört der Zentralpräsident von Amtes wegen an, sowie drei weitere Mitglieder des Ausschusses. Ja, es sind noch immer alles Männer!

Es gibt die Finanz-, die Liegenschafts-, die Propaganda- und zwei Kurhauskommissionen, je eine für die Kurhäuser in Leysin und in Davos.

An deren Sitzungen nimmt der bei der Zentralverwaltung für die betreffenden Geschäfte operativ Verantwortliche mit beratender Stimme teil. Ich bin als Protokollführer der Liegenschafts-, der Propaganda- und der Kurhauskommission Davos zugeteilt.

Mein Flair fürs Recht
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14.6.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Mein Flair fürs Recht.

Alle Rechtsfragen gehen über den Tisch des Zentralpräsidenten. Als Zentralsekretär-Stellvertreter hatte Denis Simon-Vermot in Absprache mit ihm die Fälle der Romandie bearbeitet, sein Vorgänger jene in deutscher Sprache. Nachdem der französischsprachige Denis jetzt Zentralsekretär ist, übernimmt Beat Weber als Übergangslösung die deutschsprachigen Rechtsfälle selbst. Das heisst, dass eine noch grössere Arbeitslast auf ihn wartet. Deshalb nimmt er mich schrittweise mit in die Welt der Rechtsprechung. Dabei und im zusätzlichen Studium von analogen Fällen entwickle ich schnell ein Flair für rechtliche Ableitungen und Schlussfolgerungen. Wieder ist bei mir Lernen durch Handeln angesagt. Bald schon kann ich einfache Rechtsschriften selbst verfassen oder zusammen mit dem Zentralpräsidenten erledigen. Mit der Zunahme des Arbeitsvolumens ist anfangs 1990 die Anstellung je eines Juristen für den deutsch- und den französischen Sprachraum aber unausweichlich. Damit beginnt der Aufbau des Rechtsdienstes, der später in meinen Zuständigkeitsbereich fallen wird.

Die Kurhäuser
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14.7.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Die Kurhäuser .

Bereits im frühen zwanzigsten Jahrhundert hat die CKUS für ihre an Tuberkulose erkrankten Mitglieder an den renommierten Luftkurorten Davos und Leysin Sanatorien aufgebaut, je eines für Kinder und Erwachsene. Wegen des praktischen Verschwindens der Tuberkulose wurden sie in den 1960er Jahren in Kuranstalten umfunktioniert.

In Davos liegt das „Kinder-Albula“ im Dorfzentrum, das „Erwachsenen-Albula“ am Ende der Hohen Promenade an prächtiger Aussichtslage. Beide Häuser werden von der Ordensgemeinschaft der Schwestern des Klosters „Heilig Kreuz“ in Cham in Pacht geführt. Der Pachtzins setzt sich aus einem jährlichen Fixbetrag und einem Anteil an den Tagestaxen der Kurgäste zusammen. Damit ist die CKUS in die wirtschaftliche Verantwortung der beiden Betriebe eingebunden. Die Kurhauskommission nimmt diese Aufgabe wahr und tagt zweimal jährlich in Davos zur Beschlussfassung von Budget und Jahresrechnung. Für die Ordensgemeinschaft und die vor Ort das Zepter führenden Schwestern ist der Zentralpräsident direkter Ansprechpartner.

In meiner Stabsarbeit für ihn komme ich damit eng mit dem Albula in Verbindung. Das Haus bleibt bis zu meiner Pensionierung als Sanatorium und Kurhaus im Besitz meines Arbeitgebers. 1989 wird das Gebäude totalsaniert und an die Alexanderhausklinik in Davos verpachtet. Ich bin bei der Erarbeitung der betreffenden Entscheidungsgrundlagen durch den Zentralvorstand, der über den Umbaukredit von gegen 10 Mio. Franken befinden muss, beteiligt.

Protokoll führen
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14.7.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Die Kurhäuser .

Protokoll führen

Als Zentralsekretär-Stellvertreter ist meine erste formelle Tätigkeit jene des Protokollführers an einer Sitzung der Kurhauskommission Davos.

Zur ersten Zusammenkunft fahren Beat Weber und ich montags mit der frühestmöglichen Zugsverbindung Richtung Landquart nach Davos. Sitzungsbeginn ist eine Viertelstunde nach der Zugsankunft im hoch über dem Dorf gelegenen Kurhaus Albula.

Als in den zu behandelnden Themen uneingeweihter Neuling habe ich den Eindruck, von den Diskussionen so gut wie nur „Bahnhof“ zu verstehen. Ich mache mir von den mir wichtig scheinenden Voten Notizen. Auf der Rückfahrt nach Luzern bekomme ich vom Zentralpräsidenten ein paar nützliche Hintergrundinformationen zu den behandelten Themen. Als ich ihm den Protokollentwurf ein paar Tage später vorlege, gibt er mir das unterschriebene Protokoll mit einem Kompliment und ohne Korrekturen zurück.

In den nächsten zwanzig Jahren geht mir das Protokollführen in den Leitungsgremien in Fleisch und Blut über. Im kleinen Führungskreis präge ich einmal dieses Bonmot.

Als Protokollführer hast du dann gute Arbeit geleistet, wenn die Sitzungsteilnehmer überzeugt sind, ihre Voten und Meinungen entsprächen dem, was im Protokoll wiedergegeben ist.

Neue Beziehungen
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14.7.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Die Kurhäuser .

Neue Beziehungen

Meine Haupttätigkeit ist und bleibt bis Mitte der 1980er Jahre das deutschsprachige Kollektivgeschäft unter Führung von Engelbert Lammer. Dank meiner neuen Funktionen komme ich jetzt aber auch mit andern wichtigen Geschäftstätigkeiten in Kontakt.

In den von mir in der Stabsarbeit unterstützten Gremien sitzen gestandene Persönlichkeiten aus Verwaltung, Wirtschaft und Politik aus allen drei schweizerischen Sprachregionen. Ich selbst bin noch nicht vierzig Jahre alt, wogegen die Herren in diesen Führungspositionen eher zu meiner Vorgängergeneration gehören. Mein Einblick in ihre Eigenschaften und Fähigkeiten erweitern mein berufliches und persönliches Blickfeld. Ich kann mich in ihrer Gesellschaft adäquat bewegen, bin neugierig und lernfähig, weiss mich aber im Hintergrund gut aufgehoben.

Meine Jasskünste als Steigbügelhalter
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14.7.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Die Kurhäuser .

Meine Jasskünste als Steigbügelhalter

Diese Gedanken führen mich zurück zur Kurhauskommission. Die drei Mitglieder aus dem Zentralausschuss sind Paul Bruggmann, Eduard Inderbitzin und Alfred Binkert. Die drei Herren sind einflussreiche Personen dieses obersten Milizführungs-Organs. Paul ist gar direkter Nachkomme von Josef Bruggmann, der Mitbegründer der aus der Christlichen Sozialbewegung entstandenen Krankenkasse und ihr erster hauptamtlicher Zentralpräsident war. Die Familie Bruggmann war stark von der Tuberkulose betroffen. Der älteste Sohn starb daran, Paul musste ein halbes Jahr in Davos kuren. So ist es nicht verwunderlich, dass sein Vater Initiant bei der Errichtung der Tuberkulose-Sanatorien für die Mitglieder seiner Krankenkasse war.


(1) Paul Bruggmann 1913-1994. © Portrait Archiv Zentralschweizerische Gesellschaft für Familienforschung.

Paul Bruggmann 1913-1994. © Portrait Archiv Zentralschweizerische Gesellschaft für Familienforschung.

 
An der ersten Sitzung vernehme ich, dass die drei bereits Sonntagabend nach Davos gereist sind. Sie wollen damit die frühmorgendliche Fahrt durchs Prättigau vermeiden. Nach dem gemeinsamen Nachtessen gehört ein Jass zur Tradition. Mit dabei in der Vorabendrunde war jeweils der Zentralsekretär, mein Vorgänger als Protokollführer. Weil das Kartenspiel zu dritt wenig Spass macht, werde ich gefragt, ob ich auch jassen könne. Das kommt bei mir gut an, denn schon als Junge war der Viererjass eine Leidenschaft von mir. Die drei Herren sind wegen meines jugendlichen Alters skeptisch, wünschen aber, dass ich am nächsten Sitzungstermin versuchsweise in ihrer Vorabendrunde dabei bin. Beat Weber hat nichts dagegen, künftig wieder alleine mit dem ÖV nach Davos zu fahren.

Die abendlichen Höcks laufen stets nach demselben Schema ab. Sonntag spätnachmittags Zimmerbezug in der von der Schwesterngemeinschaft aus Cham geführten Pension Strela. Nachtessen mit einem feinen Tropfen aus der Bündner Herrschaft oder dem Veltlin. Anschliessend die heisse Jassrunde bis in alle Nacht. Die drei Spielpartner sind erfahrene und raffinierte Jasser. Aber ich kann ihnen gut das Wasser reichen, durchschaue ihre Strategien und Tricks und habe selbst einige auf Lager.

Meinen Probelauf in diesem Gremium habe ich jedenfalls bestanden. Das Jassenkönnen verhilft mir schon in jungen Jahren zu gesellschaftlicher Anerkennung in dem erlauchten Kreis.

Von Beat Weber höre ich später, dass er anfänglich auch Sonntagabend nach Davos gefahren sei. Aber die vorabendlichen Jassrunden mit diesen Kollegen habe er als zu leidenschaftlich empfunden. Mich erstaunt ein paar Jahre später, dass sich unser Zentralpräsident nach einer Sitzung bei einem gemütlichen Jass als mein Partner ebenfalls als schlauer Fuchs erweist.

Josef Bruggmann - Die Bronze-Figur
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14.7.  Dr. jur. Beat Weber – die CKUS Leitfigur – Die Kurhäuser .

Josef Bruggmann - Die Bronze-Figur

Als das Albula 1989 totalsaniert wird, bin ich öfters in Davos, um mit dem Architekten und den Schwestern die Etappen des Umbaus und des Rückzugs der Gemeinschaft zu besprechen. Unter anderem ist zu klären, wer welche Ansprüche aus dem Inventar hat und wie die nicht zuzuordnenden Gegenstände verwertet oder entsorgt werden. Beim Rundgang im und um das Haus zeigt der Architekt auf die beim Eingang deponierte Bronzebüste. Wenn die hier liegen bleibe, werde sie in einer der Mulden landen, die ab morgen zur Entsorgung der nicht mehr verwertbaren Gegenstände aufgestellt seien. Sein Finger geht in Richtung des in Bronze gegossenen Kopfs von Josef Bruggmann, dem Initiator für die Errichtung des Albulas als Tuberkulose-Heilstätte. Beim Haupteingang unverrückbar auf einem Betonsockel thronend, hatten ihm die Besucher des Hauses während der letzten sechzig Jahre gewollt oder ungewollt die Ehre zu erweisen.

Vor der Heimfahrt packen mir die Schwestern einen Stapel neuwertiger Badetücher und eine klassische Rosenvase mit ins Auto. Ihre Randbemerkung zu den zwei Dingen ist, dass ich mich beim Duschen stets ans Albula erinnern und meiner Frau hie und da einen Blumenstrauss nach Hause bringen solle. Ich selbst hieve den dreissig bis vierzig Kilo schweren Bruggmann-Kopf in den Kofferraum. Um ihn werde ich mich bei Gelegenheit kümmern müssen.


(1) Josef Bruggmann, 1871-1934. © Portrait Archiv Zentralschweizerische Gesellschaft für Familienforschung.

Josef Bruggmann, 1871-1934. © Portrait Archiv Zentralschweizerische Gesellschaft für Familienforschung.


In jenen Jahren arbeitet Uschi als Assistentin des Leiters der Abendschule für Sozialarbeit. Beim Jahresabschlussessen, zu dem ich als ihr Partner eingeladen bin, komme ich in Kontakt mit Albin Bugari, der für die Revision der Jahresrechnung der Schule  zuständig ist. Als er von mir vernimmt, wo ich arbeite, nimmt er den Faden sofort auf. Auch er habe Beziehungen zur CKUS. Der ehemalige Zentralpräsident Josef Bruggmann sei sein Grossvater mütterlicherseits gewesen. Er selbst habe gute Erinnerungen an ihn, und als Student habe er sein erstes Geld bei der Krankenkasse verdient. Ich erzähle ihm die Geschichte mit dem Bronzekopf, den ich wohl in der Anonymität des CKUS-Archivs versorgen müsse. Bugari überlegt nicht lange. In seinem Haus in Adligenswil fände sich ein geeigneter Platz für diese Ahnenfigur. Tage später bringe ich ihm den schweren, in Bronze gegossenen Kopf seines Grossvaters vorbei, den wir im mit Granitsteinen geschmückten Pflanzengarten von der Zugangsstrasse her gut sichtbar verankern.

Technische Hilfsmittel
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15.  Technische Hilfsmittel

Das Tagesgeschäft ist mit viel Schreibarbeit verbunden. Für die Protokolle erstelle ich handschriftliche Vorlagen. Reinschrift und Versand übernimmt meine Mitarbeiterin. Im Kollektivgeschäft sind entsprechend dem Profil und den Bedürfnissen der Kunden individuelle Offerten mit Leistungen, Prämien und besonderen Versicherungsbedingungen zu erstellen. Kommt das Geschäft zustande, werden die vereinbarten Bedingungen im Kollektivvertrag festgehalten. Dazu kommen die Korrespondenz mit Vertragsnehmern, Behörden und Sektionen sowie Zirkulare mit Informationen und Weisungen an die ausführenden Stellen. Ich bin dabei nicht nur Taktgeber, sondern übernehme solche Schreibarbeiten bei Bedarf auch selbst.

Schreibmaschine
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15.  Technische Hilfsmittel

Schreibmaschine

Für diese Schreibarbeit sind bei uns in der Abteilung bis weit in die 1980er Jahre Schreibmaschinen das wichtigste technische Hilfsmittel. Als Standardmodell ist erst die Hermes Ambassador im Einsatz, ein Modell, das das Schreiben elektronisch unterstützt. Bald setzt ein Entwicklungsschub ein. Gegen Ende der 1960er-Jahre wird bei der CKUS die IBM-Kugelkopfmaschine als Nonplusultra in Betrieb genommen. Bei diesem System bewegt sich nicht mehr der Wagen mit der Schreibwalze, sondern der Kugelkopf wird als Typenträger vor dem Blatt auf die gewählte Position geschoben. Dieser ist in den unterschiedlichsten Schriftarten erhältlich und kann mit einem einfachen Handgriff gewechselt werden. Gegen Mitte der 1980er Jahre schliesslich werden die klassischen Schreibmaschinen durch elektronische Textverarbeitungssysteme (Olivetti-Schreibsystem, IBM PC Text 4) und nach und nach durch den PC ersetzt.




 

Kopieren
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15.  Technische Hilfsmittel

Kopieren

Für einfache Korrespondenz und Offerten wird hochwertiges Papier der Stärke 120 g/m2 verwendet. Externe und interne Kopien werden mit Kohlepapier auf Blätter mit geringerer Papierstärke erstellt.

Die Kollektivverträge werden in 7-facher Ausführung angefertigt. Dafür stehen Garnituren mit Normtexten und eingelegtem Kohlepapier zur Verfügung. Beim Schreiben der Verträge ist besondere Achtsamkeit geboten. Tippfehler in den mit der Schreibmaschine einzufügenden Texten können nicht oder nur mit gut sichtbaren Spuren eliminiert werden. Sie sind deshalb nicht erlaubt. Passiert ein Fehler, muss die ganze Vertragsseite neu geschrieben werden. In Fleisch und Blut übergegangen ist mir die Bedeutung der Farben der einzelnen Vertragsexemplare. Zu unterzeichnen sind die Exemplare auf grauem Papier für den Versicherungsnehmer, auf grünem für die CKUS, blauem für das BSV und braunem für die Sektion. Die mit dem Visum des Erstellers versehenen Orientierungskopien in Ziegelrot für die zuständige Abteilung, Gelb für die Sektion und Rosa für unsere interne Dokumentation.

Lammers Flair für farbige Drucksachen hatte nicht nur einen gestalterischen Hintergrund. Die unterschiedlichen Farben halfen auch als Erkennungsmerkmal beim Sortieren und Klassieren der Dokumente.

Zirkulare
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15.  Technische Hilfsmittel

Zirkulare

Informationen an mehrere Empfänger werden in Form von Zirkularen erstellt. Dafür steht der Abteilung ein Matrizendrucker zu Verfügung. Der Inhalt des Zirkulars wird mit der Schreibmaschine auf die sogenannte Schnapsmatrize geschrieben. Diese wird in die Trommel des Matrizendruckers eingespannt. Mit dem Drucker entstehen durch einfaches Drehen von Hand je nach Qualität bis zu zweihundert Abzüge. Für Grossauflagen können Wachsmatrizen beschrieben werden, die in der Spedition auf der durch das Fachpersonal zu bedienenden Kopiermaschine in der benötigten Stückzahl hergestellt werden. Für qualitativ hochwertige Druck-Erzeugnisse werden Aufträge an ausgesuchte Druckereien in der Stadt vergeben oder an die ebenfalls zur Christlichen Arbeiterbewegung gehörende Buchdruckerei Konkordia in Winterthur.

Ablage
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15.  Technische Hilfsmittel

Ablage

Offerten und Korrespondenz werden in Bundesordnern alphabetisch klassiert. Sobald ein Vertragsabschluss ansteht, wird pro Kunde ein Dossier in Form eines Mäppchens erstellt, in dem Briefverkehr, Besuchs- und Aktennotizen, Verträge und Rentabilität abgelegt sind. Die Mäppchen sind nach Sektionen in heute noch gebräuchlichen Biella-Hängeregistern geordnet und in Stahlschränken der Marke Bigla versorgt. Wenn bei der Ablage präzise gearbeitet wird, sind die betreffenden Vertragsunterlagen schnell griffbereit. Ich kann mich aber auch gut an umständliche Suchaktionen nach dem Vertragsdossier erinnern, das zur Beantwortung einer Rückfrage dringend benötigt wurde.

Die Wende in meinem Privatleben
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16.  Die Wende in meinem Privatleben

Im Kapitel 13 blicke ich zurück auf den Beginn der Beziehung mit Gaby als Frau an meiner Seite. Sie ist es, die mir als junger Bursche Halt gibt als Suchender nach Werten, Gefühlen und Familie. Mit der Geburt von Alain wird unser Familienglück vollkommen. So jedenfalls ist die Aussenwahrnehmung. In Wahrheit haben sich mit Gaby und mir zwei Menschen zusammengefunden, deren Charaktere sich zunehmend in gegensätzliche Richtung entwickeln.

Sie ist eine geerdete Person, will Bewährtes bewahren, tut sich schwer mit neuen Lebensgewohnheiten und fühlt sich in ungewohnter Gesellschaft selten wohl. Ich hingegen bleibe wissbegierig und Neuem gegenüber aufgeschlossen. In meinem Berufsleben lerne ich, mit anderen Menschen und Lebensweisen umzugehen. Auch ohne mich direkt zu engagieren, bin ich interessiert am gesellschaftlichen und politischen Leben.

Für mich wird das Zusammensein mit Gaby zunehmend zu einer nicht fassbaren Last. Doch gesellschaftliche und familiäre Konventionen verlangen von Verheirateten, sich zu einem gemeinsamen Leben zusammenzuraufen. Im streng katholischen Milieu, von dem Gaby herkommt, gilt dies im besonderen Masse. Und auch in meinem vom christlichsozialen Gedankengut geprägten Arbeitsumfeld ist diese Haltung augenfällig.

Zu Beginn der 1980er Jahre sind wir in einer ernsthaften Ehekrise. Nach langem Ringen und primär mit Blick auf unseren geliebten Buben Alain entscheide ich mich für den Versuch, die Ehe trotz unseres Auseinanderlebens weiterzuführen.

Es ist jene Lebenssituation, in der ich im Winter 1983 dem strahlenden Lachen einer Frau begegne, das mich nicht mehr loslassen wird.

In Sörenberg
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16.1.  Die Wende in meinem Privatleben – In Sörenberg.

1983 wird Alain 10-jährig. Wie die meisten Eltern jener Zeit wollen wir unserem Bub ermöglichen, richtig Skifahren zu lernen. Zwar durfte er schon als Knirps mit Onkel „Tonton“ hie und da in Engelberg im Schnee schnuppern. Und im Kindergartenalter waren wir mit ihm im Winter eine Woche in Adelboden, wo er vormittags die Kinderskischule besuchte. Aber jetzt ist es für ihn Zeit, das Skifahren in einer richtigen Skischule von Grund auf zu lernen. Im Februar 1983 ist deshalb das Hotel Mariental in Sörenberg für eine Woche unser Urlaubsdomizil. Gaby hat mit Sport nichts am Hut. Ich selber rede mir ein, mit vierzig sei für mich die Zeit abgelaufen, um Skifahren zu lernen. Stattdessen drehe ich täglich einige Runden auf der Langlaufloipe.

Ende der Ferienwoche ist im Mariental der Abschlussabend mit einem festlichen Nachtessen angesagt. Dabei spielt ein Trio zum Tanz auf. Am Fest sind auch Gäste dabei, die nicht im Hotel wohnen. Gaby geht mit Alain zeitig ins Zimmer. Sie hat nichts dagegen, dass ich noch zurückbleibe, denn sie weiss, dass ich gerne das Tanzbein schwinge.

Mir fällt schon bald eine hübsche blonde Frau auf, die in Begleitung einer Freundin im Saal ist. Ihre Ausstrahlung und die beim Tanzen sichtbare Lebensfreude schlagen mich in Bann. Schon nach zwei oder drei Tanzrunden mit ihr fühle ich, dass es zwischen uns gefunkt hat. Ich tippe, dass meine Tanzpartnerin das ebenso spürt. Am Ende des Abends weiss ich einzig, dass sie Uschi heisst und in Rain wohnt. Dieses Dorf ist mir natürlich ein Begriff. Anna Lüthy-Schmid führt dort ihren Bäckereiladen, und Otti Schmid ist ein erfolgreicher Garagist im Ortsteil Sandblatten. Aufgeschnappt habe ich auch, dass die beiden Frauen am Güdismontag im Gasthof Kreuz in Rain am Maskenball anzutreffen sein könnten.

Die Fasnacht 1983
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16.2.  Die Wende in meinem Privatleben – Die Fasnacht 1983.

Die Begegnung mit Uschi hat meine Gefühlswelt auf Trab gebracht. Um mit ihr in Kontakt zu kommen, hecke ich einen Plan aus, den ich meinem Freund Curt anvertraue.

Am Güdismontag fabuliere ich Gaby vor, dass ich die Fasnacht nochmals aktiv erleben möchte. Sie hat nichts dagegen, wenn ich mit Curt in der Stadt beim Maskentreiben mitmache. Der mit meinem Freund abgesprochene Plan aber sieht anders aus. Ich hole das Maskenkostüm aus dem Keller, mit dem wir beide schon auf Achse waren. So verkleidet gehe ich aus dem Haus. Aber mein Ziel ist nicht die Fasnacht in der Stadt, sondern im zwanzig Kilometer entfernten Rain. Für die Fahrt dorthin halte ich das erste vorbeifahrende Taxi an. Im grossen Kreuzsaal herrscht schon fasnächtlicher Hochbetrieb. Trotzdem, Uschi und ihre Freundin Maria habe ich schnell ausgemacht. Mit meiner auffälligen Kostümierung bin ich nicht zu übersehen. Und ich spüre, dass jetzt Rätselraten über den hinter dem Schneemann verborgenen Unbekannten beginnt. Ich will deshalb diskret vorgehen und bitte zuerst ein oder zwei mir unbekannten Frauen zum Tanz. Erst dann nähere ich mich dem Tisch mit den beiden mir aus Sörenberg bekannten Freundinnen und pirsche mich behutsam an Uschi an. Eine halbe Stunde später gebe ich mich bei einem Drink an der Bar zu erkennen. Schnell bin ich beim Thema. Ich luchse ihr die Telefonnummer ab, mit dem Versprechen, mich bei ihr zu melden. Damit habe ich mein Ziel erreicht, mache mich auf leisen Sohlen aus dem Staub und fahre mit dem Taxi wieder zurück nach Hause.

Es ist die Fasnacht 1983, die der Beginn meines neuen Lebens sein wird.



(1) Fasnacht 1983. Der Schneemann (links), den Uschi zum Schmelzen gebracht hat. Hinter dem anderen Schneemann steckt mein Freund Curt (Aufnahme anfangs 1980er-Jahre).


Fasnacht 1983. Der Schneemann (links), den Uschi zum Schmelzen gebracht hat. Hinter dem anderen Schneemann steckt mein Freund Curt (Aufnahme anfangs 1980er-Jahre).

 

Mein Blick in unsere Privatsphäre
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16.3.  Die Wende in meinem Privatleben – Mein Blick in unsere Privatsphäre .

Die Wochen und Monate nach unserem ersten Treffen werden für Uschi und mich zu einer Art Gratwanderung. Über beide Ohren verliebt, wollen wir uns als Menschen kennenlernen. Wir beginnen unserer Zukunft ein Gesicht zu geben. Gegenüber unseren Partnern finden wir alle möglichen Ausreden, um uns ein- oder zweimal wöchentlich im Geheimen zu treffen. Lange kann das für uns nicht gut gehen.

Meine Beziehung zu Gaby
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16.3.  Die Wende in meinem Privatleben – Mein Blick in unsere Privatsphäre .

Meine Beziehung zu Gaby

Gaby spürt, dass wieder Sand im Getriebe unserer Beziehung ist. Aber wahrhaben mag sie das nicht. Sie glaubt, dass unsere Ehe auch mit massiv gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen formell fortgesetzt werden könnte. Sie möchte, dass Alain einen Vater in einem zumindest in der Aussendarstellung geordneten Rahmen hat. Ich kann mir mein künftiges Leben in einem solchen Korsett nicht vorstellen. Als ich Gaby unmissverständlich darauf anspreche, dass ich mich von ihr trennen werde, erleidet sie einen Nervenzusammenbruch mit notfallmässiger Abklärung in der Klinik. Ich kann diesen Eklat auch als Versuch deuten, der mich von der Trennung abhalten soll. Was ich gegenüber Gaby jederzeit klar anspreche, ist, dass ich meine Verantwortung als Vater von Alain in jeder Beziehung wahrnehmen und die finanzielle Sicherheit für ihr künftiges Leben sicherstellen will.

Das private Umfeld von Uschi
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16.3.  Die Wende in meinem Privatleben – Mein Blick in unsere Privatsphäre .

Das private Umfeld von Uschi

Weil ihre Eltern ihre Auswanderungsträume nach Kanada vereiteln, kommt die zwanzigjährige Uschi 1967 aus Bayern in die Westschweiz. Ihr ungewöhnlicher Mut, Heimat und Familie Adieu zu sagen, ist eine Art Weglaufen von ihrem Umfeld mit einer unglücklichen Liebe in ihrem Arbeitsumfeld. Kein Wort französisch sprechend kann sie in dem ihr völlig fremden Kulturkreis nicht Fuss fassen. Als Ausländerin sind ihr zusätzliche Hürden beim Stellenwechsel gesetzt. Ihre nächsten Stationen sind Zürich und die Region um Affoltern am Albis. Dort lernt sie anfangs 1969 ihren späteren Mann kennen. Schon im November sind die beiden verheiratet. Uschi ist zweiundzwanzigjährig. So wie ich ist sie in dieser Jugendzeit auf der Suche nach Heimat und Geborgenheit.

Als wir uns 1983 kennenlernen, ist Uschi in Rain eine engagierte, angesehene und in der Gesellschaft integrierte 36-jährige Geschäftsfrau. Sie unterstützt ihren Mann, einen Malermeister mit zwei Angestellten, und nimmt die Rolle als Geschäftsführerin wahr. Zudem führt sie den Haushalt, kocht am Mittag für die Familie und Mitarbeitende und hält das Einfamilienhaus mit grossem Umschwung instand. Die Familie hat zwei Kinder, ein Mädchen (elfjährig) und einen Buben (neunjährig). Doch auch Uschis Privatleben ist problembehaftet.

Die Trennung von unseren Familien
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16.4.  Die Wende in meinem Privatleben – Die Trennung von unseren Familien.
Was in den ersten Monaten jenes Jahres abläuft, ist für alle Beteiligten mit anspruchsvollen und die zwischenmenschliche Ebene belastenden Entscheiden und Entwicklungen verbunden. Uschi und ich fühlen uns im siebten Himmel. Aber unsere Partner und die Kinder sind mit Dingen konfrontiert, mit denen sie kaum zurechtkommen. Ich liebe Alain und hänge an ihm. Das gleiche gilt für Uschi mit ihren zwei Kindern. Die Trennung wird in unseren Familien zu schwierigen Situationen führen. Doch Uschi und ich sehen keine Alternative.
Mein Unterschlupf bei Curt
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16.4.  Die Wende in meinem Privatleben – Die Trennung von unseren Familien.

Mein Unterschlupf bei Curt
Als Erstes suche ich im Frühjahr ein neues Quartier. Curt ist von seiner Familie getrennt und vor einigen Monaten von zu Hause ausgezogen. Er bietet mir in seiner 3½-Zimmerwohnung im Hirtenhofquartier Unterschlupf bis zur Klärung meiner Situation. Es wird im April gewesen sein, als ich mit einem Koffer voller Kleider von zu Hause aus- und in das freie Zimmer bei Curt einziehe. Meinen formellen Wohnsitz wechsle ich nicht. Die Post leite ich an ein Postfach weiter. Telefonisch bin ich nur via das Geschäft erreichbar. Curt ist nicht oft zu Hause, und wenn ich mich in seiner Wohnung mit Uschi treffe, verduftet er zu einer seiner Freundinnen.
Meine Scheidung
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16.4.  Die Wende in meinem Privatleben – Die Trennung von unseren Familien.

Meine Scheidung

Schon im März informiere ich meine Schwester Anna über meine Trennungsabsichten. Ich bitte sie, meine Geschwister zu benachrichtigen. Auch bei meinem Arbeitgeber will ich Gerüchten vorbeugen und setze den Zentralpräsidenten Beat Weber über die beabsichtigte Scheidung ins Bild. Anna kennt einen Anwalt, dem ich die Vertretung meiner Interessen übertrage. Ich bitte Gaby, ebenfalls einen Rechtsanwalt zu konsultieren, damit unsere Trennung in korrekter Form vollzogen werden kann. Wir sind uns einig, das Waschen von schmutziger Wäsche wollen wir möglichst vermeiden.

Im Mai unterzeichnen wir ein Konvenium, das die Nebenfolgen der Scheidung regelt (Unterhaltspflichten, Besuchsrechte). Im Juli reicht mein Anwalt die Scheidungsklage ein. Ende August findet der gesetzlich vorgesehene Sühneversuch statt und im Oktober die Gerichtsverhandlung. Mit Urteil vom 14.11.1983 des Amtsgerichts Luzern wird unsere am 22.4.1966 geschlossene Ehe geschieden.

Mein neues Leben an der Seite von Uschi kann ab jetzt auch formell beginnen. Der weitere Weg wird mit Steinen gepflastert sein, denn Gaby kann unsere Trennung psychisch nie verkraften. Alain erlebt das in seiner Jugendzeit hautnah. Mir gelingt es nicht, mit ihm dieses uns wohl beide belastende Problem zu Boden zu reden.

Uschis Scheidung
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16.4.  Die Wende in meinem Privatleben – Die Trennung von unseren Familien.

Uschis Scheidung

Zur selben Zeit läuft das Scheidungsverfahren von Uschi. Sie und ihr Mann haben im Juni die Nebenfolgen der Scheidung geregelt. Dabei kommen sie nach Beratung mit den Kindern überein, dass die Tochter mit Uschi in die Stadt ziehen wird. Der Bub darf bei seinem Vater bleiben. Er ist dort bei Schulfreunden und in der Nachbarschaft stark verankert und wohnt mit seiner besten Schulfreundin Tür an Tür. Von dieser Nachbarsfamilie wird er als Kostgänger aufgenommen. Am 14. Juli 1983 wird die am 7.11.1969 geschlossene Ehe vom Amtsgericht Hochdorf geschieden.

Unser neues Zuhause
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16.5.  Die Wende in meinem Privatleben – Unser neues Zuhause .
Für Uschi und mich ist klar, dass wir möglichst schnell ein gemeinsames Zuhause suchen müssen. Und sie braucht eine Arbeitsstelle. Im Sternmattquartier finden wir eine günstige 3½-Altbauwohnung an guter Lage. Uschis neuer beruflicher Werdegang beginnt bei einem Gastromanagement-Unternehmen in der Stadt. Nach der Scheidung bleibt sie die Tage bis zum Abschluss der Schulzeit ihrer Kinder in Rain. Danach erfolgt der Umzug vom stattlichen Einfamilienhaus am Dorfrand in die bescheidene Wohnung in der Stadt. Bei der Züglete haben Mobiliar, Geschirr, Wäsche und Kleider in einem Lieferwagen Platz. Wertvollstes Stück ist ein antiker Vitrinenschrank, den Uschi aus der ehemaligen Heimat ihres Vaters in Ostdeutschland nach Rain geholt hatte. Unsere neuen Möbel besorgen wir bei IKEA. Als geübter Bastler ist uns Curt beim Enträtseln der Bauanleitungen und bei der Montage behilflich.

 

Unsere Patchwork-Familie
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16.6.  Die Wende in meinem Privatleben – Unsere Patchwork-Familie.

Mit unseren Kindern leben wir die nächsten zehn Jahre das Leben einer typischen Patchwork-Familie.

Für das Besuchsrecht halten wir uns an die vereinbaren Regeln. Nach Absprachen gibt es auch flexible Lösungen. Zum Beispiel vereinbaren wir mit unseren nicht skifahrenden Ex-Partnern, dass Uschi und ich zusammen mit unseren Kindern in die Skischule gehen. Dabei besuchen wir in den ersten drei oder vier Jahren nach der Scheidung im Dezember und Januar jeweils an fünf Sonntagen die unserem Können angepassten Kurse. Die Ex-Partner bringen die zwei Buben an den Bahnhof und holen sie abends wieder ab. Mit dem Extrazug der Schweizer Skischule fahren wir morgens früh zu fünft ins Skigebiet. Für noch mehr Spannung ist gesorgt, wenn die Kurse auf der Klewenalp oder im Rigigebiet stattfinden. Für diese Destinationen ist ein Extraschiff ab Luzern im Einsatz. Auch sonst achten wir bei den Besuchstagen darauf, unseren Buben Einblicke und Erlebnisse in einem ihnen nicht vertrauten Umfeld zu ermöglichen.

In den Schulferien gehen wir mit den Kindern Skifahren, machen im Sommer Urlaub auf dem Campingplatz bei Uschis Eltern in Peissenberg (Bayern) oder fahren ans Meer. Mit dem Sohn von Uschi und Alain touren wir auch einmal eine Woche mit einem alten Hausboot auf dem schleusenreichen Canal du Nivernais im Burgund.

 

Uschi und ich heiraten
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16.6.  Die Wende in meinem Privatleben – Unsere Patchwork-Familie.

Uschi und ich heiraten

Was uns jetzt noch fehlt, ist die rechtmässige Bescheinigung unserer Beziehung. Für die Trauung wollen wir kein Brimborium veranstalten. Die Weihnachtstage sind terminlich eine gute Gelegenheit, unsere Familie und die Trauzeugen zusammenzutrommeln. Jedoch, die Ämter in der Region arbeiten in dieser Festtagszeit auf Sparflamme. Uschi klopft deshalb beim Zivilstandsamt in Stans an und stösst dort auf Verständnis. Allein schon wegen meines Namens ist die Zivilstandsbeamtin des Nidwaldner Hauptorts bereit, ihr Amt nach den Weihnachtstagen eigens für unsere Trauung zu öffnen. Dieses formelle Verfahren findet am 27. Dezember 1985 in ihrem Büro statt, das sich im oberen Stockwerk des Bahnhofgebäudes befindet.


(1) Uschi und ich. Unser Hochzeitsfoto 1985.

Uschi und ich. Unser Hochzeitsfoto 1985.


Trauzeugen sind Uschis Schwester Eva und mein Freund Curt. Zusammen mit ihren Partnern sind sie unsere Gäste an der familiären Feier mit Nachtessen im Hotel Palace. Auch unsere drei Kinder sind dabei und noch mein Patenkind Doris, die ältere Tochter von Amatus. Die Jugend ist inzwischen elf bis vierzehnjährig. Eva, ihrem Partner und den Kindern überlassen wir für die Nacht unsere Wohnung. Das Hochzeitspaar darf im Turmzimmer des Hotels schlafen. Die Gastgeber haben uns dort ein Fläschchen Champagner kühl gestellt. Als ich am Morgen die Rechnung bezahle, ist es für das Haus selbstverständlich, dass das Hochzeitspaar die Nacht umsonst verbringen darf.

Unsere Kinder
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16.6.  Die Wende in meinem Privatleben – Unsere Patchwork-Familie.

Unsere Kinder

Alain bleibt bei seiner Mutter an der Berglistrasse, besucht die Primar- und Sekundarschule und absolviert danach eine kaufmännische Ausbildung, die er 1992 erfolgreich abschliesst.

Uschis Tochter wohnt ab Mitte 1983 in unserem bescheidenen Zuhause an der Sternmattstrasse. Aber schon im Sommer 1985 ziehen wir in eine grössere und mit mehr Komfort ausgestattete 4½-Zimmer Gartenwohnung im Schönbühlquartier. Nach den drei Jahren Sekundarschule in Luzern schliesst sie die kaufmännische Ausbildung mit Lehrabschluss erfolgreich ab. Es folgt ein einjähriger Sprachaufenthalt in England, den sie mit dem Proficiency-Diplom beendet. Seither ist sie im kaufmännischen Bereich tätig und wohnt seit Jahren wieder in unserer Region.

Uschis Sohn bleibt vorerst bei seinem Vater, besucht die Primarschule im Dorf und wird Gymnasiast. Mit 15 Jahren klopft er bei uns an. Er will jetzt bei seiner Mutter wohnen. Das ist mit ein Grund, weshalb wir 1990 in eine 5½-Zimmer-Maisonettewohnung in einem Neubau in der Hochrüti ob der Allmend ziehen. Für uns und unsere ins jugendliche Alter kommenden Kinder wollen wir mehr Platz und Freiheiten schaffen.

Alain zieht bald nach dem Lehrabschluss von zu Hause aus und schliesst sich mit Freunden zu Wohngemeinschaften zusammen. Beruflich schlägt er die Richtung Marketing und Werbung ein. Er arbeitet in Sachbearbeitungs- und Führungsfunktionen in allen Fachgebieten der Kommunikation in unterschiedlichen Branchen. Zusammen mit seiner Weiterbildung mit Hochschulabschluss im Kommunikationsmanagement bildet das die Grundlage für seine Kaderposition bei einer schweizweit bekannten Carsharing-Organisation. Danach ist sein 2017 abgeschlossenes Executive MBA Sprungbrett zum Leiter Marketing & Kommunikation in diesem Unternehmen und ab Sommer 2018 in der gleichen Position bei einer grossen Luzerner Holzbaufirma.

Uschis Sohn studiert in dieser Zeit Humanmedizin, wird Arzt und arbeitet in verschiedenen Spitälern in der Schweiz.

1994 kaufen Uschi und ich unsere 5½-Zimmer-Dachwohnung am Dorfeingang in Horw. Die Kinder von Uschi sind jetzt flügge und gründen eigene Haushalte.

Schon in jungen Jahren lernt Alain seine Partnerin Doris kennen. Nach seiner WG-Zeit gründen die beiden einen Haushalt. Vom September 2002 bis August 2003 ist das Paar auf achtmonatiger Weltreise in Australien, Neuseeland und Thailand, die sie wegen der SARS-Pandemie vorzeitig abbrechen müssen. Im März 2006 wird unsere Enkelin Paula geboren, im August 2008, ein Jahr bevor im Mai 2009 unser Enkel Marlon auf die Welt kommt, besiegeln die beiden mit der Hochzeit ihre Gemeinschaft auch formell.

Gaby bleibt nach Alains Wegzug allein in ihrer 4½-Zimmerwohnung. Sie hat unsere Trennung nie verkraftet und leidet schon bald an gesundheitlichen Störungen. Alain kümmert sich in fürsorglicher Art um sie. Im März 2006 wird Gaby ins Kantonsspital Luzern eingeliefert. Als Uschi und ich in der dritten Märzwoche in den Skiferien sind, informiert er mich, dass Maman ihrem Leiden erlegen ist. Seit der Geburt ihrer Enkelin Paula in der Frauenklinik des gleichen Spitals sind gerade mal eineinhalb Wochen vergangen. An der schlichten, von Alain würdevoll gestalteten Abdankungsfeier bin ich zusammen mit meinen Geschwistern dabei.

Grosses bewegen
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17.  Grosses bewegen

Nachdem der Zentralverwalter Abel Froidevaux 1978 zwischen Weihnachten und Neujahr an einem Herzinfarkt stirbt, gerät die CKUS in eine Art Schockzustand. 

Die Leitung der Zentralverwaltung wird Foirdevauxs Stellvertreter Josef Galliker übertragen, dem Chef des kleinen Teams der Buchhaltung. Er wird damit Hauptverantwortlicher für einen Führungsbereich mit zehn Abteilungen sowie Stabsstellen mit 190 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Für den 64-jährigen Mann ist das ein Jahr vor seiner Pensionierung eine aussergewöhnliche Herausforderung. Mit seiner ruhigen und besonnenen Art und dank feinfühliger Unterstützung durch den Zentralpräsidenten Beat Weber meistert Galliker diese Aufgabe gekonnt. 

Das Interregnum endet anfangs 1980 mit dem Amtsantritt von Dr. Ferdinand Steiner. Als neuer Zentralverwalter wird er mit Elan daran schaffen, dass die CKUS für die nächsten zwanzig Jahre gerüstet ist.

Mit neuen Versicherungsprodukten den Markt aufmischen
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17.1.  Grosses bewegen – Mit neuen Versicherungsprodukten den Markt aufmischen .

Im Bereich Kollektivversicherung ist der Konkurrenzkampf hart. Prämien und Leistungen sind nicht einziger Erfolgsfaktor. Ebenso ins Gewicht fällt Flexibilität bei den Produkten und in der Administration. Dabei ist Kreativität gefragt und die Fähigkeit, interne Abläufe zu hinterfragen.

Die Geburtsstunde einer Cash Cow
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17.1.  Grosses bewegen – Mit neuen Versicherungsprodukten den Markt aufmischen .

Die Geburtsstunde einer Cash Cow

Im wachsenden Wohlstand der 1970er-Jahre steigt die Nachfrage nach Komfort und freier Arztwahl im Spital. Die Krankenkassen bieten dafür zwei Zusatzversicherungen an. Dabei können Tagestaxen und Behandlungskosten bis zu wählbaren Höchstsummen versichert werden.

Unser härtester Konkurrent kommt jetzt aber mit einem neuen Versicherungsmodell auf den Markt. Zur Absicherung der Mehrkosten ausserhalb der allgemeinen Abteilung braucht es nur noch eine Zusatzversicherung. Es stehen sieben oder acht Varianten zur Auswahl. Jede garantiert die volle Kostendeckung entweder in der allgemeinen, halbprivaten oder privaten Abteilung eines öffentlichen Spitals oder in einer Privatklinik inner- oder ausserhalb des Wohnkantons.

Es ist die Zeit, in der wir im Kollektivgeschäft mit den personalstarken Betrieben der Migros-Genossenschaften ins Geschäft kommen wollen. Einen kleinen Schritt dazu schaffe ich, als ich zu einer Beratung bei der Limmatdruckerei in Spreitenbach eingeladen bin. Es ist jener Betrieb, der alle Presseerzeugnisse der Migros herstellt.

In diesem Gespräch wird mir schnell klar, dass ich mit unseren Spitalzusatzversicherungen gegenüber dem Modell des Konkurrenten keine Chance habe. Der Personalchef besteht darauf, seinen Mitarbeitern eine Versicherung ohne Höchstsummen anbieten zu können. Ich verabschiede mich bei ihm mit dem Versprechen, mit meinen Vorgesetzten zu klären, ob und in welcher Form wir ebenfalls ein solches Angebot bereitstellen könnten.

Engelbert Lammer ist damit einverstanden, dass ich mit dem Zentralpräsidenten Beat Weber das weitere Vorgehen bespreche. In dessen Büro skizziere ich meine Idee, wie wir nicht nur mit der Limmatdruckerei ins Geschäft kommen, sondern die Branche mit einer einfacheren Version aufmischen könnten. Es ist ein dreistufiges Modell, das je die volle Kostendeckung in der allgemeinen, halbprivaten (2er-Zimmer) oder privaten Abteilung (1er-Zimmer) eines jeden Spitals garantiert. Dabei spielt keine Rolle, ob die Wahl auf ein öffentliches oder privates Spital inner- oder ausserhalb des Wohnkantons fällt. Für die Festsetzung der Prämien nach dem Umlageverfahren dienen regional unterschiedliche Annahmen von durchschnittlich benötigten Versicherungssummen der beiden bisherigen Zusatzversicherungen.

Mit der neuen Offerte im Köfferchen fahre ich zur nächsten Besprechung nach Spreitenbach. Das Geschäft kommt zustande und der Kollektivvertrag mit der Migros-Tochter tritt auf den 1. Januar 1978 in Kraft. Noch ahnt niemand, dass damit die Geburtsstunde eines Versicherungsmodells geschlagen hat, das im Schweizer Krankenversicherungs- und Gesundheitsmarkt neue Massstäbe setzen wird.

Die Kombinierte Spitalversicherung
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17.1.  Grosses bewegen – Mit neuen Versicherungsprodukten den Markt aufmischen .

Die Kombinierte Spitalversicherung

In meinem Arbeitsbereich Kollektivversicherung zeigt sich schnell, dass die neu konzipierte Zusatzversicherung ein Renner ist. Der Ruf, dieses Modell auch den Einzelversicherten zugänglich zu machen, wird unüberhörbar. Im Auftrag und in enger Zusammenarbeit mit dem Zentralpräsidenten erarbeite ich deswegen die Entscheidungsgrundlagen für die schweizweite Einführung der Kombinierten Spitalversicherung durch die zuständigen Gremien.

Solche Beschlüsse erfolgen nach dem „Top-down“ Prinzip, in der Regel nach Konsultation der Konferenz der Abteilungschefs mit Festlegung der Fristen für die Umsetzung. Noch ist in unserem Unternehmen der Begriff Projekte, die einem formalisierten Management folgen, nicht bekannt. Deshalb sind weder die EDV noch die administrativ zuständigen Abteilungen begeistert von derart gestalteten „Ad hoc-Übungen“. In einer Parforceleistung werden dennoch alle Hürden genommen, damit die Kombinierte Spitalversicherung bereits auf den 1. Oktober 1978 in Kraft treten kann. Damit wird ein Meilenstein gesetzt für das Wachstum der CKUS und ihre Finanzstärke bis in die 1990er-Jahre.

Eine neue Versicherungspalette
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17.1.  Grosses bewegen – Mit neuen Versicherungsprodukten den Markt aufmischen .

Eine neue Versicherungspalette

Obwohl der Begriff der Kostenexplosion im Gesundheitswesen schon in den 1960er-Jahren geprägt wird, nimmt die Kostensteigerung in der Grundversicherung ab Mitte der 1970er-Jahre inflationäre Ausmasse an. Grund sind die Mengenausweitung und der Ausbau der in den Statuten festgelegten Leistungen. Damit einher geht die Kürzung der Bundessubventionen zur Entlastung der notleidendenden Bundeskasse. Weil für gesunde Versicherte tiefe Prämien im Fokus stehen, für Kranke jedoch das Ausmass der Leistungen, gerät die Krankenpflege-Grundversicherung immer mehr in finanzielle Schieflage.

In dieser Situation mache ich mich als Ideengeber und Motor für den Umbau der Versicherungspalette stark. Dabei wird die Grundversicherung konsequent auf das gesetzlich vorgeschriebene Minimum entschlackt. Mehrleistungen werden in Zusatzversicherungen gebündelt mit transparenten Leistungs- und Prämienschemen und Übertrittsgarantie für die bisher Versicherten. Dieser Umbau der Produkte verbessert die Marktfähigkeit der CKUS und hilft mit bei der Sanierung der defizitären Grundversicherung.

Der Umbau der Pensionskasse
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17.2.  Grosses bewegen – Der Umbau der Pensionskasse .

Der Pensionskasse der Zentralverwaltung angeschlossen sind nur die im festen Anstellungsverhältnis stehenden über 25-jährigen Angestellten. So gibt es vor allem für Junge und Frauen Anstellungen im provisorischen Arbeitsverhältnis, im Stundenlohn oder in Teilzeit. Sie werden dadurch stark benachteiligt. Die Sektionen entscheiden selbstständig, ob und wie ihr Personal versichert ist. Dadurch entsteht für den Arbeitgeber bei der Gestaltung der Arbeitsverträge viel Spielraum.

Die Vorsorgeeinrichtung der CKUS folgt dem Prinzip jener der öffentlichen Verwaltungen. Bei diesem nach dem Leistungsprimat aufgebauten Modell werden die Renten in Prozenten des versicherten Lohnes berechnet. Die Finanzierung erfolgt durch Lohnbeiträge in der Höhe von je 5 Prozent durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Bei Erhöhung des versicherten Lohnes sind versicherungstechnische Einmaleinlagen fällig. Den Versicherten wird dafür 0,5 Prozent vom Lohn abgezogen und zusätzlich während eines Jahres die Hälfte der Gehaltserhöhung. Der Arbeitgeber verpflichtet sich zur Übernahme der darüber hinaus versicherungstechnisch notwendigen Mittel. Diese stellt er aber nicht vollumfänglich durch direkte Einlagen in die Pensionskasse sicher, sondern zum Teil in Form von Rückstellungen in seiner Jahresrechnung.



Meine Rolle als Arbeitnehmervertreter
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17.2.  Grosses bewegen – Der Umbau der Pensionskasse .

Meine Rolle als Arbeitnehmervertreter

Schon früh engagiere ich mich im Vorstand der Personalvereinigung. Diese vertritt die Anliegen der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber, wird durch ihn bei Änderungen der Anstellungsbedingungen angehört und kann Eingaben machen.

Repräsentieren und Auftritte vor grossem Publikum sind nicht meine Stärken. Doch ich habe die Fähigkeit, Problematiken schnell zu erkennen, sie zu analysieren und mithilfe von Netzwerken konsequent an Lösungen zu arbeiten. Denis Simon-Vermot, mein für die französischsprachige Schweiz verantwortlicher Arbeitskollege, ist Präsident der Personalvereinigung. Mit ihm stehe ich bei der Evaluation von Vorschlägen zur Verbesserung der Anstellungsbedingungen in engem Kontakt.

Die Personalvereinigung berät auch ihre drei Vertreter im siebenköpfigen Stiftungsrat der Pensionskasse und ist zuständig für ihre Wahl. Die vier Arbeitgebervertreter mit dem Präsidenten gehören dem Zentralausschuss an. Drei von ihnen sind Beamte in gehobener Stellung in öffentlichen Verwaltungen.

Mein jugendlicher Gerechtigkeitssinn empfindet es als besonders störend, dass die Arbeitnehmervertretung im Stiftungsrat kaum je Gehör findet. Gegen die Mehrheit des Arbeitgebers fährt sie mit ihren Anliegen regelmässig an die Wand. Das ist der Grund, weshalb ich mich 1975 - 32-Jährig - um ein vakantes Mandat bewerbe und von den Versicherten in den Stiftungsrat gewählt werde. Ich will für die Anliegen des Personals eintreten und mithelfen, Ungleichheiten zu beseitigen.

Doch ich kann die Fronten zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern nicht aufweichen. Den Verlauf der Sitzungen empfinde ich als frustrierend, ohne offene Diskussionskultur mit Beschränkung auf das formal Notwendige. Eine spürbare Entspannung tritt erst ein mit dem altersbedingten Rücktritt von zwei Arbeitgebervertretern im Stiftungsrat und dem Wechsel im Präsidium.

Das Gesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) befördert den Umbau
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17.2.  Grosses bewegen – Der Umbau der Pensionskasse .

Das Gesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) befördert den Umbau

Das ist die Ausgangslage, als die Anpassung der Pensionskasse an das neue Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) ansteht, das am 1. Januar 1985 in Kraft treten wird.

Bei Sichtung der ersten Vorschläge des Arbeitgebers zur Änderung des Reglements wird mir klar, dass die Reform tiefgreifende Konsequenzen haben wird. Die Gleichstellung aller Arbeitnehmer ist überfällig. Aber es gilt auch, die bisherige Verpflichtung des Arbeitgebers einigermassen in die Zukunft zu retten.

Ich muss mich deshalb grundlegend in die Thematik einarbeiten. Zentralpräsident Beat Weber informiere ich über das nicht zu meinen beruflichen Aufgaben gehörende Engagement. Er ist ebenfalls der Pensionskasse angeschlossen und von der Reform betroffen. Augenzwinkernd macht er mir Mut, mich in der Thematik mit den älteren Herren der Arbeitgebervertreter im Stiftungsrat intellektuell zu messen.

Die Kernelemente der Reform
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17.2.  Grosses bewegen – Der Umbau der Pensionskasse .

Die Kernelemente der Reform

Die zwei Kernelemente der Reform sind die Einführung des Obligatoriums für alle Anstellungskategorien ab einem bestimmten Jahreslohn. Zudem verlangt der Arbeitgeber die Änderung der Finanzierung vom Leistungs- zum Beitragsprimat. Bei diesem Modell fliessen die Beiträge sowie die Zinsen in ein innerhalb der Pensionskasse für jeden Versicherten gebildetes Sparkonto. Die Auszahlungen im Alter oder im Versicherungsfall werden nicht mehr in Prozenten des versicherten Lohnes berechnet, sondern aufgrund des angesparten Kapitals mit dem gesetzlich festgelegten Umwandlungssatz.

Mein Engagement ist erfolgreich und wirkt dauerhaft
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17.2.  Grosses bewegen – Der Umbau der Pensionskasse .

Mein Engagement ist erfolgreich und wirkt dauerhaft

Das erste Angebot zur Revision beinhaltet die Einlage von 12,5 Prozent der versicherten Besoldung in die Pensionskasse. 6,5 Prozent würde der Arbeitgeber übernehmen, 6 Prozent die Arbeitnehmer. Mit dem Zückerchen von einem halben Prozent soll dem Personal der Wechsel zum Beitragsprimat schmackhaft gemacht werden.

Um diesen Vorschlag sachlich zu werten, muss ich den Schleier des bisherigen Finanzierungsverfahrens lüften. Dabei zeigt sich, dass sich die CKUS bei der Finanzierung der Personalvorsorge in einer finanziellen Sackgasse befindet. Die vom Arbeitgeber zu leistenden Einmaleinlagen sind dreimal so hoch wie die von ihm mit Beiträgen finanzierten Leistungen. In seiner Bilanz sind dafür Passiven in Millionenhöhe ausgewiesen. Das heisst, sie sind der Personalfürsorgestiftung geschuldet. Grund für diese Schuld ist, dass die Rentenversprechen der Stiftung in diesen Zeiten der Inflation zu einem enormen Finanzbedarf mit massiven Deckungslücken geführt haben.

Meine Rechnung ist einfach. Bevor die Personalvereinigung ihr Ja zum Umbau gibt, muss eine Lösung her, bei der sich der Arbeitgeber in etwa zum bisherigen Engagement bekennt. Unser konkreter Antrag ist, dass die Arbeitnehmerseite dem Wechsel zum Beitragsprimat zustimmt, wenn für die betriebliche Vorsorge künftig 21 Prozent der Lohnsumme zur Verfügung stehen. Ungefähr dem bisherigen Engagement entsprechend müssten Zweidrittel durch den Arbeitgeber finanziert werden, ein Drittel durch die Arbeitnehmer. Diese Forderung ist eine hohe Hürde. Dennoch wird das finanzielle Engagement für den Arbeitgeber künftig geringer sein als bei Weiterführung des Leistungsprimats.

Noch heute sehe ich die Arbeitgebervertreter im Stiftungsrat bei der Entgegennahme meines Vorschlags leer schlucken. Doch dort wurde die Rechnung ebenfalls gemacht. Die Sanierung der massiv unterfinanzierten Pensionskasse wäre ein noch teurerer und zudem mühevoller Weg. Im Herbst 1984 beschliesst deshalb der Stiftungsrat, zu meinem hartnäckig verfolgten Finanzierungsmodell ja zu sagen. Mit Wirkung ab 1. Januar 1985 tritt das Reglement der Personalvorsorgestiftung mit dem Übergang zum Beitragsprimat mit den Anpassungen an das neue Gesetz in Kraft. Die Beitragssätze sind für die Arbeitnehmer auf 7 Prozent und für den Arbeitgeber auf 14 Prozent festgesetzt. Das ist noch heute Grundlage für die Finanzierung der Personalvorsorge der CSS.

Meine Amtszeit als Präsident der Personalvorsorgestiftung
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17.2.  Grosses bewegen – Der Umbau der Pensionskasse .

Meine Amtszeit als Präsident der Personalvorsorgestiftung

Ende 1988 scheidet der als Präsident amtierende Arbeitgebervertreter nach 25-jähriger Amtszeit aus dem Stiftungsrat aus. Auf Antrag des bei der christlichsozialen Gewerkschaft im Tessin in leitender Stellung tätigen Arbeitgebervertreters wählt mich der Stiftungsrat jetzt als erster Arbeitnehmervertreter einstimmig zum Präsidenten. Diese Funktion nehme ich neben meinen beruflichen Aufgaben bis ins Jahr 2000 während drei Amtsperioden wahr. Das gelingt mir nur dank der Fachkunde und mit Unterstützung der beim Arbeitgeber für Finanzen und Personal verantwortlichen Kaderleute. In meiner Amtszeit kann die Personalvorsorgestiftung den positiven Finanzmarkt nutzen und eine solide Kapitalbasis bilden. Nach der umfassenden Strukturreform im Unternehmen begleite ich vor Ende meiner Präsidialzeit auch noch die Integration der Personalvorsorge der Sektionen in die Stiftung.

Ferdinand Steiner schafft Raum
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17.3.  Grosses bewegen – Ferdinand Steiner schafft Raum.

Mitte der 1985er Jahre gehören der CKUS bald eine Million Mitglieder in mehr als tausend Sektionen an. Das stetige Wachstum erfordert mehr Personal und neue Arbeitsplätze. Die errichteten Provisorien sind nicht wirtschaftlich und auf dem Arbeitsmarkt unattraktiv. Eines der ersten Ziele von Ferdinand Steiner ist die Lösung des Raumproblems.

Der Neubau in der Rösslimatt
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17.3.  Grosses bewegen – Ferdinand Steiner schafft Raum.

Der Neubau in der Rösslimatt

In der Rösslimatt, dem vom Stadtzentrum abgetrennten Quartier hinter dem Güterbahnhof, gibt es eine der wenigen Landreserven in Bahnhofsnähe. Das Gewerbegebiet mit kleinen Handwerksbetrieben in Provisorien und Baracken ist vom Bahnhof her via Bundesplatz über die Langensandbrücke erschlossen. Ferdinand Steiner leitet in diesem noch brachliegenden Gebiet den Kauf einer Bauparzelle in die Wege. Mit Begleitung der Baukommission übernimmt er danach die Gesamtverantwortung für den Neubau eines Verwaltungsgebäudes.

 

(1) Blick ins Gewerbegebiet Rösslimatt mit Güterbahnhof im Hintergrund (Fotograf unbekannt). © Stadtarchiv Luzern.

Blick ins Gewerbegebiet Rösslimatt mit Güterbahnhof im Hintergrund (Fotograf unbekannt). © Stadtarchiv Luzern.


Das von der Architektengemeinschaft Hans Eggstein und Walter Rüssli geplante Gebäude ist für 300 Arbeitsplätze konzipiert mit Reserven für den künftigen Ausbau. Am Freitag, 4. September 1987, findet die Einweihung statt und am Samstag ist Tag der offenen Türen für Mitarbeitende aus der ganzen Schweiz und die Luzerner Bevölkerung. Der einem Schiff nachempfundene Neubau gibt dabei Anlass zu regen Diskussionen.



(2) Verwaltungsgebäude der CSS ab 1987. Fumagalli, Paolo "Formen für den Ort". in: werk, bauen + wohnen, 12-1988. Foto: Hans Eggermann, Luzern; ©Stiftung Fotodok Kanton Luzern. ETH Zürich, www.e-periodica.ch

Verwaltungsgebäude der CSS ab 1987. Fumagalli, Paolo "Formen für den Ort". in: werk, bauen wohnen, 12-1988. Foto: Hans Eggermann, Luzern; ©Stiftung Fotodok Kanton Luzern. ETH Zürich, www.e-periodica.ch


Noch ahnt niemand, dass aus dem Quartier Rösslimatt/Tribschen in den frühen 2000er Jahren dank dem Projekt „Wohnen im Tribschen“ ein städtebauliches Vorzeigegebiet wird. Auch nicht vorstellbar ist, dass die CSS schon fünfzehn Jahre nach Bezugs des Gebäudes in der Rösslimatt wieder in höchste Raumnot gerät. Im Mai 2000 kauft sie von der Stadt in dem neu entstehenden Stadtteil Tribschen ein 7500 m2 grosses Grundstück für ein weiteres Verwaltungsgebäude. Dieser funktional, wirtschaftlich und architektonisch herausragende Bau mit 400 Arbeitsplätzen und zusätzlichen Wohneinheiten wird im September 2005 fertiggestellt.

Mein nächster Karriereschritt
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17.4.  Grosses bewegen – Mein nächster Karriereschritt.

Anfangs 1986 wird Engelbert Lammer pensioniert. Als seinen Nachfolger wählt mich der Zentralausschuss zum Leiter der Abteilung Kollektivversicherungen. Ja, ich werde durch dieses siebenköpfige Milizgremium gewählt. Denn die Besetzung der Kader erfolgt noch immer nach dem System der öffentlichen Verwaltung mit Wahl durch eine der Administration übergeordnete Behörde.

42 Jahre alt mit dreiundzwanzigjähriger Erfahrung im Kollektivgeschäft werde ich im März 1986 für diese Führungsaufgabe verantwortlich. Zur Abteilung gehören etwa zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den drei Sprachregionen. Daneben behalte ich die Stellvertretung von Denis Simon-Vermot, der als Zentralsekretär jetzt auch das von Lammer geführte Sachgebiet Werbung und Öffentlichkeitsarbeit übernimmt. Fachlich bleiben wir dem Zentralpräsidenten unterstellt.

Mein 25. Dienstjubiläum
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17.4.  Grosses bewegen – Mein nächster Karriereschritt.

Mein 25. Dienstjubiläum

Im Dezember 1987 begehe ich mein 25. Dienstjubiläum. Nie ist es mir in den Sinn gekommen, von meinem Arbeitgeber ein Zwischenzeugnis zu verlangen. Usus ist dies ohnehin nur, wenn eine Führungsperson ernsthaft mit einem Stellenwechsel liebäugelt oder dazu gezwungen ist. Deshalb nehme ich den Dankesbrief der Unternehmensleitung und das persönliche Schreiben von Beat Weber mit Stolz entgegen und die handschriftlich abgefassten Worte des Zentralpräsidenten stärken mein Selbstvertrauen. Auch das erste Jubiläumsgeschenk in Form eines Monatslohns kann ich gut gebrauchen.

 

(1) Brief der Unternehmensleitung zum 25. Dienstjubiläum am 03.12.1987.

Brief der Unternehmensleitung zum 25. Dienstjubiläum am 03.12.1987.

 

 

(2) Persönliches Schreiben von Beat Weber zum 25. Dienstjubiläum.

Persönliches Schreiben von Beat Weber zum 25. Dienstjubiläum.

 

 

Von der CKUS zur CSS
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17.5.  Grosses bewegen – Von der CKUS zur CSS .
Zu Beginn der 1980er Jahre unternimmt Engelbert Lammer mit seiner Propagandaabteilung - ja sie heisst noch so -  zaghafte Schritte zur Modernisierung des Marktauftritts der CKUS. Alles dreht sich um die Frage, wie der Begriff „Christlichsoziale“ darzustellen ist. Denn oft wird er mit der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, Gewerkschaft oder Partei verknüpft. Die Organisation steht zwar zu diesen in ihrem Ursprung liegenden Werten. Doch von den aus der Gründerzeit stammenden Interessenbindungen hat sie sich längst befreit.
Der Weg zu einer markanten Identität
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17.5.  Grosses bewegen – Von der CKUS zur CSS .

Der Weg zu einer markanten Identität

Die Suche nach einer markanten Identität in den drei Landessprachen ist ein anspruchsvolles Vorhaben mit hürdenreichen Entscheidungswegen.



(1) Links: CKUS-Logo deutsch. Französisch und italienisch mit CMCS (in Gebrauch bis in die 1970er Jahre). Rechts Schriftbild in Drucksachen ab den 1980er-Jahren.

Links: CKUS-Logo deutsch. Französisch und italienisch mit CMCS (in Gebrauch bis in die 1970er Jahre). Rechts Schriftbild in Drucksachen ab den 1980er-Jahren.


Noch in der Ägide von Beat Weber erarbeitet dann Denis Simon-Vermot die Grundlagen zu einer umfassenden Modernisierung von Namen und Erscheinungsbild des Unternehmens. 

Nach einem Ausschreibungsverfahren präsentieren drei Agenturen ihre Ideen, wie die CKUS künftig als starke und vertrauenswürdige Organisation wahrgenommen werden soll. Innerhalb unseres Teams gilt das professionell durchdachte Konzept einer Werbeagentur aus der Westschweiz als deutlicher Favorit. Es umfasst alle Bereiche der visuellen und verbalen Kommunikation mit einem von Grund auf erneuerten Marktauftritt. Entscheidend ist der Namenswechsel von CKUS zu CSS und von Krankenkasse zu Versicherung. Im Logo erscheint der Kristall als wahrnehmbares und die stabilen Werte des Unternehmens unterstreichendes Symbol. Dabei schwingt die Idee mit, der CSS in einem nächsten Schritt den Namen Cristal zu geben. Dieser Weg wird später aus markenrechtlichen Gründen nicht weiterverfolgt.




(2) CSS Logo deutsch, französisch, italienisch und dreisprachig ab 1987.

CSS Logo deutsch, französisch, italienisch und dreisprachig ab 1987.


Die Kompetenz für den fundamentalen Wechsel des Marktauftritts liegt beim Zentralausschuss mit Antragsrecht seiner Kommission. Ich bin an der Kommissionssitzung als Protokollführer dabei, als diese über die Vorschläge beschliessen soll. Als Vorsitzender spürt Beat Weber, dass die Mehrheit der Kommissionsmitglieder von der radikalen Erneuerung der Firmenidentität nicht begeistert ist. Er regt an, die an der Sitzung anwesenden Kaderleute einschliesslich des Protokollführers an der Abstimmung beteiligen zu lassen. Seine Begründung ist, dass diese sich letztlich mit der Umsetzung würden befassen müssen. Die Kommissionsmitglieder sind von dem unüblichen Vorschlag überrascht, können ihm aber nichts entgegenhalten. So ist es ein Schachzug von Beat Weber, der 1987 den Weg ebnet für die Implementierung der neuen Firmenidentität. Es ist überdies das Jahr, in dem die CSS die Aufnahme des millionsten Mitglieds feiert. Beat Weber hatte stark darauf hingearbeitet, dieses Ziel noch in seiner Amtszeit zu erreichen.

 

Die Weichen werden neu gestellt
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17.6.  Grosses bewegen – Die Weichen werden neu gestellt.

1988 ist für die CSS ein Jahr der Weichenstellungen.

  • Mit dem Zentralpräsidium ist die wichtigste Führungsposition neu zu besetzen, und
  • das zentrale Datenverarbeitungssystem soll durch ein nach dem neuesten Wissensstand entwickeltes, alle Kundenprozesse steuerndes Informatiksystem ersetzt werden. Dieses IS-88 genannte Projekt ist über Jahre mit grossem personellem und finanziellem Aufwand entwickelt worden.
Die Nachfolge von Beat Weber wird vorbereitet
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17.6.  Grosses bewegen – Die Weichen werden neu gestellt.

Die Nachfolge von Beat Weber wird vorbereitet

Beat Weber hätte im Mai 1987 das Pensionsalter erreicht. Doch die für die Wahl seines Nachfolgers zuständige Schweizerische Delegiertenversammlung findet erst im Herbst 1988 statt. Deshalb bleibt Weber für achtzehn Monate in einem Teilzeitpensum im Amt. Ich weiss nicht, ob für die Suche nach seinem Nachfolger ein Anforderungsprofil besteht. Klar ist, dass der Zentralausschuss als antragstellendes Gremium den Fokus auf eine integre Führungspersönlichkeit mit französischer Muttersprache und sehr guten Deutschkenntnissen legt. Darüber hinaus geht er von einem Präsidium im Teilpensum aus.

Ich bin als Protokollführer an Sitzungen dabei, an denen ergebnislose Gespräche mit Kandidaten geführt werden. Wahrscheinlich ist es Beat Weber, der danach eine Richtungsänderung einleitet. Für ihn ist wichtig, dass seine Position mit einer in der Westschweiz verankerten Führungsperson besetzt wird. Daneben setzt er auf Kontinuität, gute Branchen- und Fachkenntnisse und will sicherstellen, dass die Werte der CSS weiter gelebt werden. Unter diesen Gesichtspunkten schlägt er das Tandem Simon-Vermot / Barmettler vor. Denis soll sein Nachfolger im Zentralpräsidium werden, ich als dessen rechte Hand Zentralsekretär.

Denis Simon-Vermot wird Zentralpräsident
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17.7.  Grosses bewegen – Denis Simon-Vermot wird Zentralpräsident.

Die Schweizerische Delegiertenversammlung 1988 findet am 24. September 1988 in Davos statt. Nebst den 300 stimmberechtigten Delegierten nehmen 500 Gäste und Kaderleute an der Veranstaltung teil. Hauptgeschäft ist die Neuwahl ins Zentralpräsidium.

Nach 26-jähriger Amtszeit wird Dr. Beat Weber feierlich verabschiedet und zum Ehrenpräsidenten ernannt. Dem Antrag des Zentralvorstandes entsprechend wählt die Versammlung als seinen Nachfolger Denis Simon-Vermot.



(1) Fotos aus der CSS-Mitgliederzeitung, Herbst 1988.

Fotos aus der CSS-Mitgliederzeitung, Herbst 1988.


Als Ehrenpräsident erhält Beat Weber weiterhin alle Unterlagen zu den Geschäften der leitenden Organe und hat das Recht, an deren Sitzungen teilzunehmen. So bleibe ich lose in Kontakt mit ihm und weiss, dass er das Geschehen bei der CSS interessiert verfolgt. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, auch er Ehrenpräsident, nimmt Beat Weber aber nie an einer Sitzung teil und mischt sich in keiner Weise in die Geschäfte ein.

Nachdem seine Frau Adelheid im Jahr 2000 nach einer Herzoperation 75-jährig stirbt, hält Beat Weber nichts mehr in Luzern. Er verbringt seinen Lebensabend in seiner Heimatstadt Bern, in der er verwurzelt war. Meine Besuche bei ihm in seiner Altstadtwohnung an der Gerechtigkeitsgasse sind selten. Sie werden aber regelmässig zu intellektuellen Höhenflügen mit Gesprächen zu Erlebtem und Aktuellem. Nicht fehlen darf ein gepflegtes Mittagessen in einem seiner Lieblingslokale in Gehdistanz zu seinem Zuhause. Im Oktober 2012 verstirbt Beat Weber 91-jährig. Zusammen mit einigen ehemaligen Arbeitskollegen nehme ich von meinem Förderer im Beisein seiner Familie mit einem tränenden Auge Abschied. Die Abschiedsworte des amtierenden Verwaltungsratspräsidenten am Trauergottesdienst sind anhand meiner Erlebnisse verfasst. Niemand von den aktiven Führungspersonen hat noch persönliche Erinnerungen an das Wirken von Beat Weber. Und ich selbst bin seit vier Jahren in Pension.

Ich bin erster Generalsekretär der CSS
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17.7.  Grosses bewegen – Denis Simon-Vermot wird Zentralpräsident.

Ich bin erster Generalsekretär der CSS

Schon Mitte 1988 ist klar, dass ich nach der Wahl von Denis ins Präsidium sein Nachfolger als Zentralsekretär werde. Das beschliesst der Zentralvorstand an seiner Sitzung im Juni in Vaduz. Die Delegiertenversammlung in Davos verabschiedet auch einige die Organisation betreffende Statutenänderungen. Dabei werden die Begriffe Zentralverwalter durch Direktor und Zentralsekretär durch Generalsekretär ersetzt.



(1) Ausschnitt aus der Mitgliederzeitung Juni 1988.

Ausschnitt aus der Mitgliederzeitung Juni 1988.



(2) Foto aus der CSS Mitgliederzeitung, Juni 1988

Foto aus der CSS Mitgliederzeitung, Juni 1988


Die Unterlagen der Geschäfte für die Führungsorgane fertigt Denis in Französisch an, ich übersetze sie in Deutsch. Aus der operativen Ebene kommen Entscheidungsgrundlagen in der Regel in meiner Muttersprache. Deshalb bin ich meist  selbst Verfasser der Beschlussvorlagen. Mit den später vorgenommenen Wechseln der Organisationsstruktur kommen weitere Stabsaufgaben dazu. So ist es nicht immer einfach, Aussenstehenden das Aufgabenprofil des Generalsekretärs zu erklären.

Und nicht alle Generalsekretäre dieser Welt sind ehrenhafte Männer. Mir bleibt eine Aussprache mit Bundesrat und Innenminister Pascal Couchepin Mitte der 2000er Jahre in seinem Büro in Bern in markanter Erinnerung. Ich bin Teil der Delegation des Branchenverbandes, die zu einem Fachgespräch eingeladen ist. Als Erstes will er wissen, in welcher Funktion die anwesenden Leute tätig sind. Ausser mir sind alle CEO einer Krankenversicherung. Als ich mich als Generalsekretär der CSS vorstelle, bemerkt er mit spitzer Zunge. „Ich glaubte Generalsekretäre gäbe es nur noch in der Sowjetunion“. Dieser Gesprächsbeginn trifft mich unvorbereitet. Fakt ist, dass im Wallis, Couchepins Heimat- und Herkunftskanton, die Christlichsozialen noch immer eine eigenständige Partei sind, die er zu seinen politischen Gegnern rechnet. Deshalb empfinde ich seine Äusserung als zynisch und bin spontan nicht in der Lage, dem Magistraten angemessen zu antworten. Dementsprechend abgelenkt sind meine Gedanken in den folgenden Fachgesprächen.

IS-88. Die Datenübernahme misslingt
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17.7.  Grosses bewegen – Denis Simon-Vermot wird Zentralpräsident.

IS-88. Die Datenübernahme misslingt

Am selben Wochenende als die Delegiertenversammlung in Davos stattfindet, ist die Migration der Daten vom EDV-System ins IS-88 geplant. Während des Mittagessens am Sonntagsausflug auf Pischa geht Ferdinand Steiner zum Telefon, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Jedermann sieht ihm an, dass er von der erhaltenen Nachricht getroffen ist. Die Datenübernahme hat nicht geklappt. Das operative Tagesgeschäft ist teilweise lahmgelegt und er wird in Luzern gebraucht, um zu entscheiden, welche Sofortmassnahmen einzuleiten sind. Während Monaten danach sind alle verfügbaren Arbeitskräfte mit Überstunden und Nachtarbeit gefordert, die fehlerhaft ins IS übertragenen, aber bei den Sektionen vorhandenen Daten in Handarbeit im System zu ersetzen. Ferdinand Steiner hatte sich den Wechsel vom Zentralverwalter zum Direktor in einem besseren Umfeld gewünscht.

Die umfassende Strukturreform
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17.8.  Grosses bewegen – Die umfassende Strukturreform .

Wie sieht die Zukunft für die CSS aus und wie sieht die CSS in Zukunft aus? Das ist die Frage, mit der sich der Zentralausschuss im November 1989 an einer Klausurtagung auseinandersetzt. Anhand von zehn konkreten Zielsetzungen gibt er danach grünes Licht für das Projekt „CSS 2000: Strukturentwicklung“, das drei Teilprojekte umfasst:

  • Verbandsstruktur
  • Marketing- und Distribution und
  • Führungsstruktur der Zentralverwaltung.
Fortbildung am VMI der Uni Fribourg
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17.8.  Grosses bewegen – Die umfassende Strukturreform .

Fortbildung am VMI der Uni Fribourg

Mit der zunehmend an Bedeutung gewinnenden beruflichen Fortbildung werden Ferdinand Steiner und die Personalabteilung auf das Verbandsmanagement-Institut der Universität Fribourg (VMI) aufmerksam. Dieses bietet einen Diplom-Lehrgang an, an dem umfassendes Wissen zu Instrumenten und Techniken des Managements in Nonprofit-Organisationen (NPO) vermittelt wird. Diese berufsbegleitende Ausbildung beinhaltet Selbststudium auf Basis von Seminarunterlagen und vier einwöchige Lehrgänge mit ausgewiesenen Dozenten. Dabei werden alle Bereiche des Managements aus der speziellen Sicht der NPO angesprochen mit den Themen Organisation (Strukturen und Prozesse), Steuerung (Planung, Controlling), Führung, Veränderungsmanagement, Marketing und Ressourcen-Management. Während des Diplom-Lehrgangs ist eine praxisorientierte Diplomarbeit zur Anwendung beim eigenen Arbeitgeber zu erstellen. Der Lehrgang wird mit einer schriftlichen Prüfung abgeschlossen. Nach deren Bestehen und der Annahme der Diplomarbeit erhält der Lehrgangsteilnehmer das Diplom als NPO-Manager VMI.

Mit Georg Portmann ein Tandem
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17.8.  Grosses bewegen – Die umfassende Strukturreform .

Mit Georg Portmann ein Tandem

Direktor Steiner holt 1987 Georg Portmann als seinen persönlichen wissenschaftlichen Mitarbeiter zur Seite. Georg ist ein 23-jähriger Macher, offen für Innovation und wird bei der CSS bald verantwortlich für die Bereiche Marketing und Kommunikation. Steiner regt an, dass wir beide die Fortbildung des VMI absolvieren, um dem Projekt „CSS 2000“ professionelle und richtungsweisende Impulse zu verleihen. Georg schliesst den Lehrgang II (1988/89) mit der Diplom-Arbeit zum Marketing-Konzept ab. Ich absolviere den Lehrgang III (1989/90) mit der Seminararbeit zur Verbandsstruktur der CSS.



(1) Diplomarbeit und Diplom nach der Fortbildung am VMI der Uni Fribourg 1889/1990.

Diplomarbeit und Diplom nach der Fortbildung am VMI der Uni Fribourg 1889/1990.


Georg Portmann und ich sind jetzt ein sich blind verstehendes und ergänzendes Führungsduo. Unsere Fortbildung am VMI Fribourg ist im Gesamtprojekt "CSS 2000" Grundlage für das Marketing- und Distributionskonzept und für den Aufbau der neuen Vereinsstruktur. Bald ist Portmann stellvertretender Direktor.



(2) Georg Portmann, ca. 1987 und 2015 zur Zeit seiner Pensionierung.

Georg Portmann, ca. 1987 und 2015 zur Zeit seiner Pensionierung.

 

Meine Diplomarbeit und die neue Struktur
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17.8.  Grosses bewegen – Die umfassende Strukturreform .

Meine Diplomarbeit und die neue Struktur

Beim Erstellen der Diplomarbeit drehen sich meine Gedanken lange Zeit im Kreis. Denn eines ist offenkundig. Das wesentliche Mitwirkungsrecht der Mitglieder eines Vereins ist zu bestimmen, welche Leistung er für sie erbringt, und welche Beiträge sie bereit sind dafür zu bezahlen. Aus unternehmerischer Sicht aber kann eine Krankenversicherung genau diese Kompetenz nicht delegieren. Denn krankheitsanfällige Personen würden sich für mehr Leistungen aussprechen, gesunde für weniger Beiträge.


Erst die theoretischen Erkenntnisse aus der Fortbildung und intensive Gespräche mit dem für das Thema Verbandsstrukturen verantwortlichen Dozenten PD Dr. Peter Schwarz zeigen mir den Weg, wie die neue Vereinsstruktur der CSS aussehen könnte.
 


(1) Grundsatz der Verteilung von Verantwortung und Kompetenzen in grossen NPO-Organisationen.

Grundsatz der Verteilung von Verantwortung und Kompetenzen in grossen NPO-Organisationen.

 
Meine Diplomarbeit enthält folglich die Empfehlung, prioritär das Modell „Beibehaltung der Vereinsstruktur“ nach diesem Grundsatz zu verfolgen. Die Sektionen als selbstständige Organisationseinheiten seien aufzuheben, die Vereinsorgane substanziell zu redimensionieren mit dem Aktienrecht nachempfundenen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten. Alternativ wäre die Umwandlung des Vereins in eine Stiftung zu prüfen.

Diese Empfehlung ist Grundlage für die Arbeiten im Teilprojekt Verbandsstruktur. Ich bin für dessen Steuerung verantwortlich und erhalte die Kompetenz, als externen Berater PD Dr. Peter Schwarz beizuziehen. Schwarz ist nebst seiner Dozententätigkeit Mitbegründer und Chefberater der B'VM Bern (Beratung für Verbandsmanagement).

Sowohl beim Modell Verein als auch bei jenem der Stiftung muss sich jedes der in den Entscheidungsprozess involvierten Organe der CSS infrage stellen oder gar selbst abschaffen. Deshalb ist es oberstes Gebot, die Betroffenen zu Beteiligten zu machen mit einer ausgewogenen Zusammensetzung der Projektgruppe nach fachlicher Kompetenz und Interessenlage. Überdies gilt das Prinzip, dass vorerst die Grundsätze der neuen Struktur erarbeitet werden und erst danach die Details mit verbindlichen Beschlüssen. Wichtiger Faktor ist zudem die Kommunikation. Jede der beteiligten Ebenen muss mit glaubwürdiger und stufengerechter Information laufend über den Stand der Arbeiten Bescheid wissen.

Die neue Organisationsstruktur
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17.8.  Grosses bewegen – Die umfassende Strukturreform .

Die neue Organisationsstruktur

Ergebnis unserer Projektarbeit ist, dass die letzte Schweizerische Delegiertenversammlung der CSS in Luzern im Oktober 1994 die Anträge zur Totalrevision der Statuten ohne Gegenstimme genehmigt. Die CSS rüstet sich mit ihrer neuen Organisationsstruktur für die herausfordernde Zukunft.

Der CSS-Verein 1995
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17.8.  Grosses bewegen – Die umfassende Strukturreform .

Der CSS-Verein 1995


(1) Organigramm der Vereinsstruktur der CSS nach der Totalrevision der Statuten ab 1995.
Organigramm der Vereinsstruktur der CSS nach der Totalrevision der Statuten ab 1995.

 

Die operative Führungsstruktur
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17.8.  Grosses bewegen – Die umfassende Strukturreform .

Die operative Führungsstruktur

Mit der Aufhebung der Sektionen als selbstständige Organisationseinheiten ist der Umbau der operativen Führungsstruktur unabdingbar. Grundlage für diesen Teil des Projekts ist meine Diplomarbeit mit dem Vorschlag zum Aufbau regionaler Führungseinheiten.



(1) Das ab 1993 für die Arbeiten an der neuen operativen Führungsstruktur zu Grunde liegende Schema.
Das ab 1993 für die Arbeiten an der neuen operativen Führungsstruktur zu Grunde liegende Schema.


Der Weg hin zur Organisation im operativen Bereich ist mit Hürden versehen. Ferdi Steiner schafft es nicht, die Divergenzen zwischen zentralen und regionalen Interessen beiseite zu räumen und geht 1996 in Pension. 

Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse
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17.9.  Grosses bewegen – Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse.
Zur erfolgreichen Umsetzung des Projekts Strukturentwicklung haben mir auf allen Ebenen viele ans Herz gewachsene Menschen geholfen. Dennoch will ich zwei markante Persönlichkeiten und ein prägendes Ereignis besonders erwähnen.
PD Dr. Peter Schwarz
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17.9.  Grosses bewegen – Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse.

PD Dr. Peter Schwarz

Nach meinem Diplomabschluss beginnt mit Peter Schwarz eine intensive und vertrauensvolle Zusammenarbeit im Projekt Verbandsstruktur. Er erfasst die komplexen Zusammenhänge schnell und findet daraus konkrete Problemlösungen, ich bringe die Kenntnisse zu den Besonderheiten der CSS und ihrer Führungspersonen ein. Mit seinem Erfahrungsschatz im NPO-Bereich sorgt Peter für die fachliche Akzeptanz der Lösungen auf jeder Entscheidungsebene. So kommen wir uns bald nicht nur beruflich nahe, sondern lernen uns auch als Menschen kennen und schätzen.

Schon an der Schweizerischen Delegiertenversammlung 1991 in Lugano gelingt es, die Grosszahl der Delegierten von den Grundzügen der Strukturreform zu überzeugen. Es stehen keine Beschlüsse an. Aber meine mit Schwarz abgesprochene und mit Fachleuten der Kommunikation erstellte Präsentation zeigt den Entscheidungsträgern auf, wie die Zukunft der CSS aussehen wird. Dabei ist die erstmals angewandte visuelle Unterstützung via Videoprojektor im dafür auf dem neusten Stand ausgerüsteten Kongresshaus hilfreich.



(1) PD Dr. Peter Schwarz, †2017. © Nachruf Zeitschrift VMI. Nach meiner Erinnerung war Peter drei bis vier Jahre jünger als ich.

PD Dr. Peter Schwarz, †2017. © Nachruf Zeitschrift VMI. Nach meiner Erinnerung war Peter drei bis vier Jahre jünger als ich.

 

 

 

 

Dr. Bruno Scherrer, Zürich
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17.9.  Grosses bewegen – Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse.

Dr. Bruno Scherrer, Zürich

Im siebenköpfigen Zentralausschuss gehen die Meinungen über die Notwendigkeit der Strukturreform auseinander. Die drei Vertreter der sprachlichen Minderheiten stehen ihr skeptisch gegenüber. In elementaren Fragen werden Grundsatzbeschlüsse nur mit dem Stichentscheid des notabene aus der Romandie stammenden Präsidenten zugunsten der Neuerung gefasst.

Im Reformprojekt ist Bruno Scherrer Meinungsführer im Gremium. Er ist ein junger und brillanter Anwalt, der noch von Beat Weber in die CSS geholt wurde. Nach einer Sitzung anfangs März 1993, an der wichtige Weichen gestellt wurden, macht Bruno in ungezwungener Runde die Randbemerkung, es bräuchte jetzt einen Rütli-Rapport. Eine Führungsperson müsste vorne hinstehen und die Kernelemente der Reform glaubwürdig kommunizieren.

 

Der CSS-Rapport 1993
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17.9.  Grosses bewegen – Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse.

Der CSS-Rapport 1993

Am Samstag, einen Tag nach dieser Sitzung, verreisen Uschi und ich frühmorgens in die Skiferien nach Wengen. In Gedanken versunken bepacke ich das Auto und wir fahren wortlos Richtung Brünig. Auf der Höhe von Sarnen wende ich mich an meine Partnerin auf dem Beifahrersitz. „Rütli-Rapport, das machen wir“ sage ich zu Uschi. Sie schaut mich verwirrt an. „Ach, du redest sogar mit mir?“ ist ihre Erwiderung. Erst jetzt erkläre ich ihr die Zusammenhänge und während der Ferienwoche basteln wir gemeinsam weiter an meinen Gedanken.

Als ich Denis nach der Rückkehr mit meinen Ideen vertraut mache, akzeptiert er, dass ich den skizzierten Weg weiterverfolge. Noch im Frühjahr werden alle Angestellten informiert, dass am 5. Oktober 1993 der CSS-Rapport stattfinden werde. An diesem Tag werde über die strukturellen Anpassungen informiert und die Teilnahme sei Pflicht. Mit äusserstem Engagement meines Teams gelingt die professionelle Organisation des Grossanlasses in der Festhalle Luzern als idealer Austragungsort.

Am Dienstag, 5. Oktober 1993, strömen die mit Cars und öffentlichen Verkehrsmitteln aus allen Himmelsrichtungen anreisenden 1700 Mitarbeitenden, Funktionäre und Ehrenamtlichen auf die Allmend. Spannung liegt in der Luft, denn die Leute wissen nicht, was sie erwartet. Manche befürchten, es gehe um Stellenabbau. Den Einmarsch in die Halle und die Eröffnung des Anlasses begleiten wir mit den markanten Rhythmen der Ouvertüre zur Oper Carmen. In videounterstützten Referaten bilden die Referenten, unter ihnen Ferdi Steiner und Georg Portmann die Grundzüge der Reform für ihre Bereiche ab. Zum Thema Strukturreform bin ich Hauptreferent. Meine Kernbotschaft, dass wir in gemeinsamer Arbeit die CSS professionalisieren wollen, kommt an. Es ist greifbar, wie die konkret vorgestellten Ziele und Grundsätze von den gespannt Zuhörenden mit Erleichterung und Optimismus aufgenommen werden.

Für die Verpflegung sind im anderen Teil der Halle Marktstände mit Spezialitäten und Getränken aus allen Regionen der Schweiz aufgebaut, an denen sich die Leute nach Lust und Laune bedienen können. Dabei zirkulieren die Mitglieder der Direktion an den aufgestellten Stehtischen für Gespräche und nehmen Eindrücke auf über die Wirkung der Veranstaltung. Die positive Grundstimmung ist auf allen Ebenen greifbar.

Aus der Idee des Rütli-Rapports von Bruno Scherrer wird so mit dem CSS-Rapport ein unvergesslicher Mitarbeiteranlass mit optimistischen Blicken in die Zukunft. Mein Resümee ist, dass sich der finanzielle Aufwand und die ungezählten Überstunden für die Vorbereitung dieses geschichtsträchtigen Anlasses ausbezahlt haben.

Meine persönlichen Beziehungen zu Bruno Scherrer
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17.9.  Grosses bewegen – Prägende Persönlichkeiten und markante Ereignisse.

Meine persönlichen Beziehungen zu Bruno Scherrer

Bruno Scherrer und ich lernen uns nicht nur auf beruflicher Ebene kennen und schätzen. Auch privat entwickelt sich zwischen uns und unseren Partnerinnen eine Freundschaft. Besonders teilen wir unsere Begeisterung für Oper, klassische Musik und gepflegte Kulinarik.



(1) Eine der vielen Todesanzeigen zu Bruno Scherrer in der NZZ vom 26. Juni 2001.

Eine der vielen Todesanzeigen zu Bruno Scherrer in der NZZ vom 26. Juni 2001.


Eine besondere Tragik wohnt dieser Geschichte inne, weil ich mit Bruno am Tag vor seinem Tod in geschäftlicher Angelegenheit telefoniert hatte. Am Ende dieses Gesprächs erkundigt er sich, wie es mir nach dem an Ostern erlittenen Herzinfarkt gehe. Dabei spart er nicht mit mahnenden Worten, dass ich zu mir Sorge tragen und ja nicht mehr wieder mit Rauchen beginnen solle. Er selbst hatte meines Wissens nie richtig damit angefangen oder schon vor langer Zeit damit aufgehört.

Die Zeitenwende in der Krankenversicherung
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18.  Die Zeitenwende in der Krankenversicherung

Parallel zur Strukturreform laufen die Diskussion und der Abstimmungskampf um die Einführung der obligatorischen Grundversicherung. Der Branchenverband hat sich dazu entschieden, zum Gesetz ja zu sagen und engagiert sich für die Annahme der Vorlage. In der Führungsetage meines Arbeitgebers jedoch besteht Skepsis gegenüber der Abkehr vom freiheitlich organisierten System der Krankenversicherung. Die Schwächen der bis dahin geltenden Regelung mit nach Eintrittsalter abgestuften Prämien und fehlender Freizügigkeit sind zwar offensichtlich. Doch im Gesetz bleiben wichtige Fragen zur Tarifpartnerschaft in der ambulanten und stationären Leistungserbringung offen. Besonders die Rolle der Kantone als Regulierer und Träger der Spitäler ist problembehaftet. Der Verwaltungsrat entscheidet sich, auf eine Abstimmungsempfehlung zu verzichten. Ich habe den 300 Delegierten an der letzten Schweizerischen Delegiertenversammlung am 8. Oktober 1994 in Luzern diese Position zu begründen. Der Präsident des Branchenverbandes argumentiert für die Annahme der Vorlage. An der Versammlung findet zwar keine Diskussion statt. Doch in den persönlichen Gesprächen spüre ich die Zufriedenheit, dass sich die CSS nicht vom Herdentrieb der Branche hat leiten lassen. Und die CSS-Delegierten sind froh darüber, dass ihre Skepsis zur Abstimmungsvorlage mit starken Argumenten untermauert ist. Aber ich vernehme auch das Murren der Branche und der Politik zu diesem Positionsbezug. Was sich allerdings in Grenzen hält, ist das von der Unternehmensleitung erhoffte Medienecho über das Ausscheren der CSS von der Position des Verbandes.

In der Volksabstimmung vom 4. Dezember 1994 wird das Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) mit einer knappen Stimmenmehrheit von 51,8 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Ausschlaggebend für dieses Ergebnis sind die Stimmen aus der Romandie und dem Tessin, in denen schon länger kantonale Regeln eines Obligatoriums gelten. Der Bundesrat setzt das Gesetz bereits auf den 1. Januar 1996 in Kraft. Die kurze Einführungsphase wird für die Versicherer turbulent. Doch nicht nur für sie, sondern für die gesamte Gesundheitsbranche beginnt nun eine markante Zeitenwende. Alle Akteure sind zur Abkehr von bisherigen Gewohnheiten gezwungen. Das Einzige, was sich in der neuen Ordnung nicht verändert, ist die Anforderung an die Leistungserbringer (Medizinalpersonen und Spitäler), die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sicher zu stellen. Doch die dazu im Gesetz geschriebenen Regeln sind teils unklar, interpretationsbedürftig oder gar inkonsequent. Und die Krankenkassen müssen sich in ihrer Rolle als staatlich beaufsichtigte, aber nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen aufgestellte Träger der obligatorischen Grundversicherung erst finden. Dasselbe gilt für die Behörden des Bundes, die eine korrekte Umsetzung des Gesetzes überwachen sollen.

 

Die CSS auf der Suche nach Professionalität
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18.1.  Die Zeitenwende in der Krankenversicherung – Die CSS auf der Suche nach Professionalität .

Jetzt besteht die Kernaufgabe darin, die reibungslose Einführung der obligatorischen Grundversicherung sicherzustellen. Mit im Fokus stehen die Erhaltung des Kundenstamms und ein gesundes Wachstum. Parallel dazu ist die Strukturreform auf operativer Ebene voranzutreiben. Georg Portmann übernimmt den Direktionsposten von Ferdinand Steiner ad interim. Er bleibt fachlich zuständig für seine Bereiche Marketing, Personal/Logistik und Versicherungen.

Bei der Suche nach einem neuen CEO geht der Verwaltungsrat davon aus, dass im Unternehmen genügend branchenspezifische Kompetenz vorhanden ist. Gefragt seien Qualifikationen in den Bereichen Unternehmensführung, Markt und Wirtschaft. Für die Selektion eines Managers mit diesem Profil bestimmt er aus seinen Reihen einen dreiköpfigen Findungsausschuss.

In dieser Periode wird bis Mitte 1998 auch die Nachfolge von Denis Simon-Vermot im Präsidium des Verwaltungsrats geklärt sein müssen. Die für diese Wahl geltenden Kriterien sind in den Grundsätzen zur Strukturreform bereits festgelegt. Es wird nach einer in der Politik gut vernetzten Persönlichkeit aus der Romandie Ausschau gehalten, welche die Position etwa in einem 30 Prozent Pensum ausüben soll.

Die oberste Führungsetage wird jetzt erneuert, und ich bin mit meinem Team nebst dem Tagesgeschäft für die Aktualisierung der im Unternehmen geltenden formellen Regeln verantwortlich. Im Versicherungsgeschäft müssen die Reglemente an die geänderten gesetzlichen Vorschriften angepasst werden. Und die Strukturreformen rufen nach Regelwerken, in denen Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten klar formuliert und durch die zuständigen Instanzen genehmigt sind.

Die Fehlbesetzung auf dem Direktionsposten
Seite 310
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18.2.  Die Zeitenwende in der Krankenversicherung – Die Fehlbesetzung auf dem Direktionsposten.