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Von Maja Brenner Meine "grosse" Welt, Teil 1
Es werden nur Texte von über 10 Internet-Seiten publiziert.
Zurzeit sind 519 Biographien in Arbeit und davon 290 Biographien veröffentlicht.
Vollendete Autobiographien: 176
 
Maja Brenner
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3.2.
Meine Grosseltern / 25.11.2017 um 16.15 Uhr
3.3.
Meine Grosseltern / 25.11.2017 um 16.52 Uhr
7.1.
Primarschulzeit / 26.11.2017 um 11.04 Uhr
7.1.
Primarschulzeit / 26.11.2017 um 13.24 Uhr
7.2.
Primarschulzeit / 28.11.2017 um 11.08 Uhr
7.2.
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1.
Erste Erinnerungen und Kindheit
2.
Meine Eltern
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.1.
Meine Mutter
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.2.
Mein Vater
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
2.3.
Die Ehe meiner Eltern
3.
Meine Grosseltern
3.1.
Mein Grossvater väterlicherseits
3.1.
Mein Grossvater väterlicherseits
3.1.
Mein Grossvater väterlicherseits
3.1.
Mein Grossvater väterlicherseits
3.1.
Mein Grossvater väterlicherseits
3.1.
Mein Grossvater väterlicherseits
3.1.
Mein Grossvater väterlicherseits
3.1.
Mein Grossvater väterlicherseits
3.1.
Mein Grossvater väterlicherseits
3.1.
Mein Grossvater väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.2.
Meine Grossmutter väterlicherseits
3.3.
Mein Grossvater mütterlicherseits
3.3.
Mein Grossvater mütterlicherseits
3.3.
Mein Grossvater mütterlicherseits
3.3.
Mein Grossvater mütterlicherseits
3.4.
Meine Grossmutter mütterlicherseits
3.4.
Meine Grossmutter mütterlicherseits
4.
Kindergartenjahre
5.
Kindergartenjahre
6.
Wohnen
7.
Primarschulzeit
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.1.
Primarschule Unterstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
7.2.
Primarschule Mittelstufe
Für alle vorschulpflichtigen Kinder dieser Welt und für die Frauen, denen der Verein Bauerndörfer im Kongo (www.bauerndoerfer-im-kongo.ch) eine Perspektive geben möchte.
Vorwort
Seite 1
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Vorwort
Zunächst möchte ich Herrn Professor Messerli und Herrn Dr. Erich Bohli herzlich danken, dass sie mit dem Projekt meet-my-life und dem damit verbundenen Raster von rund 400 Fragen Leuten wie mir die Möglichkeit geben, geordnet über ihr Leben nachzudenken und Teile ihrer Erinnerungen aufzuschreiben. Weiter bedanke ich mich bei der Volkshochschule Zürich für den entsprechenden Abendkurs und nochmals bei Herrn Professor Messerli für die von ihm monatlich durchgeführte Begleitgruppe.
Nun begrüsse ich Sie, meine Leser und Leserinnen. Sie sind meine Partner und Partnerinnen, denn Sie füllen beim Lesen meine toten Buchstaben mit Leben. Danke, danke vielmal. Was wären meine Texte ohne Sie? ... Doch Achtung: Jede und jeder von Ihnen bringt einen andern Hintergrund mit. Wenn Sie im Schatten des Matterhorns Touristen empfangen, haben Sie andere Erfahrungen als eine Frau, durch deren Haare in der Jugend der Wind von Kalifornien blies oder des Mannes, der vor zwei Jahren den Kilimandscharo bestieg oder des Kindes, das neben der Chinesischen Mauer aufwächst. Sie, jede einzelne Person fühlt sich von andern Textstellen angesprochen und versteht meine Schilderungen im Rahmen Ihres Lebens, Ihres Kontextes anders. Das ist ganz normal. Es freut mich und ich spüre, wie gute Wünsche von mir zu Ihnen fliegen. So lade ich Sie nun ein, mit mir durch meine Erinnerungen hindurch zu Ihren Erinnerungen zu tauchen. Selbst wenn Sie im Rollstuhl angebunden werden müssen, damit Sie nicht hinausfallen, können Ihre Gedanken durch die Lüfte wirbeln, von Blümchen zu Blümchen gaukeln oder in der Tiefe des Meeres wühlen. ..., denn die Gedanken sind frei ... ... Lesen Sie bitte langsam und nehmen Sie sich Zeit, sich zu erinnern und zu fragen, wie war Ihr Leben vor fünfzig Jahren? Wie ist Ihr Leben jetzt? Wie wird Ihr Leben in fünfzig Jahren wohl sein?
Im November 2015 habe ich angefangen, und diese Schreib- und Erinnerungsarbeit beschäftigt mich seither fast immer, auch wenn ich nicht vor dem PC sitze. Um mich nicht zu überfordern, beschränke ich mich in etwa auf die Zeit bis zur Aufnahmeprüfung in die Sekundarschule. In einer losen Abfolge finden Sie im Raster von meet-my-life Episoden aus meiner Kindheit. Mit Dankbarkeit und Spass halte ich mich an diesen Raster, denn ohne diese Hilfsstruktur würde ich es nicht schaffen. Sie, die Lesenden sollen das erkennen, denn ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Meet-my-life ist unser Rahmenprogramm, ich nehme immer wieder Bezug darauf. Gleichzeitig möchte ich Sie herzlich einladen, auch ein wenig zu schreiben. Es wird Ihnen leicht gemacht, denn www.meet-my-life.net ist selbst erklärend. Dort finden Sie ca. 400 Fragen. Ich habe ein paar Fragen übersprungen und dafür andere eingefügt.
Einschub: Meine Verweise auf Afrika beziehen sich auf meine konkreten Aktivitäten im Kongo. Bereits als kleines Kind habe ich in der Sonntagschule diesen Plan gefasst. Mama gab mir jeweils zwei Münzen für die Missionskasse. Die eine warf ich ein, die andere Münze wanderte heimlich in mein "Sparkässeli". Ich sparte für die Mütter, die Bäuerinnen in Afrika. 2006 habe ich mit der Umsetzung meines Kindertraums begonnen. Einzelheiten finden Sie unter www.bauerndoerfer-im-kongo.ch . Bitte besuchen Sie unsere Webseite, dann verstehen Sie, wovon ich geträumt habe. Einschub Ende.
Schliesslich zu meinen Texten: Im Laufe der Arbeit fiel immer mehr auf, wie stark sich Vorschulzeit, Unterstufe und Mittelstufe in ihrer gefühlsmässigen Lage und Bilderwelt, ja in ihrer Sprache unterscheiden. Ich habe versucht, diese Unterschiede einzufangen. So beginne ich mit Kleinkindergeplapper. Ich habe Verständnis dafür, wenn Sie keinen Babybrei mögen. Fühlen Sie sich bitte frei, durch mein Inhaltsverzeichnis zu flattern und nur zu lesen, was Sie eben mögen. Dies ist kein Problem, denn jede Frage oder jede entsprechend nummerierte Textgruppe bildet eine selbständige Einheit. Einzelne Abschnitte eignen sich wohl auch zum Vorlesen in einem Altersheim. Die Zuhörenden könnten sich anschliessend bei einem Tässchen Kaffee oder frischem Obst austauschen. Das Inhaltsverzeichnis an Anfang jedes Kapitels gibt Ihnen eine Übersicht, damit Sie können anhand der Fragen auswählen.
Viel Vergnügen auf unserer Reise durch die 50er Jahre des letzten Jahrhunders! Ja, sie haben richtig verstanden. Ich, die Schreibend und Sie, die Lesende oder der Lesende, wir bilden ein Duo, und wir reisen gemeinsam.
Zu meinem Hintergrund
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Zu meinem Hintergrund
Ich stamme aus ländlichen, bäuerlichen Verhältnissen. Von meinen Vorfahren mütterlicherseits hiess es, die seien "jemand" gewesen, denn verschiedene Familienmitglieder sollen Gemeindeämter bekleidet haben. Meine Vorfahren väterlicherseites scheinen arbeitsame, unauffällige Leute gewesen zu sein, die sich von der landeskirchlichen Volksfrömmigkeit tragen liessen und dankbar für genügend tägliches Brot waren. Es hiess, sie hätten die Zeitung gelesen. Auffallend scheint mir einzig ihr von realistischen Bildern geprägtes Interesse für die weite Welt. Dieses Interesse teilte ich früh und immer noch mit ihnen. Deshalb kann ich nicht verhindern, dass sich die laufende Gegenwart mit meinen Erinnerungen verwebt, obwohl ich versuche, mich auf meine Kinderjahre bis zur Sekundarschulprüfung zu beschränken. Zu meiner Entlastung werde ich solche aktuelle Nachrichten datieren oder als "Einschub" bezeichnen. Sie erkennen diese leicht und können wählen: Lesen oder überspringen.
 
Es gibt viele Weg, aber nur einer ist möglich
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Es gibt viele Weg, aber nur einer ist möglich
Bereits 1947 erfüllte mich Neugier. Ich, das kleine Kind, steckte voller Fragen. Die Antwort lautete: "Ich weiss nicht, was du willst, ich verstehe dich nicht, sprich deutlich." Später wurde behauptet: "Das verstehst du nicht!" Wahrlich, diesen Satz hatte ich früh gelernt. Aber niemand gab mir Anleitung im Verstauen und Ordnen der Fragen nach "Sachen", die ich nicht verstand. Und - wie konnten die Grossen wissen, was ich wissen wollte? Und alles, was ich wissen wollte, ging mich etwas an. Fertig. Was tun mit solchen Fragen? Den Grossvater konnte ich fragen. Später den Primarlehrer, der die NZZ las. Was tun, wenn einem selber keine Fragen gestellt werden? Was tun mit vermissten Fragen? Diese haben mich früh in die Fantasiewelt gedrängt. - Ich dachte mir etwas Schönes aus und erzählte es den Grossen. Es hätte doch tatsächlich anders sein können. Der liebe Gott hätte mich einer andern Familie geben können, nicht wahr.
Nun ein kleines Beispiel einer von mir damals phantasierten Variante, die sich tatsächlich zu zugetragen hat. Ich erzählte in der Nachbarschaft: "Wir haben fünf kleine Schweinchen: Stehohr, Hängeohr, Ringelschwanz, Fleck und Winzling. Ja, unsere Schweinchen fressen viel und haben wenig Platz ... " Die Leute staunten. Ich konnte bestens Auskunft geben, bis ein Nachbar, der viel Platz hatte, bei uns vorbei kam und die Schweinchen meines Vaters anschauen und vielleicht kaufen wollte. Die beiden Männer lachten: "Hast du die fünf Schweinchen unter deinem Bett versteckt?" Mama schimpfte ein wenig und eine kräftige Nachbarin sagte: "Du lügst." Etwas später entschied sie: "Was ist mit deinen Eltern los? Hier hast du, was du verdient hast," und sie verklopfte mir wacker den Hintern. Ohoh, der Dorfklatsch hatte ein neues Thema. Der Mann mit dem vielen Platz anerbot sich: "Treibe deine Schweinchen in meinen Hühnerhof, wenn sie dir über den Kopf wachsen." Das Kind: "Gerne, ich bringe sie heute Abend - aber - es gibt keine Sau, die grösser ist als ich." Der Mann schüttelte den Kopf: "Kind, Kind. Bringe sie, wenn es niemand sieht." (Einschübchen: Langsam verstand sie jenen Satz. Sie erzählte dann ihre lustigen "Geschichten" niemandem mehr. Als sie grösser war, schrieb sie diese auf die Schiefertafel und liess sie mit dem Schwämmchen verschwinden. Ende). Der Mann mit dem vielen Platz liess mich immer wieder wissen, wie es meinen Schweinchen ging, und er schüttelte den Kopf und lachte: "Kind, Kind, gut, gut." Nachdem der Grossvater unser Schwein, das wir den ganzen Sommer gefüttert hatten, vor Weihnachten getötet hatte, bat ich den Mann, unsere fünf Schweine dem Metzger zu verkaufen.

 
Verzeichnis der Fragen und Texte
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Verzeichnis der Fragen und Texte
Damit Sie wählen können, habe ich zu Beginn jedes Kapitels alle Fragen aufgelistet. Bitte suchen Sie sich nun eine Frage aus.
Wie war deine erste Welt?
Was weisst du über deine Geburt?
Wie sind die Eltern auf deine(n) Vornamen gekommen? Haben deine Eltern gut gewählt?*
Hattest du auch Übernahmen?
In was für eine Zeit wurdest du geboren?
Wo und wie war "deine grosse Welt"? Zur Geographie eines kleinen Mädchens.
Wir sind verschont geblieben. Was heisst das?
Wie gingst du mit soviel Krieg und mit dem Töten um?
Woher kamen die Leute, die da immer starben?
Wann, in welchem Alter bekam man Kinder? Frauenthemen, Männerthemen.
Wodurch unterscheiden sich Männer und Frauen?
Der Pyromane und was es auch noch alles gab?
Wie ging das mit den Wiesenblumen?
Wie das mit den Windeln und der Sauberkeitserziehung?
Wie mit dem Essen der Kinder? Wie mit der schmutzigen Wäsche?
Wie mit der grossen Wäsche in der Zeit vor dem Automaten?
Fressen und Gefressen werden?
Was ist deine erste eigene Erinnerung an dein Leben?
Was hat man dir von deiner Tauf erzählt?  Das alte Taufbuch.
Welche Rolle spielten die Patin und der Pate in deinem Leben?
Wie haben dich deine Geschwister aufgenommen?
Wie waren eure Familienausflüge in der Vorschulzeit?
Wie gross war dein erstes Zuhause? Erinnerst du dich an einzelne Räume?
Wie sah dein Zimmer aus? Hattest du ein eigenes?
Gab es ein Fenster, aus dem du besonders gern hinausgeschaut hast?
Gab es ein Lieblingsbild?
Hattet ihr einen Notvorrat?
Das Nachttischlein des Vater?
Und das Nachttischlein der Mutter?
Und die Schubladen der Kinder; hatten die überhaupt welche?
Und wie hielten es Grössi und Chueri selig mit der Unterwäsche?
Weisst du noch, wie die Küche ausgesehen hat?
Wie war es draussen? Gab es einen Hof oder einen Garten?
Unser Land das grösste? Wurde es immer kleiner?
Wohnte noch jemand bei euch?
Erinnerst du dich an deine Spiele?
Was gab es denn für richtiges Spielzeug?
Und der Sandkasten?
Was für Bücher gab es in deiner Familie?
Erinnerst du dich an Märchen, Gutenachtgeschichten, die man dir erzählt hat?
Und die Sonntagsschule?
Was hast du für gewöhnliche Erinnerungen an die Sonntagsschule?
Zwei ungewöhnliche Erinnerungen an die Sonntagsschule?
Welches waren deine damaligen Medien? Telefon? Radio? TV? Comics?
Erinnerst du dich an Filme und/oder TV-Serien?
Heidi, Heidi von Johanna Spyri?
Erinnerst du dich an die Geburt von Geschwistern?
Wer passte auf dich auf, wenn deine Eltern nicht konnten?
Wovor hattest du am meisten Angst?
Erinnerst du dich an die Jahreszeiten?
Das Jahr ein Kreis, im Kreislauf der Natur?
23.02.2016 Eine Rechnung mit Windrädern?
24.02.2016 vom Kreis zum Netz?
Wie war das damals mit den Mücken und Fliegen bestellt?
Wie hielt es die Grossmutter mit der Ackererde und dem Wasser im Garten?
Was bedeutete viel Regen im Frühsommer und im Sommer?
Welche Rollte spielten Sonntage und Feiertage wie Weihnachten, Nikolaus etc.?
St. Nikolaus? Nahm er euch mit?
Ostern?
Wie ging es mit den Geburtstagen? Welche andere Tage gab es noch?
Welche Rolle spielte die Stadt?
Was hat Grössi von Weihnachten erzählt?
Grössi, kam Jesus im Stall auf die Welt?
Woher hatte die Grossmutter das Geld?
Gab es Ausländer? Welche Art Ausländer?
Wie haben eure Mahlzeiten ausgesehen?
Was waren damals deine Lieblingsessen?
Was für Kleider hast du getragen?
Wer und wie waren deine Spielkameraden?
Wer waren die Nachbarn? Kanntest du sie gut?
Wer war für dich die einflussreichste Person?
Was für Kontakte hattet ihr mit euren Verwandten?
Wie war deine erste Welt?
Seite 5
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie war deine erste Welt?
Als Glückspilz, als kleines hungriges Mädchen war ich in diese Welt gekommen, obwohl ein Junge willkommener gewesen wäre. So nebenbei erwähnte meine Mutter immer wieder:" Du warst kaum satt zu kriegen."
Ich erinnere mich vage, wie ich mit beiden Händen in der losen, feuchten Erde wühlte. Ich wühlte gerne und wühlte weit. Müde? Ich sackte zusammen und beschaute den Himmel und wühlte dann weiter. Endlos, endlos, Himmel und Erde endlos. Tag und Nacht, immer Tag und Nacht, das bestaunte ich. Es wurde immer wieder Nacht und es war immer schön, ins Bett zu gehen. Und es wurde immer wieder Morgen und flugs aufstehen, aus dem Bett, das war auch schön. Ich fühlte mich aufgehoben. Ich wollte wühlen.
2015, "Wühlen und Staunen", das waren die Lieblingsbeschäftigungen des Glückspilzes! Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, denn zeitlebens konnte sie plötzlich in dieses kindliche Glückspilzgefühl zurücktauchen. Wenn ihr der Alltag zuviel abverlangte und Gefühle der Ohnmacht sie überschwemmten, dann liess sie sich vom Glückspilz holen und verschwand. Wenn sie wieder auftauchte, wühlte sie gerne und entschlossen weiter. Pilze wachsen unterirdisch in der Walderde, ihre Fruchtkörper tauchen unerwartet auf, darum werden Glückspilze nur selten gesehen. Es gibt aber viele.
Was weisst du über deine Geburt?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was weisst du über deine Geburt?
MML-Zusatzfragen (= das sind ergänzende Fragen, die nur im meet-my-life Schreibprogramm sichtbar sind): Wer hat dir davon erzählt? Wann und wo wurdest du geboren? Verlief alles reibungslos? Wie sahst du aus? Wie schwer warst du? Wer war dabei?
Es habe geschneit, kaltes Hudelwetter (= Wetter bei dem kein Hund ins Freie gejagt wird) im letzten Januarmonat des Zweiten Weltkrieges. Mein Vater sei im Aktivdienst gewesen, als ich gekommen sei. Mein  Grossvater sei durch die Winternacht ins Nachbardorf gehastet, er habe an den Fensterladen des Garagisten geklopft und gerufen, es sei nun soweit. Dieser habe geantwortet, bei solchem Wetter fahre er nicht. Meine Mutter habe im dicken Mantel auf den Taxidienst gewartet, der ja angeblich bei solchem Wetter nicht fuhr, und sie dann doch sicher und ruhig in das Kantonsspital chauffierte.
Niemand habe Freude bei ihrem Eintreffen gezeigt. Noch eine, schon die siebente, habe es geheissen. Ob der schwarze Arzt, der Neger, die Geburt leiten dürfe, sei sie gefragt worden, er spreche französisch und ein wenig deutsch. Meiner Mutter war das recht. Sie hatte vor dem Krieg in Genf französisch gelernt, neben andern Ausländern sei auch ein Neger bei ihren Herrschaften ein- und ausgegangen. Soweit so gut. 2015 durfte das Wort  "Neger" nur noch umgangssprachlich als Bezeichnung für zu dunkel gebackenes Brot oder eine angebrannte Bratwurst verwendet werden. Damals in ihrer frühen Kindheit war "Neger" die Bezeichnung für einen Afrikaner, selbst wenn er einen amerikanischen Pass hatte. Es war nicht despektierlich. Heute, nein, nein.
Die Geburt sei problemlos gewesen, ein Mädchen, 4 Kilogramm und 52 Zentimeter. Der Schwarze habe ihr das Kind kurz in den Arm gelegt und dann habe die Hebamme das schreiende Bündel gewaschen. Meine Mutter hat mir immer wieder von jener kalten Winternacht erzählt, es sei ganz ruhig gewesen. Kein Dröhnen von Flugzeugmotoren, von Bombern, die Richtung Deutschland flogen.Wenn ich am Sonntagnachmittag, während die beiden Kleinen schliefen, neben ihr unter der grossen Bettdecke lag, erzählte sie mir vom Kriegsgeschehen, von Internierten, von Flüchtlingen, von der Rationierung, von langen Zügen, die von und nach Italien fuhren. In einer Zeit, als es mich noch nicht gegeben habe, hätten viele kleine Kinder kein Bett und nur eine Grossmutter gehabt, die sich um sie sorgte, so gut sie eben konnte - im Krieg. Ich war froh zu wissen, dass ich zwei Grossmütter und erst noch einen Grossvater hatte.
Weiter erklärte sie mir die Verdunkelung, und sie schwärmte von der schönen Zeit nach dem Neujahr. Der Vater habe das Christbäumchen vor dem Verbrennen im Ofen gerettet. Es sei dann im Schlafzimmer auf dem Tisch neben dem Fenster gestanden,  und wenn der Vater das Bett mit ihr geteilt habe und nicht im Aktivdienst gewesen sei, hätte er immer eines der noch verbliebenen Kerzenstummelchen angezündet. Gemeinsam hätten sie dem grossen Schatten des kleinen Lichtes zugeschaut und gewartet, bis der Docht verglüht sei. Ein Hauch von Glück huschte über ihr Gesicht. Leser, Leserin, was wurde Ihnen aus der Zeit ihrer Geburt erzählt?
Wie sind die Eltern auf deine(n) Vornamen gekommen? Haben deine Eltern gut gewählt?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie sind die Eltern auf deine(n) Vornamen gekommen? Haben deine Eltern gut gewählt?
Meine Ankunft war ein Jahr früher geplant gewesen. Eine Verschüttung habe zur Verspätung geführt. Der Name für das geplante Büblein sei fest gestanden, der Stammhalter sollte wie sein Vater heissen, auch wenn dieser Name meinen Eltern nicht gefiel. Dasselbe galt für den Namen des nicht geplanten Mädchens, doch meine Eltern nahmen sich die Freiheit, einen andern Namen zu suchen. Während der Warterei wurden vier Mädchen in der Nachbarschaft geboren, Margrit, Elisabeth, Alice und Ursula. Alles Namen, die in unserem kleinen Dorf und in der Umgebung beliebt waren, die aber für mich nicht in Frage kamen, weil später nicht zwei Kinder in der selben Klasse den gleichen Namen tragen sollten. Sie hätten lange gesucht und überlegt, bis mein Vater zufällig meinen Namen gehört habe, der ihnen beiden wohl gefiel. Es ist mein Name und dies ist gut so, auch wenn er in der Bibel nicht erwähnt wird.
In der Schule sprachen wir gelegentlich über die Herkunft und die Bedeutung unserer Namen. Maja sei eine andere Form von Maria, das wollte man mich glauben machen, aber das wollte ich nicht, und das wollten meine Eltern nicht: "Hätten wir uns eine Maria gewünscht, hätten wir dich Maria und nicht Maja getauft. Immer dasselbe. Bereits der Zivilstandsbeamte wollte dich als Maria eintragen. Auf einem Zettel habe Papa ihm deinen Namen vorgeschrieben." Grössi hatte viele Maien (= Geranien). Sie glaubte, da im Monat Mai die Geranien, ihre Maien schön zu blühen begannen und sich die Welt mit Blumen schmückte, sei der "Mai" der Blumenmonat und ich Maja ein Blumenkind. Warum nicht?
Als Mittelstufenschülerin lernte ich, die Buchstabenfolge "Mai", "Maien" , "Maja" stamme aus einer ganz alten Sprache der Germanen und habe die Bedeutung "grosses Feld", "grosse Felder". Daraus könne abgeleitet werden, der Monat Mai sei die Zeit, in der man grosse Felder angelegt und bearbeitet habe, der Monat der Feldarbeit. Das ist weiterhin so. Maiensäss für grosse Alpwiese und Maienfeld eine flache Gegend zwischen Bergen, ein Doppelname, nachdem der Sinn von "Maien gleich Feld" verloren gegangen war. Maja ist mein Name mit der Bedeutung "grosses Feld", das gefällt mir. Viel Feldarbeit! Danke für diese Wahl.
 
Hattest du auch Übernamen?
Seite 8
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Hattest du auch Übernamen?
MML Zusatzfragen: Wie kam es dazu? Mochtest du sie?
Einen Übernamen hatte ich eigentlich nicht. Da den Leuten in unserm Dorf mein Name nicht bekannt war, und viele ihn als zu fremd ablehnten, nannten die Grossen mich "Chueri" (Konrad) nach meinem Grossvater. Das erlebte ich nicht als Übername, denn Chueri war mein lieber Grossvater.
In was für eine Zeit wurdest du geboren?
Seite 9
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

In was für eine Zeit wurdest du geboren?
MML-Zusatzfrage: In welche politischen, sozialen, wirtschaftlichen Umstände?
2015 lächelte und spöttelte die Schreiberin über diese ergänzenden Denkanstösse. Sind wir an einer Prüfung? und die Frage lautet: "Was war das für eine Zeit zwischen 1940 und 1950?" Ja, dann nichts wie los, ins Internet, suchen, analysieren, abschreiben inklusive Quellennachweis, das war es. Nein, nein und nochmals nein, sie wollte doch aus der "Glückspilz-Zeit" erzählen: Von den Grössenfantasien, vom Machbarkeitswahn, dem Zukunftsvertrauen eines kleinen Kindes und dessen gleichzeitiger Liebe zum Grossvater, dann die Sorgen und Nöte eines neugierigen Mädchens und - es war immer da - das unheimliche Gespenst "Krieg". Was sie doch alles gehört und gesehen hatte in der Glückspilz-Zeit!
Sie wollte gerne viel, viel schreiben zum Thema: Geboren am Ende des 2. Weltkrieges in einem kleinen Bauerndorf mit Fröntlern. Erinnerungen! Viele, viele ... vielleicht später, sie drängte vorwärts. Meine Lesenden, nun kommen Sie zum Einsatz. Was haben Sie für Erinnerungen? Wie würden Sie die obige Frage beantworten?
Wo war "deine grosse Welt"? Zur Geographie eines kleinen Mädchens
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wo war "deine grosse Welt"? Zur Geographie eines kleinen Mädchens
An unserem Abhang gab es drei Dörfer, das wusste ich genau. Ich bin im mittleren Dorf, im Riegelhaus neben dem Schulhaus aufgewachsen. Es gab keine Wirtschaft (Restaurant) mehr. Ich verstand, dass es früher einmal zwei hatte. Es hatte sogar einen Männerchor, erinnerte sich der Grossvater. Eine Wirtschaft (= Gasthaus) wurde geschlossen, als die Wirtsleute nicht mehr mochten. 1929 brannte die zweite, das "Rössli" ab.
Aus dem Fenster von Papas und Mamas Schlafzimmer konnten wir alle Häuser des kleinen Dorfes unten im Tal sehen, den Krebsbach zwischen den Häusern, die Kiesgruben und etwas näher zu uns den Wiesenbach.  Die beiden Bäche flossen weiter unten im kleinen Tal zusammen. Neu - ein grosser Bach! Wie hiess er?
Oben, wo der Anstieg verflachte - der Himmel? Nein, nein wir konnten es nur von unten nicht sehen, da stand das kleine, alte Schulhaus, das zum grössten unsrer drei Dörfer gehörte. Dort probte an einem Abend pro Woche der gemischte Chor. Daneben lag ein wirrer Haufen von Gebäuden! An den verschiedensten Seitensträsschen standen Häuser, Ställe, Schöpfe und Schöpfchen auch Schuppen und Schüppchen mit allerhand Anbauten. Unsere Strasse, die Hauptstrasse, führte geradewegs weiter zwischen dem Gasthaus und dem Haus von entfernten Verwandten durch. Nach ein paar weiteren Bauernhöfen glitt sie in einem grossen Bogen sanft ins nächste Tal. Hinunter und weiter, weiter bis zum grossen Fluss, vor der Brücke rechts, durch die Schwemmland-Ebene zum nächsten, einem kleinen Fluss, nun über die neue einspurige Brücke, durch den Wald, übers Feld und zum Schulhaus mit dem Türmchen, in dem unsere Grossmutter mütterlicherseits und ihre Schwestern die Primarschule besucht hatten. Dies war eines der Enden meiner Welt. Ich kannte den Weg sosolala. Den grossen, wilden Hund im Haus meiner Grosstanten kannte ich dagegen gut.
Jedes unserer drei kleinen Dörfer hatte eine Post mit Brückenwaage, eine Milchsammelstelle und einen "Chileweg" (= einen Weg zur Kirche). Wir gehörten alle zur Kirche im grossen Dorf, das weiter unten am Bach ohne Namen lag. Jenes Dorf war wirklich gross. Dort gab es alles. Fuhren wir mit Ross und Wagen  n i c h t  aufs Feld, so musste ich mit. Ich wollte wissen, wohin es ging und was da zu sehen war. "Ah, wenn die zwei unterwegs sind, so dauert es länger," hiess es, wenn der Grossvater mich ins grosse Dorf mitnahm. Ich musste mit, denn der Grossvater konnte nur noch mühsam gehen, und ich wollte ihm helfen können. Wir waren uns einig: Man wusste ja nie!?! Zu zweit ging alles besser. Gemeinsam erkundeten wir alle Strassen und Strässchen. Kam unser Fuhrwerk da durch? Ja, dann los. Der Grossvater sagte: "Wir haben nicht mehr viel Zeit, und ich möchte das ganze Dorf noch einmal gesehen haben, bevor ich gehe." Was das hiess, interessierte mich nicht. Ich wollte erst einmal das ganze Dorf sehen und dann immer wieder - und - wenn er ging, wollte ich ohnehin mit.
Es gab wirklich vieles: Die Kirche, das Pfarrhaus, das Feuerwehrlokal, zwei Ärzte, eine Krankenschwester mit Vespa, mehrere Wirtshäuser (= Gasthäuser), die den ganzen Tag offen hatten, die Schmitte inkl. Hufschmied, die Gemeindekanzlei, geführt von Jaggi aus unserem Dorf, Schuhmacher, Sattler, Maler, Förster, Jäger, die Krankenkasse, die Mühle, zwei Gärtnereien und zwei Metzgereien je mit einem Laden, zwei Sägereien, eine Zimmerei, eine Giesserei, eine Geflügelfarm, einen Schiessstand, den Friedhof, ein riesiges Schulhaus für die kleinen und die grossen Kinder, dazu eine Turnhalle für den Turnverein, die Blasmusik Alpenrösli, den Männerchor, den Töchterchor, sonst noch allerhand Vereine, einen Kindergarten, eine Garage, die Autos und Traktoren flickte, Coiffeur, Velohändler, ein Baugeschäft, eine Trotte, mehrere Gotteshäuser und Kapellen für die braven Menschen, sogar ein Schloss, das keines mehr war, viele Bauern, Weinbauern, Kleinbauern und den VOLG. Dieser lieferte den Bauern Dünger, Saatgut, Spritzmittel, und er organisierte den Vertrieb der Feldfrüchte. Der Grossvater und ich wussten alles. Zum Glück hielt der Grossvater oft an und unterhielt sich mit Bekannten. Das gab mir Zeit, um mich umzuschauen. Ein kräftiger Pfiff! Das verschwundene Kind stand wieder da, und der Grossvater strahlte voller Stolz. Er nickte, sie plauderten weiter und ich verschwand auf weitere Erkundungen.
Die asphaltierte Strasse kam von weither und führte vom Dorf mit unserer Kirche durch unser Dorf in der Mitte weiter zu einem andern Dorf auch mit einer Kirche, mit der Sammelstelle für altes Eisen und einer Bahnhaltestelle neben dem Restaurant Bahnhof mit Hotel und Bauernbetrieb, in dem Papa und Mama ihr Hochzeitsfest gefeiert hatten, und dann in einem Bogen weiter, weiter immer asphaltiert. Wohin? Das war ein offenes Ende meiner Welt. Irgendwo kam dann Mamas Sekundarschulhaus. Geradeaus, durch einen langen Wald immer leicht ansteigend, mühsam für Eltern per Velo mit Kindern, führte uns die Staubstrasse zum stattlichen Riegelhaus meiner Grossmutter, das klare Ende meiner Welt ohne Hund.
Unser Haus stand an dieser asphaltierten Strasse, der einzigen Strasse mit einem dauerhaften Belag, wie es sie sonst nur in der Stadt gab. Zu meiner Überraschung konnte ich mir das Wort "asphaltiert" leicht merken. Oft sassen der Grossvater und ich am Brunnen. Wir sprachen über all das viele, was wir erlebt hatten oder zählten auf, was es im grossen Dorf alles gab, eins er und eins ich.
Die Stadt gehörte noch nicht zu meiner Welt. Meine Lesenden, nun kommt Ihr Einsatz. Wie sah Ihre Welt im Vorschulalter aus? Welche Häuser, Stassen und Plätze kannten Sie? Durften Sie allein hinausgehen? Erinnern Sie sich an  die Transportmittel?
Wir sind verschont geblieben. Was heisst das?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wir sind verschont geblieben. Was heisst das?
Sind wir verschont geblieben? Wenn ja, auf wessen Kosten und wovon? Schwiegen die Waffen? Hatten wir Zeit? Fanden wir Ruhe?
2015 an vielen Tagen, die sie je mit "heute" hätte bezeichnen können, lief in ihrem Innern spontan ein Film mit dem Titel "Wir sind verschont geblieben". Sie konnte ihn unterbrechen, sogar abbrechen, abstellen mit einem Gefühl von Dankbarkeit für ihr zufälliges, nicht verdientes Glück. 2015, das Jahr, mit den vielen Fragen an uns, an Sie, meine Leser und Leserinnen und an mich, die Schreibende: "Schonen wir unsere Umwelt, die Natur? Tragen wir Sorge zu unseren Mitmenschen? Was passiert in die ärmsten Länder mit den reichen Bodenschätzen?"
2017 Alles war mühsam. Liebe Lesende, die folgende Liste war das Drehbuch ihres inneren Filmes. Es entsprach ihren Erinnerungen. Objektive Richtigkeit des Inhaltes? Dafür konnte sie keine Gewähr bieten. Bitte, bitte, es wäre ja schon etwas naïv, die Erinnerungen einer "Null acht fünfzehn Frau"  mit der sog. objektiven Geschichtsschreibung zu vergleichen. Das taten Professionelle, sie schrieben dicke Bücher. Und bei Bedarf, für die Schnelle, ab ins Internet. Mit ihrer Liste wollte sie der Generation ihrer Enkelkinder, den nach 2010 Geborenen das Gefühl ihres Alters nahe bringen. Noch etwas, sie konnte den Film rückwärts und vorwärts abspulen, das war lustig oder erschreckend. Und, sie konnte darin ein Kind, einen alten Mann, eine Mutter oder einen Krieger spielen. Wechselte der Hauptdarsteller, so entstand ein ganz anderer Film. So gab zu viele Varianten ein und desselben Geschehens.
Nun das Drehbuch in Zehn-Jahres-Sprüngen:
→1945: Friede auf Erden seit dem 8. Mai. Wir sind verschont geblieben, verschont geblieben, wiederholte das Echo aus dem Wald und von den Bergen. Seit 1945 kein Krieg in Europa, kein Krieg in Europa, in Europa, lallte das Echo. Wir hatten zuhause ein Radio und manchmal sah ich in einer Zeitung Bildern von "kaputten" Häusern. Ich schnappte das Wort "Luftbrücke" auf und ahnte, "eine gute Sache". Der "Eiserne Vorhang"? Zu welchem Märchen gehörte all diese Worte? Im gelben Heft kamen Bilder von der Krönung der Königin Elisabeth, sie war schön und jung und hatte zwei kleine Kinder. Papa ärgerte mich mit dem Satz:" Komm wir schneiden diesen alten Zopf ab." Übrigens, die Königin trug eine Krone, und sie hatte keinen Zopf, das hatte ich genau gesehen. Schliesslich "schwiegen" die Waffen auch in Korea und Indochina. Ein paar von unseren Soldaten sollen nach Korea gegangen sein. Papa sagte: "Abenteurer wie du.""Ich gehe nie nach Korea!" behauptete ich stampfend. Ich verstand die Welt nicht und schaute immer wieder das Gewehr des Vater an. Es stand in der Stube hinter dem Ofen im Trockenen. Ich musste es sehen, wenn ich die alten Zeitungen daneben aufstapelte. Wegen seiner beiden kleinen Buben und dem Aufstand in der Stadt musste mein Onkel auf eine Einladung nach Berlin verzichten, wurde 1953 am Mittagstisch betont.
Ich begann langsam allerhand zu verstehen.
→1955: Friede auf Erden, ja, kein Krieg bei uns.
1956 verbotene Frauendemonstration im komischen Südafrika, 20'000 Teilnehmerinnen
1956 der Aufstand in Ungarn, 12'000 Flüchtlinge
Oberirdische Atomversuche bis Mitte der 60er Jahre
Besetzung von Tibet, viele Flüchtlinge
Diktaturen in Spanien und Portugal. Was war eine Diktatur?
1962 der Mauerbau in Berlin.
1963 Ermordung von Präsident Kennedy
Unruhen in Irland
Unruhen im Jura
Kubakrise
Auflösung der Kolonien in Afrika,
Vietnam-Krieg
→1965: Friede auf Erden, ja kein Krieg bei uns, ein Hohn
1968er Bewegung, Ermordung von Martin Luther King. Anti-Vietnam-Demonstrationen
1968 Aufstand in der Tschechoslovakei, der Dritte Weg, ich hörte Vorlesungen von Ota Sik an der Uni. Zürich.
Jugendunruhen in ganz Europa, auch in Zürich.
1973 Ölkrise, ausgelöst durch den Krieg zwischen Israel und den Arabern.
Krieg zwischen Iran und Irak
→: Friede auf Erden ?????
1977 Foltertod von Steve Biko in Südafrika, Studentenführer
Erinnerungslücken!? Nein, nein es blieb ihr keine Zeit mehr für die grosse Welt. Es folgten Schlag auf Schlag: Abschluss des Jurastudiums, Heirat, Arbeit am Gericht, Geburt des Sohnes, Verlust der Arbeitsstelle, Adoptivtochter, Hauskauf, Grossfamilie
→ 1985 Friede auf Erden. Ich hatte anderes zu tun, als zu verstehen. Wir sangen mit den Kindern: "......Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen......." Weihnachten war noch etwas weniger säkularisiert.
1989 Fall der Berliner-Mauer
1989 Russland marschiert in Afghanistan ein.
1990 Wiedervereinigung der beiden Deutschen Staatenland
1991 Ablehnung des EWR
1991 Befreiung von Kuwait durch die USA
Zerfall von Jugoslawien
Die Computer beginnen ihren Eroberungszug.
→ 1995 Friede in Westeuropa seit mehr als 50 Jahren.
vieles, vieles, Internet
Steuergesetzesrevision
Das Millennium
Am 26. Februar 2000 bracht sich ihr Arbeitskollege bei einem Sprung ins Tauchbecken den zweitobersten Rückenwirbel.
"Nine eleven", 11. September 2001 Angriff auf die beiden Tower in New York. Wir hatten gerade Kaffeepause und meinten, es handle sich um einen schlechten Witz. Die USA erklären den Krieg gegen das Böse.
2001 Beginn der Kriege gegen die Taliban in Afghanistan
2003 Angriff auf Irak
→ 2015 Friede seit mehr als 60 Jahren, so kann man das auch nennen.
Kriege in Afrika
2011 Arabischer Frühling
Unruhen und Kriege
Krieg in und um Syrien.
Islamischer Staat, IS
→ 2015 Friede seit mehr als 70 Jahren, bei uns. Wie lange konnten wir noch von den vielen Kriegen profitieren ?
Flüchtlingsströme, Flüchtlingsströme
2015 17. September Jubiläum: 20 Jahre Abendgebet für den Frieden im Münster in Schaffhausen, sie hätte nie gedacht, dass sie das schaffen. Sie war glücklich und dankbar.
Flüchtlingsströme, Flüchtlingsströme
Attentate, die Umweltkonferenz in Paris
In New York die Verabschiedung der Agenda 2030 , 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung.
2015 sie träumte erneut vermehrt wie damals als kleine Wühlmaus (Einschübchen: Der Grossvater hatte sie Ende der Vierziger Jahre manchmal "meine kleine Wühlmaus" genannt, wenn wir gemeinsam nach versehentlich liegen gebliebenen Kartoffeln suchten): "Endlos, endlos, Himmel und Erde sind endlos. Tag und Nacht wechselten sich ab, endlos. Es wurde immer wieder Nacht und es war schön ins Bett zu gehen. Und es wurde immer wieder Morgen und flugs aus dem Bett, das war auch schön." Sie brauchte die Religion als Überlebensstrategie. Die momentane Lage der Welt Friede zu nennen empfand sie als Hohn, als Provokation.
2015 Septemer Angela Merkels Willkommenskultur für die Flüchtlinge schaffte Arbeitsplätze ... ? ... Sie hörte die leise Stimme ihres lieber Grossvater. Sein Kreis hatte sich geschlossen, bevor sie in die Schule ging. Vieles von dem, was er ihr erzählt hatte, hatte sie im Laufe der Jahre zu verstehen begonnen. Er hatte eine grosse Sympathie für die Indios (= Indianer) und für die Afrikaner (= Neger), das hatte sie gespürte. Hatte er jeweils eine Weile erzählt, dann brach er das Gespräch energisch ab und schwieg. ... Ich hätte nicht zu sprechen gewagt. ...  Schliesslich hörte ich ihn brummen: "Vater vergib uns, denn wir wissen nicht, was wir tun." Dann nahm er mich bei der Hand. Ich durfte keine Fragen stellen. Wir gingen in den Stall zu den Kühen und tranken ein wenig Wasser. ... Pause ... 2015 waren wir stolz darauf, möglichst günstig einzukaufen. Wie wäre es mit anständigen Rohstoffpreisen, z. B. für Kobalt im Kongo gewesen?
2015 31. Dezember hatte sie gut 70 Jahre gelebt. Sie verspürte Lust, ihr Leben wie damals in der Primarschule in kleine Einheiten umzurechnen.  Natürlich nicht schriftlich auf einem Blatt Papier, nein mit dem Taschenrechner. So ergaben 70 Jahre zirka 25'550 Tage oder dies nun in etwa 613'200 Stunden oder 36'792'000 Minuten oder 2'207'520'000 Sekunden. (Einschübchen: Der Lehrer hatte uns damals mit diesem Umrechnen die grosse Zahlen veranschaulich und gezeigt, wie ein und dieselbe Sache ganz anders dargestelle werden konnte). Mit Schaltjahren oder Monaten oder gar Wochen zu rechnen, hätte die Sache zwar spannender gemacht, aber in der modernen Zeit hatte sie dafür keine Zeit, selbst wenn sie mit dem Taschenrechner Zeit sparte. ... ? ... ? ... Hatten wir Zeit? Wer hat Zeit für Sie, meine Lesenden?
 
Wie gingst du mit soviel Krieg und mit dem Töten um?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie gingst du mit soviel Krieg und mit dem Töten um?
Beten, für den Frieden beten, riet Grössi, so nannten wir unsere Grossmutter väterlicherseits, und mutig darüber nachdenken.
Oft packte ich mich am Schopf und sprach energisch und kritisch mit mir selber. Das tat ich schon in der Primarschule. Ich verbot den Krieg, auch wenn der "liebe Gott" ihn zuliess. Wie konnte er nur! Wenn ich als kleines Kind das Militärgewehr meines Vater sah, begannen die Tränen in mir hochzusteigen. Dieses Gewehr zum Töten von Müttern und Vätern und Kindern und Grossvätern und einfach allen. Ich sei eine Heulsuse, hiess es. Wenn das nicht zum Weinen war, was dann? Früh habe ich einmal gesehen und gehört, wie Panzer auf ihren Kettenraupen durchs Dorf ratterten. Sollte es nochmals losgehen, so seien wir gut gerüstet, stellten die Dorfbewohner beruhigt fest. Die Mutter kaufte viel ein, für den Notfall. Ich lernte, dass Panzer zum Töten von Menschen dienen. Ich träumte nachts, wie ich, ein kleines Kind, von den Panzern zu "Mus" (= Brei) gefahren, zerrieben wurde. Zum Glück konnte ich ins warme Bett von Mama fliehen.
Schoss der Nachbar mit dem Flobert einen Spatz, so bewunderte ich ihn dafür und wollte den toten Vogel sehen und berühren. Ich hatte mit dem Vögelchen kein Mitleid, es war tot. Welch eine Art für ein Mädchen! Geschah dem Vögelchen recht, denn seine Vogelfamilie verschmutzte den Hofplatz und pickte im Garten an unserem Gemüse herum. Sehr traurig war ich, als eines unserer Kätzchen von einer alten Kuh erdrückt wurde, als diese umfiel. Heimlich schaute ich zu, wie der Grossvater das Schwein vor Weihnachten tötete. Ich durfte nachher beim Zerlegen des warmen Fleisches dabei sein. Im Nachbardorf gab es einen Mann, der kein Fleisch ass, was wir alle als recht seltsam empfanden.
Im Herbst waren die Jäger mit ihren Hunden unterwegs. Dann konnten wir ein Reh, wenn auch tot, ganz aus der Nähe ansehen. Am Ende der Jagdzeit wurden die Bauern, die Männer als Entgelt für Schaden, zum Rehfrass eingeladen. Dass es in den Märchen Mord und Totschlag gab, ging ja noch, so waren die Märchen. Aber die biblischen Geschichten! Ich verstand Gott nicht. Ich liebte ihn, denn er liess aus kleinen Samen grosse Bäume wachsen, was die Menschen gemäss Grossmutter niemals konnten und niemals können werden. Mit einem kleinen Handzeichen und einem Blick in die Ferne bat sie Gott regelmässig um den Segen und um das Gelingen ihrer Arbeit. Von meinem Vater kannte ich den Blick in die Ferne auch, und daneben viele Fluchworte, wenn etwas nicht klappt. Mit der Mutter leierten wir vor dem Einschlafen immer das selbe kurze Gebet und sie sagte oder dachte: Behüte Euch Gott und schlaft schnell und ruhig.
Warum gab es Krieg? Warum konnte ein grosses Mädchen verschwinden und musste Tage später tot und verstümmelt unter einem Holzhaufen gefunden werden? Die Welt war nicht zu verstehen. Gott war nicht zu verstehen, er hatte mich aus einem kleinen Samen geschaffen wie alle Pflanzen und Tiere. Warum und wozu gab es mich? Gott hatte zugeschaut, wie sein eigener Sohn ans Kreuz genagelt wurde. Mich hatte einmal ein Nagel in den Fuss gestochen, und das hatte mir gereicht.
Woher kamen die Leute, die da immer starben?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Woher kamen die Leute, die da immer starben?
Auch das lag im Zuständigkeitsbereich des lieben Gottes. Im weitern gehörte "informiert sein" einfach dazu. Im Frühling rannten sich überall zwei Tiere der gleichen Art nach, spielten herum und machten Kinder. Bei dieser Balgerei gab das Männchen seine Samen in den Bauch des Weibchens und das Junge begann zu wachsen wie die Samen, welche die Grossmutter und ich mit Erde bedeckten. Das genügte mir. Die Anatomie der Tiere war mir bekannt. Den grossen Menschen sah man beim Waschen, beim An- und Ausziehen zu und man hatte Geschwister. So gab es Kinder und neue Menschen, in jeder Familie, in jedem Dorf, in jedem Land, überall auch Schwarze und Rote und Gelbe. Das gute Gelingen und die Details lagen in Gottes Hand.
In umsichtigen Gesprächen erfuhr und lernte ich, dass ich ein Rühr-Mich-Nicht-An  war und ich verstand, selber auf mich Acht zu geben. Was es später mit dem sog. Aufklärungsunterricht auf sich haben sollte, das verstand ich nicht. Warum diese Herumdruckserei?
Wann, in welchem Alter bekam man Kinder? Frauenthemen, Männerthemen
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wann, in welchem Alter bekam man Kinder? Frauenthemen, Männerthemen
Aus den süssen Kälbchen wurden Rinder. Dann begannen sie zu balgen, mit zwei Jahren liess man sie zum Stier und ein Jahr darauf gebaren sie ein süsses Kälbchen. Ähnlich die Katzen: Die Männchen sangen, wenn der Frühling nahte, und dann sprangen sie alle wild herum, sie trieben es vor und hinter dem Haus. Wenn's warm war, gab's pro Katze mehrere kleine, blinde, unbeholfene Tierchen, die von der Mutter wild verteidigt wurden. Es gab junge Mäuse und junge Ratten, und die Bauern schimpften und versuchten sie zu töten. Ich schimpfte und tötete auch.
Die Frauen bekamen das erste Kind ein Jahr nach dem Hochzeitsfest. Als ich eine grosse Mittelstufenschülerin war und Mutter oder Grössi und ich beim Glätten allein waren, haben wir  über alle Frauenthemen gesprochen. Beide hatten beobachtet, dass die jungen Mädchen immer früher soweit waren, weil sich das Leben nach dem 2. Weltkrieg änderte. Man habe überall Licht und esse mehr Fleisch, und die Zeit der Konfirmation und der ersten Periode würden nicht mehr zusammenfallen.
Ich wusste, wann meine Mutter die Monatsblutungen, d.h. ihre Tage, die Periode hatte. Ich kannte die verschiedenen Wörter und wusste, über Frauenthemen sprach man nicht mit jedermann. Als ich etwa elf Jahren war, begannen wir im Detail über mein Frau-Werden zu sprechen, und ich freute mich, als ich kurz vor meinem zwölften Geburtstag das erste Mal blutete. Aufregend. Die Mutter und ich regelten alles sorgfältig und in Ruhe. Sie bemerkte, ich sei früh und müsse schon noch etwas wachsen. Wir stellten uns darauf ein, und sie half mir beim daran denken. Ich merkte, die Familie war informiert. Anfänglich klappte es mit dem Zählen der Tage nicht so ganz. Es dauere ca. zwei Jahre, um den Rhythmus zu finden, erklärte mir meine Mutter. Mit dem Sprichwort "dem Mädchen zum Leide, dem Weibe zur Freude" nahm die Grossmutter das Thema auf. Sie habe "ihre Tage" nach 40 immer seltener gehabt und schliesslich ganz verloren. Somit sei sie eine alte Frau gewesen, die keine Kinder mehr bekommen konnte. Sie sei gleichzeitig ein wenig traurig und erleichtert gewesen. Der Übergang sei von unangenehmen Hitzeschüben, Wallungen begleitet gewesen. Das Thema "alte Frau" beendeten wir schnell. Ich wollte, ich musste jetzt glätten lernen und die Grossmutter, die alte Frau, konnte die Kinderarbeit, das Zusammenlegen der Wäsche übernehmen. Wir lachten beide und sie erklärte mir ihr Sprichwort. Das war nicht mein Thema, denn ich war erst ein grosses Kind und hatte den Rhythmus noch nicht gefunden.
Nach der Selbsttötung des Scheinheiligen erklärte mir die Mutter "den Lebensweg einer anständigen Frau" und wir sprachen über die unterschiedlichsten Abwege. Sie beendete unsere spannenden Gespräche immer mit ihrer Zusicherung, was immer passiere, ich solle sie informieren, sie würde zu mir stehen.
Klar war auch, Frauenthemen konnten nur Frauen besprechen, denn nur sie bekamen Kinder. Männerthemen konnten nur Männer besprechen, denn nur sie machten Krieg. Dann gab es noch die Vater-und-Mutter-Unterhaltungen am Abend im Bett - ihr braucht nicht alles zu wissen -, die Familiengespräche am Tisch, schliesslich den Dorfklatsch und die Besprechungen mit Handwerkern, dem Tierarzt, den Viehhändlern, den Hausierern und und ... und wenn immer möglich, wollte ich zuhören, einfach ruhig dabei stehen und erfahren. Was ich hörte, behielt ich für mich, das waren meine Geheimnisse. Ich liebte Geheimnisse. Meine Lesenden, wann wussten Sie was?
 
Wodurch unterschieden sich Männer und Frauen?
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Wodurch unterschieden sich Männer und Frauen?
Es gab Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen, Schneider und Schneiderinnen, Bauersleute, Händler ... vornehme und arme, gesunde und kranke ... . Alle Kinder hatten einen Vater und eine Mutter. Der Vater bekam den Stimmzettel, und wir besprachen die Themen gemeinsam und einigten uns. Die Mutter verwaltete das Geld, denn sie war sparsamer als der Vater. Beim Kauf der laufenden Sachen für Küche und Hof waren beide achtsam, sie warteten auf günstige Gelegenheiten. Dann die lange Liste mit den Landmaschinen, dazu eine elektrische Nähmaschine und eine vollautomatische Waschmaschine für Mama, und Land, Land und nochmals Land ... Wir sparten täglich, trugen unsere kleinen "Bätzchen" zur Bank und planten immer zu kaufen. Dank dem "Büchlein" (= Sparbüchlein) waren wir bei guten Gelegenheiten immer bereit zum "Zuschlagen". Die Mutter arbeitete drinnen, der Vater draussen. War Not an der Frau, half der Vater in der Küche (Achtung: das war ein Geheimnis). Die Mutter arbeitete gerne auf dem Feld, sie konnte auch melken. Sie trugen unterschiedliche Kleider. Bei den Arbeiten hatten sie ihre Vorlieben, aber beide konnten alles erledigen.
1952 kam es zu grossen Diskussionen über das Frauenstimmrecht. Unser Lehrer war dafür, also war auch ich dafür. Meinen Eltern, besonders meiner Mutter, passte meine Meinung nicht. Sie schimpfte über Gleichmacherei, sie wolle niemals Militärdienst leisten. Diesmal konnten sich die Eltern nicht einigen, doch die Mutter behielt Recht, kein Frauenstimmrecht, es kam nicht einmal bis zu einer Abstimmung.
Männer und Frauen waren Männlein und Weiblein. Doch wodurch unterschieden sich Männer und Frauen wirklich? Das blieb mir ein offenes Geheimnis. Ich verstand, Frauen sind für mehr Sachen verantwortlich, darum müssen sie für eine gute Zusammenarbeit sorgen. Und, das ahnte ich bloss und darüber sprach ich mit niemandem, das musste mir niemand sagen, es gab den Kampf Mann gegen Mann oder den Steit zwischen zwei Frauen oder ...   ... , davor musste frau sich hüten, man hatte sowieso recht. Wie sehen Sie das, meine Lesenden? Wie steht es um die Lohngleichheit zwischen Mann und Frau? Wie um die Frauensolidarität?
Der Pyromane und was es auch noch alles gab?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Der Pyromane und was es auch noch alles gab?
Während meiner Primarschulzeit brannten mehrere Bauernhäuser wegen Brandstiftung. Mehrere Brandschaltungen konnten vor dem Zünden entschärft werden. Ein Pyromane musste am Werk sein. Eine Brandwache wurde organisiert und die ganze Bevölkerung zu Achtsamkeit aufgerufen. Die Polizei erkundigte sich in Geschäften und Garagen, ob und wem entsprechendes Material verkauft worden sei. Verschiedene Spuren wurden verfolgt. Schliesslich konnte die Bevölkerung vor dem krankhaften Täter geschützt werden. Die Leute der Gegend waren erleichtert und erstaunt: "Wer hätte gedacht, dass dieser rechtschaffene Mann so etwas tun würde. Ja, er lebte zurückgezogen. Er war ein tüchtiger Baumeister. Er hatte keine Frau."
Wegen dieser Aufregung in der ganzen Gegend sprachen wir auch in der Schule darüber. Der Lehrer erklärte uns, es gebe Männer, die eine besondere Freude erleben würden, wenn ein Haus brenne. Sie könnten das Verlangen nach Anzünden nicht unter Kontrolle halten. Wir lernten das Wort "Pyromane". Wir lernten auch das Wort "Subentionen". Das war Geld, das wir Bauersleute von Bern bekamen, feste Abnahmepreise oder Hektarenbeiträge. Dafür, dass ich dieses Wort erinnern und ein wenig erklären konnte, bekam ich vom Lehrer einen Radiergummi geschenkt. Einen weiteren Radiergummi erhielt ich, weil ich mich nicht vor hohen Steuern fürchtete, denn, wer viel Steuern bezahlen muss, der verdient viel und ist reich. Den zweiten Radiergummi schenkte ich meinem Vater und der ging sehr sorgfältig mit diesem Gummi um.
Zurück zum Pyromanen: Ich fragte und fragte meine Mutter und Grossmutter, ob es andere so komische Männer gebe? Ja, es gebe Männer, denen es Freude mache, Frauen zu erschrecken, indem sie unerwartet die Hosen öffnen und nach unten schieben würden. Andere Abartige würden Tiere benützen oder hätten eine Vorliebe für Frauenunterwäsche, sie würden BH's und Mieder stehlen. Schlimm sei, wenn Erwachsene Geschichten mit Kindern hätten. Beziehungen unter Männern sollten nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden. Wir sprachen auch über Gefängnisse und Psychiatrische Anstalten und das Blaue Kreuz. Die Frauen würden ihre Besonderheiten besser verstecken.
Ich begann zu begreifen, dass kein Mensch ganz ohne Fehler ist, und dass man den kleinen Mängeln mit Verständnis begegnen sollte, hatte ich doch bereits als kleines Mädchen versucht, meinem Grossvater Malztäfelchen zu "nehmen". Wo lag die Grenze zwischen "nehmen" und "stehlen"? Grössi sagte: "Wer ohne Fehler ist, der werfe den ersten Stein." Gab es das alles im kleinen Dorf? In der Aktivzeit des Pyromanen lief die Gerüchteküche auf Hochtouren, die Erwachsenen tuschelten und die Kinder sollten nicht und hörten doch. Zu wissen ist immer gut. Ich war früh Zeugin solcher Szenen.
Wie ging das mit den Geranien und den Gartenblumen?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie ging das mit den Geranien und den Gartenblumen?
Grossmutter und ich standen zwischen Haus und Garten: "Schau meine prächtigen Maien (=Geranien), frisch heraus geputzt (= geordnet, Wassertriebe und Vertrocknetes heraus gebrochen) und gegossen. Vor jedem Fenster eine bunte Mischung von weiss bis dunkelrot, mit und ohne Auge (= anders farbige Mitte)." Pause. Vor den Fenstern unseres Hauses die meisten Farben und Arten von Geranien im ganzen Dorf zu haben, das war Grossmutters Stolz. "Dass ich das erleben darf! In deinem Alter waren wir dankbar für hartes Brot - Schmalhans - Schmalhans wohnte bei uns, es war nicht schön."
Nach dem Tod ihres Mannes - Grössi sprach immer mit grossem Respekt von meinem lieben Grossvater - warfen sie die unterschiedlichsten Gegenstände in ihre Kindheit und Jugendzeit zurück, und wieder und wieder erzählte sie mir in den gleichen Sätzen mit langen Pausen aus ihrem Leben: "Keine Geranien, kaum zu essen und viele lebensuntüchtige Brüder, die ich bedienen musste. Dann war ich auswärts, nichts Schönes! Schliesslich holte mich Konrad Huber als Hausmagd für seine Frau, und ich durfte nach den Geranien der schönen Berta Bachofner schauen. Nach deren tragischem Tod, während dem furchtbaren Ersten Weltkrieg, zwischen den beiden Weltkriegen und auch danach konnte ich die Zahl der Blumentöpfe halten. Keiner zerbrach mir. Seit ich eine Rente geschenkt bekomme, leiste ich mir gelegentlich einen neuen Topf, sowie andere eine Tafel Schokolade oder einen Bubikopf (= Kurzhaarfrisur, vom Coiffeur geschnitten). Schau all die Farben!" Wir freuten uns. Sicher ja, die Grossmutter hatte die meisten Farben, der Dorfklatsch bestätigte dies, doch Mutter hätte lauter rote Geranien dem Gemisch der Grossmutter vorgezogen. Überhaupt, die Geranien über den Winter zu bringen, war eine Sache für sich, die oft Streit auslöste. Als ich aufwuchs, hatten die Geranien "Hochkonjunktur".
Ähnlich ging es mit den nicht winterharten Herbstastern. Prächtig waren sie. Wir brauchten sie, um im Herbst den Wagen mit den Weinfässern zu schmücken. 1957 kurzer Prozess: Nach mehreren Missernten wurden die Reben ausgehackt und dieWinterastern vergessen. Sie erfroren draussen. Neu leisteten wir uns Kaiserkronen und Feuerlilien. Wir kauften je zwei Knollen. Das war besser, prächtiger und brauchte weniger Arbeit als die Winterastern. Ihre Zahl vermehrte sich zu Grössis Zeiten. Wunderbar! Wo sind sie geblieben?
Zudem die einjährigen Blumen: Zinnien und so allerhand. Wir hatten ein grosses Beet davon, um nie mit leeren Händen dazustehen. Allen Besuchern zeigten wir den Garten und schnitten ihnen einen Strauss. Wir trugen sie auf den Friedhof und brachten sie irgend welchen Alten oder Kranken. Das gehörte sich so in Chueris Familie, war Grössis Meinung und Mama hielt sich daran. Schöne üppige Gemüsebeete waren jedoch der Stolz der Mutter, und Vater verlangte vierzig Tomatenstöcke. Wie die Kartoffeln spritze er diese regelmässig mit Kupfervitriol, um sie vor Mehltau zu schützen. Sie gediehen prächtig.
2017 Noch hatte sie ein Blumenbeet und so konnte sie die Familientradtion weiterführen. Meine Lesenden, wann habe Sie das letzte Mal einen Blumenstrauss gemacht?
Wie ging das mit den Wiesenblumen?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie ging das mit den Wiesenblumen?
Wiesenblumen wurden Bébés auf dem Arm der Mama vors Näschen gehalten. Das war so herzig. Ich durfte auch. Bald konnte Schwesterchen ein Blümchen halten und zerzausen. Es gab da so aller hand Verschen und Spielchen, um die Bébés zu unterhalten. Wenig später begann auch das Kleinste "Blümchen" zu sammeln und brachte seiner Mama stolz eine Handvoll Gras .
Kaum war der Schnee geschmolzen, machten wir uns mit Mama auf, um im Wald nachzusehen, ob der Seidelbast blühte und uns den nahen Frühling ankündigte. Später suchten wir in kleinen Kinder-Gruppen Buschwindröschen, Leberkraut, Dotterblumen und Schlüsselblumen, helle und dunkle. Unsere Sträusschen brachten wir den alten Leuten im Dorf, das war so Brauch. Schoss das Gras in die Höhe, war herumstreifen verboten. "Gras wird nicht zertrampelt, das braucht man für Heu für die Kühe im Winter," das war allen klar. Nur am Rand, vom Weg oder von der Strasse her durften wir noch ein wenig pflücken. Wie schade, aus den schönsten Blumen wurde Heu gemacht. Daran wurde nicht gerüttelt.
Einmal gab's für mich eine Ausnahme. So kam's dazu. Ich ging in die erste Klasse, und Papa sagte am Samstagabend zu mir: "Morgen wecke ich dich ganz früh und du folgst mir, ohne ein Wort zu verlieren auf die Wiese, wo ich frisches Futter für das Vieh hole." So geschah es. Im Morgendämmern standen wir vor einer Wiese mit zu viel Kerbel und Bärenklau, mit langen, prächtigen Grashalmen und wunderbaren Blumen. Pause. So waren die Naturwiesen damals. Der Vater begann nebenan mit dem Schneiden von Klee. Mich liess er stehen. Nach ein paar Metern hielt er an: "Heute ist Muttertag, und du gehst nun in die Heuwiese hinein und suchst für Mutter einen prächtigen Strauss. Ich stecke diese lange Gabel hier ein, damit du den Ausgang immer wieder findest. Wenn du ein paar gepflückt hast, kommst du hierher zurück und legst sie neben die Gabel, bis wir viele, viele haben. Suche die verschiedensten Sorten und Farben. In der Nähe des Baumes findest du grosse Glockenblumen. Zieh Schuhe und Socken aus, sonst werden sie nass und schmutzig und Mutter hat keine Freude an uns." Ich, die ich nicht gewohnt war, barfuss zu gehen, gab das Zeug meinem Vater und er steckte es in die Hosensäcke. Nach etwas zögern pirschte ich durch den feuchten Graswald. Ich war eine Blumenjägerin. Lassen wir es nun gut sein. Die Erlebnisse der Blumenjägerin überspringen wir.
An diesem Muttertag warteten wir alle drei fertig angezogen auf's Morgenessen. Ein grosser Strauss stand an Mamas Platz und daneben lag eine Schokolade. Mama war ganz gerührt. Wir sagten ihr nicht, wo die Blumen herkamen, aber wir schauten sie sorgfältig an, und Papa sagte uns ihre Namen. So oder ähnlich ging's mit den Wiesenblumen.
Wie war das mit den Windeln und der Sauberkeitserziehung?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie war das mit den Windeln und der Sauberkeitserziehung?
Das konnte ich, also war ich gross. "Ich bin gross" war Synonym zu "ich muss". Schnell, schnell wurde mir geholfen. Hinter jeden Baum und unter jeden Busch konnte ich und durfte ich.
"Wir haben viel Arbeit. Die zwei Kleinen sind etwas nah aufeinander und - Buben sind langsamer als Mädchen," all das plapperte ich wichtigtuerisch nach. Ich war die Sachverständige und unterstützte Mama und die Kleinen. Ich war mir für nichts zu schade. So setzte ich mich mit dem Röcklein auf den Topf. "Zu dritt im Kreis klappt es besser!" war Mamas und auch meine Meinung. Mit Kopfnicken und Pressbewegungen animierte ich die Geschwister. Wir machten allerlei Spielchen, erfanden immer neue Faxen und lachten oder brüllten. Ziel war das Sparen von Windeln. Lieber ein wenig mehr gemeinsame Zeit und trockene Windeln. Was war dasfür eine Mühsal, diese ewige Wascherei! Immer war jemand mit dem Bereitstellen genügend sauberer Windeln beschäftigt. Jeden zweiten Tag musste ein Topf voller schmutziger Ware sauber gekocht werden. Ein schweres und gefährliches Geschäft! Viel Arbeit dazu: Einweichen und Vorwaschen und Auskochen, Holz holen, Aufhängen und Abhängen und Falten. Gefährlich und schwer war der Umgang mit der grossen Pfanne voller kochender Seifenlauge. Die Küche war eng. Der Topf musste vom Kochherd längs durch die ganze Küche zum Schüttstein getragen werden, sehr heiss, sehr heiss. Die Mutter bekam einen roten Kopf, nicht so der Vater, der hatte mehr Kraft. Und - die Seifenflocken waren nicht gratis. 
Vom Dorfklatsch wusste ich, es lohnt sich, die Winzlinge schon ganz früh oft zu wechseln und  auf dem Feld in nichts anderm als einem Schlabberröcklein herumkriechen zu lassen. "Ihr drei seid ein gutes Beispiel," lobte man uns. "Eure Mutter packte euch immer zur gleichen Zeit aus, möglichst wenn ihr noch trocken ward. Sie trug euch herum, ging mit euch zum Brunnen oder stellte in der Küche den Wasserhahn an." Wurden ihre Mutterarme nass, hatte sie es geschafft, Wascharbeit zu sparen. Wer mit Hilfe von Kissen sitzen konnte, wurde regelmässig mit den Grösseren auf ein Töpfchen gesetzt. Das Kleine gehörte dann dazu. So war es damals, als man glaubte, das Erdöl werde noch vor dem Jahr 2000 knapp, man müsse sparen.
2016: Das Kind konnte schon den Fernsehapparat bedienen, lesen, schreiben und Sender suchen, doch seine umweltbewussten Eltern meinten: "Wir gehen kein Risiko ein, nehmen wir lieber weiterhin Pampers". Die Energiepreise waren zusammengebrochen. Energiesparen war ein theoretischer Ansatz, der gut tönte.
 
Wie ging das mit dem Essen der Kinder? Wie mit der schmutzigen Wäsche?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie ging das mit dem Essen der Kinder? Wie mit der schmutzigen Wäsche?
Die Bezeichnung "die Kleinen" gefiel mir, und ich brauchte sie so oft wie möglich. Der Einfachheit halber assen die Kleinen baldmöglichst am Familientisch. Es war die Kunst der Mutter, dies ruhig und geordnet zu organisieren, damit sich die Erwachsenen unterhalten oder die Nachrichtensendung ungestört hören konnten. Mama wies uns geschickt mit Handzeichen und Mimik in die Schranken, dabei unterstützten sie die Tischgenossen mit Zunicken oder Kopfschütteln. Die Kleine fütterte Mama mit dem Löffel oder liess sie mundgerechte Stücke von  Hand in den Mund schieben. Die andern steuerten ebenfalls günstige kleine Portionen bei, solange das Kind das Essen sorgfältig bis zum Mund brachte. Ich durfte zwischen Gabel und Löffel abwechseln, mein Bruder ass mit dem Löffel. Hände auf den Tisch, Füsse unter den Tisch, und der Teller mit ein paar mundgerechten Stücken wurde uns zugeschoben. War alles weg, wurde auf Klatschen schnell, schnell ein wenig nachgeliefert, dies noch und noch, bis wir das Interesse verloren und meist kaum bemerkt auf das Sofa verschwanden.
1951 Der Schnee war geschmolzen. "Ich esse mit Messer, Gabel und Löffel, also kann ich bald in die Schule gehen. Bitte genau schauen, mein Platz und alles ist sauber, ich habe ein kleines Extra verdient," galt es doch, den Berg schmutziger Wäsche möglichst klein zu halten.
Nun Fetzen aus dem kunterbunten Geplauder der Tischrunde: "In der Bauernzeitung las ich wieder vom Waschautomaten. Oh du Papa, sollen wir schon schmutzige Wäsche ansammeln für deine vollautomatische Waschmaschine aus Amerika? Schmutzig rein, Strom einschalten, Wasserhahn auf, ein Tässchen Kaffee trinken, Zeitung lesen und zwei Stunden später sauber, gebügelt und gefaltet herausnehmen? Wird sie auch noch zum Schrank getragen ? Die Mutter wird arbeitslos? Was ihr nicht denkt?"
1955 war es soweit. Das Wunderding, die vollautomatische Waschmaschinewurde in einem riesigen Lastwagen von den Monteuren angeliefert und auf strikten Befehl des Vaters, ganz hinten in der Waschküche installiert. Alle schimpften: "Nein, nein, vorn neben der Türe, da gibt es Anschlüsse für Wasser und Strom und einen Ablauf." Welch grosse Aufregung. "Wir machen ein Provisorium," hiess das neue Motto. Wasserzuleitung mit einem langen Schlauch über dem Boden, Wasserableitung mit einem langen Schlauch über dem Boden, Stromzuleitung mit einem langen Verlängerungskabel über dem Boden. Und der Vollautomat kam zum Leidwesen der Monteure nach hinten. Es klappte - doch nun eine  Panne. Die Mutter hatte den sonnigen Vortag genutzt und alle schmutzige Wäsche gewaschen. "Ich will ein sauberes Bett," der Vater, dann alle im Chor "Wir wollen saubere Betten." Die Monteure staunten, wie schnell die gebrauchten Betttücher zur Stelle waren. Die Wäscherei klappte, und wir tranken mit den Monteuren das geplante Tässchen Kaffee und assen eine Tafel Aktionsschokolade, Preis 30 Rappen. Weiter der Vater: "Rechnet man alles ehrlich zusammen, so haben 6'000 Franken für die Waschmaschine nicht gereicht, doch wir hatten soviel geplant."
1956 waren viele weitere Aufregungen vorbei. Unser Vorrat an gebrauchten, bei einem Hausabbruch gesammelten Wasserleitung war kleiner geworden, denn Vater hatte sie für das Zu- und Abwasser verlegt, hinten eine Steckdose installiert - und - unter viel Lärm und gegen Protest entstand der sog. Durchgang (= Mauerdurchbruch zwischen Waschküche und Küche). "Das hätte ich doch merken können. Grössi war bei ihrer Tochter auf Besuch, und ich musste alle drei Kinder in die Stadt zum Einkaufen mitnehmen. Jetzt habe ich den Dreck," ärgerte sich die Mutter im nachhinein. Der Vater verputzte die Kanten, der Schreiner machte eine Schiebetüre, und die Mutter hatte immer wieder den Dreck. Der Durchgang war praktisch, doch es war nicht die Art unserer Mutter zu sagen: "Danke, gut gemacht."
Im Herbst kauften sie gemeinsam einen elektrischen Kochherd. Dieser kam neben den Waschautomaten zu stehen.
Wie ging das mit der grossen Wäsche in der Zeit vor dem Automaten?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie ging das mit der grossen Wäsche in der Zeit vor dem Automaten?
1955  stand der Waschautomat bereit. Anfänglich marschierten wir nach dem Frühstück gemeinsam in den Nebenraum und schalteten ihn ein. Papa führte das Kommando: "Erstens schmutzige Wäsche in die Trommel schieben, zweitens Waschmittel einfüllen, drittens Strom einschalten, viertens Wasserhahn aufdrehen, fünftens das Waschprogramm wählen und sechstens, ich will nun im Stall weitermachen, kein Kaffee." Zwei Stunden später konnte die Wäsche sauber herausgenommen werden. Fantastisch, die Wäschestücke mussten nicht triefend nass aus der Maschine gezogen werden, nein, nein, sie waren gut geschwungen und brauchten nur in einem Wäschekorb an die Sonne zum Aufhängen getragen werden. Einfach fantastisch.
Die Mittelstufenschülerin staunte: "Wie hatte das Mama früher geschafft?" und Grössi nickte nachdenklich: "Wie hatte das meine Mutter damals geschafft!" Gespräche über das Waschen hatten wir gemieden, denn sie führten immer zu Streit. Ich erinnerte verschwommen, dass Grössi am grossen Waschtag das Zepter führte. Ich wurde immer weggesperrt. Grössi feuerte im Waschkessel tüchtig ein, denn sie brauchte viel heisses Wasser. Der Grossvater fasste mich am Oberarm, und mit kräftiger Stimme sagte er: "Ich nehme das  Kind auf den Kartoffelacker mit." Grössi trug eine Gummischürze, und die Haare klebten ihr im Gesicht. Ich erkannte sie kaum durch den heissen Nebel. Alle lobten unsere kleine wasserbetriebene Waschmaschine und die ebenfalls wasserbetriebene Schwinge. Doch was nützten diese, wenn das Wasser knapp war? Deshalb kauften die Eltern nach der Geburt des Schwesterchens eine elektrisch angetriebene Waschmaschine mit einer kleinen Handmangel zum Auspressen der nassen Tücher. Eine Erleichterung, die wir für die grossen Waschtage nutzen. Mit dieser gefährlichen elektrischen Maschine wollte Grössi nichts zu tun haben, deshalb war nun Mama für das Waschen verantwortlich. Beim Wegsperren blieb es, bis die vollautomatische Waschmaschine hinten in der Waschküche installiert war.
2017, Montag 2. Oktober 17.30 Warum wollte sie nun plötzlich über "waschen und glätten" schreiben? Richtig, das war das Thema des vergangenen Treffens der Begleitgruppe. Vor dem Einschlafen tauchten nun entsprechende Bilder auch in ihr auf. Sie war immer weggesperrt worden und hatte doch einiges mitbekommen. 17.35 hörte sie den Gruppenleiter betonen: "Sie können nicht alles schreiben, sie müssen eine Auswahl treffen." Sie ärgerte sich, dass sie nicht mutig auf dieses Thema verzichtet hatte. Zwei Tage hatte sie damit verloren, denn sie wollte eigentlich korrigieren und den ersten Teil der Schreiberei bis Ende Oktober abschliessen. Einschub Ende.
Neu übernahm Grössi an schönen Tagen das Auf- und Abhängen der Wäsche. Sie brauchte dann nicht auf dem Feld zu arbeiten. Abhängen umfasste nämlich glätten, falten und jedem seine Sachen auf das Bett tragen, damit die Stube für das Abendessen frei war. Grössi brauchte eine Hilfe, und das war ich. Jetzt wurde gewaschen, wenn eine Maschine voll ähnlicher Kleider schmutzig waren. Diese wurden am Abend eingeweicht, und - Mama brauchte doch Papas Kommando nicht - schon vor dem Morgenessen surrte der Automat. Das klappte gut. Die hölzernen Wäschezuber blieben im Keller und die gefürchteten Waschtage entfielen.
Während den Sommerferien wurde im Schulhaus ebenfalls ein Automat installiert, und der Lehrer hatte ein altes, lange nicht mehr gebrauchtes Schulwandbild hervorgesucht. Ein Teil des Bildes war abgedeckt. Doch wir erkannten den Dorfplatz mit mehreren Brunnen leicht. Der Lehrer erkärte: "Früher hatte nicht jedes Haus einen Wasseranschluss. Das Wasser wurde auf dem Dorfplatz geholt, und dort wurden auch die Tiere getränkt. In der Ecke links hinten seht ihr zudem einen Gemeinschaftsbackofen." Alle Blicke fielen aber auf die rechte Ecke. Was war dort verdeckt? Der Lehrer wartete. Keine Hand ging in die Höhe. Das Abdeckblatt verschwand: Unter einem Dach stand ein weiterer Brunnen mit verschiedenen Trögen. Mehrere Frauen handierten und auf kleinen Karren lag schmutzige Wäsche. Wie hätte es anders sein können, als Hausaufgabe sollten wir daheim fragen, wie früher gewaschen wurde.
"Glaube mir, es war nicht schön," es war Grössi unangenehm, mir zu erzählen, wie ihre Mutter wusch, doch für mein Empfinden, war sie sehr ehrlich: "Man wusch im Frühling und im Herbst. Wir hatten nicht immer Berge von schmutziger Wäsche wie deine Mutter. Unterhemdchen und Unterhöschen und Nachthemden kannten wir nicht. Wenn die Stallkleider zu stehen begannen, wurden sie mit der Bürste und viel Wasser kräftig ausgewaschen, das genügte. Arbeitskleider, Betttücher, Küchenwäsche, Taschentücher, Sonntagskleider, all das wuschen wir am Dorfbrunnen. Wir waren zu zehnt, da gab es doch einiges. Im Haus deines Grossvaters, im "Rössli" gab es Wasser und ich wusch neben dem Brunnen beim Wasserablauf. Die Waschküche mit einem Waschkessel hier im Riegelhaus kennst du. Mach, dass du mit dem Wegtragen nachkommst!" Grössi war bald fertig mit gläten. Meine Lesenden, woran erinnern Sich sich?
Fressen und Gefressen werden?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Fressen und Gefressen werden?
Ohne mich ging es nicht! War ich dabei, dann war alles einfach, denn ich achtete selbst auf mich. "Fressen und Gefressen" werden, das musste ich erkunden.
Die Kühe frassen mit dem Maul Gras und die Schweine gekochte Kartoffeln. Das faszinierte mich jeden Tag neu. Unter dem Schwanz pressten die Tiere wohl geformte braune Würste heraus, die zusammen mit ihrem Strohbett auf dem Miststock vor dem Haus verrotteten. Im Bauch der Kuh wurde Gras zu Mist und Milch und Kraft. Ich durfte immer wieder den Bauch der Kuh anfassen und spüren, wie sich der Grasbrei darin bewegte. Wir spürten auch das Kälbchen, das bald zur Welt kam. Am Schlachttag schauten ich und der Grossvater den Magen und das Gedärm des Schweines genau an. Es hatte zerkaute Kartoffeln im Magen, ich konnte das klar sehen und im Gedärm so ein Kartoffelmus. Leider interessierte all das den Grossvater wenig. Er stellte kurz fest: "Das Schwein war gesund. Ich will jetzt vorwärts machen!"
Die Katzen fingen Mäuse. Sie waren sehr ordentlich, sie scharrten kleine Löcher für ihr Geschäft und deckten diese nachher wieder zu. Und die Hausmäuse, die frassen alles, was sie stehlen konnten und hinterliessen kleine schwarze Spuren. Der Fuchs fing Hühner und Mäuse. Die Stubenfliegen neckten den Schläfer auf dem Sofa und machten die Fensterscheiben schmutzig. Die Stechmücken saugten Blut, machten juckende Beulen und brachten oft böse Krankheiten. Sie wohnten in Pfützen und Kiesgruben. Das Pferd frass gerne Hafer und liess "Bollen" (= Pferdeäpfel) fallen. Die Vögel picken überall und verschmutzten den Hofplatz. Die Bienen besuchten die Blumen, auch die kleinen weissen Kleeblümchen. Dank ihnen gab es Äpfel und anderes Obst, und sie sammelten Honig. Einmal, als ich barfuss durch die Wiese hüpfte, stand ich auf viele kleine Kleeblümchen, und eine Biene stach mich. Hui, hui, mein Bein wurde dick geschwollen, ich konnte vor Schmerzen kaum gehen. Die Mutter gab mir viel, viel Bienenhonig, weil ich tapfer war. Das und viel anderes geschah. 
Was ist deine erste eigene Erinnerung an dein Leben?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was ist deine erste eigene Erinnerung an dein Leben?
"Meine Beine sind dick wie eine Bratpfanne" diesen Satz wiederholte Mama gegen das Ende der Schwangerschaft mit meiner dreieinhalb Jahre jüngeren Schwester immer wieder . Das ist der erste Satz, den ich klar in Worte gefasst in meinem Hirn erinnerte. Es machte mir Spass, den Satz im Kopf zu haben und ihn immer wiederholen zu können. Einerseits war mir der Satz ein Rätsel, andererseits staunte ich darüber: Mama sagte "Meine Beine", Mama sprach von ihren Mama-Beinen, auch wenn ich in meinem Kopf wiederholte "meine Beine" so wurden diese Mama-Beine nicht zu meinen Kinder-Beinen. Mein Kinder-Mund wiederholte den Mama-Satz. Ich staunte, das war möglich. Der Satz hiess: "Meine Beine sind dick wie eine Bratpfanne." Ich wusste sehr wohl, wie eine Bratpfanne aussah, denn darin machte meine Mutter jeden Morgen Rösti (= geriebene in Butter angebratene Kartoffeln)  für das Frühstück. Ich schaute wieder und wieder unter den Rock meiner Mutter, dort waren ihre lieben, warmen, weichen, dicken Mama-Beine, es gab keine Bratpfanne. Ich muss sehr ungläubig in die Welt geschaut haben, denn ich lernte den Satz: "Auch du wirst die Welt nie verstehen." Als unsere kleine Schwester im Wägelchen schrie, waren Mamas Beine wieder dünn. Interessant, nicht wahr?
Jahre später fällten wir im Wald Tannen, nur Bäume, die dünner waren als eine Bratpfanne. Ich dachte an die Beine meiner Mutter in der Zeit vor der Geburt unserer Schwester und verstand. Der Vater erwähnte: "Als diese Bäume gesetzt wurden, waren der Grossvater und du auch dabei." Vage mag ich mich daran erinnern, wie ich die kleinen Bäumchen in die vorbereiteten Pflanzlöcher legen durfte und wie ich helfen konnte, die Erde gut anzutreten.  Ich liebte diese Arbeit und tobte, wenn mich Grössi in der warmen Stube behalten wollte:  "Ich bin ganz böse, ich mache alles kaputt und quäle die Kleinen." Ja, sie wussten wie ich sein konnte, und der Grossvater nahm mich gerne mit. Im Wald, ein liebes Kind, ich hatte es geschafft. Es war kalt, und ich hätte niemals zugegeben, dass ich fror. Auch an solche Szenen erinnerte ich mich immer wieder klar. Ich konnte denken: Will ich, will ich nicht? Kann ich, kann ich nicht?
2015 Der Kopf surrte ihr von der Schreiberei. Sie hatte früh am Morgen begonnen und nützte nun die Zeit, um in die Kirche zu gehen. Sie war gerade noch rechtzeitig. Ein paar noch ältere Menschen traf sie dort. Wo war die Volksfrömmigkeit geblieben? Das 21. Jahrhundert hatte Spannenderes zu bieten! Tatsache ist, dass in der ersten Zeile der Präambel der Bundesverfassung von 1999 immer noch zu lesen ist: "Im Namen Gottes des Allmächtigen!"
Welche andern frühen Ereignisse hast du nicht vergessen?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Welche andern frühen Ereignisse hast du nicht vergessen?
MML-Zusatzfragen: Z.B. auch Ferienerlebnisse mit oder ohne Eltern.
Viele, viele Einzelbilder, die sich mit Details füllen, wenn ich ihnen einen Moment Raum gab. Doch jetzt nur ein paar Stichwörter, die wie grosse Steine in einem Bach liegen und denen Kinder nicht widerstehen können. Schon hüpfen und balancieren wir, Sie und ich von einem Stein zum andern. Welch ein Vergnügen. Bedenken Sie, dass es mir leicht fiele, zu all den angetippten Bildern Seiten zu schreiben. Doch nein, hüpfen ist lustiger.
  • Mein Grossvater, der mich an der Hand führte oder auf den Schultern trug. Vieles, vieles vom Grossvater, wir waren gegenseitig stolz aufeinander und liebten uns.
  • Der Spass, den es mir machte, als wir den Bäumen in den trockenen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Jauchefass Wasser brachten, ich durfte planschen. Viele Details rund um die Trockenheit, Kessel voller Wasser, das reichen musste, bis das Wasser wieder eingeschaltet wurde. Kahle Wiesen und der Hinweis, gegen Norden sei es noch viel trockener, alles sei "rot".
  • Die Rationierungsmarken, unter dem Tablett mit den Gläsern versteckt, was ich nicht wissen durfte, aber doch wusste. Die Rollos an den Stubenfenstern, die wir abends vor dem Einschalten des elektrischen Lichtes fein säuberlich herunterzogen. Drinnen war hell und draussen dunkel. "So sieht uns der Feind nicht," ein Überbleibsel aus der Kriegszeit. Der Kauf von Stubenvorhängen war geplant.
  • Meine Angst vor den Kühen und Erzählungen rund um die Kühe, z.B. wie mich meine Mutter bereits als Bébé in den Kuhstall mitnahm und mich in eine grosse Zaine (= ein aus Weiden geflochtener Korb mit zwei Traggriffen) legte, damit sie melken konnte, der Vater ja im Dienst war.
  • Im Winter schaute ich gerne zu, wie andere Kinder über vereiste Stellen glitten. Hui, ging das schnell. Ich wagte es nicht, meine Angst zu fallen war zu gross. Warum ich deshalb ins Haus musste, verstand ich nicht.
  • Ich wagte es auch nicht, einem Kälbchen die Hand zum Saugen in den Mund zu stecken.
  • Nach vielen Versuchen schaffte ich es, Anfeuerholz zu spalten. Das erfüllte mich mit Freude und Stolz und ich spaltete nach Herzenslust, denn Anfeuerholz wurde dreimal täglich gebraucht.
  • Beeren pflücken und einkochen
  • die Kartoffelernte
  • und -  und - hopp - hopp weitergehüpft.
2015 Erinnerungen an ihre frühe Kindheit waren für sie zeitlebens Wolken der Glückseligkeit, auf denen sie gelegentlich über der Welt dahin segelte, als wäre es noch Wirklichkeit. Meine Lesenden, schwelgen Sie doch ein wenig in alten Erinnerungen.
 
Was hat man dir von deiner Taufe erzählt? Das alte Taufbuch
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was hat man dir von deiner Taufe erzählt? Das alte Taufbuch
Mit Erzählungen rings um meine Taufe kann ich nicht aufwarten. Später verglichen meine beiden Geschwister und ich jeweils unsere Taufkarten. Keine Besonderheiten, jedes hatte zwei. Die Mutter zeigte uns auch einmal die Taufscheine, die sie sorgfältig aufbewahrte, man wisse ja nie. Ich wusste, das war wegen der Fröntler. Doch wer waren eigentlich die Fröntler, was taten sie?
Nun folgt die Geschichte vom alten Taufbuch. Sie wäre eigentlich zu verschieben, denn der Pfarrer erzählte sie uns in der Sekundarschule. Doch lassen wir fünfe als gerade gelten! Die Bedeutung der Taufe lernte ich erst langsam zu begreifen. Auf der Oberstufe löste der Pfarrer den Primarlehrer als Informationsträger ab. Von ihm erfuhren wir, dass in jeder Gemeinde von altersher ein Taufbuch zu führen war. Darin wurde von der Kirche alles aufgeschrieben, bis das Zivilstandsbuch eingeführt wurde. Er konnte uns das Taufbuch nicht zeigen, denn es soll in sehr schlechtem Zustand gewesen sein und auf eine gründliche Überholung gewartet haben. Dazu fehlte der Gemeinde das Geld. Das Hauptproblem wären die fehlenden Seiten, doch gerade diese Lücken seien während dem Krieg zum Segen geworden. Wenn er, der Pfarrer von den Deutschen angefragt worden sei, ob diese oder jene Person in unserer Gemeinde getauft worden sei, so hätte er dies mit gutem Gewissen mit einem Verweis auf die fehlenden Seiten bestätigt. Er habe schliesslich weit mehr Bestätigungen ausgestellt, als Namen auf den fehlenden Blättern Platz gehabt hätten. Er sei dafür auf der "Schwarzen Liste" geführt worden. Später habe er aus aller Welt Dankesbriefe und aus den USA sogar Geschenke bekommen. Weiter redeten wir über die Judenverfolgung, die Konzentrationslager, den Widerstand und die Massen von Mitläufern und Gleichgültigen. In vielen Fächern hatte ich Mühe, oft langweilte ich mich, darum genoss ich den Religionsunterricht um so mehr.
2015, als alter Frau im Jahr 2015 tat es ihr weiterhin gut zu wissen, dass sie getauft ist und von der Gnade Gottes getragen wird. Das Geschenk der Gnade kann nicht in Worte gefasst werden. Was wäre ihre Welt ohne Gott? Sie spürte auch, wie sie zögerte, über ihren persönlichen Glauben zu schreiben. Das tat man doch nicht, aber sie tat es doch.
Welche Rolle spielten die Patin und der Pate in deinem Leben?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Welche Rolle spielten die Patin und der Pate in deinem Leben?
Mein Taufpate war ein guter Schütz und er war Maurerpolier. Er war der Mann der Schwester meines Vaters. Nach dem Tod unseres Grossvaters hatten sich die beiden Familien  zerstritten, und ich bekam kein Patengeschenk mehr. Der Zwist wurde beigelegt, als ich in die fünfte Klasse ging. Ich bekam nun ein grünes Lederetui mit acht Farbstiften, und ich wurde in Begleitung der Grossmutter zu Tee und Kuchen eingeladen. Wir durften sogar mit dem Stall und den Tieren ihres Sohnes spielen und alles war heiter und froh. Eine gewisse Distanz blieb.
Zur Taufpatin, der Schwester meiner Mutter, pflegten wir einen regen Kontakt. Sie und ich hatten aber öfter Auseinandersetzungen, da ich nicht so wohlerzogen war, wie sie es sich wünschte. Eine Episode bekam ich bis an ihr Lebensende zu hören: "Die Geschichte von der Fliege in der Suppe". Die Patin erzählte jeweils, ich hätte behauptet, eine Fliege aus der Suppe gefischt und an den Schuhen abgestreift zu haben, und die Patin wusste, es hatte nie eine Fliege in der Suppe gegeben. Es entfachte sich ein Streit und ich, das kleine Mädchen, wurde wegen meiner Lügerei in den Keller gesperrt. Ich war nicht bereit, mich für etwas zu entschuldigen, das keine Lüge war. Ich wurde mehrmals freundlich und lieblich aufgefordert, mich zu entschuldigen. Ich konnte doch nicht. Gegen Abend wieder aus meinem Käfig, heute würde man sagen "aus meinem Gefängnis" entlassen, gegen das Versprechen anständig zu sein und nicht mehr zu lügen.
Diese Erzählung kam wieder und wieder aufs Tapet. Es war mir unangenehm, und mit noch sovielen späteren Entschuldigungen, konnte ich deren Wiederholung nicht stoppen. Mein Versuch, dieser Geschichte einen Drall in Richtung locker und lustig zu geben, verfehlte die Wirkung. Sie konnte nicht aus der Welt geschafft werden, wir durften nicht darüber lachen. Laut Patin zeigte sie meinen wahren Charakter, auch wenn mir das unangenehm sei. Ich verbot mir zu sagen, dieses sture Verharren zeige auch den Charakter meiner Patin.
Falls du Geschwister hattest, wie haben sie dich aufgenommen?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Falls du Geschwister hattest, wie haben sie dich aufgenommen?
Ältere Geschwister vermisste ich, und ich erträumte mir ältere Brüder. Mein wirklicher Bruder, der Stammhalter, meine erste Liebe, mein Stolz und der Stolz der ganzen Familie, ist ein Jahr und 351 Tage jünger als ich. Mitten in einem regnerischen Sommer, dreieinhalb Jahre nach mir kam unsere kleine Schwester zur Welt. Ich liebte die beiden, auch wenn sie ein unzertrennliches Duo waren und mich häufig beim gemeinsamen Spiel ausschlossen, ich sei zu gross. Teils war ich stolz, die Grosse zu sein, teils war mir diese Rolle, wegen der damit verbundenen Verantwortung für die Kleinen, zu schwer und lästig.
Keine Details, lasst uns all dies überfliegen. Hatten Sie Geschwister?
Wie waren eure Familienausflüge in der Vorschulzeit?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie waren eure Familienausflüge in der Vorschulzeit?
Von meiner Mutter weiss ich, dass sie an der Auffahrt nach meiner Geburt zum Tanzlokal marschierten, wo sich meine Eltern 1942 kennen gelernt hatten. Als lachendes, strahlendes Kleinkind sei ich der Mittelpunkt gewesen, und sie hätten sogar mehrere Tänzchen machen können. Teils sei ich im Wägelchen geblieben und teils habe der stolze Vater sein Kind beim Tanzen auf den Arm genommen.
Weiter haben wir allerhand Spaziergänge gemacht und haben an kleine Dorffesten nicht gefehlt, wir gingen zur "Chilbi" (= Kirchweih), zu den "Ständli" = kleine Platzkonzerte) der Blasmusik und der Heilsarmee, auf den Viehmarkt. Doch kein Verweilen, lasst uns hüpfen und nur daran denken, dass wir jeden Sonntag etwas unternahmen. Vor Weihnachten fuhren wir per Velo in die Stadt, schauten die dekorierten Schaufenster an und kehrten gemeinsam im Kaffee "Obertor" ein.
Noch bevor ich sechs war, denn nach sechs hätte ich ein Billett gebraucht, machten wir die   grosse Reise in den Zoo. Diese Idee entstand, weil wir ein Zoobuch hatten und viele fremde Tiere vom Sehen kannten. Mit dem Zug in die Stadt, dann umsteigen und fahren mit Zwischenhalten bis in die grösste Stadt am See, an der riesigen Suppenfabrik vorbei. Den Duft nach Suppe von damals erwarte ich noch immer, wenn ich dort vorbeifahre, auch wenn der Betrieb längst verlagert wurde. Dann fuhren wir mit dem Tram Richtung Zoo - und - ein Neger setzte sich in unsere Nähe. Wir staunten. Mein Bruder, der mutige Bub, ging auf den Afrikaner zu und reichte ihm die Hand und schaute dann die Hand an. Er reichte sie ihm nochmals und kam zu uns zurück und zeigte uns die Hand. Sie war weiss. Der mutige Bruder erklärte, es habe ihm gar nichts gemacht. Die Zootiere waren weniger interessant.
Noch vor dem Zoobesuch hatte ich die Ehre, mit meinen Eltern an einer Bootsfahrt auf dem grossen Fluss teilzunehmen. Sie wurde von der Musikgesellschaft aus dem Dorf mit der Kirche organisiert. Eine grosse Vorfreude und viel Nachfreude und eine lange eintönige Schifffahrt. Ich hatte es geschafft, anständig und ruhig zu bleiben, wie ich es meinen Eltern versprochen hatte. Diese Fahrt war so häufig Gesprächsthema, dass ich schliesslich den Namen des Flusses und Anfang und Endpunkt der Reise kannte.
Wie gross war dein erstes Zuhause? Erinnerst du dich an die einzelnen Räume?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie gross war dein erstes Zuhause? Erinnerst du dich an die einzelnen Räume?
MML-Zusatzfragen: Kannst du sie beschreiben? Wo warst du am liebsten?
Ein grosses altes Riegelhaus mit zwei Wohnungen und einem Ökonomieteil inkl. Vieh- und Pferdestall und einer Werkstatt, das war mein erstes Zuhause. Daneben stand ein grosser Schopf mit Durchfahrt und Strohstock, etwas unterhalb ein kleiner Schopf, den wir langsam erweiterten.
Gab es Geld, aber kein Land zu kaufen, so modernisierten wir Haus und Hof. Zunächst strahlte elektrisches Licht nur in Stube, Küche und Elternschlafzimmer, bald wurden aber  alle Räume, inkl. Plumpsklo mit Kippschaltern, Steckdosen und Lampen ausgerüstet. All unsere schönen neuzeitlichen Sachen zu beschreiben, geht nicht an. Hüpfen wir doch weiter.
Achtung: Neue Sachen wollten und mussten unterhalten werden. Ich erinnere mich gut, wie meine Mutter und ich sauber machten. Ich besass ein eigenes kleines Wischerchen mit Schaufel, und Staublappen gab es genug. Meine Lesenden, nun ist es an Ihnen, diese Fragen zu beantworten.
 
Wie sah dein Zimmer aus? Hattest du ein eigenes?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie sah dein Zimmer aus? Hattest du ein eigenes?
MML-Zusatzfrage: Wie weit durftest du es selber einrichten?
Wie sah Ihr Zimmer aus? Bis mein Bruder zur Welt kam, stand mein Bettchen in Zimmer meiner Eltern, dann wurde ich ins Nebenzimmer verlegt. Nach der Geburt unserer Schwester folgte mir mein Bruder, und ich bekam ein grosses Bett. Neben den Betten standen zwei grosse dunkle Schränke gefüllt mit Kleidern, für die nicht Saison war. Die Diele war weiss, die Wände blass grünlich gekalkt, leicht wolkig. Wir konnten darauf Tiere entdecken und machten diesen mit Spucke Augen, Nase und Mund, dann Grasbüschel. Unser Mund war zu trocken! Dachte ich daran und schaffte ich es, so stellte ich tagsüber unbemerkt eine Tasse Wasser unter das Bett. Dann konnten wir zeichnen: Eine Sonne mit langen Strahlen, mit vier Strichen ein Haus, Schmierereien. Kein Ärger, am nächsten Morgen war wieder alles weg und vergessen.
Die Schlafzimmer waren nicht geheizt. Im Winter zierten Eisblumen das Fenster. Deshalb zogen wir uns bis gegen die Pubertät in der Stube aus und wärmten uns auf dem Sofa gut auf. Nach dem Gebetchen fassten wir je einen heissen Kirschsteinsack und hasteten mit der Mutter in den obern Stock. Schnell unter die Decke, nur keine Wärme verlieren! Nicht zu frieren, war Ehrensache.
Später hatten wir elektrisches Licht in unserem Zimmer, genannt Kammer, mit einem Drehschalter neben der Türe zum Elternzimmer. Wir durften ein- und ausschalten, wie wir wollten. Nur zurück in die Stube durften wir nicht. Nein, nein, das gab es nicht. So riefen wir manchmal um die Wette: Mutti, Mutti, Mama, Mama. Die Mutter war zu müde, um uns zu hören, sie hatte noch Socken für den nächsten Tag zu flicken. Wir lachten und riefen weiter und schliefen ein. Kam sie trotzdem unerwartet, so versteckten wir uns schnell tief unter dem Federbett. Suchte sie uns und fragten wir verwundert, warum sie uns wecke, und behaupteten, längst im Bett zu sein und vielleicht geträumt zu haben. Das war alles den Tatsachen entsprechend, wir hatten gelernt, nicht zu lügen.
Zurück zum Drehschalter: Niemand wollte uns glauben, es war zwar schwierig aber möglich, diesen nur halb zu drehen. Im Frühherbst, wenn die Nächte nach der Tagundnachtgleiche schon lange aber noch warm waren, standen wir in den Nachthemdchen neben dem Schalter und übten. Abwechslungsweise, zehn Versuche hatten wir uns je gegeben, bis es klappte: Die Lampe flackerte und im Schalter surrte es. Fantastisch. Es wurde uns verboten: Zu gefährlich, war die Begründung! Wir versuchten es noch ein paar Mal und liessen dann davon ab, wir wollten doch nicht, dass das Haus niederbrannte. Elektrischer Strom stand damals noch im Verruf gefährlich zu sein und Krankheiten zu bringen.
Gab es ein Fenster, aus dem du besonders gern hinausgeschaut hast?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Gab es ein Fenster, aus dem du besonders gern hinausgeschaut hast?
2015, 15. Dezember  sie hatte erstmals das Inhaltsverzeichnis des meet-my-life Programms  teilweise durchgescrollt und sie war erschrocken, ob der vielen Fragen! Auf ihre leise Hoffnung, das zu schaffen, antwortete sie sich mutig und schmunzelnd wie ein neu gewählter Bundesrat: "Ja, mit Gottes Hilfe." Damals als Kind hatte sie diesen Satz am Radio gehört und von Papa verlangt, dass er ihn ihr lehrte. Nahmen sie eine grosse Arbeit in Angriff, so wiederholten sie ihn gemeinsam. Papa wusste, dass es mir damit eine Freude machte. Einschub Ende.
Mein Lieblingsfenster? Ja, das war im Frühling, wenn die Sonne uns wieder wärmte, bis in den Herbst, bevor die Kälte sich langsam im Haus breit machte, das Schlafzimmerfenster meiner Eltern. Dort hatte ich den Überblick über den Hofplatz und das kleine Tal. Was machte Papa? Ah, er spannte das Pferd vor die Mähmaschine. Da war nichts Spannendes zu erwarten. Welche Bauern waren schon auf dem Feld? Nur ein paar Frau, die Rüben hackten? Mein Blick suchte die noch nicht asphaltierten Strassen ab. So nannte Papa unsere Staubstrassen. War irgendwo ein Auto unterwegs? Mama hatte mir erlaubt, am Fenster zu träumen, bis ich ein Auto gesehen hatte. Dann flugs in der Küche abtrocknen, denn Grössi war verreist.
2017 Was im Mittelgund zu sehen war, erinnerte sie nur verwaschen. Sie plante beim nächsten Besuch in der Gegend darauf zu achten, doch sie vergass es immer wieder. Ihr altes kleines Heimatdorf hatte sich in den vergangenen Jahren verändert, sie erkannte es kaum noch.
An klaren Tagen konnte ich die Alpenkette sehen. Mama hatte mir das "Vrenelis Gärtli", einen breiten weissen Rücken, gezeigt. Es hiess so, weil es so hiess. Hätte ich gewünscht, es hiesse Majalis Gärtli"? Ich wusste nicht so recht. Über den Schneebergen der Himmel mit und ohne Wolken. Drehte ich mich um und setzte mich aufs Fenstersims, so stand dort das Doppelbett, das schöne Schlafzimmer meiner Eltern. Niedrige moderne Betten. "Wie unpraktisch, mühsam zum Aufstehen und Betten," schimpfte Grössi. Vor dem Betten durften wir mit dem Bettzeug spielen. Waren Decken und Kissen geschüttelt und zurecht gezogen, durften wir höchstens noch mit der flachen Hand über die Decken fahren, lieber nur mit den Augen anschauen.
Hinter dem Bett hing das grosse wunderbare Bild mit einem Hirten und seinen Schafen. Ich liebte dieses Bild und liebe es immer noch, auch wenn es als kitschig gilt. Als ich die Wohnung meiner Mutter auflöste, nahm ich es mit. Nun hängt es in unserem Gemüsekeller.
Gab es ein Lieblingsbild?
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Gab es ein Lieblingsbild?
Wir hatten viele Bilder. Über solche Familien schnödete der Dorfklatsch. Es es hiess,  die haben ja nichts als volle Wände. Leere Teller und Lumpen am Hintern! Doch das stimmte für uns nicht, unsere Teller waren immer voll. Wir drei Kinder waren immer sauber und hübsch angezogen, deshalb hiess es, wir seien hoffärtig. Ja, wie immer man es machte, es war nie recht. "Weg mit den Sachen, die wir nicht mehr brauchen! Für alles findet sich jemand," hörten wir daheim immer wieder.
Wichtig waren mir auch die Bilder auf den Münzen und auf den "Nötli" (= papierener Geldschein, nicht gemeint sind Bankkarten oder ähnliche Zahlungsmittel), die ich besonders gerne anschaute. Schau, ich habe ein Blümchen aus Batzen gelegt! Bald schon konnte ich Geld machen, wenn mir jemand dünnes, sauberes Papier und einen Bleistift gab. Richtig schön ausschneiden konnte, nein durfte ich sie nicht, denn die Schere blieb weggesperrt. Auf Zeitungsrändern klappte es auch, dort konnte ich sie leicht herausreissen.
Die Bilder in der Stube über dem Sofa verstand ich nicht: Irgendwelche Familienphotos von früher und ein Bild aus den Bergen mit Hütten, ein paar Leuten mit Bündeln, grossen Steinen, Vieh, Bäumen, grossen dunkeln Felsenbergen mit einem Wasserfall, den ich nicht richtig erkennen konnte, dahinter die Schneeberge, die wir an klaren Tagen sehen konnten, dann ein Streifen Himmel. Im Flur hingen ein paar Erinnerungstäfelchen mit frommen Sprüchen. Auf dem Gemälde mit dem Hirten am See im Schlafzimmer von Papa und Mama suchte ich vergebens nach versteckten Dingen.
Mein Lieblingsbild war klein und hing im "Vorratskämmerli". Es hängt nun in unserer Wohnung. Am unteren Rand ist zu lesen:"Des Jägers Begräbnis, nach einem Original-Aquarell für die "Deutsche-Zeitung" von Joh.Geberts, Düsseldorf." Das Bild trägt den Titel "Ihm ist wohl und uns ist besser" Vier Hirsche tragen den Sarg des Jägers und viele Tiere erweisen ihrem toten Feind die letzte Ehre. Der Fuchs führt mit einem Buch zwischen den Vorderpfoten den Trauerzug an. Ein kräftiger Hase hat das Grabkreuz geschultert. Zuhinterst trottet das Pferd mit dem Gewehr des Jägers und zwei Jagdhunden. Sie sind traurig. Sie gehören nicht zu dieser Gesellschaft von wilden Tieren, aber sie lassen sich nicht davon abhalten. Wer gibt ihnen nun Futter? In der Luft viele Vögel, auf dem Sarg der Uhu und das Eichhörnchen, stolz daneben zwei Hirsche mit mächtigem Geweih, am Boden viele Hasen und allerhand kleine Tiere. Im Vordergrund marschiert das Wildschwein, eine Schaufel geschultert, gerüstet um den Sarg zuzudecken.
Das Wildschwein hatte es mir angetan. Ich wollte mit dem Grossvater in den Wald, um eines zu suchen, doch er antwortete mürrisch: "Wildschweine gehören ausgerottet, genau wie die Bären und die Wölfe." Ausgerotte hiess, alle sind von den Menschen absichtlich getötet worden, weil sie schaden. Das Kind: "Grossvater, dann sollten wir auch die Mäuse und Ratten ausrotten, weil sie uns schaden. Und die Fliegen und die Spatzen.""Mit den kleinen Tieren ist das so eine Sache, weil es so viele sind und sie sich schnell vermehren," lautete die unbefriedigende Antwort. "Könnten wir nicht alle vergiften, alle Ratten in allen Häusern einfach vergiften?" so das Kind. Der Grossvater hatte etwas gegen Gift. Er sagte: "Es genügt, wenn Tiere wie der Fischotter, das Wiesel, der Uhu, der Eisvogel, das Rebhuhn aussterben, weil wir immer mehr werden und immer mehr wollen und immer älter werden. Diese Tiere haben keinen Platz und keine Ruhe mehr." "Die Tiere brauchen Platz und Ruhe," dachte das Kind, "darum müssen wir im Wald auf dem Weg gehen und ruhig sein, sonst sterben auch die Hasen aus, und dann gibt es keine Osterhasen mehr." Es lachte, der Osterhase, das war doch ein Mensch. Übrigens auf dem wunderbaren Bild mit dem Hirten und den Schafen gab es keinen einzigen Hasen und keine Tiere ausser einem Hund und den Schafen. Komisch nicht?
In der Primarschule haben wir dann viel über diese Themen gesprochen, nicht systematisch, nur einfach so, wenn es sich ergab. So brachte beispielsweise Lisbeth an einem Montagmorgen ein kleines totes Tier, das niemand kannte. Der Lehrer suchte in allerlei Büchern herum und fragte in der Stadt nach. Es war ein Siebenschläfer. Oder nach den Sommerferien informierte der Lehrer uns mit Freude über die Steinböcke, die in den Alpen neu angesiedelt worden waren, und die er mit dem Feldstecher beobachtet habe. Ob die sich vermehren und durchsetzen können, das schien ungewiss.
Sie schaute das Bild vom Begräbnis des Jägers immer wieder an. Die Tiere spielten Menschen. Sie, das Kind sprach manchmal mit den Tieren auf dem Bild, die Menschen spielten.
Hattet ihr einen Notvorrat?
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Hattet ihr einen Notvorrat?
Es tat gut zu wissen, dass wir genug Hörnli (= die damals gängige Form von Teigwaren), Reis, Öl und so Sachen im Keller und im Kasten in der Nebenkammer hatten, weil man ja nie wusste. Der Grossvater und Grössi schienen Mama nicht so ganz gern zu haben, das spürte ich immer wieder, aber sie schätzten ihre Vorratshaltung. Deshalb tat mir dieses gemeinsame: "Wir haben genug," tief drinnen doppelt wohl.
2016, 31. Dezember: Sie hatte genug geschrieben. Nach den Abendnachrichten hatte sie gegen das Einschlafen zu kämpfen. Wie herrlich wäre es doch, schon kurz nach 20 Uhr auf dem Sofa vor dem Fernsehapparat langsam ... ! Doch nein, nichts da, sie wollte nicht um drei Uhr morgens wach im Bett liegen. Sie suchte nach Alternativen: Stricken, aber was? Kaufen war billiger und attraktiver. Der Hometrainer kombiniert mit einer einigermassen spannenden Fernsehsendung? Sie wusste, nach nur 15 Minuten gab sie wieder auf. Weitere Texte für das meet-my-life Progamm schreiben? Nein, sie hatte ohnehin Angst vor dem Korrigieren. Kleinigkeiten, Nuscheleien (= Unklarheiten) verbessern, dazu hatte sie keine Lust? Wie hätte sie schon in den über 100 Seiten, die passenden Stellen finden können? Sie machte sich doch immer wieder hinter ihre Schreibereien, und dies meist bald mit einem guten Gefühl. Ende
2017, 1. August 10.30  Ja, Schreiben schenkte ihr immer wieder ein gutes Gefühl, selbst das so gefürchtete Durchlesen und Korrigieren. Sie blieb dran. Das freute sie immer wieder. Ende.
Der Notvorrat: Damals, als Kind erfreute mich unser Notvorrat täglich. Ich brauchte nicht in den Keller oder auf den Estrich zu gehen, ich wusste, dort lag er. Dass so etwas nötig war! Scheusslich! "Man spürt es deutlich, es liegt etwas in der Luft," das Wort "Krieg" wurde gemieden. Das Etwas, das Westeuropa ein Leben lang verschont hatte, zwang uns bis in die Mitte der sechziger Jahre, immer einen Notvorrat zu halten und diesen auszuwechseln.
Als Erstklässlerin war ich stolz, dass ich bald die Daten auf den Vorräten lesen und die frisch gekauften Flaschen Rabsöl selbständig anschreiben konnte. Wir schrieben nicht die langen Monatsnamen. Nein, nein, die Monatsnamen wurden in die Zahlen eins bis zwölf verwandelt. Eins = Januar, zwölf = Dezember. Die Zahlen bis gegen hundert konnte ich nach wenigen Wochen Schulunterricht lesen. Kein Vergleich zur Mühsal mit dem Buchstabenlesen!
Das Nachttischlein des Vater?
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Das Nachttischlein des Vater?
Die Nachttischlein der Eltern waren niedrig und standen neben ihren Betten. Sie reichten den Grossen bis zu den Knien.
Vaters Nachttischlein hatte oben eine flache und darunter zwei tiefere Schubladen. Schön von Mama platziert, türmten sich in der untersten Schublade vorne rechts die älteren Unterleibchen, dahinter die neueren und vorne links daneben ausgetragene Unterhosen, dahinter die neueren. Die älteren Sachen, die auf ihr nächstes, vielleicht letztes Tragen warteten, bevor sie als Putzlappen ein anderes, ein abenteuerlicheres Leben beginnen durften. Papa und ich waren uns nicht einig, was interessanter sei, Unterhosen eines Mannes im besten Alter zu sein oder als Putzlappen auf Wanderschaft zu gehen. Papa lachte verschmitzt, als ob er mehr wüsste als ich. In der mittleren Schublade links, ganz unten eine Dächlikappe, darauf lagen Mütze, Halstuch und Handschuhe. Rechts viele, viele Socken. All diese Dinge waren geeignet um Verkleiderlis zu spielen.Und die oberste Schublade? Schaut her, das war die Heimat von allerhand wichtigem Gerümpel, wie Mama sich ausdrückte. Hosenklammern immer zu zweien, Kravattenklammern, Manschettenknöpfe, Füllfederhalter, Papa's Lesebrille, ein Metermass, Schnurstücke, Schrauben, ein rundes und ein rechteckiges "Spiegeli", kleine Kämme, mehrere Radiergummis, allerlei Schreibutensilien - und - und - ganz hinten zwei säuberlich zusammengebundene Päckli, zwei Stösse von Briefen, einer in rosa der andere hellblau. Das sind? Nein, das waren? Papa hatte es mir gesagt, das waren ihre Liebesbriefe, die sie während dem Aktivdienst ausgetauscht hatten, und die er aufgehoben hatte. Mama hätte sie weggeworfen, weil ihr ein Platz dafür fehlte. So lagen sie nun schön neben einander hinten in Papas Schublade "und sprachen miteinander," Papa schüttelte den Kopf: "Dummes Zeug, die Briefe sprechen doch nicht miteinander. So was gibts nur in deinem Kopf. Verstanden, in meinem Nachttischlein haben deine Hände nichts verloren." Auf der Deckplatte, auf dem Zierdeckeli stand der grosse Wecker, daneben lag die grüne Bauernzeitung. Exemplare, die er aufheben wollte, schob er unter das Nachttischlein. Eine und nochmals eine, bis Mama den ganzen Stapel an einem regnerischen Sonntag auf den Stubentisch warf: "Bitte weg damit!"
Als ich in der Schule Schnürlischrift (= verbundene Schrift) gelernte hatte, wartete ich lange auf einen günstigen Moment, um die verbotenen Liebesbriefe zu lesen. Ich sass auf der Bettvorlage neben Papas Bett, öffnete das blaue Band und zog einen blauen Bogen aus dem gefütterten Briefumschlag. Ich war aufgeregt. Da stand: 1. Mai 1943, liebe Marthy. Ich zögerte. Erst vor wenigen Tagen hatten wir in der Schule darüber gesprochen, dass es Dinge gibt, die man aus Anstand nicht tut, auch wenn dadurch niemand zu Schaden käme. Die Liebesbriefe der Eltern zu lesen, das war so ein Ding. Das Weglegen fiel mir leicht, denn Papas Schrift war ohnehin schwer zu lesen.
Und das Nachttischlein der Mutter?
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Und das Nachttischlein der Mutter?
In der Zeit als Afrikaner noch Neger hiessen, stand im Nachttischlein neben dem Bett einer jeden rechtschaffenen Mama ein Nachttopf. Als die engen Kammern im oberen Stock der Häuser bei Kälte noch nicht von einer zentralen Heizung angenehm warm geheizt und elektrisch beleuchtet werden konnten, als Strom zu haben, noch ein Luxus war, da trugen die Mamas, wenn sie hatten, weite, lange Nachthemden. In so einem wehenden Nachtgewand konnte einer Mama doch nicht zugemutet werden, bei Dunkelheit und Kälte die Treppe hinunter, - wenn sie schnell, schnell musste - zum rechten Örtlein zu eilen. Sie hätte etwas umwerfen, fallen oder sich erkälten können. Der Topf löste all diese Probleme.
2017 wurde dieses Örtlein Toilette genannte. Es war geheizt, per Knopfdruck beleuchtet und per Knopfdruck wurde alles mit Wasser weggespült. Kein Zeitungspapier, nein ausgerüstet mit verschiedenen Hygieneartikeln je nach Stand der Familie.
Der Tatsache, dass jener Topf damals täglich halb voll und ohne Deckel zum weit entfernten Plumpsklo zu tragen war, wurde keine Beachtung geschenkt. Das war in allen Häusern üblich, und zählte zu den Dingen, die man, wie wir in der Schule gelernt hatten, übersah und nicht erwähnte. Neben dem Nachttopf stand da ein zweiter Topf für die monatlichen Frauensachen. Dieser wurde mit einer Schachtel unter dem Nachttischlein ergänzt. So hatte Mama im Bedarfsfall alles beisammen.
2017 Eine Frage: Sind die kleinen Fräuleins, die in Kindertagesstätten von professionellen Erzieherinnen gezielt gefördert werden, noch so informiert, wie wir damals nach dem Krieg? Ende. 
Es blieb noch die flache Schublade oben. Da gehörten Mamas Sonntagstaschentücher hin. Wenn sie diese persönlich in der Stube geglättet und selber zusammengefaltet hatte, durfte ich sie sorgfältig in den obern Stock tragen und verstauen. Die Schublade war voll? Soviele Sonntagstaschentücher hatte meine Mutter doch gar nicht! Was war da noch? Richtig, hier hielt Mama ihre Heftli mit den Liebesromanen versteckt, die sie manchmal - viel zu selten - von einer Bekannten aus der Stadt ausgeliehen bekam. Falls ich ihr Geheimnis gut zu hüten wüsste, so stellte sie mir in Aussicht, würde sie dieses süsse Vergnügen später mit mir teilen. Dazu musste ich natürlich zuerst gut lesen lernen. Für ihre Unterwäsche, ihre Strümpfe, Socken und die BHs waren die Schubladen der Wäschekommode reserviert.
Wie waren wir, die Kinder und die andern Hausbewohner organisiert? Wo und wie wurden unsere frisch gewaschenen, sorgfältig gebügelten und schön gefalteten Kleider gestapelt?
Und die Schubladen der Kinder, hatten die überhaupt welche?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Und die Schubladen der Kinder, hatten die überhaupt welche?
 Natürlich hatten wir Schubladen! Wir mussten doch unsere Wäsche verstauen können! Wir liessen nach dem Waschen und dem Abnehmen die Sachen nicht einfach in einer Zaine (= geflochtener Behälter, Korb) liegen, in der alle nach Belieben bei Bedarf wühlen durften. Die Mutter hatte Ordnung ins Haus gebracht, was Grössi freute, auch wenn sie es  nicht zugab. Unter Berta Bachofner selig soll auch Ordnung geherrscht haben.
Unsere Schubladen waren in der Stube, wo wir uns ja auch anzogen und am Abend ein wenig wuschen. Schwesterchen hatte die obere Schublade des Sekretärs ganz für sich, denn da gab es, neben den Bébé-Sachen viele Windeln. Das Wegtragen übernahm ich mit Freude und Stolz, wenn Mama mir diese Schublade aufzog und die glatt gestrichenen und gefalteten Windeln an der Tischkante zum Fassen bereitlegte. Eine nach der andern sorgfältig gefasst und weg an ihren Ort damit!
In der Kommode neben dem Sekretär waren vier weitere Schubladen zu verteilen. Die oberste war für Gesellschaftsspiele und für die Erwachsenen reserviert. Die zweite besetzte Papa mit ...  Gerümpel, wie Mama knurrte. "Nein, Sachen, die ich in Griffnähe brauche und die gemäss deinen Vorstellungen, liebe Frau, nicht auf der Bank oder irgendwo warten können," konterte Papa. Solche kleine Wortwechsel, 2017 Dialog genannt, legten die Befindlichkeit der Eltern offen und verrieten ihre Stimmung als Paar. Wir kannten die Situationen und wussten uns zu richten. In die dritte Schublade gehörten unsere Nastücher. Gebügelt, gefaltet, mit Nämeli versehen, in  kleinen Stössen lagen sie dort. Daneben die Sachen des Bruders. Da er grösser wurde, und um Streit zu vermeiden, wanderten die Taschentücher von Grössi und Chueri schliesslich in deren Kammer. Auch der Lehrling nahm seine zu sich, und Mama bestimmte, dass der Bruder seine Sachen selber in seine Schublade zulegen hatte. "Wie ein Mädchen," giftelte Grössi, denn sie sah das gar nicht gerne, und Papa unterstützte Mama sogar in dieser Haltung.
Ich regierte in der untersten Schublade. Zu meinem Reich gehörten viele damals nötige Sachen (Einschübchen: Liebe Lesende oder Hörende, für Menschen, die in der Zeit nach 2030 geboren werden, mag dies schwer verständlich sein.) Darin durfte nur im Notfall gewühlt werden! Ganz links die alte Kartonschachtel mit allerhand Bändern, Bordüren, Zackenlitzen, Goldzickzack und Nämeli (Bänder aus Namensetiketten zum Abschneiden); diese Sachen galt es bei Regenwetter immer wieder zu ordnen. Auf Gleiches wartete die Schachtel mit den Schuhbändeln: Braun, schwarz und weisslich - neue und gebrauchte - breite und schmale - runde und flache - mit und ohne Stift zum Einziehen - alles, nur nicht das, was man suchte. Weiter ein kleiner Sack mit überzähligen, meist hässlichen Knöpfen und ein schönes "Blechtrückli" (= eine kleine Blechschachtel) mit einem Deckel, den man nur mit Mühe öffnen konnte, darin Spulen und kleine Rollen mit farbigem Faden. Diese wurden selten gebraucht, denn wir trugen alle zu den Sonntagskleidern Sorge und nur für eine Reparatur an diesen, da hätten wir passenden Faden in jenem Blechtrückli gesucht. Nun, auch für mich, für meinen Körper hatte ich allerhand. Die vielen missachteten, handgestrickten Unterhosen wollte ich immer zuerst tragen, um die beiden wunderschönen, in der Stadt gekauften zu schonen. Eins von diesen zwei schönen Unterhöschen führte ich gelegentlich voller Stolz spazieren und dann fragte mich Papa neckisch: "Mein Fräulein, mein Fräulein, was gehst du da mit geradem Rücken und erhobenem Haupt über den Hofplatz? Hat sich ein Prinz angemeldet?" "Woher wusste er, dass ich ... ", ich schwieg und schaute auf die andere Seite. Zwei weitere Paar Höschen mit je einem passenden Hemdchen, alles aus feinem Trikot hielt ich in unberührtem Zustand versteckt als Notvorrat. Sicher war, zu Weihnachten wünschte ich mir weitere solche Garnituren. Ich war entschlossen darauf zu achten, dass sie dann in der Tüte belassen wurden, damit ich sie Besuchern nicht nur zeigen, sondern ungeniert in die Hände geben konnte. Waren sie noch verpackt, durften Gäste gerne an deren Neuheit, die noch ein Hauch von Stadt umgab, schnuppern. Meine Schürzen und Pullover, die hatte ich wie Erwachsenen in meiner Kammer.
Einschub: Noch und noch schüttelte sie den Kopf. Welche Ähnlichkeit mit einem Erlebnis im Sommer 2016 im Kongo! Während ihrem Besuch in den abgelegenen Dörfern am Fluss Kwenge im Mai 2016, hatte sie fünfundzwanzig nigelnagelneue 20$-Scheine bei sich getragen. Anlässlich der Vergleichsverhandlungen vor dem Tribunal Coutumier in Bumba am 26. Mai 2016 offerierte sie diese 500$ als Vorleistung an die sog. Schadloshaltung der Gegenpartei unter dem Titel: "Ich kann mir den Frieden leisten, ich brauche keinen Krieg." Schweigen in der Runde. Wie der Ortsgebrauch es verlangte, zählte sie die Noten und reichte sie dem CHEF de Terre. Unter aller Augen zählte er sie auch und gab sie an den Polizeioberkommandanten weiter. Dieser liess sie sich auf die Handflächen legen. Er schaute sie lange an, hob die Hände an, senkte den Kopf und gab ihnen durch die Luft einen Kuss. Nun streckte er das Bündel in die Höhe und liess es in den Händen eines der vier Polizeikommandanten landen. Schweigen in der Runde. "Madame, danke. Noch nie hatte ich ein solches Vergnügen," er verneigte sich leicht und sagte: "Wenn sie keinen Widerspruch erheben, lassen wir dieses Notenbündel zirkulieren. Alle anwesenden Polizisten dürfen es berühren, nicht wahr." Sie hatte genickt und gemeinsam mit dem Chef de Terre bat sie die Gegenseite mit kleinen Handzeichen um Geduld. Schweigen in der Runde. Das Geld zirkulierte, es wurde betastet und beschnuppert. Die Gegenseite wurde langsam und zunehmend unruhiger. Da nahm der Chef de Terre die Noten wieder an sich und legte sie auf die ausgestreckte Hand ihrer stolzen Gegnerin. Die Schöne stand gerade und hatte den Kopf zur Seite gedreht. Der Chef de Terre ihres Dorfes und eine ganze Entourage hatten sie begleitet. Ein Vertreter ihres Dorfes hatte die Noten für sie gezählt und auf französisch den Empfang bestätigt. Unter der heissen Mittagssonne löste sich die schweigende Runde von über hundert Leuten auf. Einschub Ende.   
2017: Nach der Übertragung des Neujahrskonzerts der Wiener Philhalmoniker überflog sie kurz all diese Schubladen-Geschichten.
Und wie hielten es Grössi und Chueri selig mit der Unterwäsche?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Und wie hielten es Grössi und Chueri selig mit der Unterwäsche?
Ich wusste, die Mutter wies beim Abschluss des Lehrvertrags mit den Eltern oder dem gesetzlichen Vertreter unserer angehenden Lehrlinge regelmässig darauf hin, dass sie neben den üblichen Kleidern sechs Unterhosen erwarte.
Auch war mir bekannt, dass Papa schon vor der Heirat um seine künftige Unterhosen-Trage-Pflicht wusste. Überhaupt, über dieses Thema wurde nicht gesprochen, es wurde gehandelt. Chueri sei dankbar gewesen, dass sie im welche geschenkt habe. Was Chueri selig noch hatte, als sie ins Haus kam, sei alt und sehr, sehr ausgetragen gewesen und Mama vermutete, dass BB (= seine erste Frau, Berta Bachofner) ihm diese damals in grosser Zahl und guter Qualität gekauft hatte. "So hoffärtiges Zeug brauchen Leute wie ich nicht jeden Tag, ich habe sonst genug Arbeit und brauche die ewige Wäscherei mit dem ganzen Drum und Dran nicht," knurrte Grössi. Als wir dann stolze Besitzer einer vollautomatische Waschmaschine waren, wechselte Grössi ihre Gewohnheiten, sie war gezwungen ihre Gewohnheiten zu wechseln. Denn, wie peinlich es ihr auch war, jammernd erklärte sie mir ihre "Fortschritte" in Sachen Älterwerden: "Glaube mir, die Alten werden tatsächlich wie Kinder." Dann zögerte sie und meinte kopfschüttelnd: "Ich bin unten nicht mehr ganz dicht, wenn das so weitergeht !!!" Im Winter trugen Männer zwei Paar Hosen übereinander. Wenn Schnee lag und es richtig kalt war, schätzten Frauen und Mädchen grosse, handgestrickte, wollene Unterziehhosen. Ausser in der Stube in der Nähe des Kachelofens war es überall kalt. Also warm anziehen. Das nützte mehr als langes Fragen.
Unterleibchen? Wenn es kalt war, ein neues über ein altes Hemd, dann ein Pullover und eine Jacke. Halstuch, Mütze, Handschuhe, zwei Paar Socken und tüchtige Winterschuhe. Und Nachtgewand? Man habe sich teilweise ausgezogen und sei unter den Laubsack geschlüpft. Mehr konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Chueri selig trug in den letzten Tagen im Bett gute Hemden von Papa und sah ganz schmuck aus. Grössi bekam aus Mamas Erbschaft, von den Tanten, die wie Knaben die Sekundarschule besucht hatten, drei schöne handgenähte, bestickte Nachthemden aus dickem Barchent. Sie fand diese wunderbar und fühlte sich fast im Himmel.
Uns hatte Mama auch solche herrliche Nachthemden genäht. Und - zu Weihnachten vor Schuleintritt hatte der Bruder von seinem Paten einen viel zu grossen tollen Schlafanzug als Geschenk erhalten (= ein Pyjama aus Barchent). Schwesterchen stämpfelte und eine ungeübte Tante ergriff die Gelegenheit beim Schopf. Ihren Traum, für ihren eigenen Sohn im Nähkurs des gemeinnützigen Frauenvereins Hose und Jacke zu nähen, traute sie sich nicht umzusetzen. Deshalb schneiderte sie für Schwesterchen gleich zwei Nachtanzüge auf Ostern. Mit dieser Erfahrung nähte sie nachher für ihren Buben einen rassigen Anzug. Meine Lesenden: Wie hielten es Ihre Vorfahren mit der Unterwäsche?
 
Weisst du noch, wie die Küche ausgesehen hat?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Weisst du noch, wie die Küche ausgesehen hat?
MML-Zusatzfrage: Welche Rolle spielte sie für dich und das Familienleben?
In der Küche hatten wir einen Wasserhahn und einen Steinplattenboden. Sie war geweisselt und wir weisselten sie jedes Frühjahr frisch. Wir assen zwar in der Stube, aber vieles, vieles wurde in der Küche erledigt. Links hinten stand der niedrige Kochherd mit zwei offenen Feuerstellen und einem Wasserschiff. Selbstverständlich kochten wir mit Holz, unsere Pfannen waren aussen russig und wir hatten sorgsam damit umzugehen. Vorsichtshalber stellte ich sie immer auf die Aschentruhe neben dem Herd. Ich habe diese Pfannen als schwer in Erinnerung, und sie mussten schnell gewechselt werden, damit nicht unnötig viel Rauch in die Küche kam. Dies zu beachten war besonders wichtig, wenn das Wetter schlecht war und der Rauch nicht gut abgezogen wurde.
Über der Aschentruhe konnte man die Türe des Kachelofens öffnen und Holz zum Heizen oder Backen einschieben. Rechts hinten stand die Zaine mit den Scheitern zum Kochen. Diese musste abends immer gefüllt werden. Dicht daneben rechtwinklig angeschlossen unter dem Geschirrgestell hatten die Finken, die Arbeitsschuhe und die Sonntagsschuhe abwechselnd ihre Plätze. Darüber das übliche Geschirr inkl. fünf schöne Teller mit erbaulichen Sprüchen. Wir benutzten diese Teller nur, um zufälligen Besuchern eine Kleinigkeit anzubieten, das war Routine, genau so wie die Hand zum Grusse zu reichen. Wer zur Zeit der Mahlzeit kam, war eingeladen mitzuessen. Ein Stuhl mehr, ein Teller mehr und wir teilten.
Auf dem Tisch links vorn beim Fenster stand das Milchbecken. Es wurde abends mit frischer, kuhwarmer Milch gefüllt, damit diese über Nacht aufrahmte. In der rechten Ecke im hölzernen Geschirrständer warteten immer irgendwelche Gegenstände auf das Abtrocknen und Verräumen. Einen Eisschrank vermisste nur unser Vater. Neben dem Tisch stand ein Taburettli (= kleiner Holzhocker). Darauf stellte Grössi das grosse Becken und holte hinten in der Küche heisses Wasser zum Abwaschen. Dann folgte zum Gemüse rüsten, für die Körperpflege, für die Feinwäsche, zum Waschen der Hände vor den Mahlzeiten, und für vieles mehr der grosse, niedrige Schüttstein mit Wasserhahn. Warmes Wasser durfte man bei Bedarf, und wenn nicht zu viele Leute in der Küche irgendwie beschäftigt waren, im Wasserschiff holen, was als grosse Erleichterung galt. An der Wand daneben hingen ein kleiner Spiegel zum Kämmen, dann ein Brett mit Küchenutensilien wie Kellen, Raffeln, der Kabishobel und die grossen Messer. Dank dem elektrischen Licht konnte man in der Küche auch einen ersten Blick in die Zeitung werfen, gelesen wurde später in der Stube. Zwei Strassenlampen beleuteten den Gang, die Treppe und die andern Räume.
Am Samstag wurden die Kinder in einem kleinen Holzzuber in der Küche gebadet, nass in die Stube getragen, trocken gerubbelt (= spielerisch und kräftig gerieben), sauber eingekleidet und die Treppe hoch ins Bett spediert (damit sie ja auch sauber blieben). Die Erwachsenen wuschen sich auch gelegentlich in der Küche, dazu schloss man im Winter die Läden. Durchs Küchenfenster hatten wir Sicht auf die vielbefahrene Dorfstrasse. Dort zählten die alten Frauen sonntags bis zu sieben Autos pro Stunde.
Wie war es draussen? Gab es einen Hof oder einen Garten?
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Wie war es draussen? Gab es einen Hof oder einen Garten?
MML-Zusatzfragen: Was waren deine Lieblingsplätze und weshalb?
Draussen entstand das Lebenswerk meiner Eltern, sie bauten auf. Aus fast nichts und mit fast nichts entstand ein moderner, grosser Bauernhof für ihren Stammhalter. Ich war stolz darauf und trug gerne etwas dazu bei. Doch ich, ich wollte in die Sekundarschule. Weiter, weiter, schnell, schnell.
2017, 22. November Sie war wieder am Korrigieren. Es heisst doch so schön: keine Regel ohne Ausnahem. Alos entschloss sie sich mehrere Einschübe und Bezüge zur Gegenwart zu markieren und zu löschen: Weg damit, viel zu schulmeisterlich!
Unser Land, das grösste? Wurde es immer kleiner?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Unser Land, das grösste? Wurde es immer kleiner?
Zuerst: Unser Haus, unser Garten, unser Hof, unser Dorf, alles wurde immer grösser. Eine Glückseligkeit. Mein Land war das grösste. Wie hätte das anders sein können! Unser Land war überall. Wir hatten wir hatten viele kleine Landstücke gekauft. Fertig!
Etwas später: "Dass wir nicht eine der vier Grossmächte waren", das verstand ich lange nicht. Ich wollte es nicht verstehen, trotz aller gutgemeinten Erklärungen. "Das musst du glauben," verlangte mein Vater. Ich schwieg und glaubte nicht und begann langsam zu verstehen und verstand nach langen Jahren des Beobachtens. Hart, so klein zu sein. "Dieses Pünktlein auf dem Globus, das ist die Schweiz," das lernten wir in der vierten Klasse.
Und draussen entstand das Lebenswerk meiner Eltern, sie bauten auf. Aus fast nichts und mit fast nichts entstand mit viel Einsatz, Beharrlichkeit, Mut und dank glücklicher Umstände ein moderner, grosser Bauernhof für ihren Stammhalter.
Papa dachte an Land, Mama an die viele Arbeit und ich an die Sekundarschule. Täglich hüpften wir weiter.
Wohnte noch jemand bei euch?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wohnte noch jemand bei euch?
Wir wohnten zusammen mit den Eltern des Vaters: Ein nicht immer harmonisches Unterwegssein mit wechselnden Loyalitäten. Jeder und jede suchte einen Platz an der Sonne. Ich habe gelernt den Halbschatten zu schätzen. Ich hatte den Eindruck, dass uns im Vergleich zu andern Familien sehr viel Platz zur Verfügung stand.
Zu unserer Familie zählte ferner jedes Jahr ein anderer Teenager, der bei uns das landwirtschaftliche Lehrjahr absolvierte und gelegentlich ein Landdienstmädchen. Regelmässig as die Tagelöhnerin und ihre Kinder mit uns.
Erinnerst du dich an deine Spiele? Was oder womit spieltest du/spieltet ihr besonders gern im Haus oder im Freien?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Erinnerst du dich an deine Spiele? Was oder womit spieltest du/spieltet ihr besonders gern im Haus oder im Freien?
MML-Zusatzfrage: Was für Spielzeuge hast du noch aus jener Zeit?
Leben mein Spiel, Spiel mein Leben. Es war schön. Wir spielten überall und jederzeit. Wir imitierten die Erwachsenen. Stecken, Holzstücke, Lappen und Tücher konnten sich in alles verwandeln. Wir spielten "Familie"in allen Variationen: Hochzeit, Geburt, Taufe, Tod, Weihnachten, Umbau, Umzug, Verkäuferlis, Krieg und Schüler/Lehrerlis. Wir improvisierten. Alles konnte alles sein, es brauchte nur benannt zu werden.
Doch keine Romantik! Es ging nicht immer harmonisch zu. An den Lehrer brauchten sich weder wir Kinder noch die Erwachsenen zu wenden. Er mischte sich nie in einzelne Auseinandersetzungen ein. Aber, erfuhr er von heftigen Streitereien, erfand er passende Sprach- und Übersetzungsübungen. Er schrieb jeden Tag einen kurzen Satz in Schriftdeutsch auf die Wandtafel, und wir versuchten, diesen gemeinsam in den Dialet zu übersetzen. Das war sehr schwierig, doch es machte mir Spass. Ein Beispiel: Es kam wieder zu Prügeleien innerhalb der Kinderschar (im Dialekt: d'Goofe händ enand wieder abgschlage). Sie quälten sich gegenseitig und verstanden es, Gotthold auszulachen, bis er weinte ( im Dialekt: Sie händ enand plaged und händs erlikt, dä Gödi zhänsle bis er glätschät hät). Sie haben Herrn Schneider geärgert, bis er laut wurde. Dann sind sie fortgerannt und weiter gezogen (im Dialekt: Si händ em Schneider zleid gwächet bis er täubelet hät. Dänn sinds fortkeibt und witer strielet). Ich staunte über die Unterschiede zwischen Dialekt und Schriftsprache.
Meine Mutter liess mich zu selten mit der Kindergruppe des Dorfes ziehen. Deshalb gehörte ich nicht so ganz dazu, was mir sehr leid tat. Zudem war ich oft nicht in der Lage oder nicht bereit, den Einsatz für einen guten Platz zu leisten. Ich war zu müde. Eine gute Ablenkung brachte mir ohnehin, wenn ich mich mit den Tieren im Bild "Des Jägers Begräbnis" unterheilt. Wenn Mama Konfitüre, Bürsten oder geräuchertes Fleisch holte, so war dies eine Gelegenheit, das Bild kurz anzusehen. Ich stellte den Tieren Fragen: "Warum trottet ihr so langsam hinter dem Fuchs her? Warum lacht und tanzt ihr nicht?" Der Tierchor: "Wir sind müde, müde von der Flucht vor den Kugeln des Jägers." "Fertig, erschöpft, aufgebraucht." murmelt sie. Oft ging es mir wie den Tieren, ich war zu müde zum Spielen.
Fragte mich ein Besucher: "Was spielst du gerne?" so erwähnte ich meinen eigenen kleinen Garten: "Ich pflanze Zinnien und die wachsen prächtig. Die Schnecken haben meine vier Salate abgefressen. Macht nichts!" Dann ein Griff unter den Kachelofen: "Schau, hier meine eigene voll ausgerüstete Stoffschachtel mit Schere, Nadeln, Faden, Fingerhut - und - ich kann kochen. Da bleibt mir gar nicht soviel Zeit zum Herumspielen."
2016 Sie beschloss, sachte, leise und schnell, mit einem Blick hier und einem Blick dort durch ihre Spielwelt zu huschen und weiter zu fliegen. - - - Ein Glück für mich, dass die Erwachsenen damals gar nicht ahnten, wie gut ich es verstand, mein Leben in ein Spiel, ein Vergnügen zu verwandeln. Erledigte ich meine Pflichten allein, begannen die Gegenstände zu sprechen oder die Tiere aus dem Bild "Des Jägers Begräbnis" besuchten mich. Sie waren nicht scheu, denn sie wussten, dass ich ihnen nichts tat.
Doch stopp! Mit ihren über siebzig Jahren war sie noch immer im ersten Kapitel! Wo führte das hin!
Was gab es denn für richtiges Spielzeug? Wir hatten alles.
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was gab es denn für richtiges Spielzeug? Wir hatten alles.
Mit Genugtuung stellte ich in der sechsten Klasse fest: Wir haben alles! Liebe Lesende: Achtung, fertig, los und schon hüpfen wir gemeinsam durch all unsere vielen Sachen. Da gibt es kein Verweilen. Darin bin ich geübt, denn häufig war ich damals müde und lag im warmen Bett oder auf dem Sofa und stellte mir all die vielen Sachen vor, die wohl geordnet im neuen Kasten in der Nebenkammer aufbewahrt wurden. Nach dem Spielen in Gedanken brauchte nichts verräumt zu werden! Welch grosser Vorteil!
Ein grosser Sack Bauklötze, ein Spielmagazin, Mikado, Elf herraus, Mühle, Jasskarten, drei Malbüchlein, drei kleine Zeichenblöcke, drei Kinderscheren, Leim, Farbstifte. Alle konnten und durften mit allem spielen, auch mit den Bubensachen. Die da waren eine elektrische Eisenbahn, eine Dampfmaschine mit Meta-Tabletten, ein Meccano-Kasten, eine Laubsäge mit allem Drum und Dran, der Werkzeugkasten des Vaters, Skier für die Kleinen. Was hatten die Mädchen? Das Schwesterchen und ich, wir hatten beide eine Handtasche, Puppen, ich deren vier, Schwesterchen dafür einen wunderbaren Teddybär. Von ihrem Paten zudem die flauschigsten Pyjamas, viel schönere als der Bruder von seinem Paten. Ich durfte die langen, geblümten Nachthemden von Tante Elise selig tragen. Kein Problem, dank dem Gummibandgürtel konnte sie zum Gehen hochziehen und stolperte nicht. Nachher im Bett, weg mit dem Gummiband, denn ich wollte vor dem Schlafen die Füsse einpacken. Wunderbar. Ein Kochherd mit Meta-Tabletten, Puppengeschirr, ein Verkäuferli-Laden, einen Puppenwagen. Auf besondern Wunsch hin erhielt ich ein Reise-Nähetui, ein Etuichen mit Nagelschere und Nagelfeile wie eine feine Dame, einen Kasten mit Deckfarben zum Anmalen meiner Laubsägearbeiten, einen Wunderknäuel, etwas zum Sticken mit passendem farbigen Garn, ein feines weisses Taschentüchlein zum Umhäkeln.
Wir hatten alles. "Sie haben alles", hiess es im Dorf. Wir hatten tatsächlich alles.
2017 März Was konnten wir zum Tauffest unserer zweiten Enkeltochter beitragen, was konnten wir schenken? Die beiden Kinder waren bereits reich ausstaffiert; dabei Ordnung zu halten, war bereits eine Kunst für die Eltern. Wir bezahlten das Taufessen.
2017 7. Juli Ein Auszug aus dem Mitteilungsblatt der Gemeinde Neftenbach, Juli/August / 36. Jg. / Nr. 7/8 Seite 13, Zitat:
"Der Spielzeugfreie Kindergarten -ein Projekt zur Suchtprävention für Kindergartenkinder
Zwischen den Sport- und den Frühlingsferien wurde in vier Kindergartenabteilungen das Projekt Spielzeugfreier Kindergarten durchgeführt. In diesem Projekt findet der Kindergartenalltag während mehreren Wochen ohne vorgefertigte Spielsachen und ohne Spielangebote von Erwachsenen statt. Die teilnehmenden Kindergartenlehrpersonen (Einschübchen: Diese genderneutrale Bezeichnug für Kindergartentante ist Teil des Zitates) und die Schulleitung ziehen eine positive Bilanz. Es sind viele gute Veränderungen sichtbar, und die Kinder haben in dieser Zeit viel gelernt:
  • Sie können kleine Konflikte alleine lösen.
  • Sie nehmen mehr Rücksicht aufeinander.
  • Viele Kinder sind selbständiger geworden.
  • Kinder, welche sich am Anfang nicht getraut haben, einem anderen Kind zu sagen, was sie möchten, können dies jetzt. Sie drücken sich genauer aus und können ihre Gefühle besser in Worte fassen.
  • Unter den Kindern wird viel mehr gesprochen. Sie tauschen sich aus, verhandeln und treffen Abmachungen.
  • Das Zurückstellen von eigenen Bedürfnissen zugunsten der Gruppe konnte geübt werden.
  • Kinder, welche vorher eher alleine gespielt haben, werden mehr integriert.
  • Die Kinder haben zufrieden und fröhlich gewirkt, und es wurde sehr viel aus vollem Herzen gelacht."Zitatende.
Sie staunte. Nun ein Wort an die im 21. Jahrhundert Geborenen: Ein Kind zu haben, das schien in jener Zeit ein Projekt zu sein. Die Eltern standen im Wettkampf: Ihr Kind musste zu den besten gehören; dafür setzten sie sich voll ein. Stundenplan und Kinderzimmer waren randvoll. Sie staunte.
Meine Lesenden, bitte versuchen auch Sie, die in der Überschrift erwähnten Fragen zu beantworten.
 
Und der Sandkasten?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Und der Sandkasten?
Der Sandkasten fehlte in meet-my-life.
Noch schnell ein wenig in den Sandkasten, das war mein Dauerwunsch. Berge, Tunnels, Flüsse, Seen, Überschwemmungen, Strassen, Kuchen, Torten, Hüttchen, Wolkenkratzer und vieles mehr entstand.
Doch meine Sandkastenwelt überspringen wir hier, sie kam ohnehin immer zu kurz.
2016 Der Sandkasten musste erwähnt werden, der war eine ihrer grossen Fantasiewelten. Er grenzte an die Strasse, die unser Haus vom Schulplatz trennte. Mit Vergnügen sass ich im Sandkasten und schaute den grossen Kindern zu, die plaudernd in die Schule gingen. Manchmal blieb eines bei mir stehen und half mir ein wenig bei meinen "schwierigen" Sandbauten. Auch die alten Leute interessierten sich. Was war Ihr Lieblingsspielzeug?
Was für Bücher gab es in deiner Familie? Durftest du sie anschauen?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was für Bücher gab es in deiner Familie? Durftest du sie anschauen?
Es gab allerhand Zeitungen für die Erwachsenen: die Grüne, den Schweizer Bauer, die Lokale, Das Gelbe Heft, gelegentlich das Missionsblättli. Die neusten Ausgaben blätterten wir mit den Grossen schnell, schnell durch. Sofern die älteren Exemplare nicht für WC-Papier oder zum Anfeuern gebraucht wurden, vergnügten wir uns damit und verwandelten sie in Hüte, Schiffchen oder gar Flugzeuge. Sicher blieb uns Das Gelbe Heft, denn sein Glanzpapier taugte zu nichts. Aber darin fanden wir viele farbige Bilder, die wir ausschnitten, um damit zu basteln.
2017 Vom Zoo-Buch, das Anlass für unsere erste grosse und fantastische Reise war, wusste sie nur, es war riesig und zerschlissen und eben Anlass für jene Reise. Bilderbücher für Kinder, daheim? Nein, das gab es nicht. Das kannten wir nicht und das vermissten wir nicht. Einzig - ich ging schon in die Schule - da staunten wir alle -  klein Schwesterchen fand im Geschenkpaket ihres  Taufpaten das Buch "Zehn kleine Katzen". Wir alle staunten. Ein Kätzchen nach dem andern fand den Heimweg nicht mehr, unglaublich. Der Pate hatte bestimmt, dass dieses Buch nur in Kinderhände gehört. Die Grossen hätten ihre Finger davon fern zu halten. Wir wachten streng über diese Anordnung. Natürlich, alle durften mit schauen, wenn Schwesterchen Seite und Seite umblätterte. Der Bruder und ich oder andere Kinder durften es auch anfassen oder mit den Fingern die kleinen Büsis streicheln. Die Erwachsenen dagegen nur sehen mit den Augen. Der Pate wollte das so, sein Wunsch war uns Befehl. Wir unterstützten Schwesterchen, wenn dies auch kein Leichtes war.
Um mir das Lesen schmackhafter zu machen, erhielt ich als Erstklässlerin zu Weihnachten "Häslein Hinkebein" und "Das hässliche Entlein". Vermutlich liegen die beiden noch irgendwo in einer Schachtel versteckt auf dem Estrich.
Meiner Mutter wurden gelegentlich Bücher ohne Bilder aus der Bibliothek gebracht. Die reich bebilderte Kinderbibel durften wir selten anschauen, schon gar nicht allein. Eine Bibel für Erwachsene vermisste ich, eine solche gab es in den Nachbarhäusern, bei den "guten Menschen", den Stündlern. Es war schon in Ordnung, nicht zu den guten Menschen zu zählen, aber ich wäre gerne das Kind einer Familie mit einer richtigen Bibel gewesen. Später fand ich heraus, wir hatten sogar mehrere Bibeln von früher, geschenkt von der Kirche zu den jeweiligen Hochzeiten, aufgehoben und verstaubt, in altem Druck. Ich hatte sie mehrmals beim sogenannten Aufräumen im Estrich kurz gesehen. Sie lagen in einer Schachtel. Mama hätte diese gerne weggeworfen, aber etwas hinderte sie daran. Unsere Blicke kreuzten sich und wir schoben die ganze Schachtel unberührt zurück unter den Schrank. Einmal kam Papa in einem solchen Moment hoch. Mama beantwortete seine Fragen mit ja und nochmals mit jaja. In verschnörkelten Grossbuchstaben stand das Wort Bibel auf zwei der schwarzen Bücher. In einem kleinen Buch sah ich einen Notenzettel, ich konnte ihn nicht lesen. Die Hochzeitsbibel der Eltern fand ich 2005, als ich Mamas Wohnung räumte.
2016: Diese Bibeln und die alten Kirchengesangbücher sind dann irgendwann verschwunden. Gegen dieses "Verschwinden lassen von Dingen" hatte sie nichts unternehmen können. "Erwischte" ich die Mama dabei und bettelte ich, hiess es einfach: "Deine Lumpenordnung ist schon gross genug" und weg war das Ding. Schade um die Dinge, das war mein Gefühl. Zum Glück etwas weniger, Mama war erleichtert. Die andern Familienmitglieder interessierten sich nicht für die Schätze aus der Vergangenheit. Einschub Ende.
Weiter, ich wusste, in der Kinderzeit meiner Mutter gab es Bücher. Ja, die Mutter hatte oft den Struwwelpeter und die beiden Lausbuben Max und Moritz erwähnt und sich geärgert, dass sie mir diese Geschichten nicht zu erzählen wusste. Ich wollte diese Bücher sehen, was mir Mama schliesslich versprach: "Erinnere mich beim nächsten Besuch "daheim" daran, gib mir einen kleinen Stoss, wenn wir über alles andere als meine Bücher (gemeint waren Mama's Bücher von früher) sprechen." Der Schubser gelang mir in so netter Art, dass die Erwachsenen neugierig wurden und ich mein Anliegen vor allen vorbringen konnte. - Und - dann die Antwort, - ich verzichte hier auf all das Schönreden und das Erklären der unabänderlichen Tatsachen und fasse kurz zusammen:" Die Bücher waren im Zwischenraum zwischen Stubendiele und Schlafzimmerboden verschwunden. Sie dienten als Isolationsmaterial" - und - der Hieb musste ja kommen: "Du kannst ja gar nicht richtig lesen wie wir alle."
 
 
Erinnerst du dich an Märchen, Gutenachtgeschichten, die man dir erzählt hat? Oder Kinderlieder, die man dir vorgesungen hat?
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Erinnerst du dich an Märchen, Gutenachtgeschichten, die man dir erzählt hat? Oder Kinderlieder, die man dir vorgesungen hat?
MML-Zusatzfragen: Wie hast du das erlebt? Wer war dein liebster Erzähler/deine liebste Erzählerin?
Der Wolf und die sieben Geisslein, Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Schneewittchen
und allerhand Tagesgeschehen, Politik und Dorfklatsch.
Meine Mutter erzählte nebenbei. Sie erzählte beim Kochen, beim Glätten, im Garten und auf dem Feld. Sie schien die Märchen auswendig zu kennen. Für Gutenachtgeschichten fehlten ihr Zeit und Kraft, doch wir beteten immer, sie streichelte uns und fuhr zum Schluss über die Bettdecke. Der Grossvater erzählte mir unglaubliche Geschichten von Amerika, über den Abraham irgendetwas, von den Indianern und den Negern. Stereotyp wiederholte er gewisse Sätze wie "Fluch den Weissen ihren letzten Spuren". Diesen Satz erinnere ich nur, weil ihn der Vater als Fluchwort brauchte. Zu verstehen begann ich ihn erst, als er mir als Verszeile im Gedicht "der alte Häuptling" in der Sekundarschule begegnete . Der Grossvater starb bevor ich sechs Jahre alt war. Einschub: All die vielen traurigen Sachen, die den Grossvater so empörten und über die er schimpfte, verstand ich erst im Laufe der Jahre. Den Namen Abraham hörte ich auch in einer andern grausamen, unverständlichen Geschichte in der Sonntagsschule, darum blieb er mir im Gedächtnis. Der Abraham des Grossvaters wurde wie ein Tier erschossen. Ich hörte dem Grossvater gerne zu, denn ich wollte mehr, mehr wissen. Was bedeuten die geheimnisvollen Wörter: "Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Der Grossvater sagte nur: "Das lernst du später." Fertig.
Die Mutter lehrte uns ein paar einfache Kinderlieder. Der Vater sang bei der Arbeit, er sang immer zuerst Militärlieder wie "Was rasslet i de Strasse, was chund so flott da her ....", "Ein Schifflein sah ich fahren", "Die Nacht ist ohne Ende, der Himmel ohne Stern", "Hoch auf dem gelben Wagen". Dann "Guete Sunntig mitenande, heisst's im schöne Schwyzer- land", "Nach em Räge schint Sunne, nach em Briegge wird glacht", "Lustig ist das Zigeunerleben" schliesslich meine Lieder von der Sonntagschule und vieles mehr. Und dann? Dann fing er wieder vorne an. Grössi sang, wenn ich das Singbuch heimbrachte. Den Grossvater habe ich nie singen gehört.
Das Singen hatte es so in sich. Es brachte mir viel Freude und ich sang zu Beginn gerne und viel, nicht Lieder. Ich kannte ja die Strophen nicht auswendig. Ich sang frei von der Leber weg in die Welt hinaus, was mir durch Herz und Kopf ging. Besonders wenn ich etwas tun musste, was ich nicht wollte, dann war Singen besser als schimpfen oder maulen. Doch das stiess auf wenig Gefallen, und ich wurde immer wieder aufgefordert, mein Geplärre zu stoppen. Nachdem ich in der ersten Klasse als "Brummli" an den Platz geschickt wurde, verstummte ich. Ich bewegte die Lippen ohne Ton.
Die Sonntagsschule durfte ich bereits im Alter von vier Jahren regelmässig besuchen. Ich verhielt mich ruhig, um ja nicht heimgeschickt zu werden, selbst wenn es mir langweilig war, weil ich die Geschichten nicht verstand. Ich legte einfach den Kopf auf den Tisch, lutschte am Finger und genoss das Gefühl, die Grosse zu sein. Wir sangen auch, "Gott ist die Liebe, er liebt auch dich", "Weisst du wieviel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt", " So nimm denn meine Hände und führe mich." ... Daheim kannten alle diese Lieder, denn zu ihrer Zeit hatten sie auch die Sonntagsschule besucht. Ich konnte sie noch nicht, doch nach all den vielen Jahren Sonntagsschule kannte ich sie schliesslich auch.
Und die Sonntagsschule?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Und die Sonntagsschule?
Haben Sie die Sonntagsschule besucht? Was haben Sie für Erinnerungen?
In der Sonntagsschule, da wurde mir nichts abverlangt. Ich konnte einfach nur so dasitzen und zuhören oder auch nicht zuhören und ein- und ausatmen. Ich brauchte mich nicht anzustrengen und hatte nichts zu befürchten. Das war gut so.
Der Dorfklatsch stellte der Sonntagsschule kein gutes Zeugnis aus: "Immer dieselbe Geschichte vor Weihnachten und immer dieselbe Geschichte vor Ostern und dann im Sommer und im Herbst immer dieselben alten Geschichten, von der Erschaffung der Welt undvielen mehr. Wer wollte das schon glauben?"
Es war mir lange recht, dass wir jedes Jahr mitten im Winter, wenn die Nächte immer länger wurden, Weihnachten feierten. Für mich war es gut, jeden Frühling Ostereier zu suchen, auch wenn das wenig mit der Ostergeschichte zu tun hatte.
Es wurde mir nichts abverlangt. Ich konnte einfach nur so dasitzen und träumen. Es war gut,  denn nur so konnte ich mich in die mir längst bekannten Personen hineindenken und mir ihren Alltag vorstellen. Das machte mir Spass. Ich behielt den Spass in mir drinnen, denn ich wollte nicht riskieren, gefragt zu werden, warum lachst du. Ich wollte mir nichts abverlangen lassen. Fertig.
Was hast Du für gewöhnliche Erinnerungen an die Sonntagsschule? Kain und Abel
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was hast Du für gewöhnliche Erinnerungen an die Sonntagsschule? Kain und Abel
2016 Langsam hatte sie begonnen, die wichtige Aufgabe der Sonntagsschule zu erahnen. Sie war weit mehr als eine erlaubte Stunde Nichtstun und Träumen und im Sonntagsröcklein dasitzen. Sie war - oberlehrerhaft ausgedrückt - das gemeinschafts- und basisbildende Urgestein, das uns alle trug wie die Eurasische Platte.
Mit unseren Grosseltern, unseren Eltern und der Dorfgemeinschaft teilten wir die Mythen von der Erschaffung der Welt, vom Paradies, von Adam und Eva, Kain und Abel, vom Turm zu Babel, die Arche Noah, die Erzählungen von Abraham, Jakob, Josef, Moses und von Orgetorix und Wilhelm Tell.
Sie hatte nun zwei kleine Enkeltöchter. Ihnen wollte sie dereinst die Geschichte von Kain erzählen. Die geht in etwa so: Kain war nie im Paradies gewesen. Gott hatte seine Eltern Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben, weil sie den verbotenen Apfel gegessen hatten. Draussen arbeiteten sie als Bauern und Gott schenkte ihnen die beiden Buben Kain und Abel. Kain wurde Ackerbauer und Abel Hirte. Um Gott zu danken, opferte Kain Feldfrüchte - der Rauch strich über's Feld - und Abel ein Lämmchen - der Rauch stieg hoch. Aus Eifersucht erschlug Kain seinen Bruder Abel. Um Kain vor seinen Verfolgern zu schützen, machte Gott ihm einem Zeichen auf der Stirn und hiess in die Stadt Nod zu gehen.
Die Geschichte von Kain sagt: Wir bleiben von Gott beschützt, selbst wenn wir unsern Bruder erschlagen. Das will sie den Enkelkindern dereinst weitersagen. Solche Mythen verbinden sie mit ihren Vorfahren und das ist gut sol
 
Zwei ungewöhnliche Erinnerungen an die Sonntagsschule?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Zwei ungewöhnliche Erinnerungen an die Sonntagsschule?

Die Zehn Gebote, ziemlich langweilige Gespräche und keine Geschichte. Nur das Gebot  "Du sollst Dir kein Bildnis machen" beschäftigte mich lange. Da Gott alles ist, kann man sich kein Bild von ihm machen. Wir kannten nur die Wortkombination "der liebe Gott". In meinem Alltag erlebte ich diesen "lieben Gott" aber oft als böse. Er hatte meinen Grossvater zu sich geholt. Und lieber Gott: Wie hältst Du es mit dem Krieg?

Gott ist immer auch das Gegenteil. "Lieb" und "böse" sind Gegenteile. Wir wurden angehalten, von vielen Wörtern das Gegenteil zu suchen: Gross-klein, müde-ausgeruht, viel-wenig, in der Nähe - in der Ferne.  Das fand ich spannend, und eine ganze Weile erfragte ich mir von den Erwachsenen das Gegenteil zu irgendwelchen Wörtern: undsoweiter-abschliessend, Nadelbaum-Laubbaum-kein Baum, Urwald-Wüste ... So konnte ich ein wenig herausfinden, was die Leute in ihrem Innern dachten, ich konnte mir ein Bild machen. Von Gott kann man sich kein Bild machen, weil er immer anders ist, als man denkt. Er ist anders als man denkt. Fertig.

Langzeitwirkung hatte der Besuch einer Missionarin. Sie erzählte uns die Geschichte von dem schwarzen Mädchen Alfi, das im Missionsdorf leben durfte. Auf meine Frage nach seinem Alter, erfuhr ich, es sei in meinem Alter. Auf meine Frage nach seiner Mutter, erfuhren wir, dass Alfi so wie wir die Geschichten von Jesus hören wollte. Weiter erfuhren wir, dass sie immer, immer im Missionsdorf schlafen würde. Mehr als eine Nacht schlief ich nicht bei meiner Patin. Ich wollte nun heim zu meiner Mutter. Man liess mich heimgehen. Ich hatte Angst vor dieser Frau. Wenn ich an das schwarze Mädchen, an Alfi dachte, kamen mir die Tränen, immer weg von der Mutter. Ich machte Alfi zu meiner Freundin. Der Grossvater lenkte mich ab und tröstete mich. Er erzählte mir wieder und wieder von den schwarzen und roten Leuten in Amerika.

In der Zeit nach dem Grossvater interessierte sich niemand mehr für meine Sorgen. Die Tanten kamen und stritten mit der Grossmutter und meinen Eltern ums Erbe. Ich, die Heulsuse, wurde zur Seite geschoben. Ich begann mit meiner Freundin Alfi zu plaudern. Alfi, die aus lauter Liebe und Güte ihrer schwarzen Mama weggenommen worden war, die im Missionsdorf leben durfte oder leben musste, begleitete mich mein Leben lang. Ich denke auch heute noch an sie, wie wir, zwei alte Frauen, Freud und Leid teilen. Alfi ist mir eine Hilfe, eine Begleiterin, wenn ich im Kongo, im Hinterland von Kikwit unterwegs bin.

 

Welches waren deine damaligen Medien? Telefon? Radio, TV, Bücher, Comics, Computer, Spielkonsolen, etc.? Gab es Vorschriften deiner Eltern?
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Welches waren deine damaligen Medien? Telefon? Radio, TV, Bücher, Comics, Computer, Spielkonsolen, etc.? Gab es Vorschriften deiner Eltern?
MML-Zusatzfrage: Was hattest du besonders gerne?
2016 gehörten all die im Titel vorgeschlagenen Medien und viele mehr zum Alltag der Kinder, und es war gut, wenn sie damit umzugehen lernten. Altgrossmütterliche Erziehungsratschläge? Nein danke. Marsch zurück in die 50er Jahre! Was bedeuteten die in der Überschrift aufgeführten Wörter damals? Als Mittelstufenschülerin kannte ich alle und konnte deshalb die mir ungewohnte Liste abarbeiten:
Medien? Viele Leute wollten Medien gekannt haben. Ja, das waren ganz besondere Menschen, die mit ausserirdischen Wesen Kontakt aufnehmen konnten. Nein, ich kannte keine Medien. Auch meine Eltern und Grosseltern kannten keine, das war uns zu speziell. Der Grossvater sagte:"Humbug." Einschübchen: Als Humbug wird laut Duden entweder etwas bezeichnet, das vorgibt, bedeutsam zu sein, tatsächlich aber nur Schwindel ist, oder es bezeichnet eine törichte und unsinnige Äußerung oder Handlung
Telefon: Zum Telefonieren gingen wir anfänglich auf die Post. Zum Erstaunen vieler Zeitgenossen hatten wir bald einen eigenen Apparat, einen schwarzen Kasten (ca. 20cm x 15cm x 8 cm) an einer Wand in der Stube montiert, mit einer Wählscheibe, ca. 7cm Durchmesser, oben zwei Glocken und einem handlichen Hörer mit Sprech- und Hörmuschel. Telefonieren war eine aufregende Sache! Alle wollten ein wenig mithören, selbst die Grossmutter. Papa verlangte Ruhe! Später telefonierte die Grossmutter gelegentlich einer ihrer Töchter. Dazu zog sie sich schön an und kämmte ihre spärlichen Haare, man wisse ja nicht, ob die Gegenseite einen nicht nur höre, sondern auch sehe, da wolle sie gewappnet sein. Wovon sprach die Grossmutter?
Radio: Unsere Familie hatte "immer" ein Radio, und um halb eins kamen die Nachrichten. Wir sassen versammelt am Mittagstisch, die Suppe verteilt, es konnte gelöffelt werden, niemand sprach: "Wir hörten die Nachrichten!" Am Abend, besonders wenn es regnete, durften wir gelegentlich die Kinderstunde von Trudi Gerster hören, oder die Geschichte von "Winnetou", die wir kaum verstanden. Das Radio war ein grosser brauner Kasten (ca. 50cm x 40cm x 10cm, es gab auch grössere), die Sender unten quer auf einer Glasplatte mit Grossbuchstaben angeschrieben, zwei Knöpfe zum Drehen, einer zur Wahl der Sender und einer zum Regulieren der Lautstärke. Ich schaute diese Buchstaben gerne an und begann sie zu kopieren, wenn ich Papier und Farbstifte zum Zeichnen erhielt. Der Vater hatte mir meinen Namen mit grossen Buchstaben auf die Farbstiftschachtel geschrieben. Ich wollte meinen Namen schreiben lernen, und ich konnte es bald gut und schnell, doch niemand interessierte sich dafür. Ich hätte mit der falschen Hand, von rechts nach links in Spiegelschrift geschrieben, erzählte man mir später. Mein Vater zeigte mir, wie das mit dem Schreiben gehen sollte. Ich versprach, es mit der richtigen Hand zu probieren. Aber das klappte nicht, denn die Kraft fehlte mir. Rückblickend wusste ich, was hier begann. Ich schaffte es.
TVFernsehen war in unsrer ländlichen Gegend unbekannt. Doch organisierte der Lehrer gelegentlich Filme, einen für die kleinen Schüler und einen für die grossen Schüler am Nachmittag und am Abend zeigte er beide den Erwachsenen. Ich war fasziniert. Es war halbdunkel. Der Filmapparat begann zu surren und die Leute auf der Leinwand marschierten. In Amerika gäbe es sogar Filme mit Musik und Filme, in den die Leute sprechen würden, hiess es. Gut, dass ich eine Reise nach Amerika plante für die Zeit, wenn ich gross war und Geld hatte.
2017, 2. Juni: Nach Jahren und Jahren hatten sie zwei sehr entfernte Verwandte in Deutschland besucht. Warum? Andere Verwandte hatten die beiden erwähnt, als die Schreibende das Gespräch auf den Zweiten Weltkrieg brachte. Ihre briefliche Anfrage wurde mit einer Einladung beantwortet. Nach einer kurzen, herzlichen Begrüssung, der letzte Kontakt lag wohl vierzig Jahre zurück, erklärte Gerhard, geb. 1926: "Aus deinem Brief wissen wir, dass du dich  die für den Zweiten Weltkrieg interessiertst. Als erstes will ich dir sagen: Die Amerikaner haben alle Indianer umgebracht, und dann haben sie in Afrika schiffweise Neger gekauft. Das gehört auch zum Zweiten Weltkrieg". Gerhilde, geb. 1932, ergänzte: "Leider kann ich nicht malen, doch habe ich ein Bild vor Augen. Mein Vater bildete vor dem Krieg bei Pfannkuch Lehrlinge aus. Einer stammte aus einem armem Elternhaus. Eines Tages hiess es, die Synagoge brennt. An Mutters Hand rannte ich hin. Unser Lehrling stand in braunem Gewand strahlend auf der Synagoge. Der Vater schickte uns heim. Dieses Erlebnis erschütterte mich nachhaltig." Dann folgten viele alte Familiengeschichten und ein nächster Besuch wurde vereinbart. Einschub Ende.
Bücher: An das erwähnte Buch vom Zoo, das wir anschauten, bis es völlig zerzaust war und auseinanderfiel, daran kann ich mich nicht mehr konkret erinnern. Als nächstes das Geschenk an unser Schwesterchen, das Karton-Buch "Zehn kleine Katzen", mein Globi-Buch zum Ausmalen, später Bilderbücher für Kleine, gebrauchte Micky Maus Hefte, und allerlei Bücher mit interessanten Geschichten, um mich fürs Lesen zu interessieren. Schön und gut, aber ich hatte es noch nicht begriffen. Was war das für eine Mühe. Ich passte gut auf und konnte - ohne lesen zu können - in der Schule folgen. Die Zahlen kannte ich schnell und rechnen fiel mir leicht.
Comics?  Die soll es gegeben haben, und ich meinte zu wissen, sie seien etwas Schlechtes.
Computer: Unser Primarlehrer fehlte während allen sechs Jahren Primarschule nur einen halben Tag, und zwar um an der ETH Zürich an der Vorführung eines Computers teilzunehmen. Dieser Computer habe alles gekonnt, er sei schon recht klein gewesen, nur wenig grösser als unser Schulzimmer (12m / 8m / 3m). Amerika mache schnelle Fortschritte, die Professoren seien optimistisch. Ich hatte grösste Mühe mit dem Wort Computer, der Vater und ich lernten es. Er sagte zum Spass: Dein Computer aus Amerika kann sicher bald Kühe melken, und ich sitze am Tisch und drücke ein paar Knöpfe (Einschübchen: Noch vor dem Tod unseres Vater im Jahr 1999 kamen die ersten Melkroboter auf den Markt).
Sog. Spielkonsolen gab es nicht, höchstens Musikdosen zum Drehen, die ein kleines Schlaf-Liedchen spielten.
Vorschriften der Eltern? Sicher nicht, sie waren dankbar für jeden Handgriff und liessen uns gewähren, wenn wir nicht gebraucht wurden.  Die Felder und das Wetter gaben den Takt an.
Erinnerst du dich an Filme und/oder TV-Serien?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Erinnerst du dich an Filme und/oder TV-Serien?
MML-Zusatzfrage: Wie, wo und mit wem hast du diese angeschaut?
Uli der Knecht, Uli der Pächter, Anne Bäbi Jowäger und Co., diese Hörspiele, in Serien am Freitagabend gehörten zu den Höhepunkten in meinem Kinderleben. Ich durfte mit den Grossen aufbleiben. Die Kleinen wurden ins Bett spediert. Meistens tranken wir noch Tee oder Süssmost. Vielleicht gab es sogar ein wenig Schokolade. Häufig war ich, wäre ich ehrlich gewesen, zu müde, aber ich, "mein ICH" suchte und fand eingeklemmt zwischen den beiden grossen, fremdbestimmten Blöcken "Schule" und "Daheim helfen" ein wenig Freiraum, wo ICH bestimmen konnte. ICH konnte wählen zwischen Hörspiel und Bett. Ich konnte wählen.
Wegen der "Schule", hatte ich mit meinen Eltern gesprochen, die Schule war obligatorisch, alle mussten hingehen, selbst Netti, sie besuchte eine Schule in der Stadt. Ich gab mir Mühe, denn in die Schule von Netti wollte ich nicht gehen, weil die Kinder in der Schule von Netti nachts dort schliefen, und das konnte ich nicht. Ich dachte an Alfi in der Missionsschule und betete für Alfi, Netti und mich. Ich musste gut sein in der Schule, denn ich wollte nach Amerika, wo alles besser war. Auch dem Traum, Alfi zu besuchen, blieb ich treu.
"Daheim helfen, der Mutter helfen" war mir Ehrensache. Viele Leute, auch die Nachbarn meinten, meine Mutter habe zu viel am Hals, sie müsse für meine wackere Hilfe dankbar sein. Ob ich denn nicht lieber spielen möchte? Ich dachte nicht darüber nach. Was nützte denken? Erledigt musste die Arbeit sein! Ich konnte gleichzeitig ungestört Fantasiereisen machen, und das war schön. Wahrscheinlich dachte der Vater wie ich, denn er gab der Mutter häufig ein zusätzliches Stückchen Fleisch von seinem Teller (Achtung: Wieder ein Familiengeheimnis: Die Fleischstücke auf den Tellern der Frauen und Männer waren gleich klein.). Zu mir sagte Papa mit einem Kopfnicken: "Danke, dass du deiner Mutter wacker hilfst," und er schob mir gelegentlich auch etwas zu. Sein Dank war mir Befehl.
Rückblickend war mein Entscheid, trotz Müdigkeit, die Hörspiele der Gotthelfstücke zu hören, richtig, denn diese Romane gehörten in der Kantonsschule zur Pflichtlektüre - und ich konnte mir das Lesen ersparen. Ich erinnerte mich tipptopp. Es blieb mir zusätzlich Zeit, um der Mutter zu helfen (eines meiner wohlgehüteten Geheimnisse gegenüber meiner verehrten Kantonsschule). Ich liebte die Kantonsschule.
2015 Das Wort "fremdbestimmt" hatte für sie einen klassenkämpferischen Touch, den sie nicht mochte. Aber der Ausdruck traf die gefühlsmässige Stimmung ihrer Erinnerung. Sie hatte eingesehen: Die Schule war und ist ein "Muss".
2017, Sonntag 23. April: Wieder korrigierte und verbesserte sie ihre Texte. Löschen wäre einfacher gewesen, doch wie zugesagt, verzichtete sie darauf. Gleichzeitig hielt sie sich an das sich selber auferlegte Verbot, weitere Texte zu schreiben. Fertig.
2017, 1. August, 15.15 Eine weitere Runde Durchlesen; sie war zufrieden dabei. Der erwartete Besuch hatte sich verspätet. Das gab ihr Zeit.
Heidi, Heidi von Johanna Spyri?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Heidi, Heidi von Johanna Spyri?
Die Mutter hatte uns ein wenig von Heidi erzählt. Wir fanden es spannend und prompt ... . Musste das sein? Unter dem Weihnachtsbaum, schön eingepackt, wartete eine Kurzfassung der Heidigeschichte auf mich. Heidi gehörte in die Gruppe von Alfi und Netti. Sie konnte nicht bei ihrer Mama wohnen, denn diese war tot, auch ihr Vater war tot. Sie wurde zum brummligen Grossvater auf die Alp abgeschoben. Meine liebe Mama las uns vor, bis Heidi und der Grossvater sich kannten und gut verstanden.
Heidi war nun froh und glücklich auf der Alp, und für mich begann die mühsame Leserei. Ich fand einen Ausweg. Es war ja Winter und draussen kalt. Da kam immer wieder allerlei Besuch vorbei, der bereit war, uns dreien vorzulesen: "Wenn ein Kind so artig fragt wie du, so kann man nicht nein sagen." Welch ein Glück! Ich hatte verstanden, dass es sich lohnt, freundlich um Sachen zu bitten. Heidi, der Geissenpeter und Klara stellten sich lachend dem Leben. Ich bewunderte dieses Trio. Für Stadtkinder, die das Landleben nicht kannten, soll es damals einen Heidi-Film gegeben haben. Den hätten wir nicht nötig, hiess es. Ich wollte ihn auch sehen, aber ich schaffte es nicht: "Warum sollten Land- und Stadtkindern nicht der selbe Film gezeigt werden?" Wie immer, ich war neugierig. Ich wollte wissen, wie unser Landleben im Film aussieht. Den Stadtkindern wurde die Stadt Frankfurt selbstverständliche gezeigt. Warum uns nicht? Ich forderte Gegenrecht!
 
Erinnerst du dich an die Geburt von Geschwistern? Was hattest du dabei für Gefühle?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Erinnerst du dich an die Geburt von Geschwistern? Was hattest du dabei für Gefühle?
Die ganze Familie sei erleichtert gewesen, als zwei Jahre nach mir am Weihnachtstag ein Knabe zur Welt gekommen sei, eine Bemerkung, die ich oft hörte und nur langsam verstand. Ein Stammhalter, ich war auch froh.
Von meiner Schwester, dreieinhalb Jahre jünger, wurde erzählt, sie habe wie ein mageres Negerkind ausgesehen. Sie sei mit der dunklen Sommerhaut unserer Mutter zur Welt gekommen, die ja keinen Wert auf weisse Haut lege, stichelte Grössi und zeigte mir stolz ihre weissen Beine: "Ich vermag es, das ganze Jahr Strümpfe und lange Ärmel zu tragen." Ich wurde im Sommer auch ganz braun, und das gefiel Papa. Einmal legten wir die Herzige in meinen Puppenwagen, und ich durfte mit ihr quer durch die Stube fahren. Welch eine Freude! Weil sich so etwas nicht gehörte, konnte ich von einem zweiten Male nur träumen. Der Puppenwagen war noch etwas gross für mich, das stimmte, aber nur ein wenig mit der Herzigen in der Stube herumfahren, das hätte ich schon geschafft, und das war doch nicht gefährlich. Meine Geschwister waren allerliebst, sie steckten immer zusammen und ich war oft ein wenig eifersüchtig.
Meine Lesenden, nun habe ich Sie eine Weile vergessen. Ich bitte Sie um Entschuldigung. Bitte beantworten Sie die Fragen von meet-my-life immer auch persönlich. Sie haben das ohne meine Aufforderung gemacht? Sehr gut.
Wer passte auf dich auf, wenn deine Eltern nicht konnten? Gab es Kinderkrippen, Kinderhorte, o. ä.?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wer passte auf dich auf, wenn deine Eltern nicht konnten? Gab es Kinderkrippen, Kinderhorte, o. ä.?
MML-Zusatzfrage: Wie empfandst du das?
Die Kinderbetreuung wurde täglich neu geregelt. Es wurde immer jemand bestimmt, der ein Auge auf uns hatte. Wir brauchten doch niemanden von draussen zum Hüten, zum Aufpassen, wir waren einfach dabei, wir wollten dabei sein.
Häufig war der Grossvater für mich zuständig, denn ich war gross. Ich konnte schnell gehen und wollte in die Welt hinaus. Der Grossvater konnte - wie man sagte - seit dem "Schlegli" (=Schlaganfall) nur noch langsam gehen. Also würden wir gut zusammenpassen, hiess es. Wir plauderten und marschierten aufs Feld, wo der Grossvater allerlei Zudien- und Aufräumarbeiten erledigte. Mich lobte man, ich könne schnell und ausdauernd laufen (= gehen). Über den Grossvater schimpfte man, er "schlirpte" (= langsames die Füsse nachziehen). Ach natürlich, ich verstand die Welt ja nicht: Der Grossvater langsam und ich schnell? Doch der langsame Grossvater war lieb. 
Beim Dabeisein konnten wir Kinder mittun. Wir lernten die täglichen Routinearbeiten. Nachher übten wir diese im freien Spiel. Es gab jedoch Situationen, da war strikte Überwachung oder Wegsperren nötig. So beim grossen Waschtag, wenn der Waschkessel eingefeuert und mit kochendem Wasser hantiert wurde. Beim Vorbereiten der grossen Wäsche waren wir aktiv dabei. Bereits ganz kleine Leute konnten warten und zuschauen, wenn - als erste Vorbereitungshandlung - die Holzzuber gewässert wurden. Kleine Hände konnten schmutzige Wäsche sortieren und beim Einweichen und Vorwaschen im Wasser plantschen. Ich wusch selbständig die Wickeltücher meiner Puppe. Zum Aufhängen hatte der Vater mir ein kleines Seil gespannt. Ich war gross, obwohl ich noch nicht in die Schule ging. Da man mich gewähren liess, konnte ich viele Handreichungen selbständig. Ich brauchte das dauernde Dreinreden der Grossen nicht. Ich hörte einfach nichts.
Die eiserne Regel: "Wird Jauche geführt, muss abgesperrt werden!" Trotzdem sollen jährlich Unfälle passiert sein. Der Lehrling musste für die Abschlussprüfung auswendig wissen: "Wenn die Jauchegrube offen ist, steigen gefährliche Dämpfe auf. Bei Windstille bleibt der scharfe Geruch liegen und reizt zum Husten. Das ist unangenehm. Gefährlich ist der geruchlose ..." dass der Lehrling und ich uns den Namen dieses Sees nicht merken konnten, das ärgert mich. Papa fragte: "Was passiert wegen dem Methansee?" Der Lehrling antwortete: "Der geruchlose Methansee, der sich unter der Luft bildet, ist sehr gefährlich. Man kann bewusstlos werden und ins Jauchloch fallen oder sogar ersticken. Für kleine Kinder ist das besonders gefährlich." Ich hatte verstanden: Die Gefahr heisst Tod. Aber einen See zwischen der Luft und dem Scheissbrei der Kühe, den hatte ich nie gesehen, denn Papa wurde sehr energisch, wenn ich leise in die Nähe kam. Er packte mich, trug mich ins Haus und rief: "Einsperren, einsperren!"
Wovor hattest du am meisten Angst?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wovor hattest du am meisten Angst?
MML-Zusatzfrage: Warst du in dieser Hinsicht gleich wie andere Kinder?
Ich Angst? Nein. Ich kämpfte mit zusammengepressten Lippen gegen Hindernisse und Verbote. Papa neckte mich: "Ein guter Soldat kennt keine Angst, er kämpft gegen Hindernisse! Hindernisse machen stark!" und ich wollte sehr stark werden. Mein Nicht-Können, Nicht-Verstehen, Nicht-Begreifen, das waren und sind meine Hindernisse, die mir viel Eigenliebe und Geduld und nochmals Geduld abverlangen. "Ein guter Soldat hat Angst, und er kämpft doch," das hatte Papa mir leise ins Ohr geflüstert.
2017 März: 1. Einschub: Ein aktuelles Beispiel von lähmender Angst, eine unglaubliche Situation voller Verzweiflung: Sie schrieb nun bereits seit November 2015 im Programm von meet-my-life. Über zweihundert Seiten hatte sie getippt und trotzdem fand sie auf der Startseite den sogenannten Lesebotton nicht. Ihr Blick war rechts auf "login" und "suche" fixiert. Der Betreuer der Seite, nur der konnte ihr vielleicht helfen! Sie rief an: "Versteht sich doch von selbst!" er reagierte auf ihre sog. banale Frage mit wenig Begeisterung. Sie schaltete auf Panik, doch sie blieb dran und atmete tief und leise. Sie wiederholte: "Nicht gefunden, nein, nein ... ." "Auf der Startseite, der Button oben links, orange, gross, unter dem Titel meet-my-life, mit einer Brille, das gibt es doch nicht! Dann nach unten scrollen." Sie suchte und atmete, nein, nein, nein, dann fand sie. So einfach. Was nun? Sie suchen ihre Biografie? Es mag erstaunen, aber sie hatte das Leseformat ihrer persönlichen Schreibarbeit noch nie angeschaut. Also das B antippen, unter Gender Autorin. Und dann? Zum Glück stand das Telefon zwischen ihnen. In harschem Ton "hinunter scrollen". Wir hatten es geschafft. Die Angst vor solchem Unvermögen, ja, die steckte seit damals tief in ihren Knochen. Langsam und tief atmen, war ihr Rezept dagegen. Ende Einschub.
2. Einschub: "Nicht-Verstehen" - meine damalig Variante der Geschichte vom "Turmbau zu Babel" Gen. 11,1–9: "Die Menschen bauten einen hohen Turm, sie wollten hoch hinaus. Um sie zu ermahnen, machte Gott eine Sprachverwirrung. Er schickte jeder Person eine andere Sprache, und jeder Mensch wurde zu einer eigenen Welt. Sie konnten sich gegenseitig nicht mehr verstehen." Die Mama-Welt mit der Mama-Sprache war nicht meine Kinder-Welt mit meiner Kinder-Sprache. Papa lebte in der Papa-Welt mit der Papa-Sprache. Jeder Mensch hat seine eigene Sprache, seine eigene Welt. Diese Erzählung half mir und hilft mir weiterhin. Einschub Ende.
3. Einschub: Und wie war das mit der Grösse oder der Kleinheit unseres Landes? Jetzt, da ich langsam begriff, dass wir ein kleines Land sind, - das war damals als ich noch nicht Velo fahren konnte, - da hörten alle mit Begeisterung am Radio die Berichte von den Velorennen: Unsere Velofahrer fuhren schneller als die Velofahrer aus den grossen Ländern. Das verstand ich nicht. Alle, selbst Grössi, kannten Ferdi Kübler und Hugo Koblet. Grössi lehrte mich diese beiden Namen. Wie der Dorfklatsch konnten wir über die beiden fachsimpeln. Um meine Hoffnung und Freude, vielleicht doch nicht ein so kleines Land zu sein, zu bremsen, sagte Grössi: "Die dümmsten Bauern, haben die grössten Kartoffeln." Ich kannte den Spruch und wusste, dumme Bauern haben wenig Land und trotz ihrer Dummheit manchmal doch grosse Kartoffeln. Grössi verstand mich nicht. Ich verstand nicht und wir plauderten wie alle von den Velofahrern, den Rennfahrern, den Velorennen! Einschub Ende.
Fortsetzung: Gab man mir die Chance, lange genug zuzuschauen, zu überlegen und zu versuchen und nochmals zu versuchen, so schaffte ich es, oder die Dinge verloren an Bedeutung und gingen vergessen. Natürlich konnte ich nie auf einen Baum klettern, aber stellte man mir eine Leiter an den Baum, war ich flink, sorgfältig und geschickt im Pflücken von Obst. Radfahren lernen war auch so eine Sache. Es stand fest, dass ich es nie lernen würde, da ich ungeschickt und ängstlich sei. Meine beiden jüngeren Geschwister, sie waren noch zu wenig hoch gewachsen. Ihr Kopf erreichte knapp die Sattelhöhe, selbst wenn dieser ganz nach unten geschoben war, die wollten, die mussten auch probieren. "Die Drängeln und Betteln, die Trotzen und Brüllen, und geben keine Ruhe. Ich lasse sie es auf dem Platz zwischen den beiden Schöpfen versuchen," rechtfertigte sich Papa gegenüber Mama, die ohne ein weiteres Wort im Haus verschwand. Erstaunlich! Die Füsschen auf den Pedalen, die Ärmchen nach oben und die kleinen Hände an der Lenkstange. Der kleine Bruder war gross. Er rollte, Papa konnte ihn mühelos halten. Papa machte ihm ein Kompliment, der Bub strahlte. "Allein rührst du mir kein Velo an, verstanden," das Verbot von Papa sass. Das Gesicht des Buben wurde lang, seine Hände hielten die Ohren zu, die Augen waren zugedrückt! Schwesterchen bekam Angst: "Ich bin noch zu klein". Und ich? Ich konnte nicht zur Flötenstunde ins Nachbardorf, da ich nicht Velo fahren konnte. Man könne auch zu Fuss in die Sekundarschule gehen, wurde ich vertröstet. Meine Eltern, der Lehrling, selbst die Grossmutter versuchten mir zu helfen. ...  Ich schaffte es nicht.
Ich sah, der Vater liess den Lehrling neue Tätigkeiten üben, üben bis er es konnte. Für die dritte Klasse hatte ich Velofahren auf mein Programm geschrieben. Ich betete und bat die Eltern um die Erlaubnis, es ganz allein und lange, lange versuchen zu dürfen. Ich musste bei Null anfangen. Nach der Schule verschwand ich im Schopf beim alten Velo. Grössi benutzte es seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr. Es gehörte nun mir. Es lehnte an der Wand hinter allerhand Gerätschaften. Nach ein paar Tagen nahm sich der Vater Zeit, um es hervorzuholen. Wir putzten und ölten es und pumpten die flachen Pneu auf. Es wurde fahrtüchtig gemacht. Nun stand mein Velo vor den andern Sachen und der Vater versprach mir seine Unterstützung beim Kampf um diesen Platz. Punkt eins hatte ich geschafft. Bravo! Ich strich mit der Hand über den alten Sattel.
Die kommenden Tage verschwand ich voller Glück im Schopf. Mutig fasste ich mein Velo an und schliesslich schob ich es ein wenig im Schopf herum. Noch nie hatte man mir ein Velo zum Schieben anvertraut und bereits das wollte geübt sein. Schliesslich wagte ich, es auf den Vorplatz und schliesslich bis zur Haustüre zu schieben. Ich tat dies alles im Verborgenen. Für meine ersten Versuche brauchte ich weder lachende Zuschauer noch mitleidige Gesichter und schon gar keine Hilfe, denn ich wollte, ich musste es selber tun, statt einem gescheiten Helfer zu zuschauen. Punkt zwei erledigt. Die Mühsal von Punkt drei und vier überspringen wir. Schliesslich standen das Velo und ich auf dem erlaubten Übungsgelände, der Strasse Richtung Bahnhof, die ganz leicht abfiel. Nun kam eine lange und harte Zeit. Häufig standen mein Velo und ich nur ein paar Minuten dort, schauten herum und verschwanden wieder im Schopf. Mehr forderte ich mir nicht ab, doch dies auch an Regentagen. Aus dem Gespött wurde Respekt vor meiner Entschlossenheit. Ich begann zu ahnen, wie es ging und rollte unerwartet ein paar Meter. Bis ich ein zweites Mal rollen konnte, brauchte es seine Zeit, ich schaffte es. Schliesslich rollte ich bis zum Gemüsebeet der Nachbarin und schob dann das Velo wieder heim. Treten konnte ich noch nicht. In der Zeit zwischen Ostern und Sommerferien lernte ich Velofahren. Dies ermutigte meine Grossmutter, und sie begann auch wieder zu radeln.
Ja, vor so langen und mühsamen Lernprozessen hatte ich Angst. Dann gab es da noch eine vergessene Angst: Ja, die Angst vor dem Haarwaschen. Was machte ich doch da für ein Theater! Von schmeicheln, betteln, zittern, kollernden grossen Tränen, Heulen, körperlichem Widerstand, sogar wildem Um-sich-schlagen, da lag alles drin. Die beiden kleinen Geschwister lachten vor und nach dem Haarwaschen, ich dagegen machte Panik. 2016, den 21. März Sie sprach leise mit der Mama selig: "Es tut mir leid, dass ich ein derartiges Theater machte, wenn damals meine Haare gewaschen werden mussten. Ich weiss nicht, wovor ich mich so sehr fürchtete. Ich hatte eine panische Angst, als ginge es um Leben und Tod, wenn ich vor dem Schüttstein stand und du mir liebevoll und vorsichtig Wasser über den Kopf leeren wolltest, um die Haare nass zu machen."Du und ich und alle suchten und fragten nach Rat. Es musste eine Lösung für diese Haarwascherei gefunden werden. "Schneidet den Kopf kahl, dann genügt ein Waschlappen. Sie hat ja ohnehin so wenig und so dünne Haare", so die Grossmutter. Ich wäre einverstanden gewesen, doch meine Eltern und die Geschwister lehnten diesen Vorschlag rundweg ab. Sie wollten auch nicht, dass ich ohne Schirm in den Regen stand. Der Coiffeursalon? Zu teuer, aber machen wir es doch wie der Coiffeur! Ein Hocker nahe an den Schüttstein geschoben, das Kind mit dem Rücken dagegen gesetzt, der Kopf kräftig, noch mehr, noch ein bisschen weiter nach hinten gebeut, und es klappte. Ich sah, was geschah und konnte sicher und gut atmen. Problem gelöst und alle erleichtert. Wie gingest Sie mit den kleinen Ängsten um?
Ein Gräuel war mir, wenn jemand zuschaute. Dann klappte vieles nicht. Das Schuhe binden beim Eintritt in den Kindergarten, daheim ein Kinderspiel. Es machte mir Freude, Grössi und Chueri, den zwei Kleinen oder Papa die Schuhe gut zu binden. Im Kindergarten? Ich versteckte mich dazu in einer Ecke und setzte mich dann stolz auf das Bänklein zu den Kindern, die es konnten. Doch dann kam die Stunde der Wahrheit. Die Kindergartentante glaubte mir nicht, und ich konnte mein Können nicht vorzeigen. Netti, das grosse Mädchen, wollte mir helfen: "Sie bindet auch mir." Das Wort von Netti zählte nicht. Ich versprach schliesslich, meine Lügerei daheim Mama zu erzählen. Wie ein geschlagener Hund trottete ich davon. Mama und alle wussten, dass ich binden konnte. Nun zu sagen "ich könne nicht binden", das war zu viel verlangt. Ich band täglich die Schuhe von Netti und mir. Da half nur das Rezept von Chueri: Nichts sagen, unter den Teppich damit. So geschah es, ich sagte Mama nichts.
Den Tisch für das Mittagessen decken, das klappte tipptopp, die Esslätze der Kleinen lagen bereit, und auf der Ofenback stand ein Becken mit Wasser, daneben ein Küchenlappen und ein kleines Handtuch. Alle waren wir voller Stolz auf mein Können. Meine Mutter kannte mein Problem und ging mit dem Besuch jeweils kurz in den Garten, damit ich als Überraschung den Tisch für Kaffee und Kuchen decken konnte. Es hiess im Dorfklasch: "Sie ist ein geschicktes, artiges Kind, wenn man sie allein machen lässt." Dies zu wissen, tat mir gut.
Wovor wurde dir Angst eingeflösst? Elektrischer Strom galt in unserer Familie als gut zu handhaben, aber für Kinder als sehr gefährlich. Die Erwachsenen hatten Respekt, die Kinder mussten Angst haben. Der Transformator des kleinen Dorfes stand in zehn Metern Entfernung von unserem Schopf. Zwischen vier dicken, hölzernen Stangen hing der geheimnisvolle Kasten, kaum grösser als eine Wäschekommode. Gegen Regen gut geschützt, in handlicher Höhe, von unten für Gras nicht erreichbar."Berühren für Unberechtigte verboten, Todesgefahr," stand darauf, Papa und ich hatten es gelesen. Gelegentlich kamen zwei Männer mit einem Auto vorbei und schauten eine Weile in den Schrank hinein. Ich wollte doch auch sehen und wissen! "Weg mit dir, das ist nichts für Kinder, schon gar nicht für Mädchen," sie verjagten mich. Ich schenkte ihnen zwei Äpfel und konnte sie doch nicht freundlich stimmen. Sie seien an der Arbeit und hätten keine Zeit, erklärten sie mir schliesslich barsch. Der Vater und der Lehrer bestätigten meine Erfahrungen, mit denen sei nicht gut Brot zu essen. Alle betonten, der Transformator sei tatsächlich sehr gefährlich. Darin werde Starkstrom in Haushaltstrom umgewandelt.
Hier Stopp, mehr verstand ich nicht: Strom sieht man nicht, er kommt durch einen Draht ins Haus und bringt die Lampen zum Leuchten, wenn man am Abend den Schalter drehen darf. Nicht irgend so ein Draht, wie es viele gibt, sondern ein kräftiger Draht dick umwickelt mit Stoff - dazu viele selten gehörte Wörter, durchs linke Ohr hinein, durchs rechte hinaus und in fünf Minuten vergessen  Im Schopf gab es einen grossen Stecker für die Holzfräse, die Jauchepumpe und den Heuelevator. Eine grosse Erleichterung der Arbeit, sehr gefährlich, jene Steckdose, ausser Reichweite für Kinderhände. Steckdosen galten grundsätzlich als sehr gefährlich. Darum Hände weg, sonst gibt es eines drauf. 
Mein Leser oder meine Leserin, sind Sie ängstlich? Wie ermuntern Sie ängstliche Mitmenschen?
Erinnerst du dich an die Jahreszeiten?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Erinnerst du dich an die Jahreszeiten?
MML-Zusatzfragen:  Was änderte sich jeweils damit für dich? Welche hattest du am liebsten?
Wir kannten die Feldarbeiten und damit verbunden den Kreislauf der Natur. In der zweiten Klasse, in der Gruppe der Kleinen lernten wir sehr viel, sehr viel über die Zeit: Jedes Jahr verliessen die Sechstklässler unsere Schule und radelten für die folgende Klasse ins Dorf mit unserer Kirche. Eine neue Gruppe kleiner Kinder trat in die Schule ein. Dies geschah, wenn nach dem Winter die Natur im Frühling erwachte. Ich suchte und zählte leise auf: Winterlinge, Schneeglöcklein, Krokusse, gelb, blau und weiss, kurzstielige Gänseblümchen, verschiedene Osterglocken, dann die Tulpen. Nicht zu vergessen, was da in Wald und Wiese noch alles blühte. Mit den grösseren Nachbarmädchen pflückten wir am Bach Sträusschen und beschenkten damit die alten Frauen.
Es war Frühling und wir sangen am Schulexamen:
Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt,
Er setzt seine Felder und Wiesen instand.
Er pflüget den Boden, er egget und sät
Und rührt seine Hände frühmorgens und spät.
Diese Liedstrophe passte gut zu Papas Stimmung, er sagte: "Sie zählt all meine Tätigkeiten auf." Damit war ich gar nicht einverstanden! Es gab viele andere Frühlingsarbeiten! Doch keine Diskussion, denn ich liebte es, wenn Papa sang. Die Frühlingsarbeiten, viel Routine und Wiederholungen waren darin versteckt. Dazu nach dem kalten Winter die warme Sonne und ein laues Lüftlein, es war ein Vergnügen. Da blieb Papa Kraft und Luft zum Singen, und er sang. Hielt er inne, so war das kein gutes Zeichen. Ich verhielt mich ruhig. Wenn er nur überlegte oder die nächste Arbeit plante, ging's bald weiter. Ich freute mich. Manchmal stockte er, weil ihm die Worte eines fast vergessenen Liedes entglitten waren. Dann schimpfte er kurz und versuchte es nochmals. Klappte es mit dem Erinnern nicht, so überbrückte er die Lücke mit einer eigenen Idee, notfalls mit "lalala". Zwischen durchsang er immer wieder:"Sisch ja nur es chlises Träumli gsy," und ich begann zu glauben, das Träumli gehöre ans Ende jeden Liedes. 
Die Bäurin, die Mägde, sie dürfen nicht ruhn.
Sie haben im Haus und im Garten zu tun.
Sie graben und rechen und singen ein Lied
Und freun sich, wenn alles schön grünet und blüht.
Mamas Strophe passte noch weniger. Uns fehlten die Mägde, eine hätte uns genügt, wir hatten keine. Eine Lehrtochter konnten wir nicht einstellen, da unsere Mama, trotz all ihrer guten Schulnoten kein Lehrmeisterinnen Diplom hatte und vor der erforderlichen Ausbildung zurückscheute. Mama sang nicht. Wir kannten alle Strophen. Der Lehrer erklärte uns, die dritte Strophe dieses Frühlingsliedes streife alle Jahreszeiten und schliesse den Jahreskreis mit einem Fest ab. Für den Sommer gab es nur gerade drei Linien:
So geht unter Arbeit das Frühjahr vorbei.
Da erntet der Bauer das duftende Heu.
Er mäht das Getreide,
Grosse wetterabhängige Arbeiten, die viel Einsatz und alle Hände forderten. Doch, ehe man es sich versah, konnte man sagen: Geschafft, der Sommer ist vorbei. Für den Herbst gab es nur eine Zeile:
      Dann drischt er es aus.
Viel zu wenig, eine Aufzählung der Arbeiten konnten wir uns sparen. Wir kannten sie alle. Wir waren uns einig, der Herbst war die strengste Jahreszeit. Kippte das Wetter früh und war es nass und kalt, doppelt mühsam.
Im Winter da gibt es
Manch fröhlichen Schmaus.
Der Lehrer sagte: "Wir beginnen mit dem Frühling. Sommer, Herbst und Winter besprechen wir später." Wir durften in die Pause. Hurra!
Das Jahr ein Kreis, im Kreislauf der Natur ?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Das Jahr ein Kreis, im Kreislauf der Natur ?
Der Lehrer zeichnete das Jahr als einen Kreis, unterteilt in zwölf Monate. Er tat dies, als ob das selbstverständlich wäre. Ein Monat folgte dem andern, und an den Dezember schloss sich wieder ein Januar an. Ich verstand nur halb: Jedes Jahr beginnt doch mit einem neuen Januar. In diesem Punkt waren der Lehrer und ich nicht einig. Er behauptete, es sei richtig, wenn er für all die Jahre mit dem Zeigestab immer über denselben Kreis fuhr. April 1951 mein Schuleintritt, erste Klasse, April 1952 Beginn der zweiten Klasse, April 1953 dritte Klasse. Das mochte für den alten Lehrer mit den weissen Haaren nach all den vielen Jahren stimmen, jedes Jahr war gleich; er unterrichtete immer erste bis sechste Klasse. Für mich stimmte das nicht: Kindergarten, erste Klasse, zweite Klasse, jedes Jahr ein ganz anderes Jahr. Ich hatte in der ersten Klasse gelernt, dass ich nichts behaupten durfte, was ich nicht wusste. Ich hatte auch gelernt, dass der Lehrer Recht hatte, weil er mehr wusste. Ich war nun in der zweiten Klasse und hätte wissen müssen, dass der Lehrer immer Recht hatte. Wir schauten uns an. Waffenstillstand. Fertig.
Der Lehrer schrieb die Jahreszeiten und die Namen der Monate auf. Wir sprachen bis zum Heuernte über Wochen, Tage, Schaltjahre, Jahrzehnte, Menschenalter, Stunden, Minuten, Sekunden usw.. Während der Lehrer anschliessend die Grossen unterrichtete, machten die Erstklässler eine Zeichnung, wir Zweitklässler kopierten einzelne Wörter und die Drittklässler schrieben Sätze, jedes Kind arbeitete leise entsprechend seiner Fähigkeit.
Begeistert erzählte ich meine neuen Erkenntnisse immer beim Mittagstisch. Hatten wir etwas Entsprechendes, schauten wir es gemeinsam an, bis Radio Beromünster mit den Nachrichten unsere Gespräche je unterbrach.
Welche andere Kreise kannest du? Kreise, Kreise, ich liebte Kreise."Sein Lebenskreis hat sich geschlossen," stellten die Besucher beim Abschied von meinem toten Grossvater fest. Die Mutter erklärte es mir: "Jedes Jahr bringen Mütter neue Kinder auf die Welt, in allen Dörfern, hilflose kleine Wesen, die schnell wachsen." Ganz klein - unendlich herzig - ich konnte immer nur staunen, wenn ich an das kleine Nachbarskind dachte, ein ganz kleiner ganzer Mensch. Wickelte die Nachbarin ihr Neugeborenes, so bewunderten wir die kleinen Füsschen mit den winzigen Zehelchen. "Wie schnell das geht, ihr, meine drei Kinder springt schon auf und davon, und Du gehst im Frühling in die Schule. Bald bist Du gross, heiratest du und hast Kinder. Dann bin ich die Grossmutter und mein Lebenskreis wird sich bald schliessen." Unendlich langsam und mühevoll jeder Tag und doch, der Grossvater schien schon lange fort, und das Bébé nebenan konnte im Wägelchen sitzen.
Wir Kinder spielten "Familie", Geburt, Hochzeit, Alter und Tod. Morgen, Mittag, Abend und Nacht. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Bei der Feldarbeit unterhielten wir uns über den Lauf des Lebens. Wo kam das Leben her? Wohin entschwand das Leben? Der Grossvater blieb in meinem Herzen, man nennt das Erinnerung. Sein Körper lag im tiefen Loch, in der Erde, man sagte, er wird wieder zu Staub, zu Erde, ganz langsam wie Äpfel, die im Herbst unter den Bäumen liegen bleiben und von vielen kleinen Tierchen zerfressen werden. Das ist so, auch wenn es nicht schicklich war, das so zu sagen. Die Seele? Die Seele fliegt in den Himmel, dorthin, wo Gott ist. Das Bébé kam aus dem Bauch seiner Mama und seine Seele aus dem Himmel. Gott hat es der Nachbarin geschenkt. So war es. War es so? So sei es, sagten die Gossen. Später zeichneten wir in der Schule auch den Kreislauf des Wassers: Wolken, Regen und Schnee, Bäche und Flüsse, Meer, Wolken.
Kreise, ein Spielzeug? Oh, diese Kreise überall. Was Kindern 2016 der Game Boy, das blieb ihr zeitlebens das Spiel mit Kreisen. Der Game Boy konnte den Kindern weggenommen werden und trotzdem hiess es, die Game Boys, die Smartphons und Computerspiele würden der Kontrolle der Eltern entgleiten. Warum auch nicht? Damals war mein Kinderleben durch die Schule zwar eingeschränkt, aber meine Fantasie- und Spielwelten waren unendlich. Die konnte mir nichts und niemand nehmen.
So spielte ich mit dem Wort "Kreis": Woher-Wohin? Trafen sich Anfang und Ende nicht irgendwo, irgendwie, galt es die Ebene zu wechseln, um eine Stufe höher oder eine Stufe tiefer das Glück, den Kreis zu suchen. Viele Kreise gehörten ihr und dem Grossvater gemeinsam. Bis sich sein Lebenskreis schloss, hatte ich manches zu erahnen gelernt: Kreise zusammengehängt, bildeten eine Kette, dazu passte der Spruch: Jede Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Der Grossvater hatte ihr das gut erklärt. Jahrringe dicker Bäume erzählen Geschichten und verraten das Alter der Bäume, wenn man wie ich, gross genug war und zählen konnte. Der Grossvater konnte das nicht mehr, seine Augen waren schwach. Steine, die wir in den Feuerwehrteich warfen, "machten" schnell viele Kreise von innen nach aussen. Mit einem Zirkel auf Papier oder einem Stecken und einer Schnur auf dem Feld, konnten Papa und ich Kreise ziehen.
Es gab da auch eine Scherzfrage: Was hat zwei Enden? Die korrekte Antwort lautete: "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei." Das wusste sie sehr wohl. Es war noch der Grossvater, der ihr riet, nicht alles zu glauben und nicht über richtig oder falsch zu streiten, denn jedes Ding habe zwei Seiten. "Mache einfach ein Geheimnis davon," sein Rezept. Der Metzger bot die Cervelats in Kränzen zu sechs an, und jeder Cervelat hatte zwei Enden. Ein paar Tage nach dem Schlachttag machten wir Rauchwürstchen. Wir füllten das gewürzte, gemischte und gut geknetete Fleisch mit dem Fleischwolf (= Fleichhackmaschine) in Rauchwürstchendärme. Schnell, schnell ordneten wir die entstehende lange Wurst in Kreisen auf dem Tisch. Die ganze Familie half beim Abbinden der Würstchen.
2016: Noch hatte sie keine Erfahrung mit einem GameBoy, doch sie war sicher, das war nur eine Frage der Zeit. Meine Lesenden, wie haben Sie es mit den modernen Massemedien?
Einschub: 23.02.2016 Eine Lobeshymne auf Feldheim oder die Rechnung mit den Windrädern?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Einschub: 23.02.2016 Eine Lobeshymne auf Feldheim oder die Rechnung mit den Windrädern?
Meine Lesenden, erinnern Sie Sich, in der Gebrauchsanweisung steht: "Einschübe, im besonders Einschübe mit Datumsangabe können Sie gut und gerne überspringen, denn (....)  sie liegen ausserhalb des mir selber gegebenen autobiographischen Zeitrahmens von der Geburt bis zur Sekundarschulprüfung 1957. Der mit 23.02.2016 datierte Text ist 100% autobiographisch und sehr eindrücklich, und doch erhalten Sie die Einladung ihn zu überspringen.
Im grossen Chor der deutschen Medienwelt sangen brilliante Blätter wie die Frankfurter Allgemeine, die Zeit, die Welt und der Spiegel unterstützt von der NZZ die Lobeshymne auf das Dorf FELDHEIM bei Potsdam: "Feldheim, Vorreiter der Energiewende, Feldheim, das einzige energieautarke Dorf (Einschübchen: d.h. Feldheim ist nicht an das öffentliche, europaweit gekoppelte Stromnetz angeschlossen. Es benutzt dieses Netz weder als Speicher für nicht gebrauchten Strom, noch bezieht es in Zeiten des Mangels Strom aus diesem Netz.), Feldheim, 150 Einwohner und 49 Windkraftanlagen, ergänzt mit einer Biogasanlage, einer Holzschnitzelanlage, ein paar privaten Solaranlagen, vielen Zulagen und Annahmen und ausgerüstet mit dem grössten Batterienspeicher Deutschlands."
"Was heisst das?" fragte sie sich. "Wieviele Windräder bräuchte Deutschland, wenn das ganze Land es Feldheim gleichtun wollte??" Sie überlegte, und schon brummte ihr der Kopf: "Nicht pingelig sein,  grosszügig runden,  ja 49 = 50." Sie beschloss, eine bescheidene, grobe, überschlagsmässige Rechnung zu machen: 150 Einwohner brauchen 50 Windräder, 3 Einwohner teilen sich ein Windrad. Deutschland hat ca. 80 Millionen Einwohner. Nun eine einfache Rechnung: 80 Millionen Einwohner brauchen (50 : 150 X 80 Millionen)  = 26 Millionen Windräder. Sie konnte sich 26 Millionen Windräder nicht vorstellen. Was tun? Deutschland hat eine Fläche von ca. 360'000 Quadrat-Kilometer. Ah, nun verteilte sie die Windräder gleichmässig über ganz Deutschland > 26 Millionen Windräder verteilt auf 360'000 km², das ergab die stolze Zahl von 73 Windrädern pro km². Das ist ein Windrädernetz von 8 mal 9 Windräder pro km²."Mensch, was für ein Gesurre bei nur schon leichtem Wind", da blieb ihr nichts anderes als auszuwandern.
Wer soll das bezahlen? 1 Windrad kostet rund 1 Million Euro, 26 Millionen Windräder kosten  26'000'000 Millionen Euro = 26'000 Milliarden Euro = 26 Billionen. Verteilen wir nun unsere 26'000'000 Millionen Euro auf die 80 Millionen Einwohner (26'000'000 Mio. Euro : 80 Mio. Einwohner) so trifft es jeden Einwohner mit 325'000 Euro und dazu die Kosten für Biogas-, Holzschnitzel- und Solaranlagen sowie den Speicherbatterien. Sie fragte sich im Stillen: "Wer versorgt Industrie, Gewerbe, Verwaltung, Spitäler, Dienstleistungsbetriebe? Ein Horrorszenario?" Ja, sie verbot sich solche Gedanken, schon weil ihr der Glaube an das Windwunder fehlte.
 *
Einschub Ende
Wie war das damals mit den Mücken und Fliegen bestellt?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie war das damals mit den Mücken und Fliegen bestellt?
2017 9. November: Meine Lesenden, vor zwei Tagen hatte sie ihren Text beim Korrektor abgeholt und musste nun die Korrekturen vom Papierexemplar in die Cloud von meet-my-life übertragen. Die Schreibende muss, Sie aber können wählen.
In den 1950er Jahren, Mücken und Fliegen, jede Menge. Sie kamen von selbst, sie waren aufdringlich und wollten mit uns gemeinsam im Schlafzimmer übernachten. Ging es auf den Herbst zu, deckten Papa und Mama uns Kinder sorgfältig zu und machten mit einem Tuch in der Hand Jagd auf die unerwünschten Gäste. Hei, war das lustig. Ich fürchtete diese heimtückischen Tiere. Darum morgens und abends die Fenster zu, die mussten hinausgesperrt werden, denn sie stachen selbst unsere kleine Schwester. "Nichts gegenüber früher," winkte die Grossmutter ab und erzählte, wie man mit vieler Hände Arbeit vor dem Ersten Weltkrieg Bäche begradigt und Sümpfe trocken gelegt hatte. Ein Segen für alle und als Dreingabe flaches Nutzland. Der Vater erzählte etwas vom Moor in der "Schwerzi", im Winter seinen sie dort Schlittschuh gefahren, unebenes Eis mit Grashalmen dazwischen. Das Eis auf den ausgebaggerten Kiesweihern unten beim kleinen Dorf sei zwei Stufen besser. Im Sommer Schwimmen in der "Schwerzi", das sei nur in einem Graben in der Mitte möglich gewesen, doch gefährlich, weil bodenlos tief. Er habe seine Erfahrungen damit gemacht. Nur gute Schwimmer durften es wagen, denn abstehen war nicht möglich, man sank ein. "Ich habe die Mutprobe mehrmals gewagt, mit kräftiger Arm- und Beinarbeit schaffte ich es wieder bis zum Weg,"so der Vater.
Einschub: Sie hatte damals mit dem Sohn des Eigentümers der "Schwerzi" die Schulbank gedrückt. Hier die Antwort auf ihre telefonische Rückfrage: Der Moorsee, keine zwei Hektaren gross, sei anfangs des Krieges, gemeint war der Zweite Weltkrieg, trockengelegt und seiner Familie von der Nachbargemeinde zugeteilt worden. Wie das ca. fünf Meter tiefliegende Entwässerungsrohr gelegt worden sei, wisse er nicht. Die Nebenleitungen lägen ca. 1.20- 1.50 Meter tief. Unter einer Torfschicht von ca. 50-80 Zentimeter folge eine 10-20 cm dicke Lehmschicht. Deshalb habe sich der Moorsee überhaupt bilden können.
 
Wie hielt es die Grossmutter mit der Ackererde und dem Wasser im Garten ??
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie hielt es die Grossmutter mit der Ackererde und dem Wasser im Garten ??
Die Grossmutter hatte grosse Achtung vor der Ackererde: "Die darf nicht mit dem Abwasser weggespült werden," murmelte sie ,"ich reibe meine Kartoffeln und Rüben vor dem Waschen  kräftig trocken ab. Wenig, wenig Wasser zum Waschen nehmen und mit dem erdigen Wasser die Geranien düngen, Ackererde ist wertvoll," Grössis leises Gestänker (= Geschimpfe) war gegen Mama gerichtet, und diese scheute sich nicht, laut über die Grossmutter zu lachen.
Von der Grossmutter habe ich die Gartenarbeit gelernt. Sie leitete mich an und ich durfte wacker mittun. "Nur auf dem Weg gehen, nicht ins Beet stehen," ihre Anweisung, denn :"Die Erde muss locker bleiben, damit die Würzelchen der Samen, die kleinen Tiere und das Wasser leichter ihre Wege finden können." Das mit dem Wasser machte sie mir mit einem "Experiment" deutlich: Wir hatten Spinat in die lockere Erde gesät. Zu meinem Erstaunen stellte sie mich mit Schwung mitten ins Beet. Sie hiess mich kräftig zu stehen, nahm mich wieder heraus und zeigte mir meine beiden Fussabdrücke. Nun begoss sie mit der grossen Kanne die ganze Saat. Die Erde saugte unser Wasser rasch auf und machte unsere Samen unter der Erde nass. Doch in meinen beiden Fussabdrücken blieb es liegen. Es entstanden zwei kleine Pfützen, während das Wasser in der lockeren Erde schnell verschwand. Wir warteten, endlich, langsam, langsam versank das Wasser auch in meinen Fussabdrücken. Ich verstand. Eine Woche später wuchs unser Spinat wunderbar, nur in meinen Fussspuren war er noch klein. Wie das Wasser nach unten, so hatten die Keimlinge Mühe den Weg nach oben zu finden. Ich schaute hin und verstand.
Das Wasser von den Feldwegen floss an den Rand, neben den Strassen gab es Strassengräben. Vom Hofplatz lief es oft in den Schopf, weil die Abfang-Rinne zu niedrig war. In der Küche und im Stall hatten wir einen Wasserhahn zum Auf- und Zudrehen. Das Wasser kam vom Reservoir der Gemeinde. Wir hatten zwei, ein altes und ein neues. Das neue war nötig, weil die Leute immer mehr Wasser brauchten. Der Brunnen vor unserem Haus lief Tag und Nacht. Das störte Grössi: "Diese Geuderei (=Verschwendung)." Wir stellten ihn nur ab, wenn es sehr trocken war, und Wasser rar wurde.
So war das also mit dem Wasser und der Erde im Garten.
Wie war das mit dem Wasser auf den Feldern?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie war das mit dem Wasser auf den Feldern?
"Schön, heute ist Scheunentorwetter," wir freuten uns. Die alten Männer standen unter dem Scheunentor und schauten dem Regen zu. Die Feldarbeit ruhte. Wir konnten mit dem Vater in der Werkstatt wirken oder spielen. Nach dem Regen wurde ein halber Tag gewartet, damit das Wasser Zeit hatte, zu versickern. Es war verpönt, zu schnell auf die Felder zu gehen. Das macht den Boden kaputt. Schon genug Schaden von den Traktoren! Die verdichten den Boden und hinterlassen Spurrinnen, wo nichts mehr recht wächst. Genau wie die Grossmutter es mir gezeigt hatte. Die Erde war zusammengedrückt und die Wurzeln hatten Mühe, tief in der Erde nach Wasser zu suchen, wenn der Regen auf sich warten liess. Wenn das Wasser rar und der Boden sehr trocken war, mähten wir unsere Sumpfwiese. Trotzdem war in dieser Sumpfwiese einmal ein Tank stecken geblieben und hinterliess ein grosses Loch. Mit einem Jeep holten zwei Soldaten meinen Vater und mich, um den Schaden zu begutachten. Die zwei Soldaten wunderten sich, wie ich kurz entschlossen in den Jeep stieg.
Einschub 1: Seit ich wusste, dass unsere Nähschullehrerin  FHD (Frauenhilfsdienst) leistete, wollte ich auch Soldatin werden. Gleichberechtigung, ich verlangte das Frauenstimmrecht. Das brachte mir viel Ärger. Die Mutter verbot mir meine Schwärmereien für den FHD: "Zur Zeit des Friedens bringt's nichts, und im Krieg brauchen wir dich. Es genügt, wenn die Männer und die Pferde einrücken müssen."  Und, wenn sie böse war, kam der Nachsatz: "Du taugst ohnehin nichts, du schaltest zu langsam." Das Geschwätz von Mama beeindruckte mich wenig, ich widersprach nicht, denn der FHD lag in weiter Ferne.
ICH änderte meine Haltung. Ich war grösser geworden und konnte mich selber etwas fragen. So fragte ich mich: Was nützt Angst? Was bringt eine Heulsuse, wie du eine bist? Langsam begann ich die Haltung meiner Grossmutter zu teilen. Fliehen war für sie weder während dem Ersten noch während dem Zweiten Weltkrieg ein Thema gewesen. "Ich habe mir 1914 ein neues Rebmesser gekauft, nicht zum Aufklappen, nein, nein, ein ganz kurzes, dessen Klinge auf Knopfdruck hervor schiesst. Ich konnte es in der Faust versteckt halten. Verboten, unser Geheimnis, verstanden. Das hatte ich immer im Rocksack." Einschub 1, Unterbruch.
Einschub 2: Aus andern Gesprächen wusste ich, Grossmutters Röcke hatten alle einen Rocksack, das gehörte dazu wie zu Papas Hose der Hosensack. Grössi erzählte immer wieder, früher hätten die Frauen Trachten oder Arbeitskleider nach einem Einheitsschnitt getragen, weit und lang und schwangerschaftstauglich und mit einem Rocksack. Die Weibchen in den modischen Kleidchen, mit Hütchen und Täschchen seien erst nach dem 2. Weltkrieg in Mode gekommen. Ich habe meine Grössi nie in der Tracht gesehen. Diese hing immer im Kasten. Eine zu komplizierte Anlegerei! Grössi trug moderne Kleider. Sie schaute die Modebeilagen an und hob das Bild von einem violetten Rock auf. "Dafür muss ich fünf Monatsrenten beiseite legen, das schaffe ich," und an einem schönen Tag im Herbst reiste die Grossmutter in die grosse Stadt mit dem Zoo. "Oh, wie ging es mir gut. Das violette Kleid musste im Keller gesucht werden. Es sei veraltet. Nein, nein, Rock, Jacke, Tasche und Halstuch alles für den geplanten Preis. Nachher hat es noch für Kaffee und Kuchen in der vornehmen Bäckerei gereicht und hier diesen Sack Guetzli für euch." Einschub 2 Ende.
Einschub 1, Fortsetzung: "Du musst wissen, die Soldaten wollen uns Frauen nicht einfach töten, die wollen zunächst etwas anderes. Glaube mir, wäre da einer gekommen, ich war entschlossen, mit dem kleinen Messer in der Hand den Rock hoch und ... sie machte eine Pause ... , kurz entschlossen, alles weg. Das ist auch Landesverteidigung," die Grossmutter lachte: "Gut, Kind, dass du nicht verstehst, was ich da daher schwatze, vergiss es!" Nach einer Weile, das Kind ganz scheu: "Grössi, wie machen die Soldaten dann Pipi?" Es war ein heisser Nachmittag gewesen, sie hatten Durst. Das Kind und die Grossmutter gingen müde heim. Einschub 1 Ende.
2016 August Sie musste lachen: "Es war ein heisser Nachmittag gewesen. Sie hatte Durst. Wie machen die Soldaten Pipi? Jetzt nach all den Jahren musste sie lachen." Was macht's? Grössis unerschrockene Entschiedenheit mit der sie gesagt hatte:"Kurz entschlossen, alles weg," war ihr, dem Kind in die Knochen gefahren. - Sie wusste, sie galt als langsam, darum konnte sie sich nicht um alles kümmern. Doch "kurz entschlossen, alles weg", mit diesem Satz erledigte sich vieles wie von selbst. Einschub Ende.
Fortsetzung: Nun zurück zum "steckengebliebenen Tank" und zum "Wasser auf den Feldern". Die Soldaten: "Wie viel wollen Sie?" "Das täuscht, der Boden ist verdichtet," der Vater wiegte den Kopf, "ich verlange Wiederherstellung". Mir schien das Loch klein, aber ich hatte zu schweigen. Zwei Lastwagen Erde füllten es aus. Es regnete, das Wasser blieb im Loch liegen. Der Schaden war grösser, als man dachte, wie Papa vorausgesagt hatte. Zwei weitere Lastwagen Erde genügten, bis es wieder regnete, dann tauchte das Loch wieder auf. Es brauchte noch zwei Lastwagen Erde. Den Rest besorgten wir selber. Der Vater erklärte mir, der Tank sei eine Weile stehen geblieben und habe mit seinem Gewicht die Erde weitherum zusammengedrückt. Zwei andere Tanks wären zum Herausziehen nötig gewesen und hätten den Boden auch noch zusammengepresst. Nun sei der Boden verdichtet und das Wasser könne nur noch schwer versickern. Die kleinen Bodentiere seien zerdrückt worden, und es dauere Jahre, bis der Boden wieder lebe.
2016 wurde vielerorts mit schwerem Gerät und grossen Lastwagen renaturiert, und diese Arbeiten wurden aus Motorweidlingen überwacht. Was heisst das für die kleinen Bodentiere? Ja, es dauert auch im einundzwanzigsten Jahrhundert Jahre, bis sie wieder gnügend an der Zahl sind, um den Boden locker, d.h. krümelig und durchlässig zu machen.
Was bedeutete viel Regen im Frühsommer und im Sommer?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was bedeutete viel Regen im Frühsommer und im Sommer?
Es war Sonntag, Vater machte die Rollenverteilung: "Viel zu viel Regen. Ich gehe nach dem Essen sofort auf einen Rundgang, um mir ein Bild vom Zustand der Felder zu machen. Ich nehme die Grosse mit, die Kleinen schlafen, und du hast frei."
"Das Heugras ist viel zu hoch für Mitte Mai," ein Satz den ich wohl kannte. Ich staunte, Kerbel und Bärentatzen fast so hoch wie Papa. "Darunter wässriges Blätterzeug, das nachschiesst und fault, wenn nicht bald die Sonne scheint. Schlechte Aussichten, mit viel zu grober Ware werden wir uns abquälen müssen. Das verdient den Namen Heu nicht. Recht für Pferdehändler. Hoffentlich finden wir einen Käufer, sonst haben wir später für bessere Qualität keinen Platz." Ich war entschlossen, nach Leibeskräften mitzuhelfen: "Papa, ich brauche neue Latzhosen, damit ich wacker Heu stampfen kann.""Bekommst du, gib mir die Hand, dann kannst du leichter mit mir Schritt halten. Schau die Kartoffel, noch keine Krautfäule, denn ich habe sie jede Woche mit Kupfervitriol gespritzt. Gut, dass wir eine Motorspritze haben, auch wenn sie den Boden mit ihrem Gewicht auf den Rädern kaputt macht. Siehst du das Wasser in den Spuren, genau wie hinter einem Traktor. Es muss letzte Nacht wieder stark geregnet haben." Aus dem kleinen Bächlein war ein Bach geworden, die Brücke war noch nicht überschwemmt.
Als die Sommerferien begannen, war die Heuernte noch nicht abgeschlossen. Die Getreidefelder lagen teilweise flach auf dem Boden. Das wird den Ertrag mindern! Die Zuckerrüben und der Mais waren zu gross und die Reben hatten teilweise Mehltau. Die Grossmutter hatte immer das Laubwerk besorgt. Doch nach den vielen regnerischen Sommern und den Missernten war sie damit einverstanden, dass wir die Reben im kommenden Winter aus hackten. Seit dem Tod des Grossvaters war sie schnell älter geworden. Als meine Schule wieder begann, war die Getreideernte noch nicht abgeschlossen. Um die wegen dem Dauerregen zusätzlich anfallende Arbeit zu bewältigen, hatte die Schulpflege den Kindern freie Tage gewährt. Alle mussten den Bauersleuten helfen.
Als meine Herbstferien begannen, war die Kartoffelernte nicht abgeschlossen. Unsere Kartoffeln waren weitgehend gesund, weil - und dies war das neuste Familiengeheimnis - der Vater die Stauden in jeder noch so kurzen Schönwetterpause gespritzt und die verbleibenden Stauden bereits Anfang August abgespritzt hatte. Mama verstand das nicht und schimpfte, es würde auch etwas was weniger genügen. Ich glaubte dem Vater: "Wir dürfen keine Krautfäule haben, denn diese Krankheit kann durch die Stengel zu den Wurzeln und in die Knollen schlüpfen und diese sofort anstecken. Sie werden dann weich und faul und beginnen fürchterlich zu stinken. Darum hiess es entweder die Stauden mit Spritzmittel gesund behalten oder mit Spritzmittel tot spritzen, damit der Pilz kein Futter mehr hatte. Es gab keine halbherzige Lösung." Unsere Kartoffeln waren weitgehend gesund und der Preis war hoch. Viele Bauern ernten ihre schlechten Kartoffeln schon gar nicht, sie waren die Erntearbeit nicht wert. Im Dorfklatsch hiess es, die ewige Spritzerei scheint doch etwas gebracht zu haben.
2017 16. November: Meine Lesenden, die Übertragung der Korrektur war anstrengend, und deshalb hatte die Schreibende Sie oft vernachlässigt. Was bedeutet für Sie Regen? Hatten Sie spezielle Erlebnisse mit Überschwemmungen?
Welche Rolle spielten Sonntage und Feiertage wie Weihnachten, Sankt Nikolaus, Ostern und Geburtstage in deinem Kinderleben?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Welche Rolle spielten Sonntage und Feiertage wie Weihnachten, Sankt Nikolaus, Ostern und Geburtstage in deinem Kinderleben?
MML-Zusatzfragen: Wie wurde gefeiert? Gab es andere religiöse Feste? War etwas anders, als in anderen Familien? Wie sah ein typischer Tagesablauf an solchen Tagen aus?
Der Sonntag, der Ruhetag. Sie streckte die Arme in die Luft: Das Leben wurde zum Fest. Manchmal hörten wir gemeinsam - ganz leise hatte man zu sein - den Kirchenglocken zu. Seit sie 2015 zu schreiben begonnen hatte, stieg das Gefühl von Fest gelegentlich wieder in ihr hoch, und sie hielt inne. Dasselbe Glück hatte sie empfunden, als vor drei Tagen ihre elf Monate junge Enkeltochter ihre Wange das erste Mal gezielt berührt hatte. Ein Enkelkind, welch ein Glück!
Damals wurde am Samstagabend oder genauer, hatte man uns am Samstagabend in einem kleinen Zuber in der Küche gebadet. Dann am Sonntagmorgen: Alles war sauber, die Füsse, die Hände, das ganze Kind in frischen Kleidern. Es duftete nach Seife. Nur, nun sollte wir Sorge tragen. Wenn sie später die Kirchenglocken läuteten hörte, nahm sie sich weiterhin einen Moment der Stille und hielt daran fest, auch wenn dieses Tun Befremden ausslöste. Nach dem Mittagessen dösten wir gemeinsam in der Stube und hörten die Sonntagsmusik am Radio. Nachher machten wir einen Spaziergang, gingen auf Besuch oder empfingen jemanden und plauderten. Bei Regen machten wir Gesellschaftsspiele. Es war Sonntag.
2015 Die Vorfreude auf die Festtage inkl. religiösem Touch hatte sie sich im Herzen und in den eigenen vier Wänden erhalten können. Sie distanzierten sich vom Päcklirummel, dem Festtagegeschäft, einem Brauch, der von der Wirtschaft weltweit angeheizt wurde. Wir hatten damals auch Päckliweihnachten, und an den folgenden Tagen feierten wir wieder Weihnachten und wieder. Mit einem Lächeln dachte sie an ein besonders schönes Bild von einer sochen zweiten oder dritten Weihnacht. Das Kerzenlicht erhellte die Stube. Wir hatten gesungen, geplaudert, eine Geschichte gehört und suchten nach einem Weg, Weihnachten zu verlängern. Da schaltete der Vater den Radio ein, es ertönte frische Musik. Wir schaukelten ein wenig und dann tanzten wir, der Vater mit der Mutter, mein Bruder mit der Puppe, meine Schwester mit dem Teddy-Bär und ich mit der Grossmutter. Wir tranken Süssmost, assen Guetzli (= selbst gebackene Süssigkeiten) und waren glücklich.
Als grösseres Kind verdarb ich mir die Vorweihnachtszeit. Ich strickte und strickte und hatte Mühe mein Ziel zu erreichen, nämlich allen ein Päckli mit etwas rechtem selber zu machen. Leider backten Mutter und Grossmutter die Guetzli, wenn wir in der Schule waren, doch wir durften sofort probieren.
Ein weiterer Höhepunkt: Am ersten Weihnachtstag der grosse Schweinebraten mit Kartoffeln, in der riesigen Bratpfanne im Kachelofen gebacken und Fleisch nach Herzenslust. Grössi genoss das Schlemmen und meinte: "In meiner Kindheit war Fleisch keine Selbstverständlichkeit. An Weihnachten bekamen alle ein wenig. Wir hätten oft gerne mehr gegessen."
Wie gestalten Ihre Eltern Weihnachten? Ich wünsche Ihnen schöne Gespräche zu diesem Thema.
 
Der Nikolaus? Nahm er euch mit?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Der Nikolaus? Nahm er euch mit?
Der Nikolaus, der brachte ein Säckli mit spanischen Nüsschen, Mandarinen und einem Lebkuchen mit einem Bildchen. Er kannte all unsere Untaten und teilte unsere Sorgen und Nöte. Er reichte Mama eine Rute zum Züchtigen der Kinder und sagte: "Das gehört sich für den Nikolaus. Ihr seid zwar recht brav, aber das Jahr ist lang und es ist gut für euch zu wissen, dass eure Mutter ein Rute hat." Der Nikolaus konnte keinen Kaffee mit uns trinken, denn er trug eine Maske. Komisch, er hatte dieselbe Stimme wie Grossmutter und fragte: "Was hat Grössi angestellt, dass sie sich verstecken muss, wenn ich komme? Muss ich sie in meinem Sack mitnehmen?" Alle lachten. Der Nikolaus lachte hinter seiner Maske wie die Grossmutter. Wir schauten uns gegenseitig an. Der Nikolaus verschwand und die Grossmutter tauchte wieder auf.
Als wir älter waren, besprachen wir in der Schule das schöne, für die Zeit zwischen dem 6. und dem 24. Dezember bestimmte Gedicht "s'Christchindli und de Samichlaus." Es begann leise und geheimnisvoll:
Es dunkelt scho im Tannewald
und s schneielet ganz lisli
Grosse dunkle Tannen, die leise im Wind rauschten. Wir hörten sie in der Fantasie, wenn wir ruhig mit gespitzten Ohren gut lauschten, ein wenig lauter und ein bisschen leiser und feine Schneeflocken schwebten wieder auf die Erde nieder. Weihnachten nahte.
Was ist das für es Liechtli det
i säben chline Hüsli?
Eine Pause, der Lehrer zündete eine Kerze an und wiederholte die Frage. Wir wussten es alle, wir kannten jenes kleine Häuschen. Jedes Kind hatte so sein Bild davon.
Da ist de Samichlaus deheim
mit sine guete Sache;
er hät scho s Lämpli azünt.
und tuet grad Kafi mache!
Wir plauderten über dies und das. Der Lehrer las den Anfang nochmals und fuhr dann weiter
Da pöperlets am Lädeli, und s Glöggli ghört er lüte
dazu tippte er mit der Fingerspitze auf das Pult, und eine Glocke erklang leise.
Iez weiss er scho, wer dussen ist, und was das sell bedüte.
Ja, das Christkind kam am späten Abend vorbei, es war in Sorge, da das Fest nahte und noch keine Bäumchen geschnitten waren. Sie brauchten viele, eins für jedes Haus. Sie tranken dann zusammen ein Tässchen Kaffee und besprachen das Austragen der Geschenke. Der Vollmond schaut durchs Fenster und hört den beiden zu. Wir lasen und sprachen das Gedicht mit verteilten Rollen, jedes auf seine Art.
Das war auch die Wunschzettelzeit: Unterhöschen und Unterhemdchen aus dem Laden in der Stadt, neue Winterkleider (statt Kleider zum Nachtragen), ein neues Zeichenheft oder einen Block, ein Malbuch und Farbstifte, eine Schere, Leim, dünnes Sperrholz, ein Pyjama,  ein Nachttischlämpchen für die Mutter, einen Steckschlüsselsatz für den Vater, Geraniendünger für die Grossmutter, ein Taschenmesser für den Lehrling, eine Taschenlampe für alle, einen Wunderknäuel, Spielkarten, vieles, vieles. Schön verziert legten wir unsere Wünsche mit einem Stein beschwert vor das Fenster. Wir tuschelten, wir kannten das Spiel. Weihnachten nahte.
Ostern?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Ostern?
2017 März: "Kennt ihr die Ostergeschichte?" war ihre Frage. "Die Ostergeschichte, die steht im Internet!" dies war die Antwort der Akademiker-Kinder, die sie gelegentlich morgens in eine privaten Tagesschule chauffierte. Sie waren nicht interessiert, aber sie wussten, dass Osten etwas mit Kirche zu tun hatte. Wichtig war den beiden, der Schreibenden mitzuteilen, dass Jane das alles glaube, sie, sie aber sicher nicht. Ende
Ja, die Ostergeschichte wurde uns jedes Jahr nach der Fastnacht in der Sonntagsschule erzählt. Warum ich sie gut kennen wollte, verstand ich nicht, denn das Ostergeschehen ist ja alles andere als "schön". Vielleicht wegen der glücklichen Warterei: Palmsonntag mit den Konfirmationen, Karfreitag mit Fisch und an Ostern, das Suchen der Eier.
Die ganze Familie glaubte an den Osterhasen. "Warum auch nicht. Das Suchen der Ostereier ist eine lustige, billige Abwechslung," so der Vater. Kurz nach Weihnachten begann Ostern: Zwiebelschalen beiseite legen noch und noch. Am Karfreitag Kräuter und Gräser sammeln und gemeinsam Eier einbinden. Alle konnten und wollten bei der Osterhasenfamilie mithelfen. So ging das: In die offene Hand ein Stück von einem alten Vorhang, grosse Zwiebelschalenstücke, ein paar schöne Gräser schliesslich darauf das Ei legen, schön sacht mit Gräsern und Zwiebelschalen zudecken und nun bitte, ein anderer Osterhase möge doch das Vorhangstück zusammenbinden. So wickelten wir nach alter Tradition gegen dreissig Eier ein. Dann wurde unter der grossen Pfanne mit verpackten Eier das Feuer angezündet und endlich kochten die Eier. Nach acht weiteren langen Minuten wickelten wir das erste aus und schnitten es entzwei. "Schön und gut zum sofort Essen. Ostereier sollten etwas härter sein. Lassen wir sie noch zwei Minuten auf dem Feuer" so die Mutter. Dann, noch heiss packten wir alle Eier aus. Jedes konnte zwei aussuchen, der Rest gehörte der Mutter. Wir legten sie auf einen ausgedienten Pullover und glänzten sie mit einer Speckschwarte. Alle braun mit Grasmustern. Welches war das Schönste? Sechs warteten in einem Körbchen auf den Osterhasen. Mit etwas Moos gepolstert lagen die andern im Apfelteller auf der Kommode in der Stube.
Da wir alle an den Osterhasen glaubten, und Mama keine Spielverderberin sein wollte, versteckte sie die Sachen bis ich elf Jahre zählte. Sie gab sich Mühe, es fielen ihr immer schwierigere Verstecke ein. An Ostern war meist mildes Wetter, doch einmal hatte Frau Holle ihre Decken nochmals tüchtig geschüttelt und das kleine Dorf in Schnee gehüllt. Was soll es, das verdarb uns den Spass nicht! Der Osterhase kannte den Schopf.
Wie war es mit den Geburtstagen ? Welche andern Tage gab es noch?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie war es mit den Geburtstagen ? Welche andern Tage gab es noch?
Geburtstagsfeste? Das gab es nicht. Ich wusste vom Hörensagen, dass wir, wie das so üblich war, alle im Winter und im frühen Frühling Geburtstag hatten, bis klein Schwesterchen im Sommer auf die Welt kam. Als wir in der Schule die Monate schreiben lernten, kam unser Gespräch auf die Geburtstage. Der Lehrer war erstaunt, dass wir diese nicht kannten. Schnell nahm er die Zeugnisse aus dem Pult und es ging keine fünf Minuten, jedes wusste seinen Geburtstag. Als klein Schwesterchen fünf Jahre alt wurde, gab es ein Fest, ein Geburtstagsfest. Ihr Pate hatte uns alle eingeladen.Wir fuhren mit den Velos hin. Das war meine erste grosse Fahrt, Papa mit der Kleinen auf dem Lenkstangensitz, Mama mit dem Bruder auf dem Gepäcktäger und ich, ich fuhr selber. (Einschübchen: Gemäss Google maps Distanz 5.5 km, per Velo 17 min.) Es war anstrengend und ich war froh, dass uns die Tante auf der Treppe mit Orangina empfing. Im Nu war der ganze Liter weg. Dann spielten wir ein wenig im Garten, die Männer, d.h. der Pate und Papa plauderten und hatten ein Auge auf uns. Wir durften nicht ins Haus. Warum? Der Pate erklärte, für dringende Fälle gäbe es ein WC neben dem Kaninchenstall. Die Frauen, die Tante und Mama plauderten im Haus und deckten den Tisch. Sie hatten die Vorhänge gezogen. Warum? Dann durften wir ins Haus. Wir wuschen die Hände und mussten eine Reihe machen. Warum? Der Pate betrat mit seinem Patenkind zuerst die Stube. Der Tisch war festlich gedeckt. In der Mitte stand ein Kuchen mit fünf brennenden Kerzen, der Geburtstagskuchen für unsere Schwester. Acht Teller mit weissen Papierservietten, vier Kaffeetassen für die Grossen und vier Teebecher für uns Kinder. Die Tante zeigte uns die Plätze. Wir waren erstaunlich ruhig, das dachte ich jedenfalls. Die Kleine sollte die Kerzen ausblasen, aber sie wagte nicht kräftig zu pusten. Alle halfen und die Tante zündete die Kerzen erneut an. Jetzt schaffte es das Geburtstagskind. Da niemand das englische Geburtstagslied kannte, sangen wir auf Wunsch des Geburtstagskindes "Oh du goldigs Sünneli ... ." Die Tante erklärte: "Wir waren im Frühling in der Stadt zu einem Geburtstagsfest eingeladen. Nachher beschlossen wir, für dich, unser Patenkind, auch ein solches Fest vorzubereiten." Das war das Geburtstagsfest meiner kleinen Schwester, das einzige, das ich kannte.
Nach einer grossen Anstrengung machte uns Papa manchmal eine Überraschung, er kramte eine Büchse aus der Stadt hervor. Das freute uns, und wir merkten bald, dass wir uns mit Erfolg zum Geburtstag etwas Gutes wünschen konnten. Während mehreren Tagen machte das Geburtstagskind Vorschläge. Dieses Suchen und Auswählen war der Hauptteil des Festes, der Spass. Die wildesten Speisen erfanden wir, denn es waren ja nur Ideen, nichts davon kam auf die Teller. Am liebsten wären uns Pommes Frites gewesen, aber das war zu gefährlich mit dem offenen Feuer. Milchreis und Apfelmus aus der Büchse, Ravioli aus der Büchse, Ananas aus der Büchse. Das Geburtstagskind: "Ich bekomme zuerst und ganz viel." Von einem Geburtstagskuchen mit Kerzen sprach niemand. Wir erwarteten keine Geschenke, doch wir gratulierten dem Geburtstagskind per Handschlag. Wichtig waren die guten Wünsche für das kommende Jahr.
Grössi schüttelte den Kopf und erzählte: "Zu meiner Zeit sprach niemand vom Geburtstag. Wir wurden einfach jedes Jahr ein Jahr älter. So genau musste man das damals nicht wissen. Der Namenstag war wichtiger." Der Namenstag? Auf dem Wandkalender neben dem Wochentagblöckli war eine Jahresübersicht: Rechts die Monate Januar bis Juni, links Juli bis Dezember. Neben jedem Tag stand ein Name, und die Sonn- und Feiertag wurden durch eine andere Farbe hervorgehoben. War ein wichtiges Datum festzulegen, wurde der Kalender abgehängt und die Tage am Stubentisch bei gutem Licht gemeinsam abgezählt. Manchmal las Papa uns dann die altmodischen Namen vor, es sollen biblische Namen gewesen sein. Wer den entsprechenden Namen trug, der oder die hatte dann Namenstag. Der Bettag und die Bundesfeier waren mir wichtiger als mein Geburtstag oder der Namenstag, den ich ohnehin nicht hatte. Ich mochte die feierliche Ernsthaftigkeit dieser beiden Tage.
Am Bettag, dem dritten Sonntag im September, fiel die Sonntagsschule aus. Das war für mich das Zeichen dafür, dass dies ein ganz besonderer Sonntag war. Die Eltern gingen gemeinsam in die Kirche, deshalb kochte Grössi. Sie erklärte uns: "Der Anstand verlangt, dass an diesem Tag seit 1848 alle guten Schweizer in die Kirche gehen. Die Kirche war damals voller als an Weihnachten. Der Kirchenchor sang, und in allen Kirchen wurde das Abendmahl verteilt. Das war keine Selbstverständlichkeit bei all den Streitigkeiten zwischen den versichiedenen Kirchen. Mein Mann, dein Grossvater zog jeweils einen Vatermörder an. Ich blieb mit unserer Kinderschar daheim," schloss Grössi ihren Vortrag ab und betonte nochmals: "Ich koche, denn ich will, dass sie sich gemeinsam zeigen. Wir sind von allen Kriegen verschont geblieben und es gehört sich, dafür zu danken, wie der Bundesrat das will."
Zur Bundesfeier versammelten sich am Abend des 1. August, mitten in der Getreideernte auf dem Schulhausplatz im Dorf mit unserer Kirche die Leute, die nicht zu müde waren. Wir waren nie dort. Der Dorfklatsch berichtete jeweils am nächsten Tag: "Alles wie immer! Die Blechmusik hat gespielt, der Gemeindepräsident und der Pfarrer haben zu lange gesprochen, der Turnverein hat Leibesübungen gezeigt und eine Pyramide gemacht. Cervelats, Bratwürste und Getränke, wie immer. Zum Schluss wurde gemeinsam die Nationalhymne,"Rufst Du mein Vaterland" gesungen. Ein kläglicher Gesang. Niemand kannte die sieben Strophen. Die Ersten lallten bereits. Wenn wir Bauern aufstehen, haben die letzten, stockvoll noch den Heimweg gesucht," ein paar Tag später wussten alle alles wie immer. Am Familientisch erzählte Grössi: "1891, als ich noch in die Schule ging, hatten die Zeitungen ausführlich vom Rütlischwur der drei ersten Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden von 1291 berichtet. Alle Leute hatten über die 600 Jahre gestaunt, und der Bundesrat hat den 1. August zum Bundesfeiertag bestimmt." Wir arbeiteten wie gewöhnlich. War das Wetter schön, durften wir am Abend mit den Eltern oberhalb vom Dorf nach Höhenfeuern Ausschau halten. Dabei konnte ich mein Schulwissen an die Kleinen weitergeben, den Bundesbrief hätten sie gemacht. Er werde in einem Museum sorgfätlig aufbewahrt. Viel Schönes werde erzählt, aber man wisse es nicht so genau.
Halloween (= Kürbisfest), Thanksgiving (= grosses Truthahnessen) und der Valentinstag wurden später aus den USA eingeführt. Ebenso schwappte der Brauch, am Silvester Feuerwerk abzubrennen und Bekannte anzurufen erst gegen das Ende des 20. Jahrunderts aus Deutschland zu uns herüber.
Wie feiern Sie heute Ihren Geburtstag? Wie war das früher? Was darf an einem besonders schönen Geburtstagfest nicht fehlen? - Und eine Bitte am meine Enkelkindergeneration, besucht Eure alten Verwandten und lasst diese aus deren Kindheit erzählen. Fragt sie nach ihren Festen!
Welche Rolle spielte die Stadt?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Welche Rolle spielte die Stadt?
Die Stadt erreichten wir per Velo, der Vater trat in die Pedalen und ich sass hinten auf dem Gepäckträger. In der Stadt geteerte Strassen, viele Leute, viele Autos und falls wir uns verspäteten, zur Mittagszeit viele, viele Fahrräder, Männer, die uns überholten, die heimfuhren, um kurz etwas zu essen, erklärte mir mein Vater.
Gelegentlich, selten nur fuhren die Mutter und ich mit dem Zug in die Stadt zum Einkaufen. Wir begannen immer mit dem Kauf von Nägeln oder Schrauben in einer grossen Eisenwarenhandlung für die vom Vater geplanten Reparaturarbeiten, nachher kamen Faden, Nadeln für die Nähmaschine und Reissverschlüsse für die von der Mutter geplanten Reparaturarbeiten dran, dann Pillen aus der Apotheke für Mutter und Grossmutter. Ich trug die schweren Sachen willig im kleinen Rucksäcklein, denn gerade deshalb durfte ich mit in die grosse Welt.Wir fuhren auch mit dem Fahrstuhl, der von einem Mann in Uniform bedient wurde. Es war ein ziemliches Gedränge, ohne Mutter hätte ich Angst gehabt. Noch spannender war es in den ganz grossen Häusern, wo wir allerhand Kleider kauften. Schliesslich kehrten wir ein, Mama trank einen Kaffee und ich Sirup, wir waren müde und durstig. Den Hunger sparten wir für daheim. Ich war glücklich.
Jedes Jahr an einem Adventssonntag bewunderten wir die Weihnachtsdekoration in der Stadt. Ein Ausflug für die Kinder, die müssen das auch kennen! Meine Eltern störten sich an der Verschwendung, gab es doch auf der andern Seite der Grenze so viele Kinder in Not. Wir kehrten alle zusammen im Kaffee "Obertor" ein und tranken jedes eine heisse Ovomaltine. Herrlich.
Konnten Ende Juni die ersten Frühkartoffeln geerntet werden, fuhren wir täglich mit Pferd und Wagen in die Stadt, dorthin, wo die Leute wohnten. Wir verkauften unsere schönen und frischen Kartoffeln an die Hausfrauen. Es gab da kleine Einfamilienhäuser, ein paar Villen und viele kleine Wohnblocks mit vier, sechs, wenn es hoch kam mit acht Wohnungen. Die Grossmutter nannte diese Häuser Kaninchenställe. Rings um diese Häuser gab es magere Gemüsegärtchen, genau zugeteilte kleine Stücke. Wir brachten den Leuten den gewünschten Kuhmist nicht, den brauchten wir für die Felder und, was wäre das für ein Umstand gewesen, Mist neben den säuberlich aufgestellten Kartoffeln. Die Frauen waren froh, dass ihre Männer Arbeit hatten, denn vier Kinder gaben nicht nur viel Arbeit, sie kosteten auch. Als ich in die Schule ging und fünf Kilo leicht tragen konnte, anerbot ich mich den Frauen, manchmal auch alten Männern, ihnen die Kartoffeln ins Haus, in die Wohnung oder in den Keller zu tragen. Neugierde! Neugierde! Ich tats nicht eines Batzen wegen, ich wollte sehen. Zum Glück war ich "Ein rühr mich nicht an" und wusste mich zu schützen; ich mied solche Häuser.
Dieser Direktverkauf war mit viel Aufwand verbunden, aber er brauchte viel mehr als die Ablieferung an die Genossenschaft, den VOLG. Wir konnten den Preis frei gestalten. Wir verkauften alles, was wir nicht brauchten. Ja, wir assen nur, was wir nicht verkaufen konnten. Grosse unförmige Kartoffeln gekocht und geschält gaben ebenso gute Rösti wie schöne wohlgeformte, den Abfall frassen die Schweine. Wir hatten ein Sparkässeli, wir wollten Land kaufen, und wir kauften auch Maschinen und später einen Traktor mit Zapfwelle und Dreipunkt. Nach meinem Empfinden waren wir die Modernsten im Dorf.
Was hat Grössi zu Weihnachten erzählt?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was hat Grössi zu Weihnachten erzählt?
Weihnachten mit einem Tannenbäumchen in der Stube soll es nicht immer gegeben haben, aber Schnee gehörte dazu. Ja, einen grossen Christbaum in der Kirche, dort hätte das ganze Dorf in der Nacht nach der Arbeit im Stall gemeinsam Weihnachten gefeiert. In der Zeit vor dem elektrischen Licht hätten nicht alle sitzen können, der Männerchor habe gesungen. Ein wunderschöner Baum voller Kerzen, die Kirche ganz hell. Der Pfarrer habe gesprochen. Wenn die ersten Kerzen erloschen seien, habe man mit dem gemeinsamen Vaterunser und einem Lied den Gottesdienst abgeschlossen. Man habe noch ein wenig in der warmen Kirche geplaudert. Langsam sei es dunkler und dunkler geworden und man habe sich durch den Schnee auf den Weg nach Hause gemacht. Kinder bis zur Konfirmation hätten ein Zöpfli (= ein Brötchen in Zopfform) bekommen.
Ihre Grossmutter - die Grossmutter der Grossmutter - habe immer zwei Sorten Weihnachtsguetzli gebacken. Ihrer Mutter - der Mutter der Grossmutter - habe es nur noch für eine Sorte gereicht. Es sei nicht schön gewesen. Vielen Leuten hätte es kaum für das Nötigste gereicht. Als Dienstmädchen, später als Frau deines Grossvaters und als Wirtin habe sie viele, einfach viele Guetzli gebacken. Bei Chueris sei es ihr immer besser, immer besser gegangen. Gott sei Dank dafür!
Nach dem Ersten Weltkrieg, so die Grossmutter weiter, im Jahr als die Grippe drei ihrer Kinder geholt habe, hätte sie für unsern Vater, damals noch ein Knirps von zwei Jahren, Kerzen gekauft und den Tisch mit Tannzweigen dekoriert. Das hätte allen soviel Freude gebracht, dass sie es in den kommenden Jahren wiederholt hätten. Dann seien die Christbäumlein in den grossen Häusern in der Stadt langsam Mode geworden. Einfach für Bauernfamilien, die ein Stück Wald besassen. Es seien auch Christbäume gestohlen worden!
Als Kind war für mich die Weihnachtsfeier der Sonntagsschule mit fast allen Leuten des Dorfes und dem Pfarrer im grossen Schulzimmer das FEST. Gemeinsam sangen wir zu Beginn ganz laut, "Dies ist der Tag den Gott gemacht", die Kinder sagten ein Sprüchli auf, auch die ganz Kleinen, und das war so herzig, alle freuten sich. Wir sangen die traditionellen Weihnachtslieder und der Pfarrer erzählte eine Geschichte für die Kinder. Wenn das Kerzenlicht langsam erlosch, wurden die elektrischen Lampen eingeschaltet. Nun erhielt jedes Kind ein kleines Geschenk und ein Zöpfli, und los gings heim. Leider gab es nur selten Schnee. So Sachen wie einen Adventskalender oder einen Adventskranz kannten wir nicht.
Alle kamen zu Fuss, auch der Pfarrer und seine Frau. Auf den langen Weg angesprochen, erzählte der Pfarrer gerne, wie er mit seiner Frau nach der Sonntagsschul-Feier durch die Winternacht heimzugehe. Das gehöre jedes Jahr zu ihren schönen privaten Momenten, denn in der Weihnachtszeit, hätte er als Pfarrer viele zusätzliche Aufgaben.
Grössi, kam Jesus im Stall auf die Welt?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Grössi, kam Jesus im Stall auf die Welt?
Den Gesprächen der Grossen entnahm ich, wenn es an der Zeit war, die Geburt eines Kälbchens zu erwarten. Wir kannten die Termine in etwa und machten Stroh und die Strickli bereit. Wir beobachteten das ganze Tier. Die Kuhkörper bereiteten sich unterschiedlich auf die bevorstehende Geburt vor. Begann das Euter aufzuschwellen? Weitete sich der Ausgang des Geburtskanals aus? Hing der Bauch leicht durch? Lag das Tier während dem Fressen gelegentlich ab? Oder wollten Kuh und Kälbchen uns überraschen? Ich wünschte mir Überraschungen und zwar dann, wenn ich im Stall war. Ich wollte dabei sein und zuschauen, wie ich zuschaute, wenn der Stier auf die Kuh sprang. Warum sollte ich nicht? Ich sprach mit der Grossmutter: "Sicher sollst du und darfst du dabei sein, das ist gut so. Ich verstehe deine Neugier, wir Frauen bekommen ja die Kinder."Grössi hatte gesagt: " Wir Frauen bekommen die Kinder." Sie schaute mich von oben an: "Und gleichzeitig muss ich dir sagen, es gehört langsam zum guten Ton, uns Frauen wegzuschicken." Nachsinnen.
Wir drei waren im Spital zur Welt gekommen, die Nachbarskinder auch. Wir haben die Tante im Spital besucht, und wir durften ihr Neugeborenes durch ein Fenster ansehen. Es gab viele Neulinge. Die Grossmutter hatte ihre sieben Kinder daheim geboren: "Wir waren uns das so gewohnt. Es ist gut, wenn die Frauen heute (d.h. im Kontext in den 50er Jahren) in den Spital gehen, dann haben sie eine Woche Ruhe." Nach einer Weile, die naheliegende Feststellung: "Grössi, Jesus kam im Stall zwischen den Tieren auf die Welt." Die Grossmutter bestätigte: "Ja, Kinder können an vielen Orten auf die Welt kommen. Eines meiner Kinder überraschte mich frühmorgens auf der frisch gemähten, taufrischen Wiese. Es ging schnell und gut.aAles war sauber, das ist wichtig. Ja, Jesus kam im Stall zur Welt und es war alles gut gegangen. Es war gut so." Nachsinnen.
Die kochende Seifenlauge am Waschtag, die war gefährlich. Der elektrische Strom, der Licht machte und die Fräse antrieb, der war gefährlich. Die Feldmaschinen, welche ein Pferd zog, die waren gefährlich. Da mussten die Erwachsenen die Kinder wegschicken. Das verstand ich. Wenn jemand eine schlimme Wunde hatte und der Verband klebte, dann schaute ich weg. Wenn die Eltern stritten, dann ging ich weg. Wenn der Tierarzt nach der Geburt des Kälbchens in die Kuh hinein fassen musste, um die Nachgeburt herauszulösen, verschwand ich. Nachsinnen.
2016 Unsere Enkeltochter und Opa, sie hatten gemeinsam einen Turm gebaut. Abwechselnd  hatten sie je ein Klötzchen sorgfältig aufs andere gelegt. Dann fiel der Turm um, und sie schauten durch die Terrassentüre auf den Sitzplatz. "Äpfelchen" das Kind zeigte auf eine der kleinen grünen Tomaten, die an der mageren Topfpflanze im Schatten wettergeschützt wuchs. "Äpfelchen" das Kind schaute die Oma an und schüttelte den Kopf. Sie wussten beide, dieses Äpfelchen durften wir Menschen nicht pflücken. Oma dachte: "So ist es. Doch du bekommst in einem Monat eine kleine Schwester und wirst aus dem Paradies der Erstgeborenen vertrieben und wir freuen uns. Und Du? Wie soll man da die Welt verstehen?" Die modernste Technik wird deine kleine Schwester empfangen. Kaiserschnitt. Ja, Jesus kam im Stall zur Welt und es war alles gut gegangen.
Woher hatte die Grossmutter das Geld?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Woher hatte die Grossmutter das Geld?
Nach dem Tod des Grossvaters sei die Grossmutter schmal dran gewesen, denn ihre Töchter wollten erben, hatte meine Mutter später gesagt. Sie, meine Eltern hätten es besser, sie könnten zuversichtlich auf die alten Tage schauen, man müsse zwar viel bezahlen, aber der Staat gebe einem dann eine Altersrente. Es gäbe zwar Übergangsrenten, werde gemunkelt, aber sicher nur für die andern, für die in der Stadt. Meine Grossmutter wollte keinen Versuch wagen, zu viel Papierkrieg, aber sie liess meine Mutter gewähren. Formulare, Formulare, von der Wiege bis zur Bahre und - die Rente kam, immer Anfang Monat.
Es war ein feierlicher Moment, der Pöstler wollte es nicht glauben, er hatte in der Zentrale zurück gefragt und die Auskunft erhalten, das Geld sei für unsere Grossmutter (Einschübchen: Grössi erhielt etwas mehr als dreissig Franken, das war viel.). Er erklärte uns, die Leistung sei einmalig, dann, das Geld komme auf Zusehen hin, und schliesslich schätzte er es, dass die Grossmutter ihm immer einen Franken für das Bringen gab. Ob andere alte Dorfbewohner eine Rente bezogen, wusste ich nicht, denn dieses Geld gehörte zu den wohl gehüteten Familiengeheimnissen: Die andern hätten es ja nicht nötig wie wir. Hauptsache es kam, und die Grossmutter konnte jeden Sommer an einer von den SBB organisierten Reise teilnehmen. Dass sie sich das leisten konnte! Das hatte sie der bösen Schwiegertochter zu verdanken. Die Grossmutter sparte und sie konnte ihre seit der Erberei zerstrittenen Kinder und Enkel an ihrem siebzigsten Geburtstag zu einem gemeinsamen Mittagessen einladen. Man sprach nun wieder miteinander. 
Etwas später ein neuer Luxus: Sie reiste jeden Monat mit dem Zug in die Stadt, um allerlei Tees und Salben zu kaufen - und - um ein Bad zu nehmen: "Das ist gar nicht so teuer. Statt einem Zvieri, miete ich für eine Stunde ein kleines Zimmerchen mit einer Badewanne und einem WC mit Spülung. Warmes Wasser, Seife, Shampoo, zwei Waschlappen und zwei Badetücher, ein grosses und ein kleines, alles inbegriffen. Tipptopp. Dann weiss ich, dass ich sauber bin und in den folgenden Tagen meine Bekannten besuchen kann." Mama erlaubte mir nicht, die Grossmutter zu begleiten, das gehöre sich nicht. So war es eben.
Gab es Ausländer? Welche Art Ausländer?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Gab es Ausländer? Welche Art Ausländer?
Wir kannten die Erzählung vom schwarzen Arzt, der bei meiner Geburt dabei war. Weiter beobachteten wir regelmässig einen schwarzen Mann, der einer Frau aus der Stadt bei deren Arbeit im Bienenhäuschen hinter dem Dorf half. Bei unserem Zoo-Besuch hatte unser Brüderchen sogar eine schwarze Hand berührt.
1952 - ich erinnere diese Jahreszahl ganz klar - unterstützte eine flotte junge Frau, Inge aus Deutschland, unsere Mutter bei allen Arbeiten. Sie sprach viel von der Erleichterung und Freude, dass ihr Vater nun aus der russischen Gefangenschaft zurück sei. Sie erzählte vom Krieg, von Bomben und Feuer, von Hunger und Durst, und doch hätten sie zwischendurch auch frohe Momente erlebt. Alle hätten zusammengehalten. Inge kannte viele Lieder und sie konnte so schön lachen. Ihr Vater hat sie dann abgeholt und wir hörten unglaubliche Geschichten aus seiner Zeit in der Gefangenschaft. Schweinefutter wäre eine Delikatesse gewesen.
Eine andere Sorte Deutsche fuhr bald per Auto durchs kleine Dorf. Als niemand ausser dem alten Lehrer ein Auto sein eigen nennen konnte, hielten jene Deutschen zwischen Haus und Brunnen an, um Wasser zu trinken. Sie räumten das Auto um und drückten die Nase am Küchenfenster flach. "Die brauchen nicht auf meinen Teller zu schauen. Haben die den Krieg vergessen," schimpfte der Vater. Um Abhilfe zu schaffen, liess er die Mähmaschine zwischen Haus und Brunnen stehen. Er konnte diese arroganten Menschen nicht ertragen. Ganz anders erlebten wir den deutschen Strassenarbeiter, der mit einer Ringprothese am Arm die Strassenränder wischte.
Freude hatten wir an den jungen Italienern, die am frühen Morgen auf ihren Fahrrädern singend neben unserem Haus hinunter rollten und zur Arbeit fuhren. Flott war auch die mit einem Tessiner verheiratete Italienerin im Hinterdorf. Sie nähte uns aus alten Kleidern hübsche Kleidchen. Sie war dankbar, dass sie etwas dazuverdienen konnte und schätzte es, sich nach Belieben von unseren Abfallprodukten eindecken zu dürfen.
Franzosen und Polen kannten wir vom Hörensagen, sie sollen während dem Krieg interniert gewesen sein und hätten keine Schwierigkeiten gemacht. Gemäss ihrer Erzählung hätte ein Jude, ein Viehhändler meine Mutter gerne nach Amerika mitgenommen, doch alle hätten ihr davon abgeraten. Leider hatten wir nie Kontakt zu Amerikanern.
1956 kamen die Ungarn, wir hatten auch keine Ungarn kennengelernt, doch man hörte viel Gutes von ihnen.
Wie haben eure Mahlzeiten ausgesehen?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wie haben eure Mahlzeiten ausgesehen?
MML-Zusatzfragen: Denke ganz spezifisch an euer Frühstück, Mittag- und Abendessen. Wer sass jeweils am Tisch?
Bis zur Renovation der Küche assen wir gemeinsam in der Stube. Wer zufällig vorbei kam, war eingeladen, sich dazuzusetzen. Ein herrlicher Duft erfüllte unser Haus am Brotbacktag. Kam der Metzger zufällig vorbei, fragte er nach Öpfeltünne (= Apfelkuchen), er habe Tag für Tag mit dem Fleich zu tun, da schätze er etwas Süsses. Schon sass er neben dem Vater auf der Eckbank. Wir hatten Teller genug.
Die Männer machten sich gegen fünf Uhr morgens an die Arbeit im Stall, bei schönem Wetter eher früher als bei Regen. Dann durften wir ins Bett der Eltern zur Mutter schlüpfen. Diese zog sich um halb sechs an und begann in der Küche zu hantieren. Wir Kinder hatten zum Morgenessen auch in den Kleidern zu sein. Frühstück war nach dem Melken, es gab Rösti, gelegentlich Hafermus. Nachdem die Gelbsucht im Dorf die Runde gemacht hatte und auch meine Eltern erkrankt waren, stellten wir eine Weile auf Brot um.
Wir assen gut und abwechslungsreich, denn wir hatten einen grossen Gemüsegarten, Obst, Kartoffeln, Getreide vom Feld und Milch aus dem Stall. Zwar verkauften wir von allem soviel wie möglich, doch verblieb uns immer reichlich Ausschussgut. Mutter und Grossmutter waren gute Köchinnen. Der Vater, er wollte ein moderner Mann sein, er half, wo es gerade eine Hand brauchte. Meine Mutter hat mir später anvertraut, er habe sogar gelegentlich einem Kind in der Nacht die Windeln gewechselt, das waren alles Familiengeheimnisse.
Am Abend assen wir die Reste vom Mittag, ergänzt durch Rösti oder Brot. Bis zur Motorisierung unterbrachen wir die Feldarbeiten am Morgen und Nachmittag, um zu verschnaufen und um auf dem Feld eine Kleinigkeit zu trinken, zu essen und zu plaudern. Der Traktor und die moderne Zeit nahmen uns dieses Vergnügen.
 
 
Was waren damals deine Lieblingsessen?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was waren damals deine Lieblingsessen?
MML-Zusatzfrage: Gab es auch Festessen, auf die du dich besonders freutest?
Essen war uns allen ein Vergnügen. Wir freuten uns auf die Mahlzeiten: Einfach hinsitzen, essen und verschnaufen. Auch wenn ich gerne und angeblich viel ass, war ich kein kräftiges Kind. Die ganze Familie war eher mager. Das sei vom Gemüse, hiess es. Wir waren gesund, wenn auch häufig etwas überarbeitet. Alle Speisen mussten probiert werden. Ein ganz klein wenig! Mochten wir etwas gar nicht, so durften wir es, zum Leidwesen der Grossmutter, dem Vater zuschieben. Zwei Sachen mussten wir nicht probieren. Also bitte, keine grüne Bohnen, kein Sauerkraut auf meinen Teller!
Der Sonntagsbraten aus dem Kachelofen, eine etwas kleinere Ausgabe als der Weihnachtsbraten, das war unser aller Lieblingsessen. Wir waren Fleischtiger! Bis der VOLG im Dorf mit der Kirche Tiefkühlfächer zum Mieten anbot, gabe es den Sonntagsbraten aus dem Kachelofen nur im Winter kurze Zeit nach dem Schlachttag.
2017 24. April Sie überlegte, ob sie etwas über den Sonntagsbraten aus den Kachelofen schreiben sollte? Nein, vielleicht später? Meine Lesenden, was sind oder waren Ihre Lieblingsspeisen? Kochen oder wünschen Sie Sich doch nächste Woche Ihre Lieblingsspeise!
Was für Kleider hast du getragen?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was für Kleider hast du getragen?
MML-Zusatzfragen: Hattest du Lieblingskleider? Gab es Kleider bzw. Kleidungsstücke, die du hasstest?
Zu Schulbeginn hatte mir meine Mutter zwei rotweiss karierte Schürzchen genäht und rot bestickt. Aus dem gleichen Stoff bekam ich auch Überärmel, denn der Lehrer schätzte es sehr, wenn die Kinder zum Schutz der Kleider Überärmel trugen. Ich wusste, die Familie legte Wert darauf, dass das Kind recht angezogen zur Schule ging. Da wir direkt neben dem Schulhaus wohnten, brauchte der Tornister nicht wetterfest zu sein, laminierter Karton genügte. Mein Bruder bekam einen mit einem Pferdefell, ganz weich zum Streicheln und meine Schwester als Patengeschenk einen aus braunem Leder. Mein Tornister war der grösste.
Meist wurden wir von irgendwelchen Leuten mit Kleidern eingedeckt, und meine Mutter oder die Italienerin im Hinterdorf peppten sie auf: "Schmucker als Billigware aus einem Laden in der Stadt!" Meine Patin hätte es gerne gesehen, wenn meine Schwester und ich Werktagstrachten für Kinder hätten tragen müssen. Zu vornehm und zu unpraktisch, wir waren uns einig. Meinem Bruder kauften wir zu Schulbeginn einen kleinen Männeranzug mit Knickerbocker. Er "ertrank" darin, doch er war so schön, dass wir ihn allen Besuchern, selbst dem Viehhändler zeigten. Erst als der Bruder etwas grösser war, konnte er ihn am Sonntag tragen.
An einem regnerischen Nachmittag im Herbst nähte Mutter für jedes Kind selber aus Barchet je zwei Unterhemdchen. Neu und flauschig wärmten wir sie im Winter auf dem Ofen vor, alt und abgetragen dienten sie noch im Sommer. Schöne Unterhöschen strickte eine Tante, die kaum gehen konnte und die wir nicht kannten. Gekaufte Unterwäsche war bald ein beliebtes Weihnachtsgeschenk. Ähnlich ging es mit Handschuhen, Mützen und Socken. Für die Arbeit auf dem Feld hatten wir für mich blaue Latzhosen gekauft. Ich brauchte lange Hosen, denn Heustampfen war meine Arbeit. Gut gegen die vielen wirren harten Halme geschützt, war ich eine willige und wendige Arbeitskraft. "Für den Wagen und auf dem Stock zu gebrauchen", sagte mein Vater und deutete auf mich. Auf diese Latzhosen war ich unendlich stolz. Ich, das Mädchen in Männerkleidern, war soviel wert wie ein Knabe. Das stand fest. Das sagte auch der Vater, wenn wir allein waren, und das war die Meinung des Lehrers, Frauen und Männer sind gleichviel wert.
Zur Konfirmation trugen die Knaben, die nun zu jungen Männern wurden, den ersten schwarzen oder mindestens dunkeln Anzug und einen Hut. In Absatzschuhen mit einem Hut in dunklem Jaquetkleid stolzierten die jungen Frauen zu zweit oder in Gruppen zur Kirche. Ich kann mich gut erinnern, wie wir mit der Grossmutter den beiden Schönen aus unserem Dorf durchs Gangfenster nachschauten. "Denen tun sicher die Füsse weh! Können sie morgen wohl noch gehen? Hoffentlich verstauchen sie keinen Fuss!" tuschelten wir. Die Mode änderte schnell, ich trug zur Konfirmation einen dunkelblauen Rock, einen Regenmantel, leichte Halbschuhe und sicher keinen Hut.
Von Seiten meines Mannes haben wir ein Photo, datiert 1905 mit dessen Vater. Der Knabe, geboren 1900 posiert mit seinen Eltern in einem Röcklein. Dieses Bild bestätigte die von mir angezweifelte Aussage der Grossmutter, früher hätten Knaben bis zu Schulbeginn Röckchen getragen. Das Lieblingsphoto aus meiner Kindheit zeigt meinen Bruder, als Dreikäsehoch auf einem Brunnen stehend in einem sog. Knabenschürzchen.
Wer und wie waren deine Spielkameraden?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wer und wie waren deine Spielkameraden?
MML-Zusatzfragen: Was habt ihr zusammen getrieben, gespielt? Mit wem am liebsten / am meisten?
Neben der Feldarbeit und der Schule blieb mir wenig Zeit zum sogenannten Spielen mit andern Kindern. Meine vielen kleinen täglichen Nischen füllte ich mit "etwas". Ich genoss es, frei zu sein, ich schaute meine Hände, Füsse oder Kleider an, suchte mit den Augen nach versteckten Dingen oder war einfach so da. Schule und Bauernhof erfüllten mich, die Sonntagsschule war mir schon eher zu viel. Ich hatte eine kleine Holzschachtel mit Stoffresten, farbigem Garn, einem Steckkissen mit einer groben Nähnadel, einer Stecknadel für jeden Finger, eine frisch geschliffene Schere, eine weiche, braune gestrickte Puppe und eine Stoffpuppe mit einem "Steinkopf". Das war mein Reich, gut und platzsparend aufgehoben unter dem Kachelofen.
Man sagte, da wir unterhalb der gefährlichen asphaltierten Strasse wohnen würden, hätte ich wenig Kontakt zu andern Kindern. Ich vermisste ihn nicht. Mir war wohl. Ich wusste, ich galt als ungeschickt, ich konnte den Ball kaum fangen, nicht auf Bäume klettern, und meine Mutter gab mir keine Süssigkeiten zum Verteilen. Wohl gemerkt, ich lehnte Süssigkeiten ab, weil ich keine schwarzen Zähne wollte. Und - ich durfte ohnehin nicht mit der Kinderschar durchs Dorf ziehen. Manchmal kamen die Kinder von oben zu uns und wir spielten Familie. Das klappte gut. Gab Mama uns Dörrobst, war es noch besser. Papa, spiel ein wenig mit! Das war das Beste. Doch niemand wollte eine Reise nach Afrika oder eine Reise nach Amerika spielen, schade. Plötzlich hiess es dann, schnell, schnell Scheiter bringen und hinter die Hausaufgaben. Mama, ich bin zu müde.
Gut hat die Zusammenarbeit geklappt, wenn es ans Sammeln von Holz für das Fastnachtsfeuer ging. Ich konnte mittun wie ein Junge, denn der Vater gab mir ein kleines Beil mit, und wir durften für das Heimführen des Holzes unsern Handkarren benutzen. Wenn spielen mit arbeiten verbunden war, klappte alles gut. Ich erkaufte mir meinen Platz mit Leistung.
Wer waren die Nachbarn? Kanntest du/kanntet ihr sie gut?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wer waren die Nachbarn? Kanntest du/kanntet ihr sie gut?
MML-Zusatzfrage: Gibt es Anekdoten aus dem nachbarschaftlichen Zusammenleben? 
Wir kannten die Namen aller Nachbarn, ja aller Leute, die in unserem Dorf mit seinen ca. 110 Einwohnern ein- und ausgingen . Wir kannten auch Leute aus Nachbardörfern, die Schweine- und die Viehhändler, den Tierarzt, den Metzger, den Bäcker, den Pöstler und andere Bauern, mit denen wir gelegentlich tauschten. Da ich immer zuweg (= dabei) war, kannten mich diese Leute auch mit Namen. Nun Einzelheiten:
  • Da wir neben dem Schulhaus wohnten, schimpfte der Lehrer, wenn mein Vater am frühen Morgen mit der Mähmaschine auf die Wiese fuhr, was sich nur mit viel Aufwand hätte verhindern lassen. Der Lehrer und wir, alle lernten darüber zu lachen.
  • Als unsere Nachbarin ein Kind geboren hatte, durfte ich immer beim Wickeln zu schauen und sogar mithelfen, was meine Mutter ein Jahr zuvor bei meiner Schwester nicht erlaubt hatte.
  • Mit einer Familie am Rande des Dorfes verband uns ein alter Familienstreit. Ich konnte das Thema des Streites nicht herausfinden.
  • Dann die Familie mit dem sagenumwobenen Schoggi-Pudding, den ich gar nicht so traumhaft fand, als ich es geschafft hatte, eine Kostprobe zu bekommen. Das Wort "Enttäuschend" und den Satz "unsere Schokolade-Creme ist besser", konnte ich im letzten Moment zurückhalten. Dieser Erfolg in Sachen Selbstkontrolle versüsste Nachbars Schoggi-Pudding, und er begann mir zu munden.
  • Wir assen immer in Tischgemeinschaft, doch da gab es eine Familie mit einem Nachtessen, das sich nannte "jeder isst, wenn er Hunger und Zeit hat", - das tönte fremdartig - daran wollte und konnte ich bald einmal teilnehmen. "Wenn es sein muss, so komm einfach mit unseren Buben, wenn sie das Spiel unterbrechen, um etwas zu essen,"erlaubte die Frau jenes Hauses. So geschah es. Bei strahlendem Sonnenschein verschwanden wir plötzlich in jener düsteren Küche. Auf dem Tisch lagen im Brotkörbchen verschiedene Scheiben Brot, daneben standen ein Krug kalter Tee und Gläser und auf einem Holzbrett warteten ein grosses Stück Käse und ein Messer. Die Buben bedienten sich und ich tat es ihnen gleich, und schon rannten wir wieder ins Freie. Mit dem Brot in der Hand spielten wir weiter.
  • Es gab den Mann mit dem vielen Platz für meine Schweinchen, den Mann der sich für Geographie interessierte und den Fuhrmann mit den Milchkannen.
  • und viele, viele mehr.
Wer war für dich die einflussreichste Person?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Wer war für dich die einflussreichste Person?
Mein Primarlehrer, der Lehrer.
Er liess uns am grossen Leben teilhaben, wir sprachen über Sachabstimmungen, das Frauenstimmrecht, den Bau einer zusätzlichen Staumauer am grossen Fluss, den Bau der Autobahnen, über die Seuchen und Krankheiten, die Kriege mit den Verfolgungen, die Luftbrücke, den Wiederaufbau, die Probleme in Berlin, die vier Grossmächte, die Wasserkraftwerke in den Bergen, die Pläne für ein Kernkraftwerk, die Kohlengruben, die Atombombe, den Ausbau der SBB.
Ich interessierte mich für alles, besonders für den Krieg und die Russen, und gleichzeitig hatte ich Angst vor dem Krieg (Gott sei Dank, wir hatten einen Notvorrat im Keller). Trotzdem beschloss ich bereits in der Unterstufe, nach Amerika auszuwandern, was nur Kopfschütteln und Spott auslöste. Amerika, ein schwieriges, aber mögliches Unterfangen voller Fragezeichen. Nach meiner Meinung brauchte ich dazu einen Helikopter und ein solcher würde ca. 30'000 Franken kosten, dies sagte mir mein Lieblingsonkel, der in einer grossen Autogarage Vorarbeiter war. Er hielt meine Pläne für umsetzbar, denn er glaubte an die Fortschritte in der Technik und an die Verbilligungen im Transportwesen. Transportwesen nannte er alles, was man zum Reisen brauchen konnte. Die Sätze dieses Onkels zu verstehen, war schwierig.
Mit 25 Jahren flog ich nach New York. Der Flug hatte mich zwei Monatslöhne gekostet.
Darf ich nach der einflussreichsten Person in Ihrem Leben fragen? Wer ist es heute, wer damals als Sie in die Primarschule besuchten?
Was für Kontakte hattet ihr mit euren Verwandten? Gab es unter diesen solche, die dir damals oder auch später besonders nahe standen?
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1.  Erste Erinnerungen und Kindheit

Was für Kontakte hattet ihr mit euren Verwandten? Gab es unter diesen solche, die dir damals oder auch später besonders nahe standen?
Kaum Kontakt zur Vaterseite, guten Kontakt zur Mutterseite.
Im Wege standen wohl meine phantastischen und wilden Pläne. Ich war noch kein grosses Mädchen, und doch, ich wollte zum FHD, ich wollte das Frauenstimmrecht, ich wollte eigenes Geld und konnte nicht einsehen, dass ich in der Schule Mühe hatte. Ich litt unter einer Lese- und Schreibschwäche, die durch die Umschulung von der Linkshänderin zur "Rechtshänderin" ausgelöst worden sein soll. Das hatte ich aus einem nicht für meine Ohren bestimmten Gespräch der Grossen aufgeschnappt. Es tat mir gut, das zu wissen. Ich verstand "es" nun ein wenig. Ja. Fertig.
Im Sport war ich eine Null, im Singen ein Brummerli, im Zeichnen eine Niete, Lesen konnte ich nicht, beim Schreiben machte ich in jedem Wort zwei Fehler. Wohin sollte das führen? Wer wollte zu so jemandem schon Kontakt?!
Doch mir mit mir allein ging es gut. Dachte ich an Alfi oder Netti, so wurde ich dankbar. Ich genoss Faulenzen, einfach nichts tun, im Halbschatten liegen und dösen.
Verzeichnis der Fragen und Texte
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Verzeichnis der Fragen und Texte
Hier das Verzeichnis zu Kapitel 2.1. Wählen Sie aus. Mein Vorschlag: Bitte besprechen Sie die einzelnen Fragen vor dem Lesen auf einem Spaziergang mit einer Bekannten .
Was fällt dir als erstes ein, wenn du an deine Mutter denkst?*
Was ist ein "Rotkäppchenpilz", was ein "Glückspilz"?
Gibt es ein Bild frühen Glückes mit deiner Mutter?
Woher stammt deine Mutter? Was weisst du über ihr Leben?
Wie würdest du sie beschreiben?
Wie hast du sie als Mutter empfunden?
Was waren ihre herausragenden Eigenschaften?
Was habt ihr zusammen unternommen?
Hast du dich an deine Mutter gewandt, wenn dir etwas auf dem Herzen lag?
Welches war der Beruf deiner Mutter bevor sie heiratete?
Hatte sie Hobbies oder Leidenschaften? Was konnte sie besonders gut?
Wie haben sich die Eltern kennen gelernt?
Wie kleidete sie sich? War ihr das wichtig?
Hatte deine Mutter einen Verehrer?
Was fällt dir als erstes ein, wenn du an deine Mutter denkst?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Was fällt dir als erstes ein, wenn du an deine Mutter denkst?
MML-Zusatzfrage: Was empfindest du gerade jetzt dabei?
2015 begann sie die Mutter langsam zu vermissen. Es tat ihr gut zu spüren , dass die Mutter ihr in den letzten Monaten ihres Lebens keine Vorwürfe mehr gemacht hatte, sondern sie schätzte und Sätze sagen konnte wie, sie hätte ihr oft unrecht getan, denn sie, die Schreibende sei immer wieder gekommen auf den Hof und dann ins Heim, sie sei dagewesen, wenn man sie gebraucht habe, ihr habe sie alles sagen können. Geduldig habe sie ihr zu gehört und sie habe ihr noch und noch die selben alten Geschichten erzählen können.
Nun eine konkrete Szene von damals, die sich oft wiederholte: "Ich weiss, dass du schläfst," stellte die alte Mama fest (ich döste nur), "um so leichter kann ich bei dir all meinen Heimärger loswerden. Ja, wenn du regelmässig atmest, schimpfe ich laut, das tut gut. Schön, wie du neben mir liegst, ich spüre deine Wärme und klage dir all meine Sorgen um den Hof. Wie dumm ich doch war, als ich mich gegen deinen Plan, neben mich unter die Decke zu schlüpfen, sträubte. Ja, das Pflegepersonal war überrascht, doch du hast es ihnen schön und liebevoll erklärt. Sie konnten sich bald damit freuen." Solch versöhnliche Erinnerungen taten ihr gut, und sie waren das erste, das ihr einfiel, wenn sie im Rahmen dieser Schreiberei an ihre Mutter dachte.
Wie viele Jahre hatte sie auf ein wenig Anerkennung warten müssen! Die Mutter war nun bereits 6 Jahre tot, und sie hatte sich langsam von den anstrengenden Begegnungen mit ihr erholt. Zehn Jahre hatte die Mutter den Vater überlebt. Ihr, dem Glückspilz war es gelungen, bei den wöchentlichen Besuchen ihrer verwitweten Mutter eine Mischung zwischen anwesend und nicht anwesend zu finden, die für sie beide gut war.
Mit Wehmut erinnerte sie sich auch spontan an Mutters Schwester, ihre Patin. Diese nahm den Neid auf sie mit ins Grab. Trotz ihrer abnehmenden Kräfte, warf diese Patin ihr beim letzten Besuch im Spital vor, sie sei nicht in der Lage, ihr eine letzte Freude zu bereiten und einzusehen, dass ihre Ausbildung ein Fehler gewesen sei. Als wir den Spital verliessen, entschuldigte sich meine Mutter für ihre Schwester. 
Was ist ein "Rotkäppchenpilz", was ist ein "Glückspilz"?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Was ist ein "Rotkäppchenpilz", was ist ein "Glückspilz"?
Die Lesenden sollen wissen: "Ich hatte als Kleinkind ein blaues Käppchen und bin mit einem Glückspilz-Herz auf die Welt gekommen. So ein Glückspilz-Herz sehen und spüren die Grossen oft nicht. Das ist ein Geschenk des Himmels an mich persönlich. Es ist ganz weit drinnen."
Der Grossvater hatte mir die Sache mit den Pilzen erklärt. Die "Rotkäppchenpilze" gefielen mir und ich zögerte nicht, mir einen Pfad ins dichte Unterholz zu bahnen, wenn ich einen zu erspähen glaubte. "Nie anfassen, die "Rotkäppchenpilze" sind sehr giftig, komm schneidig heraus," schimpfte er. So plötzlich ein Pilz, versteckt oder stolz im Moos neben dem Weg. Wo kommen die Pilze her? Sie wachsen schnell, nur gegen den Herbst zu. Nach einem warmen Regen "schiessen" sie aus dem Boden. Das Wort "schiessen" machte mir Ungemach. Also, was der Grossvater dann erzählte, begriff ich nicht so recht. Die Pilze sollen grosse Pflanzen unter der Erde sein. Wie die Wurzeln eines Baumes ohne Baum, oder wie die Gänge einer Mausefamilie unterirdisch, ohne Mäuse, ich versuchte zu verstehen. Ein Apfelbaum gab im Herbst Äpfel und ein Pilzstock Pilze. So war es mit den Pilzen. Man sah sie nicht, sie verrieten sich nur, wenn sie Pilze machten.
So war es auch mit meinem Glückspilz, der war immer da, weit drinnen. Irgendwo versteckt, verschüttet, und dann hob er den Kopf, und er war da mit seinem blauen Käppchen, der Glückspilz.
Gibt es ein bestimmtes Bild früheren Glückes, das dir im Zusammenhang mit der Mutter in den Sinn kommt?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Gibt es ein bestimmtes Bild früheren Glückes, das dir im Zusammenhang mit der Mutter in den Sinn kommt?
 Meine Mutter erzählte immer freudvoll von den ersten Ehejahren, und viele glückliche Kurzaufnahmen tauchen in mir auf, wir freuten uns gemeinsam an ihrem vergangenen Glück. Doch hüpfen wir nun weiter zu einer besonderen Begebenheit.
Die Mutter sass auf dem Sofa und stillte ihr drittes Kind. Links schmiegte sich der Bub an ihren Körper und rechts lehnte ich, das Mädchen an sie. Ein guter Moment für einen Glückspilz. Leise begann das Kleine zu weinen. Ich sah die Tränen in den Augen der Mutter, ihr Körper bebte sachte und die beiden grösseren Kinder begannen auch zu weinen, ganz leise. Da wurde der Glückspilz stutzig, das passte ihm nicht. Ich fuhr mit der Hand über den Rücken meiner Mutter und streckte meinen Arm zum Bruder. Schliesslich drückten wir uns gegenseitig ganz fest und wurden wieder froh und sangen leise: "Nach em Räge schint d'Sunne, nach em Brigge chunds Lache, ... (Nach dem Regen scheint die Sonne, nach dem Weinen wird Gelacht). Der Tag ging weiter wie üblich. Dieses Bild und das Liedchen blieben mir in Erinnerung.
Wie wenig es doch brauchte, um glücklich zu sein.
Woher stammt deine Mutter? Was weisst du über ihr Leben? Wie hat sie den Krieg erlebt?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Woher stammt deine Mutter? Was weisst du über ihr Leben? Wie hat sie den Krieg erlebt?
MML-Zusatzfrage: Was hat sie dir davon erzählt oder jemand anders?
Ich spürte, dass meine Eltern nicht aus der selben Welt kamen. Der Vater hatte eine rauere, gröbere, direktere Art, wenn es hart auf hart ging. Mama berief sich auf das, was sich gehörte.
Klar war: Die Mutter stammte aus einer etwas bessern Familie als mein Vater. Sie waren Bauersleute seit Generationen und das Familienoberhaupt war traditionsgemäss Sektionschef und turnusgemäss Stimmenzähler, Kirchen- oder Schulpfleger sowie Mitarbeiter in der Gemeindekanzlei, wenn viel Arbeit anfiel. Die Frauen und die Männer sangen in den lokalen Chören. Die Grossmutter väterlicherseits meiner Mutter war die Tochter eines Seifenfabrikanten. Bemerkenswert scheint mir, dass der Grossvater mütterlicherseits, mein Urgrossvater in den 1880er Jahren gezielt eine Änderung der Schulordnung verlangt hatte, denn er war Vater dreier Töchter. Er hatte seiner Frau gezielt früh ein Frauenfahrrad gekauft, das die vier Frauen gut und gerne benutzten. In jenen Tagen durften dort unten in jenem Dorf am Ende meiner Welt Knaben im Bezirkshauptort die Sekundarschule besuchen, wenn sie radfahren konnten. Da seine Töchter diese Bedingung auch erfüllten und die Älteste zudem die beste ihrer Klasse war, setzte er durch, dass seine Mädchen in die Sekundarschule durften.
Der Vater meiner Mutter, mein Grossvater, geb. ca. 1885 litt nach dem Ersten Weltkrieg an Asthma, denn die Soldaten hätten im Aktivdienst monatelang in den Schützengräben ausgeharrt, bei Regen und Schnee, in jeder Kälte. Viele seien krank nach Hause geschickt worden. Dieser Grossvater hätte sich nie mehr erholt. Deshalb habe er im Bett häufig sitzen müssen, er habe einfach keine Luft bekommen. Nach der Operation des geplatzten Blinddarms im Frühjahr 1929 habe er sich im Spital eine Lungenentzündung zugezogen und sei daran gestorben. Deshalb konnte meine Mutter die Ausbildung zur Nähschullehrerin nicht beginnen. Da zusätzlich noch die Rezession ausbrach, konnte ihre sog. hochbegabte Schwester, später meine Patin, ebenfalls keine Ausbildung machen.
Die Mutter betonte immer wieder, da man verschont geblieben sei, könne man rückblickend sagen, die Zeit der Rezession sei die schlimmste gewesen. Die Preise für die landwirtschaftlichen Produkte seinen zusammengebrochen. Es habe an Arbeit gefehlt, und viele Arbeitslose hätten kaum genug zu essen gehabt - und - man habe geahnt, dass es zum Krieg käme. Man habe entsprechend Vorräte angelegt. Ihren männerlosen Haushalt hätte die Mobilmachung nicht direkt betroffen, denn der Knecht und die beiden Pferde seien kriegsuntauglich gewesen. Natürlich sei es beängstigend gewesen zu sehen, wie die Männer in Uniform auf den Zug marschiert seien. Die Familien hätten daheim Abschied genommen. Niemand habe in der Öffentlichkeit ein Theater gemacht. In den eigenen vier Wänden habe man mit den Kindern weinen und beten können.
Während dem Krieg arbeitete meine Mutter im Service. Auch wenn sie noch niemanden kannte, so sparte sie Geld für die Aussteuer. Sie sei hübsch gewesen und hätte immer wieder einen Offizier kennen gelernt. Nichts Dauerhaftes, denn das Militär sei häufig versetzt worden und am neuen Ort habe es eine noch Schönere gegeben. Ums Neujahr 1943 habe sie meinen Vater getroffen, an Auffahrt hätten sie sich verlobt und am 2. September geheiratet. Fürs Fest habe man zusätzliche Rationierungsmarken bekommen.
2015 war es ihr zu mühevoll, all die vielen "Geschichten ihrer Mutter über die Rezession und den Krieg" aufzuschreiben. Müde übersprang sie alle. Hoffentlich sind Sie fitter. Bitte suchen Sie in Ihrem Gedächnis nach Informationen zur Herkunft Ihrer Mutter!
Wie würdest du sie beschreiben?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Wie würdest du sie beschreiben?
MML-Zusatzfragen: Ihren Charakter aber auch ihr Gesicht, ihren Körper? Ihre Hände? Ihr Verhalten? Ihre Stimme?
Meine Mutter war meine Mutter, und ich verteidigte sie, wenn jemand etwas Negatives über sie sagte. Sie galt als hübsch, obwohl sie hart arbeitete. Die Leute im Dorf staunten, wie emsig und kräftig sie zugriff, und sie wunderten sich, warum sie sich wohl nicht einen Besseren ausgesucht habe. Avancen beachtete sie nicht, die dürfen sich doch an meinem schönen Rock freuen, pflegte sie zu lachen. Der Vater und sie hätten es gut zusammen, der Vater sei liebevoll und nehme Rücksicht. Sie hatten zwei Betten, und in gesunden Tagen war am Morgen meist eines für die Kinder frei.
In den ersten Jahren ihrer Mutterschaft trug sie ihr langes dunkelbraunes Haar zu einem Knoten gedreht im Nacken. Diesen löste unser Vater nachts manchmal. Sie wagte es nicht, tagsüber mit offenen Haaren herumzugehen, auch sonntags nicht, wenn die langen Haare bei der Arbeit nicht gestört hätten. Eine Weile zählte es zu den Höhepunkten meines Sonntags, wenn ich am Nachmittag, wenn alle schliefen, und die Mutter am Tisch heimlich las, ihre offenen Haare kämmen durfte, damit ich mich ruhig verhielt. Wir beide sollten ja auch schlafen.
Die Mutter trug Kleidergrösse 38. Ihr Hochzeitskleid, eine Sonntagstracht, wurde von der Schneiderin auf Grösse 36 gemessen, gezeichnet und genäht. Leider war ihr diese schöne Tracht immer etwas eng. Die Mutter ärgerte sich: "Zu eng, zu eng habe ich schon beim Zumessen gesagt, doch ich habe mich gegen die Schneiderin nicht wehren können." Beim Anprobieren habe die Schneiderin sie noch und noch beleidigt: "Wieder eine Braut, die immer dicker wird." Und die Mutter ergänzte die Erzählung: "Wir haben doch gewusst, was sich gehört, und darum haben wir schnell geheiratet." Ich habe diese Tracht immer bewundert und geliebt. Ich schaute gerne zu, wenn sie diese sorgfältig anzog.
2016 Beim Eintritt der Mutter ins Altersheim 2004 nahm sie die Tracht auf deren Wunsch zunächst zu sich. Bei Mutters Besuchen in der Wohnung der Schreiberin hatte sie ihre Tracht immer wieder angeschaut. Die Schreiberin brachte Mutters Tracht, wie versprochen, irgendwann nach deren Tod auf den Hof zurück. Was aus Mutters Tracht geworden ist, wusste sie nicht.
 
Wie hast du sie als Mutter empfunden?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Wie hast du sie als Mutter empfunden?
Meine Mutter war hoffärtig und anerkanntermassen hübscher als ich. Es hiess, ich sei auch hoffärtig, das freute mich. Hübsch? Ja, wenn auch nicht so hübsch wie meine Mutter. Es begab sich, dass ich wuchs und gross war wie sie. Da begannen die Dorfbewohner witzig zu fragen: "Seit wann hast du eine ältere Schwester und erst noch eine so hübsche?" Alle ausser mir fanden das lustig. Als Zugabe schilderte mir Mama dann all ihre weitern Qualitäten und tröstete mich mit dem Angebot: "Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, du kannst immer bei mir auf dem Hof bleiben." ... Dann folgte eine lange Pause. ... Ich schaute meine "schöne und gescheite und flinke" Mutter an und dachte: "Sicher nicht. Ich will mit meinem Helikopter nach Amerika und später zu meiner "grossen" Freundin Alfi in Afrika?"
"Mama, was haben wir zum Trinken im Korb?" "Gut, dass du etwas sagst, ich habe geträumt," lachte die Mutter. Wir setzten uns und sprachen über die Feldarbeit. Wir kamen gut voran.
Was waren ihre herausragenden Eigenschaften?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Was waren ihre herausragenden Eigenschaften?
Einsatzfreudig, flexibel und beharrlich setzte sie sich für ihr Ziel ein, das da war - eine Siedlung für den Sohn. Sie war ein Teil des Hofes. Wir waren alle Teil dieses Plans. Es war schön, Teil dieses Plans zu sein. Da ich in der Schule Mühe hatte und doch früh als wackere Arbeitskraft diente, war sie entschlossen, mich für immer auf dem Hof zu behalten. Es gab da ja so alte Jungfern, gute, liebe Geister, die immer daheim blieben.
Ich hatte zusätzlich meine eigene Welt. Wie die Mutter, so die Tochter: Einsatzfreudig, flexibel und beharrlich setzte ich mich für meine Ziele ein.
Was habt ihr alles zusammen unternommen?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Was habt ihr alles zusammen unternommen?
 MML-Zusatzfrage: In der Kindheit, als Jugendliche(r), später?
Wir haben viel zusammen gearbeitet und geplaudert und am "Börtli"(= kleiner Abhang, Unebenheit des Bodens) unter dem Baum vor dem Dorf ein Glas Süssmost getrunken. Am nächsten Tag haben wir auch zusammen gearbeitet und geplaudert und am "Börtli" unter dem Baum hinter dem Dorf ein Glas Wasser getrunken. So ging es in den Schulferien, und es war gut so. Am übernächsten Tag haben wir weiter zusammen gearbeitet und geplaudert und am "Börtli" unter einem andern Baum kein Glas Wasser getrunken. Unsere Bäuche waren voll, denn wir hatten beim Abwaschen alle Reste aufgegesssen. Wir kamen gut voran, noch einen Tag. Und dann war Sonntag, und wir haben nicht zusammen auf dem Feld gearbeitet. Mama hat die Handwäsche gemacht und ich ging in die Sonntagsschule. Ich habe geträumt und Mama hat gelesen.
In der neuen Woche haben wir weiter zusammen gearbeitet und geplaudert und am "Börtli" neben Stauden ein Glas Tee getrunken. Wir waren früher fertig als erwartet und gossen noch den Garten. Am nächsten Tag haben wir auf einem Feld weit weg zusammen gearbeitet und geplaudert. Es gab kein "Börtli" und keinen Baum. Wir setzten uns ins Gras, tranken ein Glas Süssmost und assen ein wenig Brot, denn der Weg war weit.
Wir hatten Schulferien. In Haus und Garten liess sie mich die Arbeiten auswählen. So durfte ich immer die Taschentücher nach Farbe geordnet aufhängen, nach einer Familienerkältung 122 Stück. "Schön hängen sie, und die Sonne tötet alle Keime ab," sie lobte mich und drückte mich. Sie tat meine Ordnung als Kinderei ab und liess mich gewähren. Der Lehrer hatte mich einmal dafür gelobt und nahm meine vielen Taschentücher zum Anlass, über Farben zu sprechen. Ich war stolz. So haben wir viele gute gemeinsame Stunden geteilt.
Hast du dich an deine Mutter gewandt, wenn dir etwas auf dem Herzen lag? Woran erinnerst du dich speziell?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Hast du dich an deine Mutter gewandt, wenn dir etwas auf dem Herzen lag? Woran erinnerst du dich speziell?
MML-Zusatzfrage: Was gab sie dir in solchen Situationen für ein Gefühl?
Mama spürte, wenn mir etwas schwer auf dem Herzen lag. Es tut mir leid für dich, sagten mir ihre grossen müden Augen. Sie nahm mich an der Hand, und wir gingen ein kleines Stück nebeneinander. Das tat gut. Eigentlich kannte ich nur eine grosse Sorge. Sie, meine Lesenden, raten richtig: Das Lesen. Dazu kann ich sagen: Auf meine Eltern war Verlass.
2016: Später taten das auch die Schreibende und ihr Mann, wenn sie gemeinsam ein schwieriges Problem zu tragen hatten.
Welches war der Beruf deiner Mutter, bevor sie heiratete? Hat sie diesen Beruf auch nach der Heirat ausgeübt?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Welches war der Beruf deiner Mutter, bevor sie heiratete? Hat sie diesen Beruf auch nach der Heirat ausgeübt?
MML-Zusatzfrage: Falls sie vorwiegend Hausfrau war: Wie ist sie mit dieser Rolle umgegangen?
Mama, welchen Beruf hast Du gelernt? Papa hat Bauschlosser gelernt, und du? Ein wehmütiges Geleier begann, noch und noch. Sie erzählte gerne, ich verstand sie nicht, ich kannte ihre von Selbstmitleid erfüllte Litanei auswendig und hörte sie doch gerne an:
1917 mein Geburtsjahr, 1918 Generalstreik, Ende des Ersten Weltkriegs, die goldenen, rauschenden Zwanzigerjahre, 1929 Börsenkrach ... Weltwirtschaftskrise ... 1929 starb unser Vater, euer Grossvater  im Spital an einer Lungenentzündung und hinterliess unsere Mutter, eure Grosi, eine Bäuerin mit drei kleinen Kindern. Was wollte ich da schon lernen?
1939 Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, am gleichen Tag der Tod von eurer Urgrossmutter, die Mutter des 1929 verstorbenen Grossvaters.
Mama sprach französisch. Im Frühling 1934 begann sie das obligate Welschlandjahr. Noch traf jeden Dezember ein Brief aus Genf ein, von der Mutter ihrer damaligen Herrschaften. Einen Abend lang lebte Mama dann nochmals in Genf: "Frisch gekämmt, in einer sauberen weissen Schürze bediente ich Monsieur, Madame und die grande Maman im Salon." Diese Worte in französisch gesprochen, ergänzte sie mit Gesten. Wir wurden langsam müde. Papa servierte uns Süssmost, seine Worte in deutsch gesprochen, und er brachte uns Kinder mit je einem heissen Steinsack ins Bett. Einen halben Tag pro Woche hatte Mama damals frei, und da kam eine Lehrerin vorbei, um Mama Unterricht in Französisch zu geben. Die Köchin lehrte sie kochen, und grande Maman brachte ihr den nötigen Schneid bei, das Comme il faut. In der Villa nebenan verkehrte mit viel Wachpersonal der Sohn des Kaisers Haile Selassie von Äthiopien. "Ein eleganter junger Mann, anschauen verboten," schmunzelte Mama,"und in der Ferne in Frankreich der Mont Salève, kein Geld um hinaufzufahren." 
Den Winter 1937/38 diente sie bei zwei alten Damen in Küsnacht am Zürichsee. Die Zusage, im Herbst wieder zu kommen, habe sie wegen dem Kriegsausbruch nicht halten können. Ihr Platz sei an der Seite ihrer Mutter gewesen, im Winter habe sie Kurse des Frauenvereins besucht und nebenher serviert. Für die Bäuerinnenschule hätte es nicht gereicht, dann habe sie geheiratet und sich auf die Kinder gefreut.
Hatte sie Hobbies oder Leidenschaften? Was konnte sie besonders gut? Was machte sie besonders gern?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Hatte sie Hobbies oder Leidenschaften? Was konnte sie besonders gut? Was machte sie besonders gern?
MML-Zusatzfrage: Wie hast du daran teilgenommen?
"Deine Mutter liest jeden Buchstaben, den sie erwischt," schimpfte Grössi. Die Mutter konnte mit der Nähmaschine gut flicken: Sonntagskleider, "Übergwändli", Getreidesäcke, einfach alles. Gemeinsam mit der neuen elektrischen Nähmaschine ging das schnell. Wir machten viel, fast alles gemeinsam und zusätzlich die Feldarbeit, die für uns beide häufig wie Freizeit war.
Arbeiten in einer Gruppe auf dem Feld, das machte sie besonders gerne. ... Und sie träumte wohl täglich vom neunen Bauernhof für ihren Sohn.
Wie haben sich die Eltern kennen gelernt?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Wie haben sich die Eltern kennen gelernt?
MML-Zusatzfrage: Musste sie sich evtl. damals oder auch später zwischen mehreren Männern entscheiden?
Die Mutter lachte, sie habe den Vater kennen gelernt, weil er gut tanzen konnte. Ich fragte Mutter immer wieder nach dem Sich-Kennenlernen: Wie ging das?
Wir haben uns schnell, schnell kennen gelernt. Wir erzählten uns abwechslungsweise Jahr für Jahr, unsere 26 Jahre. Häufig erinnerten wir nichts, ...  wir lachten und küssten uns. Wir erzählten von unsern Eltern, unsern Dörfern und Träumen und lachten und küssten. So ging das, und das war gut.
Ich behielt ein paar Geheimnisse für mich, Papa sicher auch. Das ist gut.
Wie kleidete sie sich? War ihr das wichtig?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Wie kleidete sie sich? War ihr das wichtig?
MML-Zusatzfrage: Inwiefern hat dich/euch das später beeinflusst?
"Oh, was habt ihr doch für eine hoffärtige Mutter," murmelte Grössi oft. Mama richtete sich auf und zog sich die Schürze zurecht, auch wenn es noch so ungeduldig an der Haustüre klopfte. "Der erste Eindruck ist wichtig, was immer dann kommen mag," war ihre Devise. "Eure Mutter versteht es, sich gut anzuziehen," der Kommentar im Dorf, "sie ist flink und in der Lage, sich beim Arbeiten nicht schmutzig zu machen." "Schlank ist eure Mutter, habt ihr überhaupt genug zu essen? Kein Vorrat auf den Knochen, die wird schnell krank!"
Hatte deine Mutter einen Verehrer?
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2.1.  Meine Eltern – Meine Mutter.

Hatte deine Mutter einen Verehrer?
Nein, nein! Unsere Mutter hatte einen "Wachmann" und zwei Verehrer.
Wenn Mama sich herausputzte, dann wurde es oft lustig für uns Kinder: "Oh, schön, "dini Ufmachi" (= deine Kleidung). So will ich dich keinen Moment aus den Augen lassen. Die können ruhig die Köpfe drehen. Ich sehe es," lachte Papa voller Stolz. "Das isch kei Ufmachi. Dieses Wort verbiete ich dir. Das ist meine Weinländer-Sonntagstracht," begehrte Mama, die schmucke Frau mit empörtem Gesicht auf. Wir kicherten leise."Danke, dass du sie angezogen hast," Papa verneigte sich leicht. "Ich weiss wohl, wie böse du bist! Kaum haben wir dann einen Platz in der Festhütte gefunden, schickst du mich "Spiessrutenlaufen". Will ich etwas trinken, wie sich das gehört, muss ich selber etwas holen," neckte Mama zurück, sie kam in Fahrt und schnitt eine Schnute. "Ich kann es dir ja nie recht machen, - ich vergesse immer die Hälfte!" entschuldigte sich der "dumme" Papa. "Für dich einen Sirup, für mich einen Süssmost  - und -  und eine Bratwurst, herrlich braun vom Grill - und - für dich," sie sprach leise," dein heimliches Vergnügen als Wachmann zu sehen, wer mir alles nachschaut." Beide freuten sich. Papa wahrscheinlich noch mehr als Mama. "Nein, ein Bier für Papa," Schwesterchen war nicht zufrieden mit Mama.
In der per Velo erreichbaren Dorfnähe gab es drei, vier Feste pro Sommer. Sie lebten vom Dorfklatsch, vom Verhandeln am Familientisch, vom Plaudern bei der Feldarbeit, in der Erinnerung der alten Leute und in den Träumen der Kinder. In dieser Art nahmen alle an jedem Fest teil, aus der Ferne, weil es zu weit weg stattfand. Wenn es hochkam, zeigten unsere Eltern zweimal pro Sommer Präsenz. In der Tracht war zu Fuss zu gehen.
Einschub: Was waren das denn für Feste? Bezirksfest der Männerchöre, die neue Uniform irgend einer Musikgesellschaft, Kranzturnen, und - das war fantastisch- ich war in der dritten Klasse - die Einweihung eines neuen Schulhauses, um zwei Uhr nachmittags eine Kindervorstellung. Fantastisch. Ich schien zu fliegen. Bald schon machte sich Grössi auf den Weg, das wollte sie sich nicht entgehen lassen. Fantastisch, auch sie begann zu fliegen. Dann der Heimweg. Nein, sie war zu alt für solche Unternehmungen, doch es war fantastisch. Taschentücher falten war schön, denn Grössi erzählte mit so viel Freude. Wir begannen beide zu fliegen. Einschub Ende.
2017 Montag 24. Juli  11 Uhr eine Meldung auf dem Bildschirm: Ein Teil der Altstadt ist von der Polizei abgesperrt, weil in einem Verwaltungsgebäude drei Personen durch einen Unbekannten schwer verletzt wurden. Wenig später: Es handle sich beim Täter wahrscheinlich um einen der Polzei bekannten "Waldmenschen", d.h. einen Mann ohne festen Wohnsitz, der sich in den Wäldern herumtreibt. Der Begriff "Waldmensch" löste bei ihr einen Domino-Effekt aus. Ende.
Zu den Schätzen meines Grossvaters zählte eine längliche, rote mit Heftpflaster geflickte Schachtel. Sie war randvoll mit schwarzen Dominosteinen gefüllt, keiner hätte mehr Platz finden können. Gelegentlich mühten wir uns mit dem Versuch ab, diese Steine hochkant, sorgfältig einen hinter den andern in einer Reihe mit ganz kleinem Abstand aufzustellen. Wir schafften es nicht. Sie fielen immer um und zwar alle, denn jeder gab dem nächsten einen kleinen Schups (= Stoss). Papa half uns. Der Grossvater und ich sassen Hand in Hand auf der Bank. Wir schauten zu und staunten. Papa schaffte es, alle aufzustellen. Sie standen wie Soldaten in einer Kolonne auf dem Stubentisch. Grössi und Mama wurden gerufen. Dann berührte Papa den letzten Stein mit dem Zeigfinger - und - wir waren zu langsam! Was passierte? - Ein Stein gab dem nächsten einen Stoss und die ganze Reihe fiel um. Da lagen sie nun. Papa ging in den Stall, und wir versuchten es erneut und schafften es nicht.
Das nannte der Lehrer später Domino-Effekt. Als Hausaufgabe sollten wir alle Domino-Steine aufstellen. Ich kannte den Trick, wir alle kannten den Trick und doch, es war am kommenden Morgen spannend. Wir sassen in den Bänken. Die Lesebücher lagen aufgeschlagen vor uns, wir hätten lesen können. Doch alle schauten dem Lehrer zu. Er versuchte eine ganze Schachtel Dominosteine oben auf der Pultkante aufzustellen. Es gelang ihm mühelos. Dann ging er zur Wandtafel und schrieb das Wort "Domino-Effekt". Unser Augen folgten ihm und er erklärte: "Jeder Stein hat die Kraft ruhig zu stehen, aber er fällt um, wenn sein Nachbar ihn berührt. Aufgepasst, nun nehme ich den zehnten, elften, zwölften und dreizehnten Stein weg. Es entsteht eine Lücke. Jetzt gebe ich dem ersten einen Stoss." Neun Steine fielen um. Dann, stopp, der vierzehnten Stein blieb stehen. Die Lücke hatte die Kettenreaktion unterbrochen. Wir notierten das Wort "Domino-Effekt" in unsere Hefte.
Die obige Meldung vom Angriff des Waldmenschen hatte bei ihr einen Domino-Effekt ausgelöst. Zuerst fiel ihr Mamas "Spiessruten laufen und der Wachmann" ein, und dann kamen ihr die beiden Landstreicher in den Sinn. Tauchten sie auf, wurden sie am Mittagstisch kurz erwähnt. Später beim Glätten oder bei den Feldarbeiten plauderten Mama und ich über unsere beiden "Freunde". Wie lebten sie wohl? Hatten sie Arbeit? Hatten sie eine Familie? Sicher war, beide hatten ein Fahrrad und kamen gelegentlich bei uns vorbei.
Der eine klopfte alle paar Wochen ans Küchenfenster, und wir wussten sofort, er wollte Brot, er wollte viel Brot. Mama schob ihm meist unsern angefangenen Laib in sein Brotsäcklein. "Danke, vergelte es Gott," er reichte Mama die Hand und verschwand. Schliesslich vertraute er uns seinen grossen Wunsch an: "Ein ganzes frisches Bauernbrot." Die Mutter schüttelte den Kopf und er zog mit dem, was er hatte, davon. Ich erwähnte das Brot am Mittagstisch: "Da könnte ja jeder kommen! Wo würde das hinführen!" Noch und noch erwähnten wir im Garten und auf dem Feld das ganze Brot. Und - er hatte das Glück, an unserem Backtag vorbeizukommen. In der Zaine lagen zwölf knusprige Brote. Seine Augen strahlten, und schon hatte er eins in den Händen. Er konnte nichts sagen - wir liessen ihn mit dem noch warmen Laib verschwinden. Und - er kam nie mehr.
Der andere hauste in einer Hütte in einer Kiesgrube. Er hatte einen Herd mit einem Kamin, aus dem manchmal Rauch hoch stieg. Viele Geschichten wurden von ihm erzählt. "Was doch der Dorfklatsch nicht alles weiss, wenn nur die Hälfte wahr wäre. Sicher ist, dass er die erste Strophe des Beresina-Liedes schön singen kann, haha," lachte Papa, "erklingt seine volle Stimme an unserem Brunnen, so bringt ihm meine Schöne den gewünschten Kaffee-Schnaps" so Papas Kommentar weiter. Seine Einladung zum Mittagessen hatte er jedoch abgelehnt, wenn schon, dann wolle er lieber in seinem sauberen, weichen Bett nächtigen. Er verstand Papas Kopfschütteln und sang ein paar Wochen später wieder: "Unser Leben gleicht der Reise eines Wanderers in der Nacht ... ". So weit hatte ich den Text verstanden. An einem regnerischen Tag nach der Schule las der Lehrer mit ein paar Schülern das Beresina-Lied in einem seiner Bücher und spielte es auf der Geige vor. Zu schwierig! Schliesslich ging er vergessen und es gab keine Rauchzeichen mehr.
Dann - zwei weitere Domino-Steine - die beiden Räuber, Deubelbeiss und Schürmann (Details siehe Internet). Die von Radio Beromünster dreimal täglich gesendeten Nachrichten  bestimmten unsere Essenszeiten. Waren sie gefasst? Was gab es Neues? Wie ging die Polizei vor? Wann bringt der Pöstler die Zeitungen? Zuerst Papa, dann Mama und schliesslich fuhr Grössi mit dem Finger den Zeilen nach. Sie las halblaut. Waren wir Kinder ganz ruhig, konnten wir hören, was in der Zeitung stand. Die beiden Täter waren befreundet, seit sie sich im Gefängnis kennengelernt hatten. Papa winkte ab: "Wir haben anderes zu tun!" Doch Mama und mir verschönerten und verkürzten die beiden Mörder viele Stunden monotoner Feldarbeit.
 
Verzeichnis der Fragen und Texte
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Verzeichnis der Fragen und Texte
Mein Lesenden, was fällt Ihnen zu den folgenden Fragen ein? Bitte wählen Sie wieder!
Was fällt dir als erstes ein, wenn du an deinen Vater denkst?
Gibt es ein bestimmtes Bild frühen Glückes von dir und deinem Vater?
Woher stammt dein Vater? Was weisst du über sein Leben?
Wie würdest du ihn beschreiben?
Wie hast du ihn als Vater empfunden?
Was waren seine herausragenden Eigenschaften?
Was habt ihr alles zusammen unternommen?
Hast du dich an deinen Vater gewandt, wenn dir etwas auf dem Herzen lag?
Welches war der Beruf deines Vaters bevor er heiratete?
Hat er dich an seinen Arbeitsplatz mitgenommen?
Hatte er Hobbies?
Hat dir der Vater erzählt, wie er die Mutter erobert hat?
Wie kleidete er sich? War ihm das wichtig?
Was fällt dir als erstes ein, wenn du an deinen Vater denkst?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Was fällt dir als erstes ein, wenn du an deinen Vater denkst?
MML-Zusatzfrage: Was empfindest du gerade jetzt dabei?
Doppelbödig.
2017, 3. August "doppelbödig", das stimmte. Sie hatte oft über diese Frage nachgedacht. Sollte sie dieses eine Wort einfach so stehen lassen? Richtig ist, dass er mich lobte, wenn ich tüchtig arbeitete. Das tat mir wohl, und doch spürte ich, wie er mich damit aufmunterte und zu noch mehr Einsatz anspornte, damit die Arbeit gut und schnell fertig wurde. Die Erinnerung an viele Erfahrungen dieser Art bestätigten in ihr das Empfinden von "doppelbödig": Ein Lob, das gleichzeitig eine Peitsche war.
Und da war immer wieder sein Rat: "Lass dich nie ausnützen, sondern ... !" Er machte den Satz nicht fertig, und wir sprachen nie über das Wort "sondern". Ich war anderer Meinung als er. Wenn es mir zu viel wurde, fragte ich zurück: "Was machst du mit mir?" Er verstand, wir verlangsamten das Arbeitstempo, mein Anteil wurde kleiner, und er half mir nachher bei den Hausaufgaben. Er wollte ja auch eine Sekundarschülerin. Es tönt doch gut, wenn ein Vater so nebenbei erwähnen kann: "Meine Tochter geht in die Sekundarschule."
 
Gibt es ein bestimmtes Bild früheren Glückes, das dir im Zusammenhang mit dem Vater in den Sinn kommt?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Gibt es ein bestimmtes Bild früheren Glückes, das dir im Zusammenhang mit dem Vater in den Sinn kommt?
"Schau, da sitze ich liebe Mama und kann auf dich hinabschauen," strahlten meine Augen, wenn ich auf dem Pferderücken sass und Papa mich gut hielt. Ja, mein Vater setzte mich als kleines Mädchen manchmal gegen den Willen meiner Mutter auf das Pferd. Das gefiel mir. Pferde lösten bei ihr zeitlebens einen Reflex aus: Rücken strecken, Kinn einziehen - und - die Augen in die Runde schweifen lassen: "Schaut, da sitze ich." Mama hatte Angst, ich könnte hinunter fallen, sie traute Papa nicht. Aber sie wollte aber nicht zu mir auf das Pferd sitzen, sie wollte mit Arbeit vorwärts machen. Danke Papa, es war schön.
Mein Leser und meine Leserin, was fallen Ihnen für Bilder frühen Glückes ein? Haben Sie ein Enkelkind oder ein Nachbarskind, dem Sie das erzählen können?
Woher stammt dein Vater Was weisst du über sein Leben? Wie hat er den Krieg erlebt?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Woher stammt dein Vater Was weisst du über sein Leben? Wie hat er den Krieg erlebt?
MML-Zusatzfrage: Was hat er dir / euch davon erzählt oder jemand anders?
Mein Vater wohnte zeitlebens in seiner Heimatgemeinde, wo seine Eltern neben einem kleinen Hof eine Gastwirtschaft betrieben und Sand führten. Als er zehn Jahre alt war, verkauften sie das Wirtshaus und erwarben einen Hausteil unterhalb der Dorfstrasse. Papa hatte eine Schlosserlehre gemacht und half daheim mit.
Er erzählte mir viel vom sog. Krieg, von langen Fussmärschen mit Vollpackung, die er gut gemeistert hatte. Von Blasen an den Füssen seiner Kameraden, von den endlosscheindenden dunklen Nächten und von der Langeweile. Er sagte immer wieder dasselbe und es schauderte uns beide dabei. Einzelheiten erfuhr ich, wenn er zufällig einen Kameraden aus der Aktivdienstzeit traf, und sie Erinnerungen austauschten. Zur Erleichterung mancher, hatte mein Vater gegen Geld Nachtwachen geschoben und Patrouillengänge übernommen. Er soll auch häufig Doppelpackungen getragen haben. Dafür bekamen wir einmal als spätes Entgelt eine Schokolade: "Euer Vater hat für mich den "Affen" (Tornister mit Vollpackung) getragen, obwohl ich ihm nichts geben konnte. Daran werde ich immer denken."
Ich wusste gut, wozu ein Kennwort diente. Im Sinne eines Geheimnisses liess er mich wissen, dass er entschlossen war, zu schiessen und geschossen hätte, wenn ... einer ... das ...  Kennwort ... nicht ... gewusst ... hätte. Er sprach leise und machte zwischen den Wörtern Pausen. Wir machten Spiele mit Kennwörtern. Er wollte, dass ich das gut verstand. Man wisse ja nie, was noch alles auf mich zukomme.
Die Mutter habe ihm liebe Briefe geschickt, die habe er wieder und wieder gelesen. Er habe auch versucht Stenographie zu lernen. Mit seinem Büchlein "Stenographie für Autodidaktik" habe ich später auch geübt. Er und ich, wir haben beide Steno bewundert, aber nie begriffen.
Wie würdest du ihn beschreiben?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Wie würdest du ihn beschreiben?
MML-Zusatzfragen: Seinen Charakter, aber auch sein Gesicht, seinen Körper, seine Hände? Sein Verhalten? Erinnerst du dich an seine Stimme?
Meine Lesenden, beantworten Sie doch diese Fragen! Bitte beschreiben Sie Ihren Vater? Wie haben Sie ihn erlebt, damals als Kind, dann im Jugendalter, in der Zeit, als Sie aus ihm einen Grossvater machten, und als Sie ihm halfen, sich in eine Alterswohnung zurückzuziehen. - Wie hat er Sie unterstützt, als Sie in einer Krise steckten? Dem Vater der Schreibenden können Sie an vielen Stellen begegnen. Sie schaffte es nicht, ein isoliertes Gesamtbild zu entwerfen.
2017, Freitag 6. Oktober, 9.30 Rahmenprogramm: Meine Lesenden, nun können Sie ganz eng miterleben, wie die Schreibende vorwärts drängte. Nach langem Hin und Her hatte sie sich den 30. November 2017 als Deadline gesetzt. Sie wollte zu jenem Zeitpunkt ihren Text im MML-Programm als beendet erklären, um am Schweizer Autobiographie-Award 2018 von meet-my-life teilnehmen zu können. Doch sie brauchte, suchte und fand Unterstützung. Hier ein Zitat aus dem Hilfsangebot von meet-my-life: "Ich konnte inzwischen mit unserem Lektor sprechen. Er hat sowohl Zeit, wie auch Lust, Ihre Biographie in den nächsten Wochen zu korrigieren. Er wird dafür zwischen Fr. 700.- bis 750.- verrechnen. Das beinhaltet die orthographische Korrektur sowie «im Vorbeigehen» stilistische Hinweise. (Ich betone nochmals, dass es sich nicht um ein Lektorat handelt, das redaktionelle Eingriffe nach sich ziehen würde. ...) Ebenfalls inbegriffen ist ein Ausdruck Ihrer Biographie als Word-Datei sowie eine Besprechung von ca. 2 h, vermutlich im Raum Zürich." Nach einem weiteren Mailwechsel betreffend Termine gab sie am 12. Oktober das "Gut zur Korrektur" und  mit einem dreier Roten und dem Duden auf dem Tisch erwartete der Korrektor sie am 7. November in seinem Stammlokal. Da lag auch ihr Text, eine knapp 4 Zentimeter hohe einseitig bedruckte Beige von A4-Blättern, 310 Seiten. Sie freute sich, ohwohl sie ahnte, was auf sie wartete. Sie freute sich, denn sie hatte es geschafft, sich Hilfe zu holen. Sie konnte dem Korrektor nicht konzentriet zu hören, weil sie sich zu sehr freute und sich zudem erlaubte, dieses Gefühl zu geniessen. - Wahrlich viele Fehler verschiedenster Arten hatten auf sie gewartet, doch sie schaffte es.
 
 
Wie hast du ihn als Vater empfunden?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Wie hast du ihn als Vater empfunden?
Ich mochte meinen Vater. Mit ihm zu arbeiten, war ein Vergnügen, Einsatz machte Freude. Ich konnte immer etwas dazulernen, und er schätzte mein Interesse. Er bewunderte mich, manchmal bewunderte er mich etwas zu sehr. Dann sprang ich fort, die Arbeit war ja fertig.
Arbeiten mit meiner Mutter? Ich spürte, dass sie immer alles besser konnte. Es ihr recht zu machen, war eine Kunst, die ich nicht konnte. Punkt, fertig. Irgendwie gab es kein Entrinnen, ich stämpfelte oder stampfte und tat mein Bestes. Ich verstand, die Mutter war überlastet. Dies und jenes musste noch getan werden, weil es sich so gehörte. Frisch dran, trödeln nützt nichts. "Kurz entschlossen - alles weg", der Satz von Grössi half mir. Die Arbeiten von Mama waren nie fertig, es wartete immer noch etwas. "Fertig, Mama, fertig," sie liess mich absitzen und sass auch ab.
 
Was waren seine herausragenden Eigenschaften?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Was waren seine herausragenden Eigenschaften?
Doppelbödig, ausgerechnet und doch hilfsbereit. Loben und anerkennen bringt mehr, als schimpfen und nörgeln.
Im weitern lasse ich Ihnen, meine Lesenden, viel Platz für eigene Gedanken.
 
 
Was habt ihr alles zusammen unternommen?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Was habt ihr alles zusammen unternommen?
MML-Zusatzfrage: In deiner Kindheit, als Jugendliche, später?
Auch wir haben viel zusammen gearbeitet. Arbeit war Leben, Arbeit war Spiel. Wenn wir allein waren, durfte ich jede Arbeit lernen: Kartoffeln abwägen, die Zügel der Pferde halten, Maschinen auseinander nehmen, putzen, ölen und zusammensetzen. Mit dem Zangen-Aufzug Weizen abladen konnte ich schon in der fünften Klasse, später, viel später ein wenig Traktorfahren und mit der Maschine melken. Man wisse ja nie, was noch alles auf mich zukomme. Mit diesen Fertigkeiten konnte ich in unerwarteten Situationen die Arbeiten übernehmen. Das erfüllte mich mit Stolz.
Dank meinem Vater haben wir einmal als Familie an der wunderbaren Carfahrt der lokalen Blasmusik ins Fürstentum Liechtenstein teilgenommen. Wunderbar es! Doch keine Zeit verlieren, weiterfliegen, weiterfliegen.
Unvergesslich ist mir auch die Radiowanderung über den Gotthard. Siebenhundert Teilnehmer, angereist in Extrazügen! Wir überquerten den Pass streckenweise in Einerkolonne. Und dann die Autos auf der schmalen, kurvenreichen Strasse. Warum so viele Autos auf der Gotthardpassstrasse standen und nicht fuhren, das verstand ich nicht. Sie hielten nicht an, um die Aussicht zu geniessen. Ich hatte keine Zeit lange zu schauen, denn ich marschierte in einer Kolonne und wollte nicht überholt und vom Vater getrennt werden. Später sagte mein Lieblingsonkel: "Mädchen, ich würde im Sommer nie über den Gotthard fahren. Die Niederländer und die Norddeutschen und die ausländischen Busse, die schaffen die vielen Kurven nicht. Die Motoren kochen. Da gibt es nichts zu verstehen." Ersparen wir uns nun die weitern, interessanten Erklärungen meines Onkels. Fliegen, fliegen ist wieder angesagt.
Hast du dich an deinen Vater gewandt, wenn dir etwas auf dem Herzen lag? Woran erinnerst du dich speziell?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Hast du dich an deinen Vater gewandt, wenn dir etwas auf dem Herzen lag? Woran erinnerst du dich speziell?
MML-Zusatzfrage: In welchen Situationen gingst du zur Mutter, in welchen zum Vater?
Ich wusste, der Vater zählte auf mich. Auf die Zähne beissen, den Vater nicht enttäuschen, das war meine Devise. "Nein, nein, zu viel, weniger, bitte weniger, bitte weniger, bitte , bitte, bitte, ... kurz entschlossen, alles weg," mein Mund schimpfte und die Hände gehorchten und, die Arbeit wurde fertig. Ich war müde, eine grosse Hand fuhr über meinen Rücken und sagte: "Danke." Ich schüttelte den Kopf. Wozu dieses Danke? Am nächsten Tag ging es weiter ... . Irgendwie wusste ich, ich sass in einem Loch. Ich sass in meinem Loch. Ich konnte nicht hinaus klettern. Ich stand auf und stampfte trotzig, und streckte die Arme in die Höhe, legte den Kopf in den Nacken und entdeckte über mir den Himmel. Alfi hätte den selben Himmel sehen können, doch sie hatte so Heimweh nach ihrer schwarzen Mama. Auf der Missionsstation durfte sie nicht weinen. Darum versteckte sie sich im fremden Bett, das sie so gar nicht mochte. Bei diesen Gefühlen ging es mir wieder gut. Kraft, viel Kraft erfüllte mich. Ich wollte gar nicht immer bei meiner Mama bleiben. Selbstverständlich, ich hatte gut reden, denn ich konnte immer zu ihr zurück, sicher war, dass sie mir eine "gute Nacht" und einen "guten Tag" wünschte.
Im Traumland sprachen Alfi und ich miteinander. Sie erzählte mir von ihrer Sippe, von den grossen Wäldern und von Elefanten. Es gebe auch Häuptlinge. Häuptlinge wie bei den Indianern, von denen mir mein lieber Grossvater selig viel erzählt hatte. Es gab kein elektrisches Licht. Alfi wollte kein elektrisches Licht, sie wollte nur heim. Um sie zu trösten, versprach ich ihr, sie zu besuchen und mit ihr zusammen zur ihrer schwarzen Mama zu gehen. Bei diesen Worten horchte Alfi auf, sie weinte nicht mehr, misstrauisch schauten mich zwei grosse dunkle Augen an. Ich nickte. Sie nahm ihr Heft und machte Hausaufgaben. In diesem Moment weckte mich meine Mama und wünschte mir einen "guten Tag".
Mein Vater verstand die Geschichte von Alfi nicht. Er spornte mich an: "Gut, dass du mir jeden Tag tüchtig hilfst, es wird sonst zu viel für Mama," und er unterstützte mich beim Beheben all meiner Schwächen: "Deine tüchtigen Hände, die geschickt und flink viele Arbeiten erledigen, werden noch lernen einen Ball zu fangen." Er kaufte einen Ball, und kurze Ballspiele versüssten die Arbeit. "Die zwei Kleinen sind besser als die Grosse," wunderten sich die Eltern und wie schön, alle wollten mir helfen. Ich durfte den Ball der Reihe nach jedem zuspielen. Ziel der Familienmitglieder war es, mir den Ball sanft zurückzuwerfen, damit ich ihn fangen konnte. "Übung macht den Meister,"  hiess soviel wie: "Pass auf, es kommt etwas geflogen." Ein Stück Holz, ein Maiskolben, eine Erdscholle, ein Steinchen, unreifes Obst, Kartoffeln, einfach alles, was ihm über den Weg kam, warf er mir zu. Wir taten unser Bestes.
Mit "du lieber Brummli" leitete er eine Nachhilfestunde in Gesang ein. Dabei vergass ich oft, dass wir arbeiteten. So schön konnte Arbeit sein. Mit "Habt ihr schon gelesen?" forderte er Mama auf, meine tägliche Pflichtlektüre nicht zu vernachlässigen. Meine Eltern haben mir immer geholfen. Danke.
Welches war der Beruf deines Vaters bevor er heiratete? Hat er später seinen Beruf gewechselt?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Welches war der Beruf deines Vaters bevor er heiratete? Hat er später seinen Beruf gewechselt?
MML-Zusatzfragen: War er angestellt? In welcher Funktion? Oder war er selbständiger Unternehmer?
Mein Vater hatte Bauschlosser gelernt. Fürs Technikum habe das Geld gefehlt. Trotz der Empfehlung des Lehrmeisters habe er kein Stipendium bekommen. Arbeit habe es in den 30er Jahren keine gegeben, auch für 27 Rappen pro Stunde nicht. In dieser miserablen Zeit habe er bei Bauern ausgeholfen, um daheim vom Tisch weg zu sein. Nach der Rekruten-schule habe der Aktivdienst angefangen. Er habe den ganzen Sold gespart und dazuverdient, wenn immer dies möglich gewesen sei, um später Bauer zu werden, denn das schien ihm ein sicherer Beruf mit immer etwas auf dem Teller.
Meine Eltern konnten schliesslich ihrem Sohn eine moderne Siedlung übergeben. Sie hatten damit ihr Ziel erreicht. Herzliche Gratulation.
Hat er dich an seinen Arbeitsplatz mitgenommen? Wie war das?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Hat er dich an seinen Arbeitsplatz mitgenommen? Wie war das?
Der Arbeitsplatz meiner Eltern war unser Zuhause. Natürlich wollte und konnte ich die Arbeitsplätze anderer Väter sehen, dazu ging ich einfach mit: die Schmiede, die Werkstatt eines Schreiners, die Metzgerei, eine Backstube, den Coiffeursalon. Mit Wohlverhalten, Freundlichkeit und interessierter Fragerei erbat ich mir Einblicke in die Hinterräume dieser Betriebe. Häufig schaffte ich es auch, die Dinge anzufassen. Den Beruf des Lehrers und des Zahnarztes kannte ich ohnehin. Im Spital hatten wir eine Tante besucht, die Spitalluft machte uns Angst.
Eine Weile verkürzten wir uns monotone Feldarbeiten mit dem "Suchen" und "Besprechen" von Berufen wie Pilot und Kapitän, Uhrmacher und Hutmacherin. Vor der Mechanisierung des Bauernhofes gehörte es zum Beruf des Vaters, gemeinsam zu arbeiten, zu plaudern und zu singen. Dann kam der Traktor mit seinem Motorengeräusch, wir hörten den Vater nur noch schwer. Schliesslich nahm der Taschenradio uns den Vater weg: "Sei ruhig, es kommt schöne Musik. Geh weg."
Hatte er Hobbies oder Leidenschaften?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Hatte er Hobbies oder Leidenschaften?
MML-Zusatzfragen: Was konnte er besonders gut? Was machte er besonders gern? Hast Du daran teilgenommen?
Erstaunlicherweise konnte mein Vater Schlittschuh laufen. Woher unsere drei Paar an die Winterschuhe zu schraubenden Kufen stammten, wusste ich nie. Alle ausser Mama konnten ein wenig schlittschuhlaufen. Weiter konnte der Vater gut singen, schwimmen und unsere Mutter elegant zum Tanzen auffordern. An Dorffesten haben sie häufig den Tanz eröffnet, und wir Kinder haben voller Freude zugeschaut. Sie haben uns gewunken und sind von uns weg und auf uns zu getanzt. Am Sonntag nahm er mich gelegentlich in eine Kiesgrube mit ausgedienten Maschinen mit. Da gab es immer etwas, das er als Schlosser zum Flicken oder Verbessern einer Maschine brauchen konnte. Viele dieser Funde rosteten dann hinter dem Schopf ruhig weiter.
Kurze Zeit besuchten meine Eltern gemeinsam eine Volkstanzgruppe. Der Vater gab sich eine verlängerte Mittagspause, die Mutter hatte Dringendes zu erledigen und jammerte am Abend über Müdigkeit und blieb immer häufiger zu Hause. Der Vater fand eine Tanzpartnerin, deren Mann die Arbeit regelmässiges Tanzen auch nicht erlaubte. Alle paar Monate gingen die beiden Paare zusammen etwas trinken, damit die Kirche im Dorf blieb (2016 würde man sagen, um Gerüchte zu vermeiden).
Auch hatte der Vater allerhand gebrauchte Skier gekauft, denn er war entschlossen, noch Skifahren zu lernen. Erste Versuche wagte er versteckt hinter dem Haus, dann erkor er mich zu seiner Skilehrerin. Zum Winter gehörte noch Schnee, und wir fuhren sonntags mit dem Auto zum Atzmännig. Der kleine Skilift war Vaters Ziel. Ich musste Skifahren lernen, der Vater und die jüngeren Geschwister wollten. Alles o.k., denn es kannte uns niemand. Mit 50 kaufte er sich ein Paar neue Skier. Zu Mutters Leidwesen und zu meiner Erleichterung schloss er sich einem Ski-Club an und jeden Sonntag ging's auf die Piste. Die Mutter konnte es nicht lassen, ohne sein Wissen musste ich einmal mit ihr auf die Piste. Dort fuhr der Vater in einer Reihe von Kindern glücklich den Hang hinunter. Sein Mut und seine Entschlossenheit berührten mich entsprechend meiner eigenen Stimmungslage ganz unterschiedlich.
Ob er je richtig Gitarre spielen gelernt hat? Jedenfalls hatte er drei Jahre einen Kurs besucht, wagte es aber nie, uns vorzuspielen, auch an Weihnachten nicht. Die Mutter freute es, wenn er übte und dazu sang. Mit dem Bauernverband machte er eine Reise durch Amerika. Er wollte das wunderbare Land sehen. Er hatte uns immer wieder erzählt von den grossen, ebenen, fruchtbaren Feldern. Amerika sein Schlaraffenland, und dann die grosse Enttäuschung. Er konnte uns nichts von seiner Reise erzählen, er schüttelte nur immer wieder den Kopf. Dann folgte ihr Duo, er: "Gut, dass Mutter nicht mitgekommen ist."Und sie: "Gut, dass Vater sein Amerika nun gesehen hat," sie sahen einander an und schlossen mit einem versöhnlicher Händedruck. Er rauchte Villiger Stumpen, fuhr gerne Auto und genoss am Sonntagabend ein Fläschlein Bier.
2016: Sie hatte am Abend geschrieben und "war dann mit dem Vater ins Bett gegangen". Beim Tippen dieses Satzes schmunzelte sie, wahrscheinlich hätte er sich das gewünscht, denn er hatte es dick hinter den Ohren. Zum Glück war er gehemmt und sie ein "Rühr-mich-nicht-an"! Ihre Ablehnung hatte er ihr stets übel genommen.
Nun aber Ernst! Was wusste sie aus der Kindheit von Vater Ernst? Von der Grossmutter, er sei unerwünscht gewesen; sie habe alles getan, was sie als Mutter von sechs Kindern habe verantworten können, doch sie habe keine Verschüttung (Frühabort) provozieren können! So habe sie nochmals von vorne anfangen müssen. Nach der Grippewelle 1918 und dem Tod dreier ihrer Kinder, sei sie dem Schutzengel des Kleinen dankbar gewesen. In die dunklen Stunden habe er Lachen und Freude gebracht. Drei kleine Särge im Gang, das könne sich niemand vorstellen. Zu seiner Schulzeit befragt, fasste sich Vater kurz: "Gleicher Lehrer, gleiches Schulzimmer wie du. Schwarze Haare, schneidiger Gang, eine Stimme, je nach Situation zwischen liebevoll und aufbrausend wechselnd. Und seine Tatzen, der Lehrer hat kräftig zugeschlagen," ja, nach dem Satz von den Tatzen hatte er das Thema immer gewechselt. Sie hatte vergangene Nacht auch von diesen Tatzen geträumt, denn deren Qualität und Quantität war immer Bestandteil des Dorfklatsches gewesen. Um mitreden zu können, hatte sie den Lehrer einmal provoziert, bis er ausrastete. Es hätte dem Lehrer nachträglich leid getan, das hatte sie gespürt, und sie wich diesem Thema aus. Ein altes Photo fiel ihr ein, die vier Erstklässler von Vaters Jahrgang nebeneinander auf einem Bänklein, zwei Buben und zwei Mädchen. 
Aus Erzählungen ihrer Mutter wusste sie, dass sich der kleine Vater in der Schule schwer getan hatte. Er habe lange, lange nicht lesen können. Er habe eine Bauschlosserlehre gemacht und diese mit Auszeichnung abgeschlossen, das sei erstaunlich, aber nötig gewesen, denn der elterliche "Gwerb" (= Bauernhof) hätte für kein Auskommen gereicht. Plötzlich fiel ihr ein, wie der Vater ihr einmal mit Stolz das Tor beim Walchetor in Zürich gezeigt hatte und erwähnte, weiter habe er während der Lehre mit dem Velo nie fahren können. Gut sei dies gewesen, denn er habe viel gesehen. Dankbar hätten sie das schöne Tor gemacht, denn Aufträge seien rar gewesen.
Das braune Photoalbum der Mutter, sie suchte es in Gedanken. Sie hatte es letztmals mit der Mutter im Altersheim angeschaut. Sie hörte deren Stimme zum x-ten Mal sagen, der Vater sei ein schneidiger Soldat gewesen. Dann das Hochzeitsphoto der Eltern, sie staunte immer wieder: Das junge Paar, ihre Eltern. Nun fiel ihr das Wort "Federschachtel" ein. Sie hatte lange danach gesucht. Sie konnte sich an die Federschachtel des Vaters erinnern, irgendwo verstaubt im Estrich war sie gelegen. Sie entschloss sich, mit dem Stichwort" Federschachtel" in ihre eigene Primarschulzeit zurück zuhüpfen, in die Primarschule, die Unterstufe.
 
Hat dir/euch der Vater erzählt, wie er die Mutter erobert hat?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Hat dir/euch der Vater erzählt, wie er die Mutter erobert hat?
MML-Zusatzfragen: Musste er sich damals oder später zwischen mehreren Frauen entscheiden? Erzählten Vater und Mutter diese Geschichte gleich?
Der Vater gab da kaum Auskunft; sie hätten zusammen getanzt. Die Mutter habe Mühe gehabt, er habe sie tanzen gelehrt. "Ich habe sie tanzen gelehrt," er lachte. Wir spürten, er war stolz auf seine Frau.
Meine Leser und Leserinnen, bitte beantworten Sie diese Fragen für sich selber?
Wie kleidete er sich? War ihm das wichtig?
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2.2.  Meine Eltern – Mein Vater.

Wie kleidete er sich? War ihm das wichtig?
MML-Zusatzfrage: Inwiefern hat dich / euch das später beeinflusst?
Er war immer bemüht, der Situation angepasste Kleider zu tragen und wechselte deshalb mehrmals täglich. Die ältesten Kleider für den Stall, etwas bessere für aufs Feld, gute, saubere Überkleider um mit Pferd und Wagen oder per Velo ins nächste Dorf zu fahren. Ging er in die Stadt oder mit der Mutter in den Ausgang, wollte er zwar ein weisses Hemd tragen, er sei ein Bauer, aber man müsse ihm den Landwirt nicht von weitem ansehen.
"Oh, der ist wieder am Umziehen," schimpfte Grössi, denn sie wusste, dass er dann häufig einen Moment oder zwei Momente aufs Sofa lag oder die Zeitung las, wenn er die Kleider wechselte. Papa war tatsächlich mehrmals täglich beim Umziehen. Er brauchte dazu viel Zeit, denn er schrieb Rechnungen ein oder half mir ein wenig bei den Hausaufgaben. Er schaute mein Heft an und lobte mich.
Einschub: Gewechselt habe ich immer gerne und häufig wie er, doch eher - wie man mir nachsagte - aus falsch verstandener Sparsamkeit. Ich winkte ab. Richtig ist, dass der Waschautomat viel Energie verbraucht, dass Waschmittelrückstände unsere Gewässer belasten, und dass Umziehen Turnübungen ersetzen kann.
Verzeichnis der Fragen und Texte
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Verzeichnis der Fragen und Texte
Was bedeutete ihr Schlafzimmer für dich?
Was fällt dir spontan ein, wenn du an deine Eltern als Ehepaar denkst?
Wie würdest du dein Elternhaus und euer damaliges Familienleben beschreiben?
Wie würdest du ihr Verhältnis/ihren Umgang miteinander bezeichnen?
Falls es zu Scheidungen kam: Was war das für eine Erfahrung?
An welchen Elternteil hast du angenehmere Erinnerungen?
An was für Erziehungs- und Bestrafungsmethoden erinnerst du dich?
Musstest du Arbeiten verrichten? Welche Art und in welchem Alter?
Wie hielten es deine Eltern mit Taschengeld?
Wie waren deine Eltern religiös eingestellt?
Haben sie dir als Kind gegenüber ihre politischen Ansichten geäussert?
Hast du Erinnerungen an das Verhältnis deiner Eltern zu den Behörden?
Was für Erinnerungsstücke an deine Eltern, Briefe, Fotos hast du?
Was für andere Objekte, wie Möbel, Geschirr, usw. hast du von ihnen behalten?
Welche Rolle spielte Humor in deinem Elternhaus?
Wie hast du Sexualität/Erotik in deinem Elternhaus erlebt?
Falls ein Elternteil,oder beide, schon gestorben sind, welche Erinnerungen hast du an ihn?
Wie hast du die Beerdigung erlebt? Besuchst und pflegst du das Grab?
Haben deine Eltern je von Erbschaften profitiert?
Worauf führst du deinen beruflichen Erfolg zurück?
Meine Lesenden, haben Sie Ihre "Hausaufgaben gemacht? Haben Sie sich Antworten überlegt? Nein? Dann aber schnell, schnell nach noch vor dem Lesen meiner Texte, bitte Antworten überlegen.
Was bedeutete ihr Schlafzimmer für dich?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Was bedeutete ihr Schlafzimmer für dich?
2017 13. Januar:  In 14 Tagen wird sie im Flugzeug von Brüssel nach Kinshasa sitzen. Zur Kapitelüberschrift "die Ehe meiner Eltern" fielen ihr spontan viele Sätze mit Fragezeichen ... ???? ... . Viele Fragezeichen! Zur Frage: Was bedeutete ihr Schlafzimmer für dich als kleines Kind, als Primarschülerin? machte sie zu ihrer Entlastung die folgenden Notizen.
Ich war mir damals sicher:
  • Die Schlafzimmer von Eltern werden immer die Schlafzimmer von Eltern bleiben, denn dort treffen sich viele geheimnisvolle Welten: die Papa-Welt, die Mama-Welt, die Papa-und-Mama-Welt, verschiedene Kinderwelten ... .
  • Eine kurze Beschreibung der Einrichtung? Warum auch, die werden immer so bleiben: Zwei Betten, zwei Nachttischlein, ein Tisch, zwei Stühle, eine Wäschekommode, ein dreitüriger Schrank, elektrisches Licht mit einer Schnur zum Ein- und Ausschalten.
  • Anlass für Zukunftsträume? Nein und ja, es wird immer Traumvarianten geben.
  • Alles hat viele Seiten, ...
  • Nie hatte mich damals jemand nach dem Schlafzimmer der Eltern gefragt.
  • Wir hatten dort nichts zu suchen. Wir wurden dorthin eingeladen.
2017, 4. August 6.05: Nach zehn Minuten Bedenkzeit entschloss sie sich, diesen Text vorerst so zu belassen. Sie stand ja erst am Anfang der Überarbeitung. Momentanes Ziel war, alle Text mehr oder weniger zügig zu überfliegen. Sie war zufrieden mit ihrer Leistung. Wieder lag ein heisser Tag vor ihr.
2017, Montag 9. Oktober 11.00 Sie hatte erneut intensiv mit den Texten gekämpft, denn sie wollte diese am kommenden  Donnerstag, 12. Oktober dem Korrektor schicken.
2017, Montag 9. Oktober 11.30 Aus dem Kongo eine schlechte Nachricht nach der andern . Sie staunte, wie gelassen sie dies einstecken konnte. Für sie war klar, sie hatte dies gewollt, und sie war das Risiko eines Fehlschlags eingegangen.
Was fällt dir spontan ein, wenn du an deine Eltern als Ehepaar denkst?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Was fällt dir spontan ein, wenn du an deine Eltern als Ehepaar denkst?
Zielstrebig, einsatzfreudig, oft übermüdet, das waren beide, und das spürte ich schon früh. Ich habe gute Eltern. Ich habe bessere Eltern als viele andere Kinder, denn sie kümmern sich um uns. Ich darf vieles machen, für das ich noch zu klein bin. Ich bin stolz auf meine Eltern. Sie sehen schön aus. Sie haben muskulöse Arme und packen kräftig zu. Ich schaue gerne zu, wie sich meine Eltern bewegen und staune über unseren menschlichen Körper. Wir können viel mehr verschiedene Bewegungen machen als die Tiere. Wir sind keine Tiere.
Einschub: Und nun eine Momentaufnahme, wie es deren viele gäbe. Aus einer übermütigen Laune heraus hatte sich die Mutter einen weiss in weiss karierten kurzen Rock gekauft. Ich habe ihn anprobiert und mich im grossen Spiegel betrachtet. Wir lachten gemeinsam: Ein Minirock für zwei! Du darfst ihn gerne auch tragen, aber nicht absitzen. Zur gleichen Zeit besass Vater einen kleinen, rassigen Motorroller, einen Kreidler mit einem Gepäckträger. Der rollte prächtig, wenn er beim Anlassen genug gepustet und gebockt hatte.
An einem lauen Sommerabend gingen meine Eltern in den Ausgang. Die Mutter führte ihr kurzes weiss in weiss kariertes Kleidchen zum ersten Mal aus. Wir Kinder wünschten ihnen viel Spass. Die Mutter marschierte Richtung Bahnhof. Der Roller des Vater bockte, aber dann sauste er fort, an meiner Mutter vorbei, diese winkte vergeblich. Der Vater drehte, verlangsamte, drehte nochmals und lud dann Mutter mit einer ausholenden Armbewegung ein, auf seinem Rücksitz Platz zu nehmen. Leicht wie ein junges Mädchen schwang sie sich im Damensitz auf den Gepäckträger und fasste meinen Vater, der schon wieder Vollgas gab, um die Taille. Weg waren sie, in einer andern Welt. Wir, die Kinder schauten ihnen wehmütig nach und unser Bruder meinte: "Bald bist du dran."
Wie dem auch sei, gerade dieses Bild ihrer Eltern machte ihr oft Mut. Jedes Ding hat viele Zeiten.
Wie würdest du dein Elternhaus und euer damaliges Familienleben beschreiben?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Wie würdest du dein Elternhaus und euer damaliges Familienleben beschreiben?
MML-Zusatzfragen: Inwiefern hat dich das geprägt? Was bedeutet "Familie" für dich?
Als kleines Mädchen war ich von der Zielstrebigkeit meiner Eltern angetan. Ich wollte mittun und konnte bei vielem mittun. Die Arbeit musste erledigt werden. Meistens genügte die Qualität, die ich konnte. Perfektion war nicht die Art meines Vaters, und er setzte sich mit dieser Einstellung oft gegen Mama durch. Er nahm uns gegenüber ihren Nörgeleien in Schutz: "Sei zufrieden, sei stolz, sie tun ihr Bestes. Hoffentlich kannst du es besser!"
Ein Beispiel: Sachzwang gegen Rollenzwang. Einerseits schimpfte Mama, wenn sie am Samstagmorgen auf dem Feld arbeitete, aber sie musste, denn mit Feld rief Geld. Andererseits hatte sie als gute Hausfrau - und das war sie - zu putzen. Ich hatte verstanden und half ihr aus der Patsche. Ich putzte gerne und packte die Gelegenheit um zu zeigen, wie gut ich es bereits konnte. Der Lehrer entliess uns pünktlich um elf Uhr. Grössi kochte, und ich fegte die Treppe. Beim Mittagessen: Mama nörgelte wegen der runden Ecken und Papa sah all die herunter gefegten Treppenstufen: "Da war jemand tüchtig am Werk!" Das war Familie.
Wie würdest du ihr Verhältnis/ihren Umgang miteinander bezeichnen?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Wie würdest du ihr Verhältnis/ihren Umgang miteinander bezeichnen?
MML-Zusatzfragen: Gab es z.B. ein eheliches Betragen "vor den Kindern" und eines, wenn sie sich unbeobachtet glaubten?
"Nein, nein, euch geht nicht alles, alles etwas an! Ihr braucht in der Schule nicht zu erzählen, dass wir davon träumen das oder jenes oder gar beides zu kaufen," wehrten unsere Eltern lachend ab. Sie hatten viel Verständnis für unser Betriebsinteresse. Wir nannten diese Geheimnisse der Eltern "Bettgeschichten". Papa stillte meine Neugier ein wenig und liess mich wissen: "Wir sprechen über euch, über die Grosseltern, über Verwandte, über Handwerker und viele andere Leute und - wir planen die grossen Anschaffungen." "Dass sie häufig im selben Bett schliefen, sah ich gerne, denn ich wünschte mir ein viertes Kind," das war mein, ganz nur mein Wunsch, denn meine Mutter wollte kein viertes Kind. Gemeinsam sagten sie, vielleicht wenn alle drei in die Schule gehen. Technische Details des "Zusammen-Schlafens" interessierten mich nicht.
Ich weiss, dass die Fetzen zwischen Papa und Mama nur in unbeobachteten Momenten flogen. Denn, zogen Wolken auf, in der sog. Ruhe vor dem Sturm, hiess es plötzlich:" In diesem Ton nur unter vier Augen weiter!!!" In mieser Stimmung blieben wir bei der Arbeit, und wir Kinder bemühten uns, lieb und gut zu sein. Ich wurde nie Zeugin einer solchen heftigen Auseinandersetzung. Doch ich weiss von der Mutter, dass sie sich beide vor verbalen Grobheiten nicht scheuten und keine Lautsprecher brauchten. Sie hätten sich aber nie gegenseitig geschlagen. Leider sei sie häufig lange nachträgerisch gewesen, hätte einen Kopf gemacht und geschwiegen, bedauerte sie später.
Zusammengefasst: Der Vater gab Gas, und die Mutter stand auf die Bremse.
Falls es zu Trennungen/Scheidung kam: Was war das für eine Erfahrung?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Falls es zu Trennungen/Scheidung kam: Was war das für eine Erfahrung?
MML-Zusatzfrage: Wie alt warst du? Wie hat dies deine Einstellung zur Ehe beeinflusst?
Für unsere Grossmutter mütterlicherseits und ihre Schwestern war in den 1890er Jahren die Schulordnung angepasst und die Sekundarschule für Mädchen geöffnet worden. Die Ehe einer ihrer Schwestern, einer Sekundarschülerin wurde kurz nach dem Ersten Weltkrieg einvernehmlich geschieden. Das Paar war kinderlos geblieben, und der Ehemann hatte zunehmend mehr Freude an Alkohol. Die geschiedene Tante wagte es nicht, ihr Glück nochmals zu versuchen. Der geschiedene Mann wurde Mitglied des Blauen Kreuzes und später Vater dreier Kinder.
In Familiengesprächen spürte ich Verständnis für jenen Schritt zur Scheidung und Bedauern, dass die Tante später das Angebot eines Witwers mit drei Kindern nicht annehmen konnte. Der Zeitgeist sei dem entgegengestanden. Diese Scheidung sei das Ende eines aussergewöhnlich mutigen Weges gewesen, erklärte uns die Mutter. Sie fügte bei, es sei ihr im Rückblick unverständlich, wie sie sich damals, nach dem frühen Tod ihres Vaters als halbwüchsige Kinder gegen eine zweite Ehe ihrer Mutter gewehrt hätten. Grund sei ihre verschrobene Überzeugung gewesen, eine gute Partie wäre eine Beleidigung des Vaters selig. Uns gegenüber erklärte die Mutter weiter, ihren Vater hätte es wohl im Himmel gefreut zu sehen, wie seine Kinder wieder von einer gütigen, männlichen Hand angeleitet worden wären.
"Toleranz gegenüber Ausnahmen ja, grundsätzlich aber Scheidungen nein," war die Familienmeinung.
An welchen Elternteil hast du angenehmere oder spezifischere Erinnerungen?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

An welchen Elternteil hast du angenehmere oder spezifischere Erinnerungen?
MML-Zusatzfrage: An was für konkrete Situationen kannst du dich erinnern?
Welch dumme Frage, an die Mutter natürlich, denn mit ihr besprach ich all die spannenden Frauenthemen.
Mit dem Vater machte ich die legendäre Wanderung über den Gotthardpass. Beide halfen mir bei den Hausaufgaben. Das war mir sehr wichtig.
Meine Lesenden, bitte antworten Sie selber.
An was für Erziehungsmethoden, allenfalls auch Bestrafungsmethoden, erinnerst du dich?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

An was für Erziehungsmethoden, allenfalls auch Bestrafungsmethoden, erinnerst du dich?
MML-Zusatzfragen: Wie gingst du mit letzterem um? Welcher Elternteil war der strafende? Wie verhielt sich der andere?
Zuschauen, zuschauen und nachmachen: Wir waren dabei und wollten den Grossen gleichtun, und wir durften den Grossen gleichtun. Wir bewunderten gemeinsam, was wir konnten. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen. Grössi und ich liebten Sprichwörter. Probieren geht über studieren: Der Vater liess uns gerne probieren und herausfinden. Er gab uns Zeit.
Von der Mutter erhielten wir manche Watsche, wenn sie überlastet war, und wir nicht taten, wie wir sollten. Häufig spürte ich später, dass es ihr leid tat. Sie strich mir über die Haare und stellte fest:" Immer trifft es dich."
Der Vater kündigte Schläge an: "Jetzt reicht es, wenn du nicht spurst, ... dann ... " und seine Hände zeigten uns, was passieren würde, wenn ... . War die Stimmung gut, erwiderten wir seine Handzeichen lachend und drückten aufs Gas. Wenn wir ihn provozierten, verklopfte er uns den Hintern, nicht allzu stark. Er machte grosse Handbewegung und bremste vor dem Schlag ab. Wir schrien ein wenig, denn das gehörte zu diesem Spiel. Schlug er kräftig zu, so empfanden mein Bruder und ich das, als angebracht.
Doch mit unserem Schwesterchen lief das anders. Es tut mir heute noch weh, mich daran zu erinnern, wie sie den Vater provozierte. "Nein, das mache ich nicht. Schlage mich", war ihre Haltung."Schlage mich!" Ich verstand den Vater. Sie benahm sich daneben, bis er nicht mehr anders konnte. Wir liessen uns ruhig ein paar Schläge auf den Hintern versetzen, sie wehrte und wand sich und schrie: "Schlag mich auf den Kopf!" Ich versuchte mit meiner Schwester über dieses Problem zu sprechen und fasste die Antwort: "Mach du die Arbeit!" Mühsame, für alle leidvolle Familiengespräche und Szenen folgten, aus denen das Schwesterchen triumphierend als die grosse Gewinnerin hervorging.
Wir waren machtlos. Sie tat mir leid. Ich musste mit Mama darüber sprechen. "Wir wissen nicht, was tun. Papa meint, kommt Zeit, kommt Rat. Gewähren lassen, nicht beachten. Ruhig und klar nein sagen wie sie, wenn sie etwas will, was uns nicht ganz passt. Vielleicht ändert sie sich. Und dann, sie ist ein Mädchen und wird in ein paar Jahren das Haus verlassen. Gut, dass der Bub anders ist," sie versuchte mich zu trösten. Ich betete für meine kleine Schwester. Hätte ich doch etwas zu einer Lösung beitragen können!
Mussten du und deine Geschwister Arbeiten verrichten? Welcher Art und in welchem Alter?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Mussten du und deine Geschwister Arbeiten verrichten? Welcher Art und in welchem Alter?
MML-Zusatzfragen: Wie dachtest du damals darüber? Und heute?
Wir waren dabei. Ich jedenfalls, der Glückspilz habe immer gerne mitgetan und war stolz darauf. "Doch Feld- und Hausarbeit und Schulaufgaben, all das zu erledigen, war trotz meiner grossen Anstrengungen häufig schwierig", das sah ich wohl. Ich trug Sorge zu mir und blieb ein kleiner Glückspilz. Ich verglich mich mit einem Samenkorn, das in eine Fahrrinne zu liegen gekommen war und schimpfte: "Was für ein Pech für mich! Links und rechts lockere, krümelige Erde. Dort könnten meine kleinen Wurzeln leicht und schnell tief tauchen und Wasser suchen. Mein Keim könnte ich ohne Mühe der Sonne entgegenstrecken. Schade, um mich herum ist es hart. Zum Glück hat mich kein Vogel aufgepickt. Zum Glück bin ich nicht auf die Strasse oder ins Dornengebüsch gefallen. Ich werde es schaffen. Ich werde schön und gross."
Bei einfachen manuellen Arbeiten und beim Essen erzählten wir von der Schule und repetierten so unbemerkt den Schulstoff. Rückblickend bin ich für all diese Erfahrungen dankbar.
Wie hielten es deine Eltern mit Taschengeld?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Wie hielten es deine Eltern mit Taschengeld?
MML-Zusatzfragen: Wie hast du/habt ihr es verwendet?
Meine Eltern hatten kein Taschengeld, obwohl der Vater während der Vorbereitung für die Meisterprüfung gelernt hatte, wie wichtig es sei, dass beide Ehepartner für ihre persönlichen Bedürfnisse den selben Betrag frei verfügbares Geld hätten. (Einschübchen: Papas Prüfungsstoff gehörte zu unsern Familientischthemen und zu monotoner Feldarbeit. Es machte Spass, Papa zum x-ten Mal nach Fremdwörter zu fragen, die er wieder und wieder vergass. Er machte dann ein knurriges Gesicht und lobte uns für seine Unterstützung: "Das muss ich am Abend nachsuchen! Helft mir, dass ich daran denke."). Es war unser Kindergeheimnis zu wissen, dass beide irgendwo ein Kässeli hatten, in das sie sog. Trinkgelder legten, um später der Familie eine besondere Freude zu bereiten: Aufschnitt am Werktag, ein kleiner Salami, Studentenfutter....irgend etwas, das im Migros Roter-Punkt war (Roter-Punkt = grosse Markierung für Sonderangebote). Achtung: Solche Angebots-Tafeln zu lesen, das schaffte ich).
Wir Kinder bekamen mal hier mal dort so allerhand Batzen, und diese legten wir in unser Sparkässeli "für später, für harte Zeiten", denn sparst du in der Zeit, so hat du in der Not. Bald schon erhielten wir für kleine Arbeiten Lohn per geleisteter Einheit. In unserer Familie galt, Essen für alle plus Leistungslohn. Heustampfen pro Sommer, eine Flasche Orta rot und einen Franken fünfzig. Schäbig lachten die Nachbarn hinter hoch gehobener Hand. Ich blieb stolz auf meine Leistung, denn ich bekam ja gutes Essen, viele Kleider, ein sauberes Bett und vieles mehr, das brauchte ich denen gar nicht zu erklären. Für die Kirchweih, ein jahrmarktähnliches Dorffest gabs zwei Franken extra, viele kleine Batzen, damit wir genau bezahlen konnten, denn - so hiess es -  Jahrmarktfahrer könnten nicht gut rechnen. An der Kirchweih, schaute ich immer alles genau an. Mir etwas zu kaufen, war nicht ganz einfach: Auf dem Karussell wurde mir übel, vor der Schiffli-Schaukel hatte ich Angst, Süssigkeiten ?? nein, das gab schwarze Zähne. Einmal kaufte ich mir ein kleines Äffchen, das an einem Gummiband tanzte. Alle freuten sich daran. Wie dem auch sei, die Kirchweih war immer ein schönes Erlebnis.Was wir nicht ausgaben, das wanderte ins Kässeli. Dort verschwand auch regelmässig und heimlich einer der beiden Zehner, die uns die Mutter für die Sonntagsschule gab. Das Geld sparte ich für einen Helikopter, um nach Amerika, mein Traumland zu fliegen, und nachher für den versprochenen Besuch bei Alfi in Afrika.
Geld brauchte ich, und Mama gab mir reichlich, wenn mein Bruder und ich mit dem Zug allein in die Stadt zum Zahnarzt fuhren. Ein halbes Billett kostete 70 Rappen und 70 Rappen für die grosse Portion Pommes Frites nach dem Zahnarzt in der EPA. Auf der Gepäckablage unter einem Tisch in der Stehbar verzehrten wir unseren Schatz. Wären doch die Grossen etwas kooperativer gewesen! Hätten sie doch auf die unnötigen Fragen verzichtet! Wir brauchten keine Gabeln!!! Landeier assen Pommes Frites von Hand, basta! Wir hatten keine Angst, mein Bruder hatte einen guten Orientierungssinn, und ich kannte das Geld. Ein Jahr später mussten wir zu dritt zum Zahnarzt und brauchten zwei halbe Fahrkarten. Den Eltern waren unsere Zähne wichtig, darum mussten wir täglich eine schreckliche Kalktablette lutschen und im Winter Lebertran schlucken. In die Stadt durften wir auch ein wenig von unserem Geld mitnehmen und, wenn alles gut klappte, erhielten wir einen Zusatzbatzen fürs Kässeli. Unser lieber Bruder spendierte uns jedes Mal eine Portion Maroni. Ich hatte andere Pläne, doch einmal kaufte ich mir das kleine Collie Hündchen aus Steinzeug, das ich bis anhin bei jedem Besuch in der Stadt ansehen gegangen war.
Tatsächlich ging das Geld aus dem Sparkässeli später irgendwie in meinem Sparbüchlein unter. Den "Plan Amerika" habe ich mit 25 umgesetzt, und nach Afrika, in den Kongo fliege ich seit 2009 jedes Jahr. Meine Lesenden besuchen Sie doch unsere Webseite und bedenken Sie, wir brauchen Geld (www.bauerndoerfer-im-kongo.ch).
Wie waren deine Eltern religiös eingestellt?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Wie waren deine Eltern religiös eingestellt?
MML-Zusatzfrage: Oder spielte die Religion keine Rolle?
Religiös, wie man halt so war. Die Kirche stand im Dorf. Konfirmation, Heirat, Taufe und Tod, der Pfarrer gehörte dazu. Ich spürte, wie in den 50er Jahren die heimelige Volksfrömmigkeit unmerklich durch einen Machbarkeitswahn verdrängt wurde.
Für den Vater war Religion etwas sehr Intimes. In der Silversternacht lauschten wir gemeinsam den Klängen der Glocken von unserem Kirchturm nach. Es war ganz ruhig draussen, und es war uns, als klängen die Glocken nie so hell und voll wie in dieser besonderen Nacht. Wer bereits schlief, war auf Wunsch hin von den Eltern geweckt worden. Es war schön warm in der Stube, denn Mama hatte nach dem Nachtessen nochmals eingeheizt. So konnten wir auch alle Kirschsteinsäcklein nochmals aufwärmen. Wir besprachen dann reihum, was uns das vergangene Jahr alles Gutes gebracht hatte. Weisst du noch wie ... , so unterstützten wir uns gegenseitig beim Erinnern. Nach dem Ausläuten des alten Jahres dankte die Mutter mit einem Vaterunser. Dann tauschten wir unsere Wünsche und Vorsätze für das kommende Jahr aus und plauderten darüber, bis die Glocken das neue Jahr begrüssten. Es folgten wieder ein Gebet und eine Bitte um den Segen Gottes. Nur einmal sprach der Vater auf Drängen der Kinder und Wunsch der Mutter dieses Gebet. Das war sehr feierlich. Er soll es gelegentlich mit Mutter gebetet haben. Er bestand darauf, dass wir beten lernten, das sei Aufgabe der Mutter. Er wollte kirchlich bestattet werden mit seinem Taufspruch als Predigttext: Die Wahrheit wird euch frei machen.
Und die Mutter, die uns beten lehrte? Uns, wie es sich gehörte, in die Sonntagsschule schickte, was ihr gleichzeitig einen Moment Ruhe gab? Die wollte, dass ich zur Konfirmation einen schönen Rock trug? - Gegen Ende ihres Lebens erklärte und betonte diese Mutter, sie glaube an nichts. War sie gegen mich als erwachsene Tochter böse, pflegte sie zu sagen, ihr könnt mich dann ja wie einen Hund verscharren, wo ihr wollt. Im Altersheim verlangte sie Gespräche mit dem Pfarrer, denn der sei der einzige, mit dem man noch etwas Vernünftiges besprechen könne. Das Pflegepersonal würde einen als blöd anschauen, und zudem würden Gespräche über eine höhere Pflegestufe verrechnet. Schliesslich wollte sie auch kirchlich bestattet werden, weil dies so üblich sei.
Der Grossmutter war Religion wichtig gewesen. Ich hätte mir Tischgebete gewünscht.
Haben deine Eltern dir als Kind/euch als Kinder gegenüber ihre politischen Ansichten geäußert? Wo standen sie politisch?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Haben deine Eltern dir als Kind/euch als Kinder gegenüber ihre politischen Ansichten geäußert? Wo standen sie politisch?
Mein Vater leistete sich eine Mitgliedschaft bei der BGB (Bauern-, Gewerbe- und Bürger-Partei), und nur die BGB durfte ihre Plakate an unserm grossen Scheunentor anschlagen.
Politik gab im kleinen Dorf immer wieder neue Gespächsthemen. Wie unser Vater abstimmte war Familientisch-Geheimnis. Wer und wie gewählt wurde, war zwar wichtig, aber Friede, Arbeit für alle, Ruhe und Ordnung standen an erster Stelle. Der Vater gab Gas, er war fürs Frauenstimmrecht, die Mutter bremste, sie war dagegen. Es kommt, wie es muss. Die Entwicklungen lassen sich verlangsamen, aber nicht verhindern. Ich teilte diese Familien-Meinung nicht. Hoffentlich gibt es keinen Krieg! Ich wollte gerne etwas zum Frieden beitragen. Wie? Was tragen oder trugen Wie zum Frieden bei?
Hast du Erinnerungen an das damalige Verhältnis deiner Eltern zu Behörden und Obrigkeit? Zur Kirche?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Hast du Erinnerungen an das damalige Verhältnis deiner Eltern zu Behörden und Obrigkeit? Zur Kirche?
MML-Zusatzfragen: Kamen sie z.b. mit dem Gesetz in Konflikt? Gibt es Erlebnisse, die dein späteres Verhältnis zu diesen Institutionen geprägt haben?
Sie respektierten die Behörden, wie sich dies gehörte. Die Gemeindekanzlei war im Gemeindehaus neben der Kirche unweit von der Dorfpolizei, dem Dorfarzt, dem Schulhaus, der Mühle, der Sattlerei, dem Hufschmied und dem Dorfladen. Wer dort arbeitete, gehörte zur Grundstruktur des Dorfes. Meine Eltern kannten alle "Amtsinhaber" und pflegten Smalltalk, dem Vater Pflicht, der Mutter Vergnügen.
Konflikte mit den Gesetzen? Möglichst wenig Steuern zu bezahlen, das war Vaters Stolz. Er gehe zu weit, schämte sich die Mutter. Der Vater liebte das Versteckspiel. Wurde er vom Steuerkommissär eingeladen, so war er nervös wie ein Sportler vor einem Wettkampf. An der neu eingeführten obligatorischen "Altersversicherung" liess man im Dorf keinen guten Faden. "Eine weitere Art, um die Dörfler auszuquetschen, um Geld für die Städter zu haben," wurde geschimpft. Dass meine Grossmutter eine AHV-Rente erhielt, blieb ein Familiengeheimnis. Die Beiträge der Eltern an die AHV lagen tiefer als die Auszahlungen an die Grossmutter. Das konnte man sich doch gefallen lassen! Die Grossmutter kaufte uns gelegentlich, um die Mutter zu ärgern, Orangenschnitzchen (= süsse Bonbons in der Form eines Orangenschnitzes), das war eines der Grossmutter-Enkel-Geheimnisse.
Was für mediale Erinnerungsstücke an deine Eltern wie Briefe, schriftliche Aufzeichnungen, Bilder, Fotos, Filme, Tonaufzeichnungen, Videos hast du?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Was für mediale Erinnerungsstücke an deine Eltern wie Briefe, schriftliche Aufzeichnungen, Bilder, Fotos, Filme, Tonaufzeichnungen, Videos hast du?
MML-Zusatzfragen: Ist darunter etwas ganz Spezielles, das bei dir etwas auslöst, wenn du es betrachtest oder in die Hand nimmst?
Ach Gott, mehrere Bananenschachteln so "Zeugs" sollte noch sortiert werden. Meine Mutter lebte bis zu ihrem Tod für den Bauernhof und dessen Nachkommen. Möglichst vieles sollte im Haus bleiben, teils um ihr Wirken zu dokumentieren und teils um des Hofs Grösse und Ruf zu mehren. "Heb dies oder das doch auf, sie werden es später vermissen und du kannst es ihnen geben," drängte sie und diese Sachen liegen noch immer in unserm Erstrich. "Bitte nicht einmischen," versuchte ich Mutter zu bremsen und handelte mir damit manchen Streit ein. Sie nahm mir sehr übel, dass ich mich weigerte, in ihren Auseinandersetzungen mit dem Sohn und dessen Familie für sie Stellung zu nehmen. Auf meinen Hinweis: "Mama, die Zeiten und Gepflogenheiten ändern sich," erwiderte sie: "Aber man sollte trotzdem".
Was für andere Objekte, wie Möbel Geschirr, usw. hast du von ihnen geerbt und behalten?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Was für andere Objekte, wie Möbel Geschirr, usw. hast du von ihnen geerbt und behalten?
MML-Zusatzfrage: Was lösen sie aus wenn du sie betrachtest oder in die Hand nimmst?
2017, 30. August  Diese Frage trieb sie seit langem um, ...  Es kam alles anders. Als wir anfangs der 50er Jahre, ich besuchte die Primarschule, die Aussteuer von Tante Elise geerbt hatten, lag ich oft im alten hohen Bett und malte mir meine Zukunft aus. Ich schmiedete Zukunftspläne. Wir benutzten zwar die Sachen der Tante, aber ich trug zu allem sehr Sorge, denn die geerbte und kaum gebrauchte Aussteuer sollte später meine Aussteuer werden. Ich wusste, dass andere Familien keine solchen Schätze geerbt hatten und schwieg mich zu diesem Thema aus. Daheim durfte ich diesem Plan auch nicht erwähnen, denn er galt als absurd.
In meinen Träumen aber war ich verheiratet, und wir benutzten nur Familiensachen. Mein Mann und ich brauchten unser Geld, um eine Firma aufzubauen. Er führte den Betrieb, und ich machte die Buchhaltung. Ich achtete darauf, dass die Rechnungen ordnungsgemäss gestellt und verteilt wurden und nahm die Zahlungen in Empfang. Wir hatten ein Bureau und einen Kassenschrank. Alle vierzehn Tage kamen die Arbeiter bei mir vorbei, und ich gab ihnen den Lohn. Ende Monat brachten mein Mann und ich Geld auf die Bank oder - wir taten es ungern - holten Geld auf der Bank. Wir tranken jeweils einen Kaffee zusammen und besprachen den Lauf der Geschäfte. Ich pflanzte viel Gemüse und Blumen und war unsern Kindern eine gute und lustige Mutter. Mir schien dieser Traum umsetzbar.
Richtig war, dass sie zulange an den alten Möbeln festhielt, und diese schliesslich Stück für Stück doch ins Brockenhaus gebracht oder später als Grobsperrgut an den Strassenrand gestellt wurden. Sie hatte sich nur mit Mühe dem Wandel der Zeit angepasste, und schliesslich half ihr diese Schreibarbeit dabei. So war sie nun froh zu wissen, dass ihr Elternhaus Ende August zum Abriss bereit stand. Sie hatte davon Abschied genommen.
Welche Rolle spielte Humor in deinem Elternhaus? Erinnerst du dich an lustige Geschichten oder Vorfälle?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Welche Rolle spielte Humor in deinem Elternhaus? Erinnerst du dich an lustige Geschichten oder Vorfälle?
 MML-Zusatzfrage: Wie wurdest du davon geprägt?
Einschub: "Schade, du verstehst keinen Humor," mit dieser meist liebevoll gemachten Bemerkung ihres Mannes wusste sie lange nichts anfangen. Seit sie den Scharme von Humor langsam zu erahnen beginnt, bemüht sie sich "humorvoll zu werden", ein schwieriges Unterfangen. Einschub Ende.
Eine lustige Episode habe ich in Erinnerung: Neigte sich der Sonntag dem Ende zu, vor dem Füttern der Tiere legte sich Mama häufig einen Moment auf das Sofa, und es fiel ihr dann schwer, sehr schwer wieder aufzustehen. "Ich kann nicht, ich kann nicht, ich bin zu müde, um die Augen aufzumachen," jammerte sie. "Bleib liegen, die Kinder und ich decken den Tisch und füttern die Schweine," dieses Angebot des Vater konnte sie nicht annehmen, auch wenn sie es am Mittagstisch versprochen hatte.
Mit viel Vorfreude heckten wir einen Plan aus und bereiteten Material vor. "Warte nur, du unfolgsame Mama, die du dich nicht an Versprechen hältst," neckten wir sie. Dann geschah es, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit fesselten wir sie mit Hilfe des Vaters leise und sorgfältig ans Sofa. Wir umwickelten den ganzen Mama-Körper, auch die Hände und Füsse einzeln. Wir verwendeten alle frisch gewaschenen, für die Tiere bestimmten Binden. Sie schimpfte und schrie, und wir deckten den Tisch und fütterten die Schweine. Sie schimpfte und schrie und hörte das Geschrei der Schweine nicht.
Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir sie losbanden. Jedenfalls hörte sie mit uns am Tisch die Abendnachrichten, und wir lachten über ihr Geschrei.
Wie hast du Sexualität/Erotik in deinem Elternhaus erlebt?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Wie hast du Sexualität/Erotik in deinem Elternhaus erlebt?
MML-Zusatzfrage: Wie dachtest du damals darüber? Und heute?
Ich wünschte mir ein viertes Kind und wusste doch sehr wohl, wie Kinder gemacht wurden. Grosseltern, alte Leute bekommen keine Kinder, weil sie müde sind und kaum noch zuaufstehen mögen. Aber meine Eltern, die waren abends auch müde, aber doch nicht die ganze Nacht. Sexualität gehörte dazu wie essen und trinken.
Falls ein Elternteil, oder beide, schon gestorben sind, welche Erinnerungen hast du an ihren Tod?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Falls ein Elternteil, oder beide, schon gestorben sind, welche Erinnerungen hast du an ihren Tod?
MMZ-Zusatzfragen: Die Umstände? Deine damaligen Gefühle? Wie alt warst du?
Einschub: Sie war am Ende des Zweiten Weltkrieges geboren und auf dem Grabstein steht: Vater von 1916 - 1999, Mutter von 1917 - 2009.
Seit ca. 1995 besuchten wir die Eltern jede Woche. Der Vater war alt geworden. Nach ein wenig Blechschaden hinten, dann vorn, auch links und schliesslich rechts, blieb sein geliebter R4 in der Garage. Das gab ihm einen Stoss. Er erlebte diesen Entscheid als ungerecht, die Mutter sei schuld. Ja, die Mutter war schuld, sie hatte Angst, er könnte jemanden überfahren. Sie hatte ihn immer seltener begleitet und lehnte dann seine Einladungen zu Ausfahrten ab. Es folgte des Vaters schwere Fahrt in die Garage! Beim Bescheid, der R4 lasse sich nicht mehr flicken, stand ein kleiner dicker Mann daneben. Dieser lud ihn spontan zu einem Gläschen Roten ein und brachte ihn nachher nach Hause. Am nächsten Tag und alle folgenden Tage, solange Vater noch gehen konnte, tranken die beiden auswärts einen Roten, sie waren Freunde geworden.
Gehen fiel Vater immer schwerer, alle drängten: Nicht hängen lassen, trainieren. Ins Pflegeheim nein, die Badewanne durch eine Dusche ersetzt. Mutter schaffte es nicht mehr. Der schwere Schritt kam. Mit dem Freund zusammen schafften sie es allein. Die Mutter erzählte immer wieder, der Vater hätte gut Abschied genommen von Haus und Hof. Die gemeinsam gelebte Zeit hätten sie Jahr für Jahr besprochen. Sie hätten an viel Gutes und Schönes gedacht, und der Vater sei schliesslich getrost ins Pflegeheim eingetreten. "Ich habe eine Alte gegen viele Junge ausgetauscht" war der Spruch, mit dem er sich nach unseren Besuchen verabschiedete. Er war doppelbödig geblieben. Bei gemeinsamen Ausfahrten griff er mir gezielt ins Lenkrad oder an den Schalthebel. Er wollte vermutlich einen Unfall provozieren. Da ich ihn nicht auf die Toilette begleitete, verweigerte er mir das Wort. Er blieb doppelbödig. Ein Pfleger war für ihn zuständig. Die Schwestern kümmerten sich nur zu zweit um den lustigen Vater. Er war fünf Monate im Pflegeheim. Die Mutter besuchte ihn immer öfter, schliesslich brachte der Rotkreuzfahrdienst sie täglich hin. Dort schlafen wollte sie nicht.
Alle Enkel verabschiedeten sich. Ich hatte begonnen, mich nach jedem Besuch endgültig zu verabschieden. Das freute ihn, denn er wollte gehen. Erinnernd hatte unser Sohn dankbar festgestellt, der Grossvater sei alt, er möge nicht mehr, er spreche kaum, der Kopf sei noch klar, habe er doch bei der letzten gemeinsamen Rollstuhlfahrt bemerkt: "Schau dort, du Stadtbub, das Wasser im Bach ist zurückgegangen, es gibt keine Überschwemmung." Wir hatten Vaters Tod erwartet, trotzdem kam er unerwartet schnell. Mein Berufsalltag lief weiter, alle zehn Tage eine Kommissionssitzung des Kantonsrats zur Änderung des Steuergesetzes. Ich war Protokollführerin. Gegen den Widestand des Vorsitzenden legte die Kanzlistin an jenem Tag ein gefaltetes Blatt vor mich hin: Ihr Vater ist gestorben. Mein Platznachbar las den Text vor. Der Vorsitzende schaute mich an. Ich nickte, das hiess: "Ja, wir können weitermachen." Anschliessend diktierte ich das Protokoll,
und meldete mich für eine Woche ab.
Mutter und ich arbeiteten wieder zusammen. Wir organisierten die Beerdigung. Sie war dankbar, der Tod sei eine Erlösung gewesen nach den letzten beiden Tagen mit mehreren Schlaganfällen. Alle hätten noch von ihm Abschied genommen. Wieder, wie früher, erledigten Mutter und ich vieles zusammen: Besuch in der Leichenhalle, Aufsetzen und Versand der Leidzirkulare, Todesanzeigen in der Zeitung, Urnenbeisetzung, Abdankung, Leidmahl, Wahl des Grabsteins, Erbteilung. Mutter und ich waren ein gutes Team. Es war für uns beide eine gute Zeit. Wie früher haben wir zusammen gearbeitet, Adressen gesucht, telefoniert und geplaudert und am alten Stubentisch ein Glas Süssmost getrunken. Am nächsten Tag haben wir weiter zusammen gearbeitet, das heisst wir waren mit dem Auto unterwegs, und Mama hat geplaudert und erinnert. Sie brauchte Zeit und Ruhe zum Erzählen, wir kehrten nicht ein. Am alten Stubentisch waren wir ungestört wie damals am "Börtli" unter dem Baum, als wir ein Glas Süssmost tranken.
Zehn Jahre später Mutters Tod.
Nach dem Tod des Vaters begann für uns beide zunächst eine schwierige Zeit. Mutter lebte nun, wie sie oft betonte, allein mit den Jungen (Sohn und Familie) auf dem Bauernhof. Sie war enttäuscht, dass ich meine Berufstätigkeit nach dem Tod ihres Mannes nicht reduzierte, um ihr mehr zu helfen. Was helfen? All die traditionellen Arbeiten einer Bäuerin erledigen, welche die Hände der Schwiegertochter nach dem Urteil der Augen der Grossermutter vernachlässigten? Klagelieder anhören, lieber noch mitsingen? Selbst nach ihrem Eintritt ins Pflegeheim behielt sie ihre Stellung als "Betriebsleiterin". Die Jungen würden nicht auf ihre Ratschläge hören! Und ihrem Drängen, mit ihr auf den Hof zu fahren und zum Rechten zu schauen, gab ich nicht nach. Wir spazierten schliesslich nur noch mit dem Rollstuhl. Wir schauten ihr Photoalbum an und betrachteten das Hemd, das sie für die letzte Reise ausgewählt hatte. Sonntag für Sonntag.
Am Tag nach meiner Pensionierung flog ich erstmals in den Kongo. Das war ein Schlag für sie wie der Verzicht des Vaters auf sein Auto. Sie war gut aufgehoben im Pflegeheim und lobte im nachherein die vielen nie erwarteten interessanten Besuche, die sie während meiner Abwesenheit hätte begrüssen dürfen. Doch es blieb dabei: "Afrika ist dir mehr wert, als die alte Mutter, und du schämst dich nicht einmal ja zu sagen. Ja, so eine bist du." Ich schwieg, denn das letzte Wort gehörte ihr, der Mutter. Die andern, damit meinte sie die beiden Geschwister der Schreiberin, würden landwirtschaftliche Betriebe führen, die würden arbeiten. Was ich denn tue? Ihre Schmerzen wurden unerträglich. Morphium? Mit dem Pflegepersonal einigten wir uns darauf. Mutter und ich, wir versöhnten uns. Einen Monat später legten wir sie, das Pflegepersonal und ich in ihrem schönen Hemd in den von ihr ausgewählten Sarg.
Die Beerdigung gestaltete sich schwieriger als die des Vaters. Mutter hatte mir ihre letzten Wünsche oft ans Herz gelegt, und ich war in ihren Vorstellungen festgefahren. Ich tat mich schwer, ihre Wünsche nicht zu erfüllen und andere Vorschläge zu akzeptieren. Warum anders machen? Damit ihr Grab immer anständig aussehe, verlangte sie, dass ich sofort nach ihrem Tod, noch vor der Beerdigung, einen Grabpflegevertrag unterschrieb: "Das wird schon noch drin liegen, so habe ich meine Ruhe, und ihr alle könnt mich sofort vergessen."
2016: Vor zwei Jahren, also fünf Jahre nach Mutters Beerdigung hatte sie begonnen, die Mutter wehmutsvoll zu vermissen. Sie realisierte mehr und mehr: "Nun bist du das älteste Familienmitglied." Einschub Ende.
Wie erlebtest du die Beerdigungen? Besuchst und pflegst du das Grab?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Wie erlebtest du die Beerdigungen? Besuchst und pflegst du das Grab?
MML-Zusatzfrage: Gibt es andere Erinnerungshandlungen?
Ich weiss Mama, du hast dir gewünscht, dass wir immer und immer an dich denken und dein Grab gut pflegen. Wir bringen Blumen, denn du möchtest, dass andere Friedhofbesucher sagen: "Sie ist nicht vergessen." Sei beruhigt, wir tun das gerne. Um dir eine Freude zu machen, hoffe ich, es sogar einmal meinen Enkeltöchtern zeigen zu können. Für mein Empfinden hast du versucht, mit der neuen Siedlung für Deinen Sohn dir ein Denkmal zu setzen. War der Preis nicht etwas hoch? Mama, du wirst auch in meiner Schreibarbeit in der Cloud von meet-my-life erwähnt.
Haben deine Eltern je von Erbschaften profitiert?
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Haben deine Eltern je von Erbschaften profitiert?
MML-Zusatzfragen: Lief das in der Familie harmonisch ab oder gab es Streit?
Erbschaften? Von Vaters Seite: Streit nach dem Tod meines lieben Grossvaters. Ich erinnere ein paar Wortfetzen und eine Szene: "Wenn es deine Mutter nicht gegeben hätte, wären wir nicht leer ausgegangen!" Laut weinend wankten zwei grosse, dicke Frauen, die Schwestern meines Vaters, durchs Haus. "Ich habe nie von etwas gehört, ich wüsste nicht von wem," erklärte mir Mutter diese Szene Jahre später. Der Kontakt wurde abgebrochen. Meine Mutter beantragte für Grössi (ö kurz gesprochen) eine Übergangsrente: "Sie, gemeint ist Grössi, sie hatte nichts und der Vater wollte ihr nichts geben, so war die Rente eine gute Lösung."
Erbschaften von Mutters Seite: Allerhand. Da war die Hinterlassenschaft der geschiedenen Tante Elise und ihrer ledigen Schwester, diese fiel an unsere Grosi, als die dritte im Bunde der Schwestern (mit Dehnung des o), die Alleinerbin. Grosi übertrug diese Aufgabe ihrem Sohn. Er organisierte mit seinen beiden Schwestern (meiner Mutter und meiner Patin) eine Besichtigung vor Ort, dies ohne Kinder.
In jenen Jahren lief über den Radio schweizweit die Aktion "jedem Kind sein Bett", ein Thema in der Schule, am Familientisch und beim Besuch des Pfarrers. Wir waren gut im Zeitplan. Mutter konnte dem hohen Gast von unserer laufenden Erbschaft, der kompletten Aussteuer und dem Gästebett von Tante Elise inklusive Bettwäsche berichten und ihm die Räumlichkeiten zeigen: "Schon länger so geplant, gab es auch Platz in unserem Haus. Eine von Grössis Töchtern hatte nach einem Mädchen Zwillinge, dann einen Knaben und später - ob das wirklich nötig war? - noch ein Mädchen geboren. Grössi war glücklich, ihr Tochter unterstützen zu können," erzählte Mutter stolz, und darum hatten wir Platz.
Einschub: Wir waren in der Schule, als der schöne, runde Nussbaumtisch, das Doppelbett, das Grössi in die Ehe gebracht hatte, und allerhand weitere Ware mit einem Lastwagen abgeholt und unsere Möbel umgestellt wurden. Mein "neues" Bett, das Bett meines lieben Grossvaters, stand mit einem kleinen Tisch allein im grossen leeren Zimmer. Was eine Ehre sein sollte, machte mir eher Angst. Ich liess mir nichts anmerken, tapfer und stolz schlief ich allein in meinem Zimmer. Einschub Ende.
Mit dem Pferdefuhrwerk holten Vater und Mutter wenig später unsern Anteil an der Erbschaft von Tante Elise. Regen meldete sich an. Darum schnell, schnell alles ins Haus geräumt. Die Möbel wurden wie geplant aufgestellt, viel schöner als erwartet, dunkel und glänzend. Dann mehrere Schachteln und Holzharasse mit viel Wäsche von guter Vorkriegs-Qualität, Besteck, ein Kaffee-Service, zwölfteilig, Küchengeschirr, alles nützliche Dinge, lobte die Mutter. Weitere Schachteln mit Sachen, die niemand wollte, mich aber erfreuten: Ansichtskarten, mit Grüssen aus der ganzen Schweiz, Strickmusterbänder, zwei Meter lang, angefertigt in der Nähschule, aus grobem Leinen handgenähte nie getragene Unterwäsche, Bücher, altmodische Kleider um "Verkleiderlis" zu spielen. Schneller als mir recht war, schaffte die Mutter das unnütz genannte Zeug weg. Der kleine Bauernhof von Grosstante Elise wurde günstig verkauft. Den Vater gings nichts an, doch hinter vorgehaltener Hand schimpfte er: "Mir und der Bank wollten sie ihn für diesen Preis nicht geben. Schulden bei der aktuellen Geldentwertung machen sich doch bezahlt."
Von der Seite des Vaters der Mutter: Die Verwandten in Zürich. Vornehm und reich, Tante Rosa, angeheiratet, geschminkt, mit grossen Hüten, sie bedachte die Stiftung "Für die Alten".
Onkel Fritz, der Bruder von Mutters Vater, ein Genie, ein Charmeur, "die Liebe in Person", war in zweiter Ehe mit Margrit verheiratet. Diese führte einen angeblich bekannten Coiffeursalon mit zwanzig Sesseln. Sie legte etwas beiseite fürs Alter und versuchte dafür zu sorgen, dass ihr Allerliebster nicht mehr ausgab, als sie verdiente. Sie fuhr Auto und die beiden besuchten uns gelegentlich. Später verloren wir den Kontakt, es hiess: "Die Liebe in Person" habe es geschafft, sich so zu verschulden, dass Margrit kein Auto mehr hätte fahren können.
"Die Söhne studieren an der ETH," hiess es von andern alten Verwandten. Da war nicht ans Erben zu denken. Diese unbekannten Verwandten wohnten in einer Villa am Zürichberg. Wie alle Menschen, wurde auch dieser "Onkel" älter und alt. Er war ein begeisterter Reiter und tränkte, als er sehr alt war, sein Pferd gelegentlich bei uns. Wir plauderten. Er stieg nie ab. Dann ritt er wieder weg, im Schritt, das Pferd war auch müde. Wir winkten den beiden nach, und Mama meinte wehmütig:" Ein alter Reiter, der nicht mehr ohne Hilfe aufsteigen kann. Ob er wohl nochmals kommt?" Sie erzählte, dass er sich während Jahren Sommer und Winter jeden Samstag mit Kameraden zum Schwimmen im Zürichsee getroffen habe. 
EINSCHUB: Mein Geheimnis, von diesen Verwandten wusste ich: "Die "ETH", die Eidgenössische technische Hochschule ist besser als die Universität, denn dort studieren nur junge Männer technische Berufe. Junge Mädchen besuchen die höhere Frauenfachschule, lernen die Aushaltsführung und heiraten." Ich erwähnte es nie, doch mir war klar: "Ich werde eine junge Frau und studiere an der Universität. Ich will das Frauenstimmrecht." Ich dachte all diese sog. verrückten Gedanken immer wieder. Hatte ich so schwierige Tätigkeiten wie Stricken und Velofahren gemeistert, warum mich nicht an wirklich wilden Gedanken festhalten? Ich konnte es ohnehin niemandem recht machen. Der liebe Gott gab mir zu viel Arbeit und zu wenig Kraft. Ich verlangte von ihm Pausen und nahm mir immer wieder das Recht, zu verschnaufen und verrückte Träume zu träumen. Ich wurde einen Tag krank.  Einschub Ende.
Alle Sachen, die wenigen Sachen von Grössi, holten ihre Töchter. Der Sohn, unser Vater habe den Hausteil bekommen und die Töchter etwas Geld, gespart von der AHV-Übergangsrente. Wieviel erfuhr ich leider nie.
Worauf führst du deinen beruflichen Erfolg zurück?
Seite 128
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2.3.  Meine Eltern – Die Ehe meiner Eltern.

Worauf führst du deinen beruflichen Erfolg zurück?
Ich wusste, es hiess immer wieder, einen Bauernhof müsse man erben. Nach dem Zweiten Weltkrieg noch etwas aufbauen zu wollen, das sei nicht möglich. "Du bringst es nie zu etwas, du wirst nie etwas Rechtes haben, das ist ein Ding der Unmöglichkeit," solche Sätze hatte sich Papa immer anzuhören, und ich hörte mit, und sie wurden leiser und seltener und verschwanden, noch bevor ich die Sekundarschulprüfung bestanden hatte. Natürlich geriet uns vieles nicht. Doch nach dem Hagelwetter erholten sich unsere Felder wieder. Trotz der Trockenheit gab es genug Heu. Die Kartoffelkäfer waren weniger gefährlich als die Krautfäule. Die Kirschen hatten Würmer, die Zwetschgen waren zu klein und einen Grossteil der Äpfel frassen unsere Kühe, denn niemand wollte sie kaufen. Wir machten weiter und kamen trotz dieser Hindernisse vorwärts. Schauen Sie, die Jahre verstrichen, und wir hatten bald einen Stall voll Vieh, einen neuen Rübenkeller, einen Zangenaufzug, eine vollautomatische Waschmaschine, einen elektrischen Kochherd und viele kleine Stücke eigenes Land. Wir waren gesund und häufig müde. Neu hiess es: "Eure Eltern sind verrückt, sie kennen keine Grenzen." Ich lachte,  schüttelte den Kopf: "Nein, nein uns geht es gut. Wir haben Glück," und dachte, sagte aber nicht: Ich danke und bete, wie Grössi mich das gelehrt hat.
Diese Erfahrungen gaben mir die Sicherheit und den Mut, jeden Tag wieder frohgemut in die Schule zu gehen. Es wurde Abend und Mogen und Abend und Morgen, jede noch so schwierige Schulstunde fand ihr Ende. Ich hatte nichts zu verlieren. Ich schaute zuversichtlich in die Zukunft, denn ich hatte wie Papa meine zwei unmöglichen Pläne: Amerika und Afrika und schon ein wenig mehr als hundert Franken auf meinem Sparbüchlein auf der Bank.
Meine Lesenden, was heisst für Sie beruflicher Erfolg? Was heisst Erfolg im Allgemeinen?
Verzeichnis der Fragen und Texte
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3.1.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater väterlicherseits.

Verzeichnis der Fragen und Texte
Im Verzeichnis zum Grossvater väterlicherseits, Chueri, tauchen alle im meet-my-life Programm angeboteten Fragen auf. Dieser Fragenkatalog ist für alle vier Grosseltenteile identisch, aber nur bei Chueri, den ich als Kleinkind verehrt hatte, finden Sie zu allen Fragen einen Text. 
Was sind deine Erinnerungen an diesen Grossvater?
Was weisst du über sein Leben? War er im Krieg?
Was habt ihr zusammen unternommen?
Was für Selbstzeugnisse oder Objekte von deinem Grossvater gibt es noch?
Was war seine berufliche Tätigkeit?
Erinnerst du dich an seinen Tod?
Was geschah mit dem toten Grossvater? Die Beerdigung
Erinnerst du dich an Personen die ihm besonders wichtig waren?
Was sind deine Erinnerungen an diesen Grossvater?
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3.1.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater väterlicherseits.

Was sind deine Erinnerungen an diesen Grossvater?
MML-Zusatzfragen: Wie war er? Wie hat er ausgesehen? Hast du noch Fotografien? Was erzählen diese?
Einmal ging der Grossvater "gsuntiget" (= im besten Anzug) an die Beerdigung eines Militärkameraden. Grössi hatte ihm beim Sich-Herrichten tüchtig geholfen. Dann stand vor mir ein stattlicher, grosser Mann, frisch rasiert, mit kurz geschnittenem Schnauz und Vatermörder (= steifer, vorne offener, hoher Stehkragen des Herrenoberhemdes mit losen nach oben abstehenden spitzen Enden, die bis zum Kinn reichen). Dazu trug er eine Weste mit weissem Pochettli (= Einstecktüchlein) und einen Hut. Er war stolz, dass er seine Hochzeitskleidung noch tragen konnte. Der Schneider hatte diese auf Anordnung seiner Braut nicht ganz eng angefertigt. Die Schwiegereltern hatten auf englischem Tuch bestanden, damit er die Kleidung lange ohne glänzende Stellen tragen könne. Grössi half ihm in die Schuhe und dann stellte er sich vor den Spiegel. Ich hatte zugeschaut und staunte. So marschierte er zur Kirche im andern Dorf. Grössi setzte sich erleichtert: "Das Anziehen ging schneller als gedacht." Sie ordnete die Schachtel mit den Vatermördern und zeigte mir auch Grossvaters Zylinder: "Er ist gross und braucht keinen Zylider. Die sind aus der Mode gekommen. Komm, ich setze ihn dir auf." Da die Sonne schien, durfte ich damit sogar um das Haus gehen. Die Nachbarn winkten lachend: "Ist der vom Chueri?"
Das war  m e i n  lieber Grossvater, Chueri. Meine Lesenden, Sie kennen Ihn aus Kapitel 2.2 "Meine frühe Kindheit" zur genüge.
Was weisst du noch über das Leben und die Lebensumstände deines Grossvaters? Wie war das z.B. im Krieg/in den Kriegen?
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3.1.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater väterlicherseits.

Was weisst du noch über das Leben und die Lebensumstände deines Grossvaters? Wie war das z.B. im Krieg/in den Kriegen?
MML-Zusatzfragen: Hat er dir oder jemand anders über sein Leben erzählt? Seine Kindheit? Woher und aus welchen Verhältnissen stammte er?
Das grosse Bild der schönen Berta Bachofner hing im Riegelhaus oben im hinteren Gang. Ich bewunderte es oft. Sie, BB war die erste Frau des Grossvaters gewesen. Ihr erstes Kind starb bei der Geburt, ... . Der Grossvater suchte eine Magd, er fand meine Grossmutter und stellte sie ein. Das zweite Kind von BB starb, ... und Mutter und Kind wurden gemeinsam in einen Sarg gelegt. - Ich atmete tief aus, meine Schultern schlafften nach vorn und ich nickte -. All unsere Wäsche trug die Initialen meiner Mutter, MP, klein in Blockschrift oder eben BB, grosszügig geschwungen in lateinischer Schrift, beide gefertigt in feinem Kreuzstich. Grössi hatte mir viel erzählt: "Ich war BB's Dienstmädchen, und bin nach ihrem Tod im Haus geblieben. BB's Familie hat die stattliche Aussteuer zurückgelassen, die Eltern hätten schwer getragen. Kein negatives Wort kann ich über BB sagen." Nach zwei Jahren habe der Grossvater sie geheiratet, und sie habe BB ersetzt, so gut es ihr möglich gewesen sei. Du weisst ja, ich habe sieben Kinder geboren," so die Grossmutter. Das war BB. Zum Bild befragt, sagte der Grossvater nur: "Ja, ja," und weiter nichts, es war seine BB gewesen, das spürte ich.
Im Militär, im Ersten Weltkrieg liess sich der Grossvater gemeinsam mit seinem Pferd einteilen: "Ich wollte nicht, dass die mein Tier aus blinder Wut zu Tode schinden, so bin ich freiwillig eingerückt. Mein Bruder hatte eine Anstellung bei der Bahn und wurde deshalb nicht aufgeboten. Er starb in den 30er Jahren an Tuberkulose. Seine Frau konnte weiterhin in der Dienstwohnung bleiben, sie besuchte uns jedes Jahr auf den Bauernhof." Dann - bald nicht mehr.
Was habt ihr zusammen unternommen?
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3.1.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater väterlicherseits.

Was habt ihr zusammen unternommen?
MML-Zusatzfragen: Warst du z.B. oft dort in den Ferien? Wie war das?
2017 8. September 17.45 Es war ihr in jenem Moment ein Anliegen, ein paar Worte an ihre Leser und Leserinnen, an die Zuhörenden zu richten: "Hören Sie zu: Ich mochte all die Fragen und Zusatzfragen von MML, ich war dankbar dafür. Sie öffneten mir Türen zu einer andern Welt. Sie ermöglichten mir erst zu spüren, wie gross und anders "meine Welt" damals war. Ende. 
Der Grossvater und ich hatten doch nie etwas zusammen unternommen. Wozu auch? Die kleinen Arbeiten, die dem Grossvater und mir zugeteilt wurden und die Besorgungen, die wir per Ross und Wagen erledigten, das genügte mir vollauf. Die Beschreibung einer solchen Fahrt finden Sie in Kapitel 2.2: Wo war "deine grosse Welt"? Ein wenig Geographie.
Was für Selbstzeugnisse oder Objekte über deinen Grossvater existieren noch? Was bedeuten sie dir?
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3.1.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater väterlicherseits.

Was für Selbstzeugnisse oder Objekte über deinen Grossvater existieren noch? Was bedeuten sie dir?
MML-Zusatzfrage: Ist davon etwas erhalten geblieben?
Mein Grossvater hatte eine grosse rote Trinkschale mit weissen Punkten, einen silbernen Suppenlöffel mit einer Bordüre und eine Gabel mit den Initialen. Mit grosser Sorgfalt benutzte die Grossmutter diese Dinge nach seinem Tod, und ich schaute ihr manchmal dabei zu. Viele Jahre später, bevor die Grossmutter ins Spital gebracht wurde, verabschiedeten wir uns gemeinsam von Grossvaters Essbesteck und der Trinkschale. Nach der Beerdigung nahmen es Grossmutters Töchter mit. Das war so der Brauch, und das war gut so. Zum zehnten Geburtstag hatte mir Mama eine Trinkschale mit Blümchen geschenkt. 
2016 Hoppla, was entdeckte sie da?  Sie hakte, wie in jenem regnerischen Sommer häufig im Garten Unkraut aus. KH, die Initialen von Konrad, genannt Chueri auf dem Stiel der alten und kaum beachteten Haue (Hacke). Vielleicht gab es auch irgendwo noch ein Taschentuch mit den in Kreuzstich gestickten Lettern BB (Berta Bachofner, Chueris erste Frau). So oder so war es gut, und wir können schwungvoll weiter fliegen, daran würde uns alter Plunder (= wertlose Gegenstände) nur hindern. Lasst uns das Gleiten durch die Luft geniessen. Meine Leser, was machen Sie mit den von Ihren Vorfahren erhaltenen Sachen?
Was war seine berufliche Tätigkeit?
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3.1.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater väterlicherseits.

Was war seine berufliche Tätigkeit?
Es gab keine MML-Zusatzfragen, und sie hätte diese hier doch so dringend gebraucht. Er war Bauer, er kelterte die eigenen Trauben, war Wirt und Vater von sieben Kindern.
Details siehe Kapitel 2.2.
Erinnerst du dich an seinen Tod?
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3.1.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater väterlicherseits.

Erinnerst du dich an seinen Tod?
MML-Zusatzfragen: Wie alt warst du? Wie und wo ist er gestorben, und wie gingst du / gingt ihr damit um?
Ich ging noch nicht in die Schule und wusste: "Fürs Sterben ist auch Gott zuständig." Ich erinnere mich mit einem guten und tiefen Gefühl an den Tod meines Grossvaters. Er soll einen Schlaganfall gehabt haben. Jedenfalls hatte er zunehmend mehr Mühe mit dem Gehen. Er musste getadelt werden, weil er die Beine nachzog und schlurfte. Alle glaubten, er könnte es besser, und der Grossvater fluchte. Mir hatte er erklärt, dass es nicht mehr besser ginge. Er hatte geweint, und ich streichelte ihm die grosse, rauhe Hand. Wir schauten uns an. Ich liebte meinen Grossvater, und er freute sich, wenn ich bei ihm war. Er schenkte mir gelegentlich ein "Malztäfeli". Ein solches heimlich zu stibitzen, war aber streng verboten, auch betteln. Die Kraft des Grossvaters musste nachgelassen haben, denn ich bekam mehr und mehr "Malztäfeli". Unsere Fahrten mit dem Pferdefuhrwerk wurden kürzer.
Eines Tages musste er erbrechen, und am folgenden Tag blieb er im Bett. Meine Mutter gab jemandem aus der Nachbarschaft eine Notiz mit, worin sie den Doktor um einen Hausbesuch bat. Ich blieb bei Grossvater, das war recht so, alle hatten zu tun. Wir schauten uns an. Er nickte mit dem Kopf. Ich nickte auch. Unsere Augen und unsere Herzen unterhielten sich ohne Worte. Dann rutschte ich vom Bett und nahm sachte alle "Malztäfeli" aus der Schublade. Ein feierlicher Moment, und ich verschwand damit. Als ich zurückkam, war er tot. Er sei gestorben, sagte Grössi, und wir legten ein weisses Tuch auf ihn. Wegen der Fliegen, flüsterte sie.
Dann sassen Grossmutter und ich still nebeneinander auf dem Ofenbänkli. Nach einer Weile stand sie auf, und ich stand auch auf. Grössi nahm das weisse Tuch weg und mit sanfter Hand schloss sie dem Grossvater die Augen. Sein Mund stand offen, das sah nicht schön aus. Grössi holte ein sauberes Kopftuch. Sie faltete es und schob damit den Unterkiefer ihres toten Mannes sachte hoch. Mit einem Knoten auf dem Kopf fixierte sie die Mundstellung. Nun deckten wir den toten Körper ab und legten ihn schön gerade auf den Rücken. Wir betteten den Kopf im Kissen zurecht und zogen die Beine gerade. Die Füsse waren sauber und warm. Wie üblich hatte der Grossvater am Sonntagabend sein Fussbad genommen, und Mama hatte ihm die Füsse gewaschen und mit Melkfett eingerieben.  Die Arme legten wir neben seine Brust und die Hände falteten wir auf dem Bauch. "Allerhöchste Zeit, der Körper beginnt schon steif zu werden," stellte Grössi fest. Später bestätigte der Doktor den Tod und bestellte einen Sarg, das musste so sein. So oder ähnlich starb man.
Zwei alte Männer haben den Weg nicht gefunden. Der eine hatte sich im Bett erhängt. Am Tag als ihn seine Tochter per Auto zu sich ins Welschland holen wollte, war er tot. Niemand war überrascht, hiess doch einer seiner Sprüche, nur in einer Holzkiste werde man ihn aus seinem Haus fortbringen. So war es nun, alle verstanden. Scham hatte den Scheinheiligen den gleichen Weg wählen lassen, denn es war zum Gerücht der Gegend geworden, dass er seinen Schwiegertöchtern zu nahe getreten sei, nachdem seine eigenen Mädchen ausgezogen seien. Mutter und Grossmutter erklärten mir beide Fälle gut.
Wir sprachen auch über Unfälle bei der Waldarbeit und vom Ertrinken. Man sagte, der Kreis hat sich für diese Person geschlossen, und Gott hat sie zu sich genommen.
Was geschah mit dem toten Grossvater? Die Beerdigung
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3.1.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater väterlicherseits.

Was geschah mit dem toten Grossvater? Die Beerdigung
Meine Lesenden, Achtung: Eines meiner Ziele besteht darin, Ihnen einen konkreten Einblick in meinen Kampf mit dieser Schreibarbeit zu geben. Glauben Sie mir, es war nicht immer schön, ich schaffte es oft kaum. Da war z.B. die MML-Überschrift in Frageform: Was geschah mit dem toten Grossvater? Die Beerdigung mit den MML-Zusatzfragen: Wo hat er z.B. gewohnt? Wie wurde er betreut? Sahst du ihn bzw. sahen deine Eltern ihn oft? Ich wollte Ihnen diese Fragen nicht vorenthalten, doch kann ich Sie auf Kapitel 2.2. verweisen. Dort finden Sie meine Antworten. Ich habe dafür ergänzend eine Beschreibung der Beerdigung eingefügt. Ende.
Ich war neugierig und schon ein wenig erfahren in Sachen Beerdigungen. Sie waren zwar ein besonderes, aber nicht ganz seltenes Ereignis. Der Sarg fuhr im Leichenwagen zur Kirche. Kränze und Blumen schmückten ihn. Viele schwarz gekleidete Leute folgten dem sonderbaren Pferdefuhrwerk, immer zu zweit. Überholen für Autos verboten, sprechen verboten, auch für die heimlichen Fenstergaffer. Wir beobachteten den Zug meist während der Feldarbeit. Nahte er, wurde kurz unterbrochen, um dem Toten die Ehre zu erweisen. Wie immer, ich fand es spannend und tat den Grossen gleich.
Der tote Grossvater, da lag er auf dem Bett. Ich war fünf. Endlich wurde der Sarg gebracht, eine schöne neue Kiste, die fein nach Holz roch. Die Gemeindeschwester und die Grossmutter wuschen den toten Körper und zogen ihm das weisse Totenhemd über, das die Gemeindeschwester gebracht hatte. "Gut, dass sie ihren toten Mann so schön gerade auf den Rücken gelegt haben. Das macht unsere Aufgabe leichter," sagte die Schwester anerkennend. Ich stand unbemerkt dabei und sah zu, wie die beiden Frauen den lieben toten Grossvater in den Sarg hoben. Er war ganz steif. Die Grossmutter fuhr mit der Hand über das weisse Hemd und sie legten ihm ein paar Blumen in die Hände. Der Sarg wurde geschlossen und im Gang aufstellt.
Ein emsiges Treiben setzte ein. Nachbarn und viele Unbekannte kamen, um sich vom Grossvater zu verabschieden. Wir Kinder mussten mit zur Feldarbeit, um und im Haus mussten wir ganz ruhig sein. Am Tag der Beerdigung holte uns eine Bekannte ab. Ich war enttäuscht, dass ich nicht zur Beerdigung durfte, hatte die Mutter doch für mich ein schönes, schwarzes Schürzchen gekauft. Das haben die andern so bestimmt, erklärte sie mir leise. Ich gehorchte tapfer. Mein lieber Grossvater, ... er war nun im Himmel.
Am Sonntag nach der Beerdigung durfte ich mit der Mutter zum Grab des Grossvaters. Schön war es, mit den vielen Blumen geschmückt. Die Mutter begoss sie sorgfältig mit frischem Wasser, denn es war heiss. Dicht neben den Grab war etwas mit Brettern bedeckt. Die Mutter erklärte mir, dort hätten die Totengräber bereits die Stelle für ein weiteres Grab vorbereitet. Es war zwar verboten, aber wir versuchten ein wenig hineinzuschauen. Nichts als schwarz. Kein Himmel? Die Hölle? Wir führten ein ernstes Gespräch. Dessen Fazit: Die Mutter war noch nie im Himmel gewesen, das Herz des Grossvaters war im Himmel. Sein Körper wurde zu Erde. Ich versuchte zu verstehen.
Die Tanten holten alles. Sie liessen der Grossmutter und mir nur ungern die rote, weiss getupfte Trinkschale, den grossen silbernen Löffel, mit dem der Grossvater täglich Kaffee mit Brotmocken zum Mund geführte hatte, und seinen Stuhl. In ruhigen Momenten setzte sich die Grossmutter an den Tisch und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Meine Hand hatte jeweils eine gute Weile auf ihrem Rücken gelegen, wenn wir zu plaudern begannen: "Es ist gut so. Der Grossvater war alt, 20 Jahre älter als ich." Die Kammer der Grosseltern wurde umgestellt, es war fortan die Kammer der Grossmutter. Sie kaufte ein rundes schwarz gerahmtes Erinnerungsbild, eine Rose, kaum grösser als meine Hand. Auf die Rückseite hatte sie seinen Namen, sowie Geburts- und Todestag und ein Bibelwort geschrieben. Fein säuberlich, Papa und Mama hatten ihr den Entwurf des Textes korrigiert.
2016: Was mit diesem Medaillon schliesslich geschah, wusste sie nicht.
Erinnerst du dich an Personen, die im Leben deines Grossvaters eine wichtige Rolle, positiv oder negativ, gespielt haben?
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3.1.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater väterlicherseits.

Erinnerst du dich an Personen, die im Leben deines Grossvaters eine wichtige Rolle, positiv oder negativ, gespielt haben?
Mein Grossvater kannte alle Leute.
2017 Sie hatte diesem Satz nichts beizufügen. Er entsprach ihrer Erinnerung. Ergänzend verwies sie die Lesenden wieder auf Kapitel 2.2. Erinnern Sie sich an wichtige Personen im Leben Ihrer Grosseltern?
 
Verzeichnis der Fragen und Texte
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3.2.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter väterlicherseits.

Verzeichnis der Fragen und Texte
Was sind deine Erinnerungen an diese Grossmutter?
Was weisst du über ihr Leben? War das im Krieg?
Was habt ihr zusammen unternommen?
Was hast du von deiner Grossmutter gelernt?
Was für Selbstzeugnisse, Objekte existieren noch von ihr?
Was war ihre berufliche Tätigkeit?
Erinnerst du dich an ihren Tod?
Wie hat sie im Alter gelebt?
Erinnerst du dich an Personen die ihr wichtig waren?
Was sind deine Erinnerungen an diese Grossmutter?
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3.2.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter väterlicherseits.

Was sind deine Erinnerungen an diese Grossmutter?
MML-Zusatzfragen: Wie war sie? Wie hat sie ausgesehen? Hast du noch Fotografien?
siehe auch 2.2
Meine Grossmutter väterlicherseits, genannt Grössi, sang oft und schön. Bot sich eine günstige Gelegenheit, so erklärte sie mir immer wieder langfädig, dass sie sich, nachdem sie zur Konfirmation ihr erstes Gebiss bekommen hatte, beim Singen nicht mehr geniert habe. Deshalb habe sie am Sonntagnachmittag die Mädchensingschule besuchen dürfen. Sie war begeistert: "Glaube mir, wir sangen wunderbare mehrstimmige Lieder. Bei schönem Wetter zogen wir singend durchs Dorf, um den alten Leuten eine Freude zu machen. Öffnete sich ein Fenster oder eine Türe, blieben wir eine Weile singend stehen. Die Wirtin sammelte die Liedwünsche ihrer Gäste und hiess uns Platz nehmen. Aus Freude servierte sie uns ein Glas Apfelsaft." Grössi strahlte. Vielen hätte das Geld zum Einkehren gefehlt, und andere hätten gezielt gespart. Doch alle hätten zusammen mit den Kindern zugehört und geklatscht. Klein und rund stand sie neben mir. Sie kannte die Texte auswendig. Es waren Lieder für die Grossen. Ich verstand nicht, was sie sang.
Wenn wir am Sonntagnachmittag endlich alle verschwunden waren, hatte Grössi die warme Stube für sich allein. Sie nutzte den Moment, um das "Gelbe Heft" durch die Brille einer modebewussten, schlanken Frau anzusehen. Blätterten wir später gemeinsam durchs Heftli, zeigte sie mir ihr Lieblingskleid, und wir lachten beide. Sie war ehrlich. Ich sah die Bilder, auf denen ihr Finger lag, und hörte sie halblaut lesen: "Für die schlanke Linie", "zum Verlieren von Pfunden." Sie meinte: "Es ist gut, etwas mehr an den Knochen zu haben als deine Mutter, aber ich bin zu rund." Grössi kannte ein Geheimmittel, und sie wurde mit zunehmendem Alter tatsächlich schlanker. Sie trank täglich nüchtern ein Glas Wasser mit zwei Esslöffeln Apfelessig.
Meine jungen Leserinnen, wie möchten Sie mit achtzig Jahren aussehen? Meine alten Leserinnen, wie haben Sie jung ausgesehen? Beantworten Sie bitte meine Fragen möglichst genau. Die Schreibende wog 2017, wie damals als Konfirmandin ca. 63 kg und war 1.72 m gross.
Was weisst du noch über das Leben und die Lebensumstände deiner Grossmutter? Wie war das z.B. im Krieg/in den Kriegen?
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3.2.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter väterlicherseits.

Was weisst du noch über das Leben und die Lebensumstände deiner Grossmutter? Wie war das z.B. im Krieg/in den Kriegen?
MML Zusatzfragen: Hat sie dir oder jemand anders über ihr Leben erzählt? Ihre Kindheit? Woher und aus welchen Verhältnissen stammte sie?
2017 9. September 5.15  Es war noch dunkel draussen. Über Nacht war Herbst geworden. Sie hatte Mühe, sich so schnell von der sommerlichen Hitze auf Morgennebel umzustellen. Wolken zogen auf. Regen war angesagt. Die Nachbarin im Haus schräg hinten hatte bereits Licht. Frühmorgens arbeitete sie an ihrer Dissertation. Nun sah man sich wieder. Die Schreibende schüttelte den Kopf, lachte und murmelte wie Grössi vor mehr als 60 Jahren: "Es war nicht schön, glaube mir, es wird immer besser. - Bitte meine Lesenden glauben Sie mir, es war und ist nicht immer schön, an diesem Buch zu schreiben. Es wird immer besser." Was es doch nicht alles gab! Die Schreibende lachte wieder und dachte an die kurze Unterhaltung im vergangenen Winter mit der erwähnten Nachbarin; diese hatte gesagt: "Glauben sie mir, an dieser Dissertation zu schreiben, war nicht immer schön, doch es wird besser." Selbst die Enkeltochter sagte: "Schau, ich kann gehen, immer gehen, immer besser. Ich kann schon den Purzelbaum." Wie geht es Ihnen, meine Lesenden? Brauchen Sie auch eine stärkere Brille, um besser lesen zu können? ... Einschub Ende.
Zurück zu Grössi und zu einer ihrer festen Redewendungen: "Es war nicht schön, glaube mir. Es war nicht schön. Es wird immer besser, immer besser, glaube mir." Grössi ist in einem kleinen Dorf weit weg mitten in einem weiten offenen Tal aufgewachsen. Sie war die Erstgeborene und hatte drei oder vier jüngere Brüder. Die sollen nicht ganz recht gewesen sein. Denen habe sie dauernd helfen müssen, und sie sei froh gewesen, als sie von dort weggekommen sei. Sie habe an verschiedenen Orten gedient und allerlei "Wüstes" erlebt, bis sie Magd von BB geworden sei. Dann bei Chueri und BB sei alles gut und besser geworden.
Natürlich sei sie in die Schule gegangen. Alle Kinder vom Dorf, verteilt auf neun Klassen im selben Schulzimmer beim selben Lehrer. Ordnung habe er nur mit dem Stock schaffen können. Sicher habe sie Lesen und Schreiben gelernt. Du weisst doch, dass ich immer die Todesanzeigen anschaue. Ja, Grössi las, sie las halblaut vor sich hin, so hörte auch ich das Neuste. Sie fuhr mit dem Finger die Zeile entlang. Rechnen habe sie nicht zu lernen gebraucht, das habe sie einfach gekonnt. Sie habe sich im Umgang mit Geld verstanden, wenn sie welches gehabt hätte. Schwierig sei nur die Sache mit den Massen gewesen. Sie habe immer nachgefragt, um sich zu vergewissern, was gemeint sei. Die alten Leute hätten auf Ellen, Fuss, Zoll und Zentner à 50 kg beharrt. So weit sie sich zurück erinnere, Grössi hatte im Mai 1884 Geburtstag, hätten für alle Leute die neuen Masse gegolten: Zentimeter, Meter, Kilometer und ein Zentner à 100 kg. Diese neuen Masse, die seien doch praktischer. Sie wäre nach der neunten Klasse fertig gewesen, ihre Brüder hätten es mit Ach und Krach bis zur fünften Klasse gebracht.
Zur Konfirmation habe sie das erste künstliche Gebiss bekommen. Das habe sie gefreut. Dauernd irgendwelche Zahnschmerzen während all der Schuljahre, diese Qual. Sie hätten etwas Geld gehabt, so habe sich der Zahntechniker nach Weihnachten um die Sache gekümmert, wahrlich das Ende der eigenen Zähne, ein Ende mit Schrecken. Vier Männer hätten sie festgehalten, sie habe geschrien, einen Zahn nach dem andern habe er herausgerissen. Sie habe geblutet. Das kannst Du dir nicht vorstellen! Sie sei nachher ganz schwach gewesen, und Schmerzen, fürchterliche Schmerzen, sie habe gelitten. Eine Geburt sei ein Kinderspiel dagegen, sagte Grössi, die alte Frau. Sie habe lange nichts Rechtes essen können, nur Kleinkinderzeug. Am Palmsonntag war alles gut. Sie trug ihr künstliches Gebiss. Im Laufe der Jahre habe sie damit kauen gelernt. Sie habe auch mit Löffel, Messer und Gabel umgehen gelernt. Daheim haben wir alle einfach mit der Hand aus einer grossen Schüssel in der Mitte des Tisches genommen. Unsere drei Teller hatten im Kasten auf hohen Besuch zu warten. "Grössi, das ist nicht möglich. Man isst nur aus dem eigenen Teller. Nur Papa darf bei den Kindern stehlen, wenn er merkt, dass wir es nicht schaffen." Ich schüttelte den Kopf: "Erzähl Grössi!" " Glaube mir, es war nicht immer schön. Wir haben nicht vornehm nach heutiger Mode gelebt. Wir hatten nicht für alle Teller, nur eine Pfanne, damit das Essen heiss blieb. Es war nicht schön, es war kalt. Der Ofen wurde nur geheizt, wenn es Zeit zum Schneien war. Heute heizen wir immer und geben es vornehm und vertrödeln die Zeit, immer und nochmals, den Tisch decken, abräumen, abwaschen, abtrocknen und verräumen. Wir hatten anderes zu tun. Es gab keine elektrische Lampe und keinen Wasserhahn in der Küche. Es war nicht schön."
"Nach der Konfirmation durfte ich am Sonntagnachmittag in die Mädchensingschule. Richtig schöne Lieder haben wir gelernt und du weisst, ich singe diese heute noch," und Grössi begann zu singen: "Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum ... ."  Nach einer Weile: "Was für ein feiner Duft die Luft erfüllt! Ah, der Lindenbaum blüht, die Linde, die wir gesetzt haben, nachdem das "Rössli" abgebrannt war. Wie die Zeit vergeht. Schnell, hole zwei Körbchen und lass uns Blüten pflücken für feinen Tee im Winter."
Was habt ihr zusammen unternommen?
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3.2.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter väterlicherseits.

Was habt ihr zusammen unternommen?
MML-Zusatzfragen: Warst du z.B. oft dort in den Ferien? Wie war das?
Grössi hat doch bei uns gewohnt, wir lebten unter dem selben Dach. Mama und Grössi haben oft gestritten. Niemand wusste warum. "Wenn sie nicht streiten, ist Mama krank," das wusste ich, darum war ich erleichtert, wenn ihr Gezänke zu hören war.
Ich konnte nicht zu Grössi in den Ferien, wir gingen zusammen in die Ferien. Die Vorfreude und die Zugfahrten waren die schönsten Freuden. Die Besuche, immer eher enttäuschende Unternehmungen, viel Altweibergelafer, Getratsch (= formelhafte Erinnerungsfetzen) von früher: "Weisst du noch ... ja, es war nicht schön. Wir hatten oft kaum genug zu essen." Und dann - es war selbstverständlich, dass ich mit meiner dicken, kleinen Grossmutter das fremde Bett teilte. Sie liess mir kaum Platz. Sie konnte dies nicht ändern, denn sie rutschte immer in die Mitte. Die Matratze machte eine Delle und die Decke verschwand auf die andere Seite. Mich fröstelte. Und endlich - kaum war ich eingeschlafen, schreckte mich ein ungeheuer lautes Geschnarche wieder auf. Es war Grössi. "Lauter als die Grossmutter konnte nur der Wolf im Märchen von den sieben Geisslein schnarchen," wir waren alle dieser Meinung.
Grössi war mir eine grosse Hilfe. Sie band mir die Schuhe, die Schürze und die Mütze. Sie lachte nicht, weil ich es nicht konnte. Sie lehrte mich binden, Zwiebeln schneiden, stricken und vieles mehr. Manchmal, sehr selten machte sie etwas früher Feuer und wenn noch niemand vom Feld zurück war, brachte sie ein wenig warmes Wasser in die Stube und wusch mir die Füsse, die Hände und das Gesicht. Sie wusste, dass ich es gerne sauber hatte. Sie liess mich die grossen Teller abtrocknen. Bei ihr konnte ich mit dem grossen Messer schneiden. Ich durfte die grosse Salatschüssel tragen. Sie schickte manchmal, vielleicht sogar häufig die Kleinen weg, denn die standen im Weg.
Ohne zu merken, still und leise habe ich ihr die üblichen Haus- und Gartenarbeiten abgeschaut. Ich stand dabei und machte in der Luft dieselben Bewegungen. Legte sie die Kelle kurz weg, fasste sie meine Hand heimlich. Grössis Augen wurden gross, und die Kelle wurde wieder zurückgelegt. Sie verstand. Wir rührten gemeinsam, zwei Hände an einer Kelle. Ich durfte allein probieren. Ich konnte rühren. Grössi warf eine Handvoll Salz ins heisse Wasser und ich stand auf der Aschentruhe und rührte. Mama hätte das nicht erlaubt. Grössi streute harte Hörnli (Teigwaren) ins Wasser, das zu sieden begann. Ich rührte schwungvoll im Kreis herum und beobachtete wie das heisse Wasser die Hörnli hoch wirbelte. Um ein Unglück zu verhindern, leerte Grössi ein wenig kaltes Wasser in die Pfanne. Wir sahen nun unsere Hörnli wieder. "Was machst du da? Sie sind noch nicht gut!" bremste mich Grössi, wenn da schnell, schnell schon ein paar Hörnli auf dem Herdrand landeten. Wir probierten. Grössi eins und sie spuckte es in den Kessel mit dem Schweinefutter. Ich drei, sie waren hart und gut. Ich kaute und rührte weiter und verschluckte sie dann. Grössi war am Schüttstein beschäftigt und ich probierte weiter.
Was hast Du von deiner Grossmutter gelernt?
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3.2.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter väterlicherseits.

Was hast Du von deiner Grossmutter gelernt?
Viel, viel! Den sparsamen, sorgsamen Umgang mit Holz, Wasser, Strom, auch mit meiner eigenen Gesundheit ("man muss zu sich Sorge tragen"), mit der Erde und dem Land. "Geteilte Freude ist doppelte Freude" und Freude am Prinzip "aus Alt mach Neu".
2015 Gestern hatte sie so eine Freude. Als Studentin hatte sie sich für sog."schön" ein Paar schwarze, lose Trikothosen aus Naturseide geleistet. Nach ein paar Mal an besonderen Anlässen getragen, wurden sie während eines heissen Sommers zu Alltagshosen, dann zu schäbigen Haushosen und schliesslich zu Pyjamahosen. Immer sehr angenehm - doch schliesslich, der schadhaften Stellen zu viele! Untragbar! So verwandelte sie diese Hosen während der Übertragung der Wahl von Guy Parmelin zum Bundesrat in einen modernen, langen, runden Schal zum Warmhalten des Halses beim Schlafen in der Nacht. Welch ein Spass, eine Freude, sie kombienerte den "neuen Schal" in den kommenden Tag mit dem grauen Pullover. Aus Alt wurde Neu, ihre Grossmutter war wieder da. Schade, für eine solche Freude interessierte sich niemand. Sicher, sie hätte ohne Mühe etwas Neues kaufen können. Gut, dass sie diese Freude nun mit Ihnen, Leser oder Leserin teilen kann, denn geteilte Freude ist doppelte Freude. ENDE des Einschubs.
Die Freude an Blumen auf den Fenstersimsen, im Garten, auf den Wiesen und im Wald, am Blumen weitergeben. Ich hatte immer ein Blumenbeet, selbst als ich nur ein paar Tulpenzwiebeln neben einem Baumateriallager bei der Uni gesteckt hatte. Sie stiessen hervor, wuchsen gut, bis ein Bauarbeiter sie zu einem Strauss schnitt und weg trug.
"Was man nicht braucht, gibt man weiter", es findet sich für jedes Ding jemanden und sei es der Lumpensammler. Nein, nein, mit alten Lappen brauchte ich, um kleine Kissen zu stopfen fürs Puppenbett.
Dankbarkeit, schlicht und einfach Dankbarkeit. Die Grossmutter lehrte mich Zwiebeln schneiden, rohe Kartoffeln schälen und ich durfte und konnte "kochen". Ich konnte ihr den Faden einfädeln, weil ich bessere Augen hatte. Sie lehrte mich Stricken: "Inestäche ume schla durezie und abela (= einstechen, umschlagen, durchziehen und fallen lassen)." Das Sprüchlein half wenig, doch wir schafften es gerade noch rechtzeitig auf den Beginn der Nähschule in der dritten Klasse. Wir waren alle erleichtert, dass ich diese Schande von der Familie abwenden konnte, denn nur vernachlässigte Kinder, Zigeunerkinder lernten daheim nicht Stricken.
"Jedes Ding an seinem Ort, erspart viel Zeit und manches böse Wort." Ich tendiere in Richtung "Messi" und versuche geduldig dieses Sprichwort immer wieder neu zu befolgen.
Dann Sprichwörter und nochmals Sprichwörter: 
  • Morgenstund hat Gold im Mund.
  • Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr.
  • Früh übt sich, was ein Meister werden will.
  • Steter Tropfen höhlt den Stein.
  • Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht.
  • Wie man in den Wald ruft, so tönt es zurück.
  • Spare in der Zeit, so hast du in der Not.
  • Hartes Brot ist nicht hart, kein Brot ist hart.
  • Heirate über den Mist und bleibe wo du bist.
  • Gleich und Gleich gesellt sich gerne.
  • Sage mir, mit wem du gehst, und ich sage Dir, wer du bist. 
  • Was du nicht willst, das man Dir tu, das füge auch keinem andern zu.
  • Wer den Rappen nicht ehrt, ist des Frankens nicht wert.
  • Gut Ding will Weile haben.
  • Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
  • Es fällt einem nichts in den Schoss.
  • Das ist meins!
  • Nur keine goldigen Wasserhähne!
  • Es gibt nicht viel Neues unter der Sonne.
  • Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen.
  • Wehret den Anfängen!
  • usw.
Sie erklärte mir diese Sprichwörter, erzählte mir Beispiele und wies mich mit Sprichwörtern zurecht, indem sie mich aufforderte zu erraten, an welches der Sprichwörter sie nun wohl gerade denke.
Was für Selbstzeugnisse oder Objekte über deine Grossmutter existieren noch? Was bedeuten sie dir?
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3.2.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter väterlicherseits.

Was für Selbstzeugnisse oder Objekte über deine Grossmutter existieren noch? Was bedeuten sie dir?
MML-Zusatzfrage: Ist davon etwas erhalten geblieben?
2016: Für die Zeit nach dieser Schreiberein hatte sie wieder einmal, zum x-ten Mal eine Entrümpelung der Schachteln mit den alten Sachen im Estrich geplant. Wird ihr da etwas ausser Grössis Waschbecken mit Wasserkrug zwischen die Hände kommen? Dieses Waschbecken, das war von ihr, von Grössi und nicht von BB, das hatte sie immer wieder betont und erklärt: "Das habe ich im Schopf versteckt, als die Töchter nach dem Tod deines Grossvaters meine Kästen durchwühlt haben." Das waren Grössis selbstbestimmte Gegenstände, die sie sich erhalten wollte. Sie ergänzte: "Wenn ich gegangen bin, könnt ihr damit machen, was ihr wollt." Niemand interessierte sich nach ihrem Tod dafür, und es hiess, es sei zu schade, das alte Waschbecken mit Wasserkrug wegzuwerfen, was geheissen hätte, sie absichtlich zu zerschlagen. Ich anerbot mich, die beiden Gegenstände mit dem Auto bei Gelegenheit im Brockenhaus abzugeben. Ich machte einen Rundgang durchs Brockenhaus und versteckte nachher beides auf dem grossen Estrich des Riegelhauses. Ich nahm sie später zu mir, und sie folgten uns bei jedem Umzug. Nun steht Grössis Waschbecken mit Wasserkrug in unserem Estrich und wartet. Was wird später damit geschehen? Einschub Ende.
Jetzt fiel ihr die alte Bratpfanne ein, die sie jeweils voll beladen auf den Kufen in den Kachelofen auf die heissen Kohlen geschoben hatten. Keine Russpfanne, sie passte später auch in jenen elektrischen Backofen in der Waschküche im Riegelhaus. "Eine solche Bratpfanne habe ich erst bei Chueris gesehen," so Mama damals. Chueris wurde, in Anlehnung an den Namen des Grossvaters Konrad, Grössis Familie in unserem, dem mittleren Dorf genannt. Da war Chueris Familie und daneben unsere Familie, Mamas Familie. Klar, wir Kinder gehörten zu Mamas Familie. Nein, nein, ich gehörte zu beiden Familien. Hätte ich wählen müssen, ich hätte zu Chueris gehört.
Leider passte diese Bratpfanne nicht in den Backofen der Wohnung, die wir nach unserer Heirat gemietet hatten. Warum? Warum waren die Mass der Backöfen leicht geändert worden? Was war gesehen? Die Aussenmasse der Kochherde waren doch gleich geblieben. Natürich, eine bessere Isolierung! Strom kostete Geld. Es gab im Erstich des Riegelhauses eine zweite, etwas kleinere solche Bratpfanne, die habe ich mitgenommen, die passte. In der Phase mit den Kindern habe ich sie gelegentlich benutzt. Doch für mein Nostalgie-Geköch fand ich zu wenig Mithelfer. Wir liessen es bleiben, denn so wichtig, dass ich allein den ganzen Aufwand gemacht hätte, war es mir nicht.
2017 9. April: Sie erinnerte sich klar, vor Zeiten hatte sie diese Pfanne, um Platz zu sparen und das Andenken zu wahren, mit einer Schnur an einem Nagel im Estrich aufgehängt. Rasch entschlossen stand sie oben im Estrich. Natürlich, sie hatte ja vor zwanzig Jahren nochmals auf- und umgeräumt. Ein Rundumblick. Nein, sie sah die Pfanne nicht, und auf dem Programm stand: "April: Schwerpunkt Durchlesen, kleine Fehler verbessern, ev. ergänzen, " die Geschichte mit der Pfanne war einstweilen fertig. Photos? Kaum. Natürlich, da versteckten sich noch ein paar von Grössis metallenen Stricknadeln bei ihrem Handarbeitszeug.
2017 9. Sptember um 20.12: War sie ehrlich, so musste sie feststellen, dass durch diese Schreibarbeit viele Dinge an Bedeutung verloren hatten. Es drängte sich die Frage auf: "Wozu all den Ballast, diesen Plunder, all das unnütze, überflüssige Zeug aufheben und im Kopf weiterschleppen?" 2017 lebten die Menschen in einer Wegwerfgesellschaft, die ihresgleichen suchte. Kommt Zeit, kommt Rat, gelassen zuwarten und nicht aktiv werden, nannte sich ihr neuster Plan. Meine Lesenden, wie halten Sie es mit den in die Jahre gekommenen Gegenständen ihrer Grosseltern? Ihr erster Pass, was passierte damit? Die Schreibende hatte den ihren verloren. Er wurde im Amtsblatt als vermisst ausgeschrieben und ungültig erklärt. Anschliessend konnte sie einen neuen beantragen. Ende Einschub.
Was war ihre berufliche Tätigkeit?
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3.2.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter väterlicherseits.

Was war ihre berufliche Tätigkeit?
2016 Ob das Wort "Tätigkeit" zu Grössis aktivem Wortschatz gehört hatte? Wohl kaum, doch sie hätte dessen Sinn in einem Satzzusammenhang erahnt. Grössi verstand und las "deutsch", aber sie sprach nur Dialekt, so wie ihr der Schnabel gewachsen war. Doch es machte ihr Freude zu merken, wie sie zusammen mit uns, ihren Enkeln langsam und unbemerkt schliesslich doch noch Deutsch sprechen lernte. Ich spürte das. Gerne hätte ich sie unterstützt. "Ich bin zu alt, hole Holz," wehrte sie ab. "Grössi, es gibt kein Entkommen. Ich helfe dir wacker und spreche deutsch und so lernst du, ob du willst oder nicht," das sagte ich nicht laut, es war mein Ich, das dies in meinem Herzen drin mit Grössi abmachte. So geschah es. Oft schüttelte Grössi den Kopf und lächelte wohlwollend: "Du Hexchen, du."  
Zurück zu Grössis beruflicher Tätigkeit: "Ich war immer für andere da. Ich habe daheim - gemeint war im weiten Tal, dort weit weg - alles gemacht und getan, was ich nur konnte, damit jeden Tag etwas Rechtes und genug auf dem Tisch stand. Dann kam ich weg, habe auswärts gedient, und ich habe viel "Wüstes" erlebt." Leise fragte ich: "Grössi, was hast du denn "Wüstes"gemacht?" Sie schien mich nicht zu hören und sprach weiter: "Schliesslich wurde ich die Magd von BB. Bei BB und Chueri ging es mir gut, immer besser. Dann heiratete mich Chueri, dann die Kinder, der Krieg, die Grippe, der Generalstreik und und .... Jetzt bin ich alt und sitze am liebsten irgendwo im Schatten. Gott sei Dank für die Rente. Ich bin müde und dankbar, dass deine Mutter eine vollautomatische Waschmaschine hat, so kann ich ihr meine Sachen ruhigen Gewissens hinlegen. Dass es mir einmal so gut gehen würde, das habe ich nie gedacht. Ja, es geht mir mehr als recht," in Grössis Sprache war das Wort "recht" Synonym für gut.
Raten Sie nun: Was war ihre berufliche Tätigkeit? Leser und Leserinnen, was waren die beruflichen Tätigkeiten Ihrer Vorfahren?
Erinnerst du dich an ihren Tod?
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3.2.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter väterlicherseits.

Erinnerst du dich an ihren Tod?
MML-Zusatzfragen: Wie alt warst du? Wie und wo ist sie gestorben, und wie gingst du / gingt ihr damit um?
Als Grössi starb, war ich bereits das dritte Jahr im Besitz meines Primarlehrerpatentes. Ich unterrichtete eine dritte Klasse in einem Aussenquartier in der Stadt am See. Gespannt horchten die Kinder, wenn ich von meiner Grossmutter erzählte. Sie sei alt und werde schwächer. Darum besuche sie nun täglich vor dem Mittagessen meine Mutter. Richtig, die Kinder verstanden, Grössi war zu schwach zum Kochen und sie ass gerne in Ruhe und  allein am Küchentisch. So brauchte sie sich nicht zu schämen, dass sie Mühe mit Kauen hatte und ihr allerlei Missgeschicke passierten.
Eines Tages stand sie nicht mehr auf und verlangte nach dem Doktor. Sie wünschte ins Spital gebracht zu werden, weil sie noch nie im Spital gewesen war. Dort war alles schwierig, zu schwierig für meine Grössi und nach drei Tagen starb sie in einem Nebenraum. Ich hatte die Kinder laufend informiert. Sie waren liebevoll interessiert, und wir führten fast feierliche Gespräche über den Tod. Später und auf den Wunsch der Schüler und Schülerinnen besuchten wir einen nahe gelegenen Friedhof und die Kirche.
Dann ging es plötzlich schneller als erwartet. Dies ahnend, hatte ich auf der Rückseite der Wandtafel einen Lückentext vorbereitet und mit den Kindern besprochen. Da gab es richtige Lücken: "Die Grossmutter der Lehrerin ist heute (Lücke: für das Datum) gestorben. Am (Lücke) ist die Beerdigung, dann haben wir frei. An den andern Tagen ist gewöhnlich Schule." Dann kam die Meldung per Telefon. Wieder plauderten wir, und die Kinder schrieben den Text ab. Ich sass am Pult. Als alle fertig waren, verabschiedeten wir uns, und die Schüler und Schülerinnen verliessen das Schulzimmer ruhig und leise.
Wie hat sie im Alter gelebt?
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3.2.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter väterlicherseits.

Wie hat sie im Alter gelebt?
MML-Zusatzfragen: Wo, wie wurde sie betreut? Ihre Gesundheit? Hatte sie Gesellschaft? Sahst du sie bzw. sahen deine Eltern sie oft?
Grössi wohnte unter dem selben Dach wie wir. Sie hatte eine eigene Haustüre und innen zwei Verbindungstüren zu uns.
2017 Samstag, 9. September, 21.25 Sie las ihre Texte zum x-ten Mal durch. Sie hatte sich zwischenzeitlich an diese Arbeit gewöhnt und ahnte, dass sie viel Zeit und Kraft dafür einsetzen musste. Vor zwei Tagen, am 7. September hatte sie zudem beschlossen, die nur im Schreibmodus ersichtlichen Zusatzfragen zu Beginn jedes Textes kursiv anzuführen. Diese gezielt gestellten Zusatzfragen bilden - entsprechend der Überzeugung der hier Schreibenden - ebenso Teil unseres kulturellen Erbes und sind ebenso erhaltenswert wie einzelne Lebensgeschichten. Sie zeigen, was den Autoren von meet-my-life wichtig war. Damit steuerten und beeinflussten sie die Schreibarbeiten. Die Schreibende hoffte, mit dem von ihr getroffenen Vorgehen, nämlich die Zusatzfragen immer zu Beginn kursiv anzufügen, eine für alle (= für die Autoren des Programms, für Sie, die Lesenden und für die Schreibende) gute Lösung gefunden zu haben. Ende
Die kleine, runde Grössi wurde immer kleiner, und sie war bald nicht mehr rund. Wenn ich sie besuchte, richtete sie sich auf, zog wie Mama die Schürze zurecht und schaute mich keck und herausfordernd an. Wir lachten beide, und ich sagte bewundernd: "Du hast es geschafft. Bitte übertreibe es nicht, du hast ja bald nichts mehr an den Knochen. Isst Mama alles?" Wir lachten wieder. Grössis Hunger war kleiner geworden. Ihre Spaziergänge waren kürzer geworden. Sie hatten nun jeden September ein Klassentreffen, denn sie waren nur noch zu siebt: "Wer weiss, ob es noch alle schaffen?" "Leni ist krank, und Hans macht keine Zugfahrten mehr," berichtete sie am Abend. Ja, die Zugfahrten wurden auch für Grössi beschwerlich, und sie freute sich, als ich ihr anerbot, sie mit dem Auto hinzufahren und abzuholen. Ich brachte sie nun auch jeden ersten Sonntag des Monats zur Kirche im grossen Dorf. Nach der Predigt war sie bei ihrer Tochter zum Mittagessen eingeladen, und gegen Abend sahen wir das Auto des Schwagers wegfahren. Er hatte Grössi wieder heimgebracht. Ihr Lebenskreis wurde kleiner. Einmal hatte sie einen grossen, schönen Blumenstrauss vorbereitet. Damit konnte sie nicht auf das Postauto. Seit bald einem Jahr machte das Postauto einen Umweg und fuhr durch unser Dorf. Für die alten Leute, hiess es, aber Grössi hatte Mühe mit dem Ein- und Aussteigen. Nachdem sie hatte mit ansehen müssen, wie eine noch rüstige Frau stolperte, und wegen einem Beinbruch vom Spitalauto abgeholt werden musste, fuhr sie nicht mehr Postauto. Sie erklärte: "Ich war noch nie im Spital. Ich möchte gerne einmal zwei oder drei Tage hin, aber nicht länger." Wir legten den Strauss sorgfältig in den Kofferraum und stellten ihn später auf das Grab ihres Mannes, meines Grossvaters. Wir beteten leise und machten nachher eine kleine Rundfahrt. Auf den Feldwegen fuhr ich im Schritttempo und hielt auf ihr Handzeichen hin immer wieder kurz an: "Das ist schön so. Ich wusste, dass du das kannst. Danke, danke." Im kommenden Herbst holte ich sie wieder vom Klassentreffen ab. Sie stellte mich ihren drei ehemaligen Mitschülerinnen vor: "Das ist mein lieber Chauffeur. Was möchtest du trinken?" Ich schüttelte den Kopf. Sie winkte der Serviertochter: " Noch eine Runde Kaffee, der Chauffeur darf nichts Rechtes trinken." Dann wechselten wir ein paar Worte, und ich war nicht überrascht, dass sich Grössi definitiv von ihren Kameradinnen verabschiedete. Ihr Lebenskreis wurde kleiner. 
Erinnerst du dich an Personen, die im Leben deiner Grossmutter eine wichtige Rolle, positiv oder negativ, gespielt haben?
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3.2.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter väterlicherseits.

Erinnerst du dich an Personen, die im Leben deiner Grossmutter eine wichtige Rolle, positiv oder negativ, gespielt haben?
Nicht unbescheiden sagte sie 2016: "Ich, die ältere der beiden Enkeltöchter, die im gleichen Haus wie Grössi gewohnt hatten." "Dir kann ich alles sagen, ... dir kann ich alles sagen, ... " noch hallte diese Formulierung der Grossmutter durch ihre zwischenzeitlich auch alt gewordenen Ohren. "Du rufst: Tschau zäme, und dann noch tschau-au Grössi." Kehrte ich in das Riegelhaus zurück, brauchte sie nicht auf meinen Gruss zu warten. Natürlich waren da ihre Töchter, die nach Grossvaters Tod ihre Kästen durchwühlt hatten, und Papa, der Stammhalter. Alle besuchten die Mutter, Grössi im Spital, wo sie während drei Tagen auf den Tod gewartet hatte. Sie und ich, wir hatten uns bei meinem letzten Besuch daheim verabschiedet. Sie hatte gesagt: "Nun sehe ich dich nicht mehr." Ich glaubte ihr, und wir schauten uns lange an.
Grössi zählte und zählt zu den wichtigsten Personen in meinem Leben. Sie nahm mir zwar übel, dass ich weiter und weiter in die Schule ging, aber sie half mir immer. Auch wenn die "anderen" nicht wollten, dass sie in unserer Küche wirkte, machte sie mir regelmässig eine Freude. Hastete ich von der Schule schnell, schnell zum Kochen heim, warteten die erdigen Kartoffeln, die Mama bereitgestellt hatte nicht mehr. Auf der Aschentruhe unter dem Pfannendeckel fand ich fertig gerüstete Kartoffelklötzchen. Der Stubentisch war bereits gedeckt. Die gebauchten Pfannen stellte ich in den Nebenraum und nach dem Essen waren sie sauber. Grössi schenkte mir so viele Momente zum Verschnaufen. Von ihr habe ich zupacken, danken und beten gelernt.
Verzeichnis der Fragen und Texte
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3.3.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater mütterlicherseits.

Verzeichnis der Fragen und Texte
Den Grossvater mütterlicherseits hatte ich nicht gekannt. Er, der Vater meiner Mutter, starb, als diese noch in die Schule ging. Deshalb finden Sie auch nur zwei Fragen.
Was sind deine Erinnerungen an diesen Grossvater?
Was weisst du über seine Lebensumstände?
Was sind deine Erinnerungen an diesen Grossvater?
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3.3.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater mütterlicherseits.

Was sind deine Erinnerungen an diesen Grossvater?
MML-Zusatzfragen: Wie war er? Wie hat er ausgesehen? Hast du noch Fotografien? Was erzählen diese?
Ich kannte diesen Mann nicht. Er soll eine stattliche Erscheinung mit Schnauz gewesen sein, ein Mann, der seinen Pflichten gewissenhaft nach kam. Im Ersten Weltkrieg sollen ihm, wie vielen Kameraden die Nässe und Kälte in den Schützengräben arg zugesetzt haben. Immer wieder sei er ausgehungert und totkrank in den Heimaturlaub gekommen. Nicht die Grossmutter, von uns genannt Grosi, sondern Mama (geb. 1917) erzählte mir all dies auf mein Fragen hin bei der Feldarbeit. Dank gutem Essen habe er sich immer rasch erholt. Er habe gewusst, dass sein Platz bei den Kameraden an der Grenze sei.
Erst nach dem Krieg habe sich gezeigt, dass er an unheilbarem Asthma litt. Mit dieser Krankheit habe er keinen Umgang gefunden. Statt ruhig zu bleiben, habe er sich aufgeregt, wenn er gespürt habe, dass wieder eine Asthma-Attacke im Anzug war. Mama zählte viele schwierige Situationen auf. Besonders während der Heuernte bei aufziehenden Gewittern, wenn alle Hände nötig gewesen waren, wollte auch er zupacken. Doch Grosi habe darauf bestehen müssen, dass er jeweils langsam heim ging, um die Scheune für das einzufahrende Heufuder vorzubereiten. Sie wollte sich mit dem Knecht und den Kindern ums Heu kümmern und nicht ihrem keuchenden Mann beistehen. Kamen wir dann mit dem Pferdefuhrwerk voller Heu heim gehetzt, sei Grosi mit dem Velo voraus gefahren, um das Scheunentor zu öffnen. Sie sei erleichtert gewesen, wenn es der Grossvater bis in die Stube geschafft habe. Statt besser, sei es schlimmer geworden, und die Eltern hätten gemeinsam gekämpft. Du musst mich recht verstehen, sie kämpften gegen die Krankheit, das ist nicht das selbe wie streiten. Er konnte einfach nicht. Das Geld für einen Kuraufenthalt in den Bergen habe gefehlt. Heute, d.h. anfangs der fünfziger Jahre hätte ihm vielleicht ein Arzt helfen können.
Du weisst ja, wegen einer Bliddarmentzündung kam er ins Spital. ... An einem heissen Tag im Sommer 1929 hat ihn der Leichenwagen zum Aufbahren heimgebracht. Zeit für eine Todesanzeige blieb Grosi nicht. Schon setzten sich Fliegen auf den Sarg. Am nächsten Tag, es war wieder heiss, trottete Grosi mit uns Kindern hinter dem Sarg her. Die Verwandten aus Zürich waren per Eisenbahn angereist. Wie die Leute vom Tod unseres Vaters erfahren haben, weiss ich nicht. Das ganze Dorf schloss sich den Trauerzug an. Später berichteten die Knechte, die auch an diesem Tag auf den Feldern arbeiteten, nie hätten sie einen so langen Trauerzug gesehen. Nach dem Satz "die Trauergemeinde habe in der Kirche keinen Platz gehabt" schwieg Mama. ...  Wir lockerten die Erde zwischen den Kartoffelstauden, diese waren gesund und kräftig gewachsen. Wir erwarteten eine grosse Ernte. Ich dachte an die Sekundarschulprüfung.
Jedes Jahr an einem schönen Sonntag im Frühling machten wir per Velo einen Familienausflug zum Grab dieses unbekannten Grossvaters. Wir kannten den schmalen, hohen Grabstein aus schwarzem Marmor mit dem Bildchen des Mannes mit Schnauz, wir wussten, wo er stand. Auf der Treppe vor dem Friedhof mahnte uns der Finger von Papa zu ruhigem Verhalten. So drängten wir nun langsam voraus, die Eltern hinterher. Dann folgten Mamas Litaneien. U.a. hörten wir, die Kirchenpflege habe aus Rücksicht auf Vaters frühen Tod die Räumung des Friedhofsteil mit seinem Grab verschoben. Ihr könnt euch nicht vorstellen ... Der Vater bat uns mit Handzeichen um Geduld. Spürten wir, dass Mama mehr Zeit brauchte, liessen wir sie stehen, verzogen uns auf einen andern Friedhofteil und spazierten mit Papa zwischen den Grabreihen durch. Auf welchem Grab blühten die schönsten Blumen? Welcher Grabstein gefiel uns Kindern am besten? All das ganz ruhig, im Flüsterton.
Der Ausflug war uns lange recht. Er führte an einer ausrangierten Mühle mit einem grossen Wasserrad vorbei. Dort hielten wir kurz an. Wir schauten und rannten herum, die Eltern ruhten sich aus. Vor der Heimfahrt fischte uns Papa aus dem Abfallteil des Friedhofes von den weggeworfenen Kränzen künstliche Blumen und für Grössi Geranien-töpfe. 
Was weisst du noch über das Leben und die Lebensumstände deines Grossvaters? Wie war das z.B. im Krieg/in den Kriegen?
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3.3.  Meine Grosseltern – Mein Grossvater mütterlicherseits.

Was weisst du noch über das Leben und die Lebensumstände deines Grossvaters? Wie war das z.B. im Krieg/in den Kriegen?
MML-Zusatzfragen: Hat er dir oder jemand anders über sein Leben erzählt? Seine Kindheit? Woher und aus welchen Verhältnissen stammte er?
2017, 5. August 5.30:  Die Tage wurden bereits merklich kürzer. Erst um 6.30 konnte sie das Licht ausschalten. Am Tag zuvor hatte sie 17 Broschüren von "La Parole à nous, les Congolais, 2016" mit einem Begleitbrief in Deutsch verschickt. Eine Bekannte hatte ihr diese aus Kinshasa mitgebracht. Diese Überraschung freute sie, die Schreibende, es freute sie nochmals und nochmals, es freute sie. Am 16. Oktober war sie bei ihrer bald drei Jahre alten Enkeltochter auf Besuch und auf dem Spaziergang zum Tierpark begann das Kind zu hüpfen und rief: "Ich bin voll Freude, ich spring vor Freude, ich stehe still und lache vor Freude, Oma lacht auch vor Freude." Einschub Ende.
Nun zurück in die 50er Jahre: "Ein Auto hielt vor unserem Haus! Besuch aus der Stadt am See, Margrit mit Fritz, dem Bruder des unbekannten Grossvaters," wir kannten sie. Wir bewunderten das Auto. Margrit öffnete für uns die Haube und den Kofferraum. Wie gerne wären wir eingestiegen und ein wenig gefahren! Immerhin, wir durften den Motor anschauen.
Dann schickte Fritz Papa in den Keller. Mit einem Krug Süssmost und Rotem sassen wir bald am Stubentisch. Wir prosteten uns zu, und Onkel Fritz begann zu plaudern: "Ja, damals auf dem Bauernhof, da waren wir zu viert," und er nahm ein Schlücklein Roten. "Mein Bruder Ulrich selig, der älteste hatte den Bauernhof übernommen, er ist schon lange tot" - eine Pause mit einem Schlücklein Roten - "und seine tapfere Frau schleppte den Hof für ihren Sohn durch all die schwierigen Jahre." - Ein Schlücklein Roten - "an zweiter Stelle Marie, die von einem Obstbauern mit ein wenig Vieh geheiratet wurde, Marie, die hatte das Arbeiten nicht erfunden". - Sein Glas war nun leer - "Dann Elisabeth, genannt Setti, die nun mit ihrem Mann einen Landgasthof führt" - er streckte das Glas hin - "mit mehreren Gästezimmern, einem grossen Saal für Hochzeiten und die Abendunterhaltungen der lokalen Vereine, einem Säli," - Papa goss nach, und Mama schüttelte den Kopf - "in dem die Blechmusik und der Männerchor wöchentlich probten, einer Kegelbahn, einer Gartenwirtschaft."- Papa goss wieder nach, und Mama fasste seinen Arm. - "Ja, die Setti, die fuhr vor dem Zweiten Weltkrieg Auto, das war eine schnelle Frau." - dann hatte er wieder etwas Roten im Glas, doch er schien mit Papas immer kleiner werdenden Mengen nicht zufrieden zu sein. - "Dass  die   nach   dem   Krieg   die   Autoprüfung   nicht   gemacht   hat," seine Sprache war schleppend geworden, und Margrit unterbrach ihn. "Und dann du, der Fritz, das gescheite Haus, der oft weder das Geld noch die Flaschen zählen kann, du meine Liebe in Person. Nein, du bekommst höchstens noch einen Kaffee schwarz."
Wenn der Besuch aus der Stadt am See weg war, erzählte Mama: "Ja, Fritz war mein Götti. Er hatte an der ETH in Zürich und in Frankfurt studiert. Ein Telegramm hatte einzutreffen, und schon suchte seine Mutter, meine Grossmutter, eure Urgrossmutter jeden Fünfer zusammen, um sein Verlangen zu erfüllen. Er wird später viel verdienen und auch grosszügig zu uns sein, rechtfertigte sie ihr Tun. Als Patengeschenk erhielt ich zu Weihnachten eine Schokolade, die seine Mutter für ihn gekauft und eingewickelt hatte. Ja, mein Götti "die Liebe in Person", ein Frauenheld, dass Margrit, seine zweite Frau das ertrug ... "soweit Mama.
Dieser unbekannte Grossvater soll im Ersten Weltkrieg zur Kavallerie gehört haben. Nach der Erzählung meiner Mutter soll er einen Helm mit einem Fähnchen getragen haben. Sicher ist, dass er nach dem Aktivdienst an Asthma litt und 1929 im Spital starb. 
 
Was sind deine Erinnerungen an diese Grossmutter?
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3.4.  Meine Grosseltern – Meine Grossmutter mütterlicherseits.

Was sind deine Erinnerungen an diese Grossmutter?
MML-Zusatzfragen: Wie war sie? Wie hat sie ausgesehen? Hast du noch Potografien? Im MML-Programm folgen dann dieselben Fragen wie bei der Grosseltern väterlicherseits. Sie erscheinen hier nicht, weil Texte dazu fehlen.
2017 Dienstag 12. September: Schon vor dieser Schreibarbeit hatte ich immer wieder über diese tapfere Frau nachgesonnen. Mama sprach nur von "ihrer tapferen Mutter"; das war ein fester Begriff wie "der liebe Gott". Ich mochte diese Grossmutter gut. Sie gehörte zu meinem Lebenskreis und ich hätte sie vermisst, wenn ich sie bei unseren kleinen Familientreffen nicht gesehen hätte. Trotzdem kannte ich sie kaum. Meine Lesenden, was bedeuten Ihnen Ihre Grosseltern? Versuchen Sie sich bitte die beiden Grossmütter und die beiden Grossväter einzeln vorzustellen. Schaffen Sie das? Warum nicht?
2017 Dienstag 3. Oktober: "Grosi, ich gedenke Deiner in Liebe und danke Dir. Ich habe dich an mehreren Stellen erwähnt. Das soll genügen. Der Leiter der Begleitgruppe hat uns Mut zu Lücken gemacht. So folgt nun eine Lücke.
 
Verzeichnis der Fragen und Texte
Seite 152
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4.  Kindergartenjahre

Verzeichnis der Fragen und Texte
Was sind deine frühesten Erinnerungen an den Kindergarten?
Wie hast du diese Zeit ganz allgemein erlebt?
Hast du damals schon bestimmte Dinge gesammelt?
In diesem Kapitel tauchen viele Fragen nicht auf, da sie sich diesen 2016 voller anfänglicher Begeisterung bereits Kapitel 1 "erste Erinnerungen und Kindheit" gewidmet hatte.
Was sind deine frühesten Erinnerungen an den Kindergarten? Die Vorbereitung!
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4.  Kindergartenjahre

Was sind deine frühesten Erinnerungen an den Kindergarten? Die Vorbereitung!
MML-Zusatzfragen: Erlebnisse? Örtlichkeiten, wie die Räume, der Garten, die Nachbarschaft.
"Stellt euch vor, die Dame bei der Anmeldung für den Kindergarten hat gefragt, ob das Kind tagsüber noch nasse Hosen mache, ob es nachts Windeln brauche," berichtete die Mutter empört beim Familientisch. Alle teilten die Empörung der Mutter: "Rote Fingernägel und eine so vulgäre Sprache." Die Mutter rapportierte weiter: "Ich konnte mich zurückhalten und sagte zu allem Ja." "Was heisst das?" fragte die Familie im Chor. "Unsere Tochter kennt den Weg zum Kindergarten und den Heimweg," fragende Blicke, "sie kann die Schuhe binden," zusammengepresste Lippen, "sie darf keine Schleckwaren in den Kindergarten bringen und nur Obst und Brot als Znüni." Wir waren entschlossen und meisterten alles.
Das mit dem Obst war kein Problem. "Wir haben ja noch allerhand "alte" Äpfel, die trocknen wir auf dem Kachelofen," alle waren bereit, beim Trocknen der Apfelschnitzchen mitzuhelfen und nicht zu naschen, bis wir genügend davon hatten. Wir beschlossen, sämtliche vom vergangenen Herbst noch vorhandenen Äpfel zu trocken. Wir einigten uns auf ganz dünne Schnitzchen mit Haut. So mochten wir sie, auch wenn sie sich in dieser Form nicht zum Kochen eigneten. Eine Tante schenkte uns zusätzlich einen ganzen Harrass schrumplige Äpfel: "Gut, dass ihr die brauchen könnt!" Das Wetter war uns hold, an mehreren Sonntagen marschierten wir vereint am Kindergarten vorbei zum Friedhof oder zur Rutschbahn und zurück zum Kindergarten, wo wir uns mit unseren feinen, getrockneten Apfelschnitzen und Tee für den Heimweg stärkten. Bald oblag es mir, den Weg zu zeigen. Es brauchte einiges, bis ich wagte, allein auf der schmalen Brücke über den Wiesenbach zu gehen. Papa und ich fuhren mit dem Kreidler hin und übten. Nachher brachte er mich zum Kindergarten, und ich marschierte selbständig heim. Ich schaffte es. Die Schuhe konnte ich binden, wenn ich allein war. Das ging so: Die Mutter machte lange Stoffbändel zum Üben. Ziel war eine Masche auf dem Bauch. Au, au, au, ich sollte es zwar nicht sehen, aber ich merkte sehr wohl, dass mein kleiner Bruder die Binderei schneller begriff als ich. Die kleine Schwester forderte Hilfe, sonst begann sie zu weinen. Wie immer, ich schaffte es rechtzeitig vor Beginn des Kindergartens.
Nun endlich zur Sauberkeit: Selbstverständlich gingen die grossen Mädchen wie ich sauber angezogen in den Kindergarten. Wir achteten auf unsere Kleider und zupften die Schürzchen zurecht. Auf dem Heimweg, nach einer Balgerei mit den Bengeln, wie sah ich da aus! Doch Mama drückte ein Auge zu. Am folgenden Morgen lagen saubere Kleider bereit. Nochmals zur Sauberkeit: Meine Mutter erzählte mir voller Stolz: "Du warst sauber, als dein Bruder auf die Welt kam. Papa kaufte dir kurz vor seiner Geburt ein neues Töpfchen. Sauber, nie gebraucht durftest du es sogar ins Bett nehmen oder Äpfel darin herumtragen. Benutzt hast du weiterhin das alte Ding, und du verstandest sehr wohl, dass du das neue nur behalten durftest, solange du selber trocken und sauber warst. Papa nimmt es sonst weg. Du verstandest das, auch wenn du noch nicht sprechen konntest. Dazu muss man nicht sprechen können!!
5.März 2016: Da sie die technischen Probleme langer Textstücke nicht zu meistern verstand, beschloss sie, der Sauberkeitserziehung ihrer Geschwister eine zusätzliche Frage zu widmen (Einschübchen: Siehe Kapitel 1, Erste Einnerungen und Kindheit: Wie war das mit den Windeln? Die Sauberkeitserziehung)
Wie hast du diese Zeit ganz allgemein erlebt? Eine Anstrengung!
Seite 154
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4.  Kindergartenjahre

Wie hast du diese Zeit ganz allgemein erlebt? Eine Anstrengung!
Der Kindergarten, unendlich weit weg. Ich gehörte zur ersten Kinderschar unseres kleinen Dorfes, welche dieses "Vergnügen" hatte. Drei Bengel in meinem Alter und das Mädchen Netti, zwei Jahre älter und einen Kopf grösser als ich. Netti konnte nie mit uns in die Dorfschule gehen. Die Buben am Morgen, die beiden Mädchen am Nachmittag, so wurde es vereinbart. Mit Netti schaffte ich es nicht, mit den Bengeln am Morgen klappte es gut, wenn sie mich nicht zu sehr neckten und ärgerten: Mädchengestank macht die Buben krank, du bist schwach, so schwach, schwach und so weiter. Denen wollte ich es zeigen, und es kam zu wilden Raufereien. Drei gegen ein schwaches Mädchen. Die Buben, nun alte Männer, erinnern sich sicher nicht, denn das waren ja meine Probleme.
Für den Besuch des Kindergartens hatte mir die Grossmutter beim Missionsbazar ein schönes Täschchen für den Znüni (= eine kleine Zwischenverpflegung am Morgen) gekauft. Sie war glücklich, denn endlich konnte sie einmal etwas brauchen und sich erkenntlich zeigen. Von den vielen schönen Jäcklein passte mir keines, deshalb beauftragte meine Mutter Frau Bärlocher, mir ein Jäcklein aus Naturwolle zu stricken. Sie solle es gross genug machen. Ich hatte nie zuvor eine so prächtige Jacke gesehen. Es war ein kleiner Mantel, der mir bis Mitte der Waden reichte. Neben den Knöpfen vorne links und rechts waren handgrosse farbige Blumen gestickt. Ich bewunderte mich, und der weite Weg schien mir kürzer.
Einschub: zum Thema Missionsbazar: Die Frauen, die keine Kinder mehr zu beaufsichtigen hatten, trafen sich während des Winterhalbjahres am Montagnachmittag im Nähschulzimmer, um für den Missionsbazar zu stricken. Man traf sich, man plauderte, man strickte, man sang und man trank gemeinsam Tee. Das sei immer schön gewesen, erinnerte sich Grössi wehmütig, als diese Tradition verloren ging, zu Beginn der andern Zeit, nach dem Einzug ins neue Schulhaus. Weiter war vorgesehen, dass die Frau Pfarrer, wenn sie verhindert war, die Gemeindeschwester eine Geschichte vorlas und die Schüler im Advent und im Februar ein Ständchen brachten. Am letzten Sonntag des Schuljahres waren gleichzeitig der Bazarverkauf und die Ausstellung der Arbeiten der Nähschule (Einschübchen: zweimal drei Stunden die Woche besuchten wir Mädchen die Nähschule, parallel gab der Lehrer den Knaben Zusatzunterricht in Rechnen und Geometrie, was mich ärgerte, denn nähen konnte mir meine Mutter zeigen, niemand kapierte jedoch, dass ich Geometrie wollte). Zugunsten des Verkaufs für die Basler Mission erwartete man vom Metzger und vom Bäcker Naturalspenden. Zusätzlich sollte eine Frau mehrmals jährlich für die Mission sammeln, den Kindern Bildchen verteilen und ein Heftli für die Erwachsenen abgeben. Dieses sollte von Familie zu Familie weitergegeben werden. Nun, in unserem Dorf klappte das alles nicht so ganz. Ich selbst hatte schon gar nichts übrig für die Mission. Ich dachte an Alfi. ENDE EINSCHUB.
Der Kindergarten konnte es mir auch nicht: Mehr als 50 Kinder, eine Toilette zum Spülen, die ewige Warterei. Zu viel Unbekanntes, das ich nicht verstand und das mich nicht interessierte. Ich wollte sehen und wissen und spazierte deshalb ruhig und langsam durch den ganzen Raum. Da ich zu keiner Gruppe gehörte, fiel das nicht auf. Vor Weihnachten sollte ein kleiner Briefhalter aus Holz angemalt und ein Nadelkissen bestickt werden. Beides faszinierte mich. Leise und unbemerkt beobachtete ich, wie sich die Kindergartentante mit immer zwei Kindern ans Werk machte. Ich kannte den Ablauf und wusste, was ich wollte. Ich fragte vor dem Heimgehen, wann ich an der Reihe sei, und ich wurde vertröstet, es gehe der Liste nach. Doch - doch -  ich stand nicht auf der Liste.
E I N S C H U B: Listen kannte ich von daheim, am besten die Liste mit den Kühen, die der Vater und ich führten. Das ging so: Über jeder Kuh, Seite an Seite an der Futterkrippe angebunden, hing je ein Täfelchen mit deren Namen. An einem Regentag schrieben der Vater und ich diese Namen auf einen Karton, einen unter den andern. Das hiess in zivil Liste, Kolonne hätte man das im Militär genannt. Der Vater schrieb, ich konnte zusehen, er setzte Buchstabe neben Buchstabe, und ich sagte ihm die Namen der Kühe, die ich selbstverständlich alle kannte. Kam ein Kälblein zur Welt, war dessen Geburtstag auf der Liste neben seiner Mutter einzuschreiben. Ich hatte den Vater zu ermahnen, wenn er es vergass. E I N S C H U B  Ende.
Als es vor Weihnachten ans Verteilen der Sachen ging, malte die Kindergärtnerin mein Briefständerli schnell, schnell selber, sie nähte auch mein Nadelkissen schnell, schnell selber. "Du bist ein wenig untergegangen, du fehlst auf meiner Liste, aber nun ist alles gut," sagte sie so nebenbei. Ich hätte diese Arbeiten gut und gerne selber gemacht, verstanden! Ich war böse. Mir war verboten, vor fremden Leuten zu stampfen, so stampfte ich erst auf dem Heimweg. Ich stampfte so lange und so kräftig, dass ich schnell, schnell daheim war. Zur Belohnung bekam ich ein grosses Täfelchen Schokolade (Einschübchen: 3 cm auf 2 cm). Meine Welt war wieder in Ordnung.
Ja, die Kindergartenzeit, die ewige Schuhebinderei, das Ruhig-im-Kreis- sitzen, der weite Weg, Netti, daheim achtgeben auf die Kleinen, den Tisch decken, abräumen ..... Warum hatte der Grossvater mich verlassen? Am Abend im Bett strich Mama die Decke glatt, und nach dem Beten schimpfte ich mit meiner weichen Strickpuppe. Viel später, als wir uns über das Sprechen im Traum unterhielten, erzählte mir meine Mutter, zur Kindergartenzeit hätte ich nachts immer und immer gesagt und gerufen  "lauf Netti, lauf Netti". Ich hätte geschwitzt. Sie habe in der Apotheke Tee für mich gekauft, und man habe mich umgeteilt.
 E I N S C H U B: In unserem Dorf gab es eine  Milchsammelstelle. Brauchte eine Bauernfamilie drei Liter oder mehr nicht für den Eigenbedarf, so konnte man diese bei der Sammelstelle abliefern. Abgewogen, die Menge im Milchbüchlein notiert, wurde die Milch durch ein Sieb in den Kühler geleert und in Kannen abgefüllt. Per Velo und Anhänger erreichten die drei, vier Kannen unsern Bahnhof, von wo sie mit dem zweiten Arbeiterzug am Morgen in die Stadt zum Verkauf transporiert wurden. Im Winterhalbjahr änderte das Dorf mit unserer Kirche, wo auch der Kindergarten war, die Route, und alle Milch wurde von einem Pferdefuhrwerk zu unserem Bahnhof gebracht. Auf dem Rückweg, wenn die leeren Kannen zurückkamen, konnten Erwachsene mit einem Kind ins Dorf mit unserer Kirche mitfahren. Die Mutter und ich kannten deshalb den wortkargen Fuhrmann ein wenig. ENDE Einschub.
Wir schafften es, diesen Fuhrmann zu überzeugen, mich täglich zum Kindergarten mitfahren zu lassen. Er brummte, dem Chueri selig zu liebe, wenn es sein müsse. Chueri habe ihm erzählt, das Kind sei gar artig und anstellig. Hurra, ich durfte mitfahren. Ich tat mein bestes, und der Fuhrmann brachte schliesslich eine Decke mit, um mich gegen die Kälte zu schützen. Wir sprachen über Chueri, meinen Grossvater. Der Fuhrmann hatte vier grosse Buben, und ein Jahr später wurde er Vater eines kleinen Mädchens.
Hast du damals schon bestimmte Dinge gesammelt?
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4.  Kindergartenjahre

Hast du damals schon bestimmte Dinge gesammelt?
MML-Zusatzfrage: Falls ja, wie war das damit später?
Etwas Gesammeltes zu haben, das schien mir als grosses Kindergartenkind mit zwei kleinen Geschwistern fantastisch und schier unerreichbar. Und doch, es war bald bekannt, dass ich leere Schneckenhäuschen sammelte. Die alten Frauen brachten mir wunderbare, grosse Häuschen, die ihnen - wenn sie an mich dachten - bei der Rebarbeit in die Hände fielen. So hatte ich in kurzer Zeit zwei Schuhschachteln voll. Was tun damit? Nun, ich sammelte weiter. Dann hatte ich das  g r o s s e  Erlebnis. Eine mir unbekannte Frau kam vorbei und fragte nach meinen Häuschen. Ich zeigte sie ihr und erklärte, welch mühsame Arbeit diese Sammlerei sei: Waschen, trocknen und immer wieder auslüften! Sie fragte, ob ich ihr zehn geben würde. Ich weiss, ich schaute sie an. "Ich gebe dir etwas. Ich brauche eine ganze Schachtel. Ich will eine Tischdekoration für ein grosses Fest basteln," erkärte sie und nahm ein Nötchen aus dem Protemonnaie. "Dann können sie alle nehmen," ich wollte auch grosszügig sein. Wir suchten gemeinsam für jedes von uns fünf (Papa, Mama und drei Kinder) für jeden Finger ein schönes Schneckenhäuschen (Einschübchen: 5 Familienmitglieder mit je 10 Fingern = 50 Schneckenhäuschen). Ich wollte doch wissen, wieviele ich ihr gab. Sie schaute zu, wie ich ihr, - nein, nein, es war nun das meinige - 5-Nötli faltete und durch den Spalt in meinem Kässeli schob, obwohl das Mama nicht wollte. Wir waren beide begeistert. Ich gab ihr noch alle besonders schönen, dunkeln Häuschen, die ich an einem Geheimplatz versteckt hatte. Die Unbekannte hatte mir dies alles später lachend erzählt, als ich ihr Kartoffeln verkaufte. Sie dankte mir wieder für meine Grosszügigkeit, ich hätte ihr viele Umtriebe erspart, der Preis sei nicht zu hoch gewesen. Ich hatte bei diesem Geschäft viel erahnt, was ich in meinem Leben später nicht anzuwenden verstand.
Bei feuchtem Wetter sammelten wir am Bach lebendige Häuschen-Schnecken. Hoffentlich war es recht windig, denn dann, und nur dann durften wir bei der Bank hinter dem Gartenhäuschen des Stationsvorstehers spielen. "Unterstehen" nannten das die Grossen! Wir fürchteten doch Wind und Regen nicht. Wir wollten Schnecken-Rennen machen. Hastig sammelten wir ein paar und liessen diese auf dem Bänkli kriechen. Wer hatte die schnellste Schnecke? Unerwartet mussten wir aufbrechen. Was tun? Die andern sprangen schon! Schnell, schnell packte ich alle Häuschen-Schnecken in meine Schürze und folgte ihnen. Ich wollte das Spiel in der Küche fortsetzen. ... Meine Idee löste "Begeisterung" aus. Nach ein paar Schreien des Entsetzens, packte Mama die Schürze und trug die üble Bescherung hinunter zum kleinen Bächlein.
Verzeichnis der Fragen und Texte
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5.  Krankheiten und Unfälle

Verzeichnis der Fragen und Texte
An welche Krankheiten und Unfälle erinnerst du dich?
Hattest du in deiner Kindheit wegen Krankheiten schwierige Phasen?
Leidest du aktuell an Krankheiten oder Folgen von Krankheiten?
War es schön, krank im Bett zu liegen?
Inwiefern haben Krankheiten in deinem Leben eine wichtige Rolle gespielt?
Leidest du aktuell an Krankheiten oder deren Folgen?
Gibt es Krankheiten in deiner Familie, die dich geprägt haben?
 
2017, 13. September 5.45 Überfliegen Sie diese Bemerkungen, falls Sie sich nicht für das MML-Programm interessieren! In Kapitel 5. "Krankheiten und Unfälle" begegnen Sie allen Haupt- und Zusatzfragen, in Kapitel 6. "Wohnen" dagegen sehr wenigen, denn ich lebte bis zur Matura bei meinen Eltern im Riegelhaus auf dem Bauernhof und wollte nicht vorgreifen. Ich empfehle Ihnen wärmstens die Webseite meet-my-life.net zu öffnen und bitte - machen Sie nicht meinen Fehler - beginnen Sie nicht spontan zu schreiben, sondern nehmen Sie sich die Zeit, um die ca. 400 Fragen zu überfliegen.
An welche Krankheiten oder Unfälle erinnerst du dich besonders?
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5.  Krankheiten und Unfälle

An welche Krankheiten oder Unfälle erinnerst du dich besonders?
MML-Zusatzfragen: Geh auch zurück in die frühe Kindheit.
"Mama, sie klebt. Sie sticht. Sie hat mich gestochen," das Kind schrie, die Mutter nahm es in den Arm. Gemeinsam schauten sie die Einstichstelle der Schnake an: ein roter Punkt. Die Mama saugte ein wenig, blies und fuhr mit der Hand sachte darüber. "Es wird besser," das Kind machte sich frei. Es wollte unbeobachtet reiben, saugen und kratzen. Auf seinem Handrücken schwoll eine Beule an: "Au, nun sticht es an der Wade." "Springe zum Korb unter dem Baum und wickle dich in die Decke ein. Ich komme dich besuchen, wenn ich mit dem Zetteln des Heugrases fertig bin," die Mutter schaute dem Kind kurz nach und wandte sich wieder der Arbeit zu. Als sie zum Baum kam, schlief es gut zugedeckt.
Es war schlimm, wenn ich auf das Essen warten musste, aber am Schlimmsten waren die Schnaken- und Mückenstiche. Vor diesen Tieren konnten uns die Eltern nicht schützen. Papa, Mama, der Grossvater, Grössi, der Lehrling, die Kühe, die Pferde und sogar das kleine Schwesterchen wurden gestochen. Wir gaben acht und doch passierte es immer wieder. Dies besonders, wenn es schwül und heiss war. Wir schwitzten, alle waren müde, und viel Ungeziefer tanzte in der Luft. "Kommt, ich habe in der Stadt "Fliegen-weg" gekauft," rief der Vater und tupfte allen ein wenig der stark riechenden Flüssigkeit auf die Arme. Wir arbeiteten schnell weiter. Es donnerte schon.
 
Hattest du in deiner Kindheit schwierige Phasen mit Krankheiten oder Unfällen durchzustehen?
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5.  Krankheiten und Unfälle

Hattest du in deiner Kindheit schwierige Phasen mit Krankheiten oder Unfällen durchzustehen?
MML-Zusatzfrage: Worum handelte es sich, und wie hast du diese Ereignisse und die Zeit danach erlebt?
Meine Lese- und Schreibschwäche bekam später den Namen Legasthenie. Papa litt auch darunter, darum konnte ich mit ihm darüber sprechen. Er verstand mich, was mir eine grosse Hilfe war. Er und ich waren der Überzeugung, dass es eine für andere unsichtbare, aber für uns, die Betroffenen, eine schlimme und unheilbare Krankheit ist. Das war unser schreckliches Geheimnis. Das Wort "Krankheit" war mir eine grosse, eine riesige Hilfe. Papa hatte eine Lehre gemacht, so war ich entschlossen, die Sekundarschule zu besuchen. Mama meisterte ihre schwere Krankheit, so wollte auch ich es schaffen.
Meine Lesenden, ich habe später viel zum Thema Legasthenie gelesen und deren Folgen bei unserem Sohn und mehreren Pflegekindern wieder miterlebt. Einer Webseite des Beobachters habe ich folgende kurze Umschreibung entnommen: "Kinder mit Legasthenie sind der Regel in der Schule grossen Belastungen ausgesetzt. Die schlechten Noten in den schulischen Teilbereichen, in denen sich die Lese-Rechtschreib-Schwäche am meisten auswirkt, können zu einer allgemeinen Schulunlust führen, die dann alle schulischen Leistungen gefährdet. Wer legasthenisch ist, hat ausserdem bis ins Jugendalter ein höheres Risiko, emotionale Störungen zu entwickeln." Sie empfand diese Angaben korrekt, aber verharmlosend. Erschreckenderweise traten die Folgen der Legasthenie mit zunehmendem Alter wieder vermehrt auf.
War es schön, krank im Bett zu liegen?
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5.  Krankheiten und Unfälle

War es schön, krank im Bett zu liegen?
MML-Zusatzfrage: Hast du manchmal simuliert?
Krank im Bett zu liegen war wunderschön. Fertig.
2017, 5. August 11.15 Bevor sie sich im Kapitel 5 "Krankheiten und Unfälle" zu schaffen gemacht hatte, spazierte sie durch den "Garten", gab den Pflanzen Wasser und schnitt zwei Blumensträusse. Dabei ging ihr durch den Kopf, wie sie immer einen Flecken Erde gefunden hatte, um ein wenig zu wühlen, um etwas zu pflanzen und zu beobachten. Das nannte sie dann Garten. Ein Beispiel: Bekannte hatten ihr vor Jahren zum Geburtstag ein eingetopftes Rosenstöcklein geschenkt. Im kommenden Frühling pflanzte sie es in eine Rabatte der ETH Zürich. Die Gärtner pflegten es bis zur baulichen Umgestaltung des Areals.
Zurück am PC schrieb sie die obige Zeile mehrmals. Dieser Satz voller schöner Gefühle erfüllte sie in den vergangenen Monaten immer von neuem. Er stimmte so sehr, sie musste ihn mehrmals kopieren, um sich der Realität anzunähern.
April: Krank im Bett zu liegen war wunderschön. Fertig.
Mai: Krank im Bett zu liegen war wunderschön. Fertig.
Juni: Krank im Bett zu liegen war wunderschön. Fertig.
Juli: Krank im Bett zu liegen war wunderschön. Fertig.
Dann stand unter dem Titel, klein und in Klammern die Zusatzfrage: Hast du manchmal simuliert? Nein, ich habe mir selber Pausen gegeben, die mir niemand gab. So war das, und Gott war damit einverstanden, er schenkte mir viele gute Stunden.
Übrigens, seit 1981 hatte sie weder einen Garten, noch einen Pflanzplätz, genannt "Pünt" sondern einen Familiengarten. "Pünt". Ein Wort, das niemand verstand. Sie fand dazu im Google: "Pünt = Kleingarten, Familiengarten, Schrebergarten. Es gibt viele Bezeichnungen für ein kleines Stück Land, das zur Nutzung als Garten günstig verpachtet wird. Woher stammt eigentlich der nur in der Stadt und der Gegend von Winterthur verwendete Begriff "Pünt" für diese Gärten? Wikipedia erwähnt den Begriff "biunta", althochdeutsch, was soviel heisst wie „um was sich der Zaun herum windet“, ein geschlossenes Ackerland oder ein Garten, der von einem Zaun geschützt wird." Diese Umschreibung passte.
Nun noch zwei Mal: Krank im Bett zu liegen war wunderschön. Fertig. Krank im Bett zu liegen war wunderschön. Fertig. Das Wort fertig gehörte dazu und hiess: Kein Kommentar bitte."
Inwiefern haben Krankheiten/Unfälle in deinem Leben eine wichtige Rolle gespielt?
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5.  Krankheiten und Unfälle

Inwiefern haben Krankheiten/Unfälle in deinem Leben eine wichtige Rolle gespielt?
Erzählte mir die füllige Nachbarin damals, wenn wir gemeinsam an ihrem schmalen Küchentisch in der engen Küche sassen, von ihren Beschwerden und Krankheiten, so hörte ich interessiert zu und fragte halblaut nach ihren Pillen. Mit langsamen, mühsamen Bewegungen, nach vorne gebeugt, verschwand sie in der Nebenkammer. Ich sah sie von hinten. Der Wickelrock klebte und ein tiefer Abdruck der Sitzfläche des kleinen Taburettli war zu sehen. Bald kam sie mit einem blechernen Röhrchen und einer kleinen weissen Tüte zurück. Ich holte zwei Teller aus dem offenen Gestell, und da lagen sie nun: "Die runden weissen Pillen für die Beine und die rosaroten, ovalen für das Herz. Täglich je eine, aber oft vergesse ich sie. Für die Beine habe ich auch eine Salbe." Sie sass wieder und ich schaute genau. Ihr massiger Leib senkte und verteilte sich. Das kleine Stühlchen verschwand und versteckte sich unter ihrem Körper. Der Rock spannte sich über ihre Knie und darunter manierlich, doch weit auseinander zwei kleine Füsschen. Sorgsam legte ich die Pillen wieder zurück, und sie beigte zwanzig rohe Eier in mein Körbchen. Sie schien mir wirklich krank. Alle reich beleibten Leute auch meine Tanten schienen mir krank. Sie hatten Mühe sich zu bewegen und schwitzen oft. ... Ich dachte an Grosi. Die magere, grosse, alte Frau litt an argen Schmerzen in allen Gliedern und an den Händen. Sie konnte nicht mehr stricken. Sie brauchte Hilfe beim Aufstehen. Ihr Sohn trug sie die Treppe hinunter und setzte sie neben den warmen Kachelofen. ...  "Weg mit den trüben Gedanken," ich schüttelte mich, und wir sprachen über ihre Hühner und die Blumen in den Gärten und auf den Wiesen. Ich erzählte ihr von der Schule und den Hausaufgaben, die noch auf mich warteten. Ich sollte gehen. Wie leicht ich doch aufstehen konnte! Schon stand ich vor dem Haus und behende trug ich meine empfindliche Last nach Hause. Ich hüpfte ein wenig: "Gott sei Dank, wir sind alle gesund," und bald landete der Eierkorb sicher in Mamas Händen. Natürlich nahm Mama hie und da eine Kopfwehtablette. Grössi schimpfte deshalb, denn sie glaubte an Kräutertee. Von Frühling bis Herbst sammelte sie von den verschiedensten Pflanzen Blüten, Blätter, sogar Wurzeln, und das ganze Jahr kochte sie täglich grosse Mengen Tee.
Die Eltern waren sich einig: "Vorbeugen ist besser als heilen." Auch wenn es arbeitsmässig gar nicht passte, besuchte Mama mit jedem ihrer Kinder während dem ersten Lebensjahr jeden ersten Mittwoch im Monat im grossen Dorf die Mütterberatung. Das war ein anstrengendes Unterfangen. Auf der asphaltierten Strasse marschierten wir zügig mit dem Kinderwagen. Im grossen Dorf angekommen trafen wir andere Mütter. Im Schulhaus konnte man die leeren Wägelchen im Gang stehen lassen, denn der Mittwochnachmittag war schulfrei. Mit dem Kleinen im Arm und einer Tasche frischer Kleidchen am andern stellten sich die Frauen in eine Reihe. Es gab viel zu sehen. Die Mütter plauderten. Zwei Frauen verliessen nun den Raum und wir rückten nach, wir betraten das Zimmer. In der Mitte eines langen Tisches standen die Gemeindeschwester und der Dorfarzt, beide in Weiss, daneben die Praxishilfe in Blau. Die Krankenschwester legte ein Tuch auf das Plastik-Kissen, dann übergab ihr die nächste Mama ihren Schatz. Sie zog das Kleine aus, mass und wog es und schob das Kissen zum Doktor weiter. Dieser schaute es sorgfältig an, erkundigte sich nach den Beobachtungen der Mutter und nach der Familie im allgemeinen. Er hörte das Kind ab, drehte und wendete es. Dann gaben Arzt und Schwester Ratschläge, schoben das strampelnde, oft weinende Ding weiter und machten eine kurze Notiz auf der Familienkarte. Während dessen unterstützte die Praxishilfe die Mutter beim Wickeln in der ungewohnten Umgebung. Sie schaute, dass nichts vergessen ging, dass keine nassen Stoffwindeln liegen blieben und rieb das Kissen ab, bevor sie es wieder vorne platzierte. Wir waren fertig. Ich durfte nicht hüpfen, denn ich war eines der wenigen Kinder, die mit durften, weil ich zwar in allen Richtungen schaute, aber mich ganz ruhig verhielt. Ich trug sogar Mamas Tasche.  
Treu dem Motto "vorbeugen ist besser als heilen" liessen uns die Eltern gegen "alle" Krankheiten impfen, man wisse ja nie. Die Impfungen wurden durch den Dorfarzt und die Gemeindekrankenschwester durchgeführt, und deren fachmännischem Auge wäre eine Unstimmigkeit sicher aufgefallen. Wir hatten nichts zu verbergen. Wir wurden immer gewaschen und unsere Kleider waren sauber und ganz. Wir waren dankbar und liessen uns Lebertran in den Mund "stopfen" (Einschübchen: "träufeln" wäre wohl korrekt, aber zu verharmlosend und darum falsch). Grässlich und während Stunden ein unangenehmes Aufstossen. Wir wurden glauben gemacht, Lebertran würde vor Kinderlähmung schützen, und Kinderlähmung galt als die schrecklichste aller Krankheiten. Unser Schuhmacher konnte deshalb kaum gehen. Machten Husten oder Wintergrippe die Runde, wurden Sauerkraut  und Lindenblütentee gekocht. Wir wuschen die Hände vermehrt und benutzten keine fremden Stofftaschentücher. Alle gingen wir früh ins Bett, um Widerstandskraft zu sammeln. Natürlich hatten die Eltern oft Rückenweh und bei Regenwetter allerhand Gelenkschmerzen. Diese Krankheiten gehörten zum Dorfklatsch. Sie waren unvermeidlich: "An etwas musste man ja sterben."
2017, 31. August Zum zwanzigesten Mal jährte sich der Todestag von Pinzessin Diana. Sie dachte an das Lied von Elton John ... an die Beatles ... und Elvis Presley ... . Leser und Leserin, welche Rolle spielten Krankheiten in Ihrem Leben?  Denken Sie auch manchmal an den Tod? Einschub Ende.
Über unser schwierigstes Familiengeheimnis, über die schwere Krankheit von Mama möchte ich hier nicht schreiben. Alle Familienmitglieder wussten es, und niemand sprach darüber. Es galt viel frisches Gemüse zu essen, früh ins Bett zu gehen und Widerstandskräfte zu sammeln. Ja, mit vereinten Kräften schafften wir es. Wir waren gesund. Mama war krank und arbeitete, als ob sie gesund wäre.
Leidest du aktuell an Krankheiten oder Folgen von Unfällen oder Krankheiten? Wie kam es dazu?
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5.  Krankheiten und Unfälle

Leidest du aktuell an Krankheiten oder Folgen von Unfällen oder Krankheiten? Wie kam es dazu?
MMF-Zusatzfragen: Falls zutreffend, wie gehst du damit um? Wie geht dein Umfeld damit um?
Papa und ich waren immer gesund. Lagen alle wegen Grippe oder Erkältungen im Bett, so konnte er mich am frühen Morgen bei Dunkelheit auf dem Weg in den Stall wecken. Meine Hand griff nach seiner Hand, und ich huschte sicher und schnell hinter ihm her die Treppe hinunter in die Küche. Es war kalt. Wir drehten den Schalter und - hell war es. Ich machte Feuer und bereitete das Morgenessen vor. Papa besorgte das Vieh. Damit es in der Stube schön warm wurde, legte ich tüchtig Holz nach und machte einen grossen Krug Tee. Hustend und jammernd mussten alle zum Tisch kommen und etwas trinken. An solchen Tagen konnten wir zwischen Rösti und Hungbrot (= Honigbrot, nein Butterbrot mit Marmelade) wählen oder ausnahmsweise sogar von beidem essen. Dann verhandelten wir über den Grad der Krankheit. Papa und ich waren immer gesund. Tief drin in meinem Herzen war ich gesund, auch wenn ich mir, hinter dem Wort "krank" versteckt, gelegentlich freie Tage gönnte. 
"Schau meine hässlichen Beine," jammerte meine Mutter häufig. Das Blut in den oberflächlichen Venen ihrer Beine hatte Mühe ins Herz zurückzufliessen, und dadurch entstand etwas, das drei Namen hatte: Besenreiser oder Krampfadern oder Varizen. Mit Stützstrümpfen hätte man vorbeugen können, aber diese zu kaufen, war nicht nur teuer, sondern, diese an heissen Tagen zu tragen, das war unzumutbar. Mama war eitel, und sie hätte gerne hie und da einen kurzen Rock getragen. Doch dann - diese Beine! Die Krankenkasse bezahlte eine Behandlung. Der Nutzen war von kurzer Dauer, schon bald zeigten sich neue Hässlichkeiten. Die Schreibende hatte diese Schwäche geerbt und trägt deshalb immer lange Hosen.
Die zweite Mama-Krankheit: "Ich brauche wieder Tabetten, ich bin so müde, ich habe kalte Hände, und mir ist schwindlig," wir kannten dies. Zu niedriger Blutdruck, nicht gefährlich, aber lästig. Die Krankenkasse bezahlte eine grosse Schachtel Tabletten; diese reicht über den Sommer. Im Winter genügten eine zusätzliche Tasse Kaffee und am Samstagabend ein Gläschen Roter. Die Schreibende hatte auch diese Schwäche geerbt und behandelt sie mit Fussmärschen und täglich einem Gläschen deutschen Wein.
War es nass und kalt, so hatten viele Dorfbewohner zu jammern: "Rheuma, Rheuma". Der Dorfarzt sagte: "Es gibt viele Arten von schmerzhaften Erkrankungen der Knochen, der Gelenke und der sie umgebenden Weichteile. Eine typische Krankheit von Bauersleuten, die bei Wind und Wetter draussen hart arbeiten. Das nennt man Rheuma." Mamas Krankenkasse bezahlte auch Pillen und Tabletten für Papa. Stimmt nicht. Der Arzt verschrieb immer grosse Schachteln, damit Mama teilen konnte. Achtung: Niemand ausser Mama hatte eine Krankenkasse und niemand wusste, warum sie eine hatte.
Die Schreibende hatte alle drei Krankheiten geerbt. Doch wie ihre Vorfahren gab sie sich kaum Zeit zum Leiden. Dank allerhand Bauernmitteln blieb sie gesund. Seit 1995 ist die Krankenkasse obligatorisch. Meine Lesenden, sind die Leute deshalb gesünder?
2017, 6. September Was plaudern mit alten Klassenkameradinnen, wenn nicht hauptsächlich über Krankheiten oder Enkel? Wie geht es Ihnen, liebe Zuhörende beim Vorlesen im Alten-Punkt Ihres Quartiers, im Altersheim oder in der Altersrésidence? Sprechen Sie doch ein wenig über Politik,  über die nächste Abstimmung! In jenem Zeitpunkt, am 6. September 2017 um 11 Uhr 21 hatte sie den Vorsatz gefasst, sich immer für Politik zu interessieren.
Gab und/oder gibt es in deiner Familie Krankheiten/Unfälle, die dich geprägt oder dein Leben beeinflusst haben?
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5.  Krankheiten und Unfälle

Gab und/oder gibt es in deiner Familie Krankheiten/Unfälle, die dich geprägt oder dein Leben beeinflusst haben?
MML- Zusatzfrage: Wen betraf es? Worum handelte es sich?
Ein Beispiel, stellvertretend für viele: Wir arbeiteten tüchtig. Wir kamen gut voran, doch noch wartete viel auf uns. Es schien immer mehr Arbeit zu werden. Grössi schüttelte den Kopf: "Ihr wollt wieder zuviel! Ihr macht euch kaputt! Ihr seid krank," sie schimpfte, zog sich zurück und trottete mit gesenktem Kopf heim. Am Abend: "Grössi ... ," ich wusste nicht, was und wie ich sie fragen sollte. Sie verstand mich und wiederholte: "Ja, ihr seid krank," ich schüttelte den Kopf, "deine Eltern sind krank. Sie wollen zuviel und gönnen sich keine Ruhe." Krank und Krieg, beides beunruhigte, beängstigte mich. Sie schaute mich lange an und zögerte. Ich nickte ihr zu und sie sagte: "Ja, wenn du in die Sekundarschule willst, dann bist auch du krank, denn das ist zuviel für ein Mädchen." Ich schwieg und schaute sie an. Sie hatte hellblaue Augen und ich dachte: "Ja, dann bin ich krank, ich will in die Sekundarschule. Woher wusste Grössi das? Vielleicht ... , weil ihr Mama mit dem Verweis auf ihre Sekundarschule immer wieder einen Seitenhieb gab?"
So war es nun: In Grössis hellblauen Augen, in Grössis Kopf war ich krank. Mama aber war tatsächlich krank. Sie musste viele Pillen schlucken und wog weniger als 45 kg. Jahre später nannte die Schwester mich, die Schreibende eine Workaholic.
 
Verzeichnis der Fragen und Texte
Seite 163
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6.  Wohnen

Verzeichnis der Fragen und Texte
Hast du deine Kindheit in der gleichen Wohung bzw. Haus verbracht?
Falls ihr umgezogen seid, was waren die Gründe?
Wie war das konkret mit den jeweiligen sanitären Installationen? WC, Badewanne?
Was für Haushaltsgeräte hattet ihr? Was bedeuteten sie?
Wie war das für dich jeweils mit Radio, TV, Computer und anderen Medien?
Bist du an frühere Wohnorte zurückgekehrt?
Hast du deine Kindheit und Jugend in der gleichen Wohnung bzw. im gleichen Haus verbracht, oder musstest du öfters umziehen?
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6.  Wohnen

Hast du deine Kindheit und Jugend in der gleichen Wohnung bzw. im gleichen Haus verbracht, oder musstest du öfters umziehen?
MML-Zusatzfragen: Falls ja, versuche dich an die einzelnen Wohnungen/Häuser im Detail zu erinnern. Hast du oder jemand noch Photographien?
Etwas zu erzählen, und sei es noch so wenig, gehörte zum Wochenprogramm der kleinen Schüler. Die scheue Ruth durfte sitzen bleiben und sie flüsterte im Dialekt: "Ich bi d'Ruth Schüch. Ich han en Brüeder und e  Schwöster."(= Ich heisse Ruth Schüch. Ich habe einen Bruder und eine Schwester) Was konnten wir nur machen, dass die lustige Ruth auch im Schulzimmer unsere lustige Ruth blieb. Wir spielten immer wieder Lehrerlis und Ruth durfte die Lehrerin sein und wir, alle ihre Schüler blieben stumm.
Jede Woche lernten wir eine Wortgruppe. So sprachen wir lange über die Ausstattung der Häuser. Von allerhand Traumsachen, die wir gar nicht hatten, durften wir erzählen. Es ging nicht um Wahrheit, nein, flott ein paar Sätze sagen zu können, war das Ziel. Wann immer wir Lust hatten, übten wir drei mit Papa oder Mama. Schriftdeutsch wollten wir sprechen können. Wie weit wir mit diesem Progamm jeweils kamen, ist mir entfallen. Jedenfalls habe ich mit viel Spass in langen Selbstgesprächen gelernt über unser Haus zu erzählen, und nun überfallen mich die Erinnerungen: "Liebe Leserin, lieber Leser: Wie soll es denn sein? Langfädig, mit allen Einzelheiten oder kurz und bündig?"
Ich habe verstanden: Kurz und bündig ein paar Angaben zum Haus: Ein Bauernhaus, Riegelbau mit Doppelwohnhaus, genaues Alter unbekannt. Man erzählte: Verwundete aus dem Krieg gegen Napoleon seien in der Stube gepflegt worden. Niemand wusste, ob das stimmte. Der Kachelofen sei später ersetzt worden. Vor dem Haus stand ein Brunnen, und doch war in der Küche ein Wasserhahn eingebaut worden. Auf der Stütze des Ofenbänkleins sind Ziffern zu lesen - wie oft hatte ich damals daran herumgerätselt. 1868 stimme nicht, wurde behauptet. Dem stimmte ich zu, denn ich wollte in einem sehr alten Haus wohnen.
Per Zufall erfuhr sie Anfang April 2016, ihr Elternhaus sei mit allem Drum und Dran an einen Spekulanten verkauft worden, der nun eine Rendite-Überbauung plane. Erstaunlich leicht konnte sie sich darauf einstellen und doch wollte sie noch etwas mehr über die Geschichte des Hauses herausfinden. Sommer 2016 : Die Überbauung zögerte sich hinaus, geplanter Beginn Sommer oder Herbst 2017. Sie wurde zu einer Tasse Tee eingeladen. So sass sie unter dem Dach des Hauses, indem sie aufgewachsen war, an einem Tisch voller Gewürze. Alles war ihr fremd, denn Wände und Türen waren verschoben worden. War ihr grosses Daheim von damals so eng gewesen? Sie schaffte es nicht, zu ihrem "Heimatdorf" wieder einen Kontakt aufzubauen. Sie hatte mit ein paar Leuten gesprochen, die Kontakte waren herzlich und öfter stellte man ihr Kopien von alten Bildern oder Adressen von weiteren Kontaktpersonen in Aussicht. Es traf nichts ein, und dies war gut so. Weiterfliegen, weiterfliegen ...
Neben ihr lag eine Einladung zu einer Klassenzusammenkunft am 12. Mai 2017. Ob sie es schaffte, nach weiteren Informationen zu fragen? Ihr Versuch war gescheitert. Sie war nun ungeduldig, sie wollte fertig werden mit dieser Schreiberei.
2017, 2. September Auf dem Weg nach Aarau fuhren sie durchs "alte" Dorf. Viele Häuser waren schön hergerichtet worden. Ihr verlottertes Elternhaus schien nun leer. Der Neubau war ausgesteckt. Mit viel Begeisterung hatte sie vorübergehend geplant, mit einem Teil des Abbruchmaterials "etwas", z.B. einen Hocker machen zu lassen. Wozu? Sie brauchte keinen Hocker.
Falls ihr umgezogen seid, was waren die Gründe für den Umzug/die Umzüge? Wie wurde darüber entschieden?
Seite 165
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6.  Wohnen

Falls ihr umgezogen seid, was waren die Gründe für den Umzug/die Umzüge? Wie wurde darüber entschieden?
MML-Zusatzfrage: Was bedeuteten solche Umzüge für dich, deine Freundschaften, Gewohnheiten etc.?
Die erste Geschichte in unserem Zweit-Klass Lesebuch erzählte vom Umzug einer Familie mit drei Kindern aus einer Wohnung in ein Häuschen. Dies musste gut geplant, und alles musste sorgfältig eingepackt werden. Das faszinierte mich und ich begann über einen Wohnungswechsel nachzusinnen und musste meine Mutter immer wieder beruhigen: "Nein, nein, Mama, ich will nicht fort! Ich überlege nur, was und wie wir all unsere Sachen einpacken könnten."
Einpacken am Morgen und Einpacken am Abend und Einpacken im Schlaf. Ich hatte ein neues Thema, doch wir hüpfen weiter. Dann zog nämlich ein loser Zahn meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich hatte Mühe mit Essen und dachte nicht mehr über das Einpacken nach. Weg mit all den kleinen Erinnerungen, weiter, weiter.
Leser und Leserinnen, was können Sie zu diesen Fragen erzählen?
Wie war das konkret mit den jeweiligen sanitären Installationen? WC, Badewanne, Dusche und der Körperhygiene?
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6.  Wohnen

Wie war das konkret mit den jeweiligen sanitären Installationen? WC, Badewanne, Dusche und der Körperhygiene?
Unsere sanitären Installationen? In den Bauernhäusern: Ein Plumpsklo mit Zeitungspapier zum Lesen oder um sich sauber zu machen, keine Badewanne, keine Dusche, im Sommer bald eine Kaltwasserdusche.
Körperhygiene? Wir sagten, wir würden Wert auf Sauberkeit legen. In unserer Küche gab es einen Wasserhahn, und die Küche war gross und immer ein wenig warm. Richtig, immer ein wenig warm vom Kochen mit Holz in einem Haus ohne Zentralheizung. Zudem hatten wir Fensterläden, und Besucher betraten das Haus durch den Gang und nicht durch die Küche, so konnten wir uns bei Bedarf ungeniert in der Küche waschen. Gab man etwas Acht, hatte es sicher auch einen Rest warmes Wasser in irgendeiner der Pfannen. Papa meldete jeweils seinen Bedarf an. Oh, wir konnten uns leicht gut organisieren. Der Dorfklatsch fand unsere Wohnsituation gut. Fertig.
Einschub 2016  Das war unser damaliges Empfinden. Ich staunte und wollte es beim ersten Besuch nach über vierzig Jahren im alten Haus nicht glauben wie "gross", in Wirklichkeit wie klein, eng unsere Küche gewesen war. Einschub Ende.
Was für Haushaltsgeräte hattet ihr? Was bedeuteten sie?
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6.  Wohnen

Was für Haushaltsgeräte hattet ihr? Was bedeuteten sie?
MML: Denke an Kühlen, Waschen, Kochen, Spülen. Unterschied sich eure Situation von eurer Nachbarschaft?
Wir hatten alles, uns fehlte nichts. Wir hatten sogar mehr als zu einem üblichen Haushalt gehörte, z.B. einen grossen irdenen Topf zum Herstellen von Sauerkraut, einen Kohlhobel, eine Haarschere, eine Nähmaschine zum Treten, ein elektrisches Bügeleisen, eine mit Wasser angetriebene Waschmaschine, eine mit Wasser angetriebene Schwinge, ein Telefon, einen Photoapparat, einen Radio und einen Plattenspieler, den wir aus nicht erklärbaren Gründen, nie brauchten. Oder fehlte den Eltern ganz einfach Zeit und Kraft?
Genügend Teller, Gläser, Schüsseln, im Nebenkammerkasten zudem den Goldrand Service von BB und Teller und Geschirr, das Grössi aus dem "Rössli" gezügelt hatte.
Genügend Pfannen zum Kochen und Braten, Kellen, eine Röstischaufel.
Genügend Besteck, grosse Messer, Küchenmesser, Kartoffelschäler, Apfelhöhler
Milchbecken in verschiedenen Grössen. Gemüseschüsseln, Salatschüsseln
Passevite, je eine Rösti-, Obst- und Käseraffel
mehrere Schwingbesen, ein manuelles Handrührgerät
Kleiderbürsten und eine Anti-Statik-Bürste
Flaschenputzer, Schuhputzzeug
Kupferblätz, Bodenbürsten, Bodenlappen
Küchenwäsche inkl. Silbertuch
Schrubber, Bodenwichse und Blocher
Und wir hatten bereits überzählige Sachen. Was tun damit?
 
5. Juni 2017: Wie doch die Zeit verflog. Eine Nachrichten-Meldung: Vor 50 Jahren hatte der 6-Tage-Krieg zwischen Israel und den arabischen Nachbarländern begonnen. Sie konnte sich gut erinnern. Doch wurde in der modernen Zeit das Gedächnis nicht durch das Internet ersetzt? Hatte sie das richtig verstanden? Einschub Ende.
Wie war das für dich jeweils mit Radios, Fernseher, Computer und anderen elektronischen Medien?
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6.  Wohnen

Wie war das für dich jeweils mit Radios, Fernseher, Computer und anderen elektronischen Medien?
MML-Zusatzfragen: Wo standen diese? Wie und von wem wurden sie genutzt?
Dank den Nachrichtensendungen der Schweizerischen Depeschenagentur von Radio Beromünster kannte ich die heisere Stimme von Hans O. Staub aus Paris und die Ansage: "Hier spricht  Heiner Gautschy aus New York" und viele andere mehr. Papa meinte, das Radio sage mehr oder weniger die Wahrheit. Grössi behauptete, die können uns erzählen, was sie wollen. Das Radio stand in der Stube, in der vorderen Ecke links, rechts ein Fenster gegen Süden und links das Fenster gegen Osten. Während den Nachrichten-Sendungen assen wir die Suppe und hörten zu. Diese Regel verletzte niemand. Waren wir artig und regnete es, so schaltete uns Mama das Radio auch manchmal während des Tages an. Am Montagabend wollte Grössi das Wunschkonzert hören, und wir kuschten uns in den Nachthemden leise auf dem Sofa zusammen, damit es Mama leicht fiel, ein Auge zuzudrücken. Papa hörte gerne Musik, es mussten nicht Ländler sein. Den Fernseher kannten wir vom Hörensagen. Computer und andere elektronische Medien waren unbekannt. Papa hatte uns leise, aber sicher versprochen, bald eine Schreibmaschine zu kaufen.  
Papa hatte mir die Ansage "Schweizerische Depeschenagentur von Radio Beromünster" auf die Rückseite eines alten Couverts geschrieben, denn ich wollte bei Gesprächen mit den Erwachsenen mitreden. "Kinder der Mittelstufe sind Schüler und Schülerinnen, und sie sprechen von Erwachsenen und nicht mehr von "die Grossen", das hatte ich so nebenbei bemerkt. 
Bist du an frühere Wohnorte zurückgekehrt?
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6.  Wohnen

Bist du an frühere Wohnorte zurückgekehrt?
MML: Falls ja, weshalb? Wie hast du das jeweils erlebt? Falls nein, weshalb nicht?
Wieder so eine Frage, es gab doch für mich als Primarschülerin noch keine anderen Wohnorte. Ich wollte auch gar nicht anderswo wohnen, als mit meinen Eltern im schönen Bauernhaus. Fest stand: "Ich werde später, wenn ich gross bin, zwei Jahre in Amerika wohnen." "So lange musst du schon dort bleiben, damit du die Sprache richtig lernst und ein wenig herumreisen kannst. Mit Englisch kommst du überall durch," riet mir mein Lieblingsonkel, der Automechaniker. Also kann ich mit Englisch auch Alfi in Afrika  finden.
Wo haben denn Mama, Grössi, Grosi und der Grossvater früher gewohnt, diese Frage interessierte mich sehr. Auf Mamas Seite war das einfach. Sie war im ersten Riegelhaus links im kleinen Dorf nach dem Wald aufgewachen bei Grosi und dem Grossvater, den ich nie gekannt hatte. Dorthin war die Grosi durch Heirat gekommen, und dort hatte die Familie des Grossvaters immer gewohnt. Die dortige Grossmutter, die ich nicht kennen konnte, weil sie aus der früheren Zeit stammte und deren Kreis sich am Tag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges geschlossen hatte, wohnte als Kind am Rande der Stadt in einem schönen Haus. Ihr Vater war Seifenflockenfabrikant gewesen. Grosi ihrerseits, das Mädchen, das schon damals Ende des letzten Jahrhunderts (Einschübchen: Aufgepasst! Wir sind in den 1950er Jahren, also war Grosi in den 1880er Jahren ein Kind) Velofahren konnte und wie ein Bub die Sekundarschule in einem grossen Dorf besuchte, wuchs im ersten Riegelhaus nach dem Schulhäuschen links im kleinen Dorf am grossen Fluss auf. Die Familie habe immer dort gewohnt. Mehr konnte ich nicht herausfinden. Meine Fragerei war den Erwachsenen lästig.
Auf Papas Seite war es schwieriger. Papa selbst wusste rein gar nichts oder er behauptete, alles vergessen zu haben. Das glaubte ich ihm nicht. Was tun? Ich stand einfach da. "Mach vorwärts, was ist los," Papa wunderte sich. "Ich weiss nichts, ich habe alles vergessen," die Arme verschränkt, stand ich breitspurig da und meine Augen zu seinen Augen hinaufgerichtet. "Du kleiner Frechdachs, komm," er lachte und meine Hände funktionierten wieder gut und schnell. Er merkte wohl, dass ich nicht zufrieden und nicht bei der Sache war, doch ihm genügte, dass wir mit der Arbeit wie geplant vorwärts kamen.
2016 Noch immer sagte sie gelegentlich zu sich selber: "Oh Papa, mit jener hartnäckigen Art, jenem schweigenden Beharren auf meiner Meinung, verbunden mit dem guten Weiterfunktionieren habe ich mir keine Freunde gemacht. Du wusstes doch aus dem Dorfklatsch, dass es hiess, das Kind ist noch nicht gebrochen. Du hast diese Formulierung gekannt und verstanden, auch wenn du meine Frage "nach dem Gebrochensein" mit Kopfschütteln beantwortet und behauptet hast: "Ich weiss von nichts, du hast doch nichts zerbrochen, und wenn dem so wäre, so macht das nichts, das kann beim Arbeiten passieren." "Ja, das kann beim Arbeiten passieren," mein Echo.
Grössi's Geschichte kannte ich, und sie erzählte mir zusätzlich ein wenig von Chueris Geschichte. Der Grossvater sei hinten im Dorf in einem Schattenloch auf die Welt gekommen. Wie die Familie es geschafft habe, das Restaurant "Rössli" mit Umschwung zu kaufen, das wisse sie nicht. Sie denke, das sei möglich gewesen, weil er nur einen Bruder gehabt habe und beide Elternteile tüchtig gearbeitet, sorgfältig eingeteilt und mit Freude gespart hätten. Sie habe gehört, das "Rössli" sei verlottert (=in schlechtem Zustand) gewesen. Chueri und die schöne Berta hätten es wieder in Schwung gebracht. Berta habe viel mitgebracht. Sie sei eine Wunderfrau gewesen, im Dorf zwar nicht sonderlich beliebt, aber mit den Knechten und mir als Magd grosszügig und nachsichtig. Es sei eine Freude gewesen, in diesem Haus zu dienen.
Grössi weiter: "Als Nachfolgerin der schönen Berta bin ich Bäuerin und Wirtin geworden, und unsere Kinderschar wurde Jahr um Jahr grösser. Du weisst, sechs Kinder haben wir uns gewünscht und dann kam 1916 noch dein Vater und 1918 - Pause - 1918 hat die Grippe drei geholt." Nach der Gedenkpause: "Die Wirterei und der Ärger mit dem Alkohol sind mir zu viel geworden. Ich konnte und wollte die Männer, die Familienväter nicht abfüllen. Das gab viel Streit und ich verlor manch guten Gast. Als ein Teil dieses Hauses hier zum Verkauf stand, haben wir die Gelegenheit genutzt, zwei Jahre später konnten wir auch den Rest kaufen, damit hatten wir gut Platz für alle."
1929 brannte das "Rössli" ab. Sogar die Feuerwehr aus der Stadt stand im Einsatz. Furchtbar hatte es gebrannt, dann hat der Wind eingesetzt. Zum Glück trug er die Flammen weg in Richtung Felder. Die Feuerwehr ist machtlos gewesen. Plötzlich stürzte der Hut des Kamins in die Mitte der entsetzten Menge. Er traf den Feuerwehrkommandanten. Zu viert wurde er in unseren Gang getragen. Eine Stunde später atmete er nicht mehr. Nur die Grundmauern hätten das Unglück überstanden. Lange ist es her, schau wie gross die Linde ist, die im folgenden Herbst neben die Mauerreste gepflanzt wurde."
Warum genau das "Rössli" abgebrannt sei, das habe nie jemand gewusst. Es sei viel gemunkelt worden.
Verzeichnis der Fragen und Texte
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Verzeichnis der Fragen und Texte
Wer wohnte anfangs der 1950er Jahre in eurem Dorf?
Wie sah euer Dorf anfangs der 1950er Jahre aus?
2017, Endlich schneit es. Lawinen?
Nebel, die lange Geschichte zum Nebel (1)
Die Geschichte vom Nebel führt zur Industrialisierung (2)
Der Nebel, die Luftverschmutzung! Ich schaffe es nicht (3)
Wieviel Wasser braucht man, um die Hände zu waschen? (I)
Wie schreiben wir einen Bericht über das Händewaschen? (II)
Habt ihr andere Bericht geschrieben? Die Reise des Holzes zum Verbraucher (1) Gant
Wir wollten die Reise des Holzes besprechen! Vorbereitung des Fällens (2)
Wir wollten die Reise des Holzes besprechen! Alles andere schob sich dazwischen! (3)
Die Reise: Aus dem Wald zum Verbraucher (4) Was sind Verbraucher? 
Die Reise: Aus dem Wald zum Verbraucher (5) Das enttäuschende Ende
Dona Nobis Pacem, wir schaffen es nicht! Oder doch?
Wie hiessen die Kinder damals?
Wie war es früher? Ganz früher?
Was wusste der Gemeindehistoriker?
Was hatten die Dorfbewohner in den 50er Jahren für Pläne?
Erinnerst du dich an deinen ersten Schultag?
Welche Erwartungen hattest du an die Schule?
Was weisst du noch über deinen Schulweg?
Wie hast du lesen gelernt?
Wie hast du schreiben gelernt?
Wie hast du rechnen gelernt?
Ein Mädchen ohne Schiefertafel?
Was wusstest du von den Stadtkindern?
Wann und wie hast du gelernt, Feuer für das Kochen zu machen?
Wann hast du das erste Mal "gekocht"?
Was konntest du kochen?
Geh, mach Kaffee. Kommt nicht zuerst die Milch?
Ja, wo bleibt der Kaffee?
Wie kommt das Schwein in die Pfanne?
Habt ihr auch Blutwürste gemacht?
Wo und was lernte man? Warum gingen wir in die Schule?
Wo, was und wie lernt man? Fragen an den Lehrer
Lernt man nicht mit sich ganz allein?
Wie ging es mit den Juden und den Zigeunern?
Wie war mit den Büchern umzugehen?
Wie ging das mit den Aufsätzen?
An welchen Höhepunkt des Unterrichtes erinnerst du dich?
An welche Aufsatzthemen erinnerst du dich noch?
Wer wohnte anfangs der 50er Jahre in euerm Dorf?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wer wohnte anfangs der 50er Jahre in euerm Dorf?
Als ich in die Schule kam, kannte ich alle Leute in unserm Dorf mit Namen. "Grossvater, wer war das? Papa, wie heisst der Mann? Mama, wie ... ? Grössi, wer ... ?" ich wollte die Leute kennen. Bei Schuleintritt wusste ich, wer in welchem Haus wohnte. Das war einfach, denn wir sahen die Leute, sie verliessen die Häuser, um draussen zu arbeiteten. Alle hatten einen grossen Garten und irgendwo eine Pünt, einen Pflanzplätz für Gemüse, Beeren und Blumen, selbst der Lehrer. Bei Familien, die kein Vieh und keine Pferde hatten, arbeitete der Vater bei der Gemeinde oder in der Stadt, oder er fuhr mit der Eisenbahn. Schwierig war es nur mit den alten Frauen. Sie sahen alle gleich aus. Verliessen sie das Haus, so banden sie sich im Sommer ein grosses, weisses Kopftuch um. Meist schienen sie, ganz in unscheinbare farblose Kleider gehüllt, gesenkten Hauptes in einer dunklen oder schwarzen Stuche (= Kopftücher) langsam die Wege entlang zu gleiten. Ich wagte diese Botinnen aus einer andern Zeit nicht anzusprechen, doch mein Blick folgte ihnen gebannt, sei es durchs Küchenfenster, zwischen Wäschestücken durch oder aus der Ferne vom Feld. Zu welcher Familie gehörte diese oder jene? Grössi wies mich zur Ordnung und verlangte, dass ich diese Frauen ruhig ihres Weges ziehen liess, denn sie würden für den Frieden beten und für das tägliche Brot danken. "Tust da das auch,"wagte ich scheu zu fragen. "Selbstverständlich. Das ist die Pflicht der alten Frauen," sie schaute sich an, " das ist meine letzte Aufgabe. Du siehst, ich bin alt und hatte meist genug auf dem Teller, deshalb danke ich gerne für das täglich Brot und bitte um Frieden." ...  "Mein liebes Kind," sie schaute mir in die Augen und sagte: "Ich hoffe, dass es dir auch so gut geht wie mir. Ich hoffe, dass du das Danken nicht vergisst und um Frieden bittest. Frieden, Frieden ...". Sie nahm mich bei Hand und wir holten Holz zum Kochen.
2017 Montag 9. Oktober 11.30: Da sie ihre Texte veröffentlichen wollte, musste sie diese anonymisieren, d.h. die Dorfbewohner umbenennen. Wie? "Meier und Müller oder Fuchs und Wolf". Berufe, sie machte eine Liste gemacht: Berufe wie Müller, Bäcker, Jäger, Fischer, Schneider, Maurer, Maler oder Tiere wie Fuchs, Wolf, Vogel, Stierli, Ochsner oder einfach A,B,C,D.
2017, Montag 9. Oktober 19.30: Es gab ja nicht allzuviele Familien. Weshalb sich nicht für das Alphabet entscheiden? Das war doch am umverfänglichsten. Alle 25 Buchstaben hatte sie gebraucht. Welch ein Zufall.
Wie sah euer Dorf anfangs der 1950er aus?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wie sah euer Dorf anfangs der 1950er aus?
Unser Dorf, meine Welt. Was konnten und wollten kleine Schüler gerne rechnen? Wir durften wünschen. Ich wollte wissen, wieviel Leute in unserem Dorf wohnten. Kein Problem, wurde gemacht.
Erstaunlich, wie viele Rechenbaufgaben das Dorf uns gab! Immer zuerst schätzen! Ich  hundert, der Lehrer 122. Ein Mädchen 33 und ein Knabe 1'000. "Stopp, schätzen heisst überlegen," so der Lehrer," Im Schulhaus sind im Augenblick alle 35 Kinder, meine Frau und ich. Rechnen wir die Zahl der Leute aus, die im Dorf schlafen." Ein paar Kinder änderten die Schätzung.
Dann zeichnete der Lehrer die geteerte Strasse von rechts oben gegen links unten quer über die Wandtafel. Sie führte mitten durch unser Dorf. Wir kannten die Teerstrasse gut. Ich wollte mit dem Rechnen in der Mitte beim Schulhaus anfangen. Doch der Lehrer bestimmte: Ganz hinten, nicht weit vom Wald - auf der Wandtafel rechts oben -  etwas oberhalb der geteerten Strasse, stand das alte Haus der Familie A.. Wer wohnte darin? Niemand wusste das. Es folgte ein Obstgarten und dann das sog. neue Haus der As (Eltern, drei Töchter und ein Sohn in meinem Alter, der wusste: Im alten Haus wohnten zwei Tanten, die immer daheim blieben.). Zwischenbemerkung: Für aller Mitglieder unserer Familie war der Kontakt zu den As verboten: "Schau auf die andere Seite, denen geben wir den Gruss nicht," hiess es, denn eine Fehde verband unsere beiden Familien. Die Eltern und der Dorfklatsch wechselten das Thema, wenn ich danach fragte. Doch ich fand die As nett.
Wieder einen Obstgarten weiter, auf der andern Seite der Teerstrasse, das neue Haus der Bs (Eltern, eine Grossmutter, zwei Söhne und zwei Töchter, die jüngste Tochter fünf Jahre älter als ich). Ihr altes, sehr altes Haus im Dorf sei während einem Platzregen ohne Blitz und Donner abgebrannt, hiess es, und der Dorfklatsch lachte, die Versicherung habe an ein schweres Gewitter geglaubt und tüchtig bezahlt. Nach dem Gemüsegarten der Bs an einem Feldweg etwas erhöht das Chalet der Familie C, der Vater Bahnarbeiter, die Mutter Hausfrau, die Tochter zwei Jahre älter als ich. Dieses Mädchen besass einen Puppenwagen mit drei Puppen, alle ganz, ganz schön. Ich durfte gelegentlich im schönen Chalet spielen. Einmal habe ich angeboten, beim Kartoffelschälen zu helfen, denn das konnte ich ja gut. Doch ich bekam eine Lektion: "Das geht nicht, wir geuden (= leichtsinnig verbrauchen) nicht wie ihr. Die Schale nur dünn ziehen!" Ich verstand, die hatten keine Schweine wie wir, die auch Futter brauchten.
Während wir so aufzählten, zeichnete der Lehrer für jedes Haus ein Rechteck entlang der Strasse, etwa in Grösse, Form und Lage richtig, mit der Anzahl Leute. Er markierte die Haustüren mit einem dicken Strich und die Herdstellen mit einem Kreis. Das alles ging zügig, wir nickten Zustimmung oder schüttelten den Kopf, wenn wir mit dem Zeichnen nicht einverstanden waren. Man verlor keine unnötigen Worte.
Einen Feldweg und einen Obstgarten unterhalb der Cs teilten Herr und Frau D und Familie E-D eine Haustüre und zwei Kochherde. Die Es waren Eltern von einer Tochter und zwei Buben, ein und zwei Jahre älter als mein Bruder, und sie hatten einen Knecht mit Plattenspieler, dazu gehörten 200 Schallplatten.
Dann kam die Kreuzung, die keine war. Die geteerte Strasse machte eine Rechtskurve, von links kam die nicht befestigte Bahnhofstrasse und von unten die ebenfalls offene Strasse für die Schüler vom kleinen Dorf im Tal und die Leute aus der Stadt. Auf allen Strassen fuhren selten Autos, gelegentlich ein Traktor, all die Fuhrwerke, gezogen von Pferden oder Kühen, und viele Velofahrer. Immer waren Leute zu Fuss anzutreffen. Im ersten Geviert links weidete E-D gelegentlich sein Vieh. Oberhalb der Bahnhofstrasse, war die Brückenwaage, und im einseitig angebauten Haus das Postbüro mit Telefonanlage, alle drei geführt und bedient von Familie F und KF, dem Briefträger. Durch eine Brandschutzmauer getrennt, kamen die Gs, ein altes Ehepaar, das seinen Lebensunterhalt mit Drechselarbeilten verdient hatte, die Jungen J und  mit einem Bébé-Buben. Richtung Tal, nach dem mit einer Mauer eingefassten Gemüsegarten, ein grosser Kiesplatz mit einem Nussbaum und einer Reckstange, unser Pausenplatz und unser Schulhaus mit der grosszügigen Lehrerwohnung. Alle wussten, dem Lehrer waren keine eigenen Kinder beschieden. Soll er doch zufrieden sein, ihm gehörten ja alle Kinder ein wenig! so der Dorfklatsch.
Auf der andern Strassenseite unser Haus mit zwei Wohnungen, Chueri selig, der nicht gezählt wurde, die Grossmutter, Papa, Mama, drei Kinder und der Lehrling, wir lebten alle zusammen. Ein Glück, dass der Brunnen und das Miststockmäuerchen uns von der Strasse trennten, so wussten alle, wo sie zu fahren hatten. Aller Staub der geteerten Strasse wirbelte gegen unser Haus. Dicht hinter unserem Haus der Obstgartem mit der Bodenplatte, die Leerstelle des vor Jahren abgebrannten Hauses der Familie B, null Leute. Dahinter eine Baracke als VOLG-Laden, null Leute. Mir ging diese ganze Sache etwas langsam, etwas fragen durfte man beim Rechnen nicht, und das Rechnen war mir zu simpel. Ich bereute meine unbedachte Frage nach der Anzahl der Dorfbewohner, das hätte ich besser mit Papa allein ausgerechnet.
In der Rechtskurve der Teerstrasse, in etwa den Gs gegenüber der Hydrant, eine grosse Linde und das Gemäuer und die Reste des Fundaments des ehemaligen Restaurant "Rössli". Null Leute. Dann, man fragte sich, wo alle Platz fanden, FH und seine Frau mit zwei Buben und zwei Mädchen, seinen alten Eltern und die ledige Schwester, alle neun an einem Herd, der Jüngste ein Jahr jünger als unser Bub. An die Teerstrasse anstossend der Miststock mit Mäuerchen, ein kleiner Vorplatz, der Brunnen quer als Teil der Gartenmauer vor dem Hühnerhof. Getrennt durch einen Feldweg, die Türe der Eltern von FJ mit dem jüngsten Sohn, dann der mit einer Mauer eingefasste Garten mit einem grossen querstehenden Brunnen und einer stattlichen Treppe von der Teerstrasse her zur Türe, die von Js kam je benutzt wurde. Der älteste Sohn mit Frau und fünf Kindern und zwei frühverstorben, die nicht gezählt wurden, Milchsammelstelle, nach dem Dorfgeflüster war J während dem Zweiten Welt politisch interessiert gewesen. Dicht daneben, nur durch einen Fussweg getrennt, die drei ledigen Geschwister K mit der alten Mutter und einer alten Tante, gefolgt von den drei ledigen Geschwistern L ebenfalls mit alter Mutter und alter Tante, Eingang durch die Tenne. Die Ledigen teilten die Einfahrt, und beide Häuser hatten hinten je einen angebauten Brunnen. Ein Sprung weiter, wieder Ms, der Gemeinderat, zwei schöne Töchter und zwei schöne Söhne, Garten mit Mauer eingefasst,  stattliche Treppe von der Teerstrasse her, Miststock mit Mäuerli und der Brunnen hinten.
Hier machte die geteerte Strasse die Linkskurve, und rechts bogen zwei kleine  Dorfsträsschen ab, die Sackgasse führte hinunter ins Loch und die andere flach neben Gemeinerats vorbei nach hinten zur Dorftrotte und zum untern Feuerweiher."Nun wird's schwrierig zum Zeichnen. Rechts der Dorfbrunnen, der Hydrant und die Eingangstüre zur Treppe für die Jungfer mit den Pflegekindern oben und unten, hinten die Türe für das Ehepaar aus Italien mit zwei herzigen Kindern," so überlegte der Lehrer laut, korrigierte mit dem feuchten Lappen und stellte fest:" Diese Ecke kenne ich auch nach all den vielen Jahren kaum."
Die beiden Dorfsträsschen begrenzten ein grosses komplizertes Oekonomiegebäude mit Wohnhaus. Die Wohnung der beiden alten Ns kannte die Sonne kaum, die beiden traten von der Strasse in die Stube mit dem Kochherd und dem Wasserhahn. Dahinnter das Schafzimmer und Plumpsklo. Die Os hatten einen Hauseingang hinten und einen von vorn und den Brunnen hinten. Ein Ehepaar, eine alte Grossmutter, eine Tochter, drei Söhne, alle musikalisch, einen kleinen Hund und viel Besuch aus dem grossen Dorf. Der Besuch war nicht zu zählen, denn sie schliefen nicht da. Dahinter die Ps mit alter Mutter und alter Tante, einem Buben und einem bösen Güggel, dann rechts angrenzend an den Schopf des Gemeinderates die grosse Dorftrotte mit Einfahrt oben, schliesslich der untere Feuerweiher.
Neben den Os vorbei hinunter ging's zu Qs im Loch, mit alten Eltern, Hund, drei Kindern. Die Rebleute hatten ein Wegrecht über deren Hofplatz, durchs Haus, durch den Garten zum obern Feldweg Richtung Rebhang. Dort standen auch die Bienenhäuschen des Bahnhofvorstandes R, ein Teil des grössten war eingerichtet zum Wohnen. Wir zählten sie nicht. Angebaut an Qs die Ts, Frau T die rechte Hand meiner Mutter, sie führte mit ihren Kindern ein strenges Regime, was meine Eltern nicht wissen durften. Ein schmaler Fussweg führte hinüber zum  Doppelhaus der Us, das bündig an der Teerstrasse stand. Auf der Schattenseite die Familie S, drei Buben, Bahnangestellter, auf der Sonnenseite die Us selber, zwei Söhne und eine Tochter. Irgendwie dazwischen die Boutique von Vater T, die jedes Jahr ein wenig grösser wurde. Im Eck drin, zusammengebaut und verschachtelt, wie der Dorfklatsch sagte, die sog. Baufirma Maurer, die keine war, mit dem Kolonialwarenladen, der keiner war, das Ehepaar und Sohn.
Bei Us überqueren wir die Teerstrasse und kommen wieder zu einem Doppelhaus, die Bauersleute V mit Knecht und drei Töchtern auf der Schattenseite, nur mit Fussweg erreichbar das Ehepaar W (Herr  W arbeitete in der Werkzeugfabrik) mit einer Tochter. Dann Familie X direkt in der Linkskurve mit drei Töchtern (der Mann arbeitete in einer Maschinenfabrik, die Frau war Schulhausabwartin). Schliesslich wieder in einem Doppelhaus vor der Baracke des VOLG Familie Y mit drei Kindern auf der Schattenseite. Frau Y führte den VOLG-Laden, daneben die Bauersleute Z mit einer Tochter. Bei ihnen holten wir - gegen Bezahlung selbstverständlich - alle zwei Wochen 20 Eier. 
Alle Häuser standen eng zusammen. Nur unten im Tal stand noch ein ganz kleines Häuschen und in der Richtung des Dorfes mit der Kirche ein alter Hof.
2017, Endlich schneit es. Lawinen?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

2017, Endlich schneit es. Lawinen?
Was den andern nur Freude machte, war mir damals als kleiner Schülerin zugleich eine Sorge. Ich kannte die Berge. Bei klarem Wetter schauten Papa und ich sie an und bewunderten sie sehnsüchtig. Wir hatten den selben Traum. Doch im Winter, als ich warm verpackt auf dem Fuhrwerk mit den leeren Milchkannen in den Kindergarten fahren durfte, wurden mir die Berge mit ihrem vielen Schnee und den Lawinen unheimlich. Was waren das für Ungeheuer, die Lawinen? In den Radionachrichten wurde noch und noch von ihnen berichtet. Sie sausten die Hänge hinunter, geradewegs in die Dörfer hinein. Sie rissen Bäume und Felsen mit, legten Leitungen um und blockierten Strassen. Sie töteten Mensch und Tier.
Lawinen, ich kannte das Wort: "Es schneit, es schneit." In der Nacht hatte der Winter tüchtig Schnee vor das Haus und auf das grosse Dach geworfen, und der Lehrling hatte diesen von der Hauswand weggefegt. Aber wir Kinder durften nicht schnell und munter quer durch den Neuschnee auf dem Hausplatz springen. Nein, es hiess: "Achtung, auf dem Dach lauert eine Lawine und, wenn es dumm geht, kann die euch erschlagen." Ich habe dann einmal erlebt, wie sich der Schnee unterhalb des Kamins löste, und wie er zu rutschen begann. Ein wenig, langsam, interessant, harmlos, nein, nein immer mehr und schneller und dann, eine ganze Ladung sprang über die Dachrinne und platschte schwer zu Boden. Das war also eine Dachlawine. Die Warnung der Erwachsenen war angebracht.
"Man wagt kaum noch die Nachrichten einzuschalten, immer und immer diese Lawinen. Jetzt, da der Krieg vorbei ist, haben sie Zeit, uns solches zu melden. Schlimm, so viele Tote, es muss ja nicht immer der Krieg sein," sinnierte Grössi. Richtig, das war der Lawinenwinter 1951. Diese Naturgewalten waren mir unheimlich. In der Schule hörte ich dann, wie der Lehrer den grossen Schülern erklärte: "In den mageren 30er Jahren und während dem Krieg haben viele Bergleute aus Not Holz in den Bannwäldern geholt, und niemand hat aufgeforstet. Nun fehlt den Dörfern und Tälern der Schutzwald. Statt Schützengräben soll die Armee nun Lawinenverbauungen machen."
So geschah es. Die NZZ brachte im Laufe des Sommers einen Bericht mit entsprechenden Bildern.
Nebel, die lange Geschichte zum Nebel (1)
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Nebel, die lange Geschichte zum Nebel (1)
Schön, wie es ruhig dahin regnet. Doch der Himmel konnte auch anders: Wind, Sturm, Blitz, Donner und Regen, Platzregen, Hagelkörner. Der Dauerregen brachten Schächte, zum Überlaufen. Da gab es nichts, trotz stömendem Regen mussten diese aufgerissen werden. Und die Brücke? Äste und Unrat versperrten den Durchfluss unter der Brücke. Los, weg damit! Auf den Feldern gab es allerhand kleine Überschwemmungen. Der Jauchegraben neben dem Miststock war meist leer doch nun ... Musste das sein? Die ganze Sauce floss auf den Vorplatz.  Später Schnee, Eis, grimmige Kälte, Verkehrsunfälle, Husten und Schnupfen, kalte Füsse und "Kuhnagel" an den Händen (= kribbeln und starke Schmerzen, wenn sich eiskalte Hände zu schnell wieder aufwärmen). Zugefrorene Wasserleitungen, die nach dem Tauen tropften.
Und Nebel, Nebel! Unheimlich! Wir sahen das kleine Dorf unten im Tal nicht. Die Nacht verschwand zwar und es wurde hell. Man hörte allerhand Geräusche. Ich wusste wohl, dass sich der Nebel gegen Mittag lichtete, und wir die Umrisse der Häuser unten im Tal erahnen und gegen Abend wieder sehen konnten. Doch mir war Nebel unheimlich. Der Dorfklatsch und Grössi behaupteten, früher hätte es weniger Nebel gegeben. Die Eisenbahnen seien an allem schuld! Papa bezweifelte das. Er vermutete: "Das sind die Kohleheizungen und die Fabriken?" In der Schule hörten wir dann wirklich vieles: "Da wir keine eigene sogenannte Schweizer Kohle haben, fahren unsere Eisenbahnzüge mit "Wasser-Strom".
Einschub: Ich hatte gehört: "Wir machen unsere in der Schweiz gebrauchte Elektrizität, umgangssprachlich Strom genannt, selber und zwar nicht aus Kohle sondern mit Wasser. Um Klarheit in meinem Kopf zu bewahren, nannte ich das "Wasser-Strom" im Gegensatz zu deutschem "Kohle-Strom", wie sie ihn auch in England verwendeten." Einschub Ende.
Nun zur traurigen Geschichte rund um den Nebel, der in London Smog heisst. Alles beginnt mit den Eisenbahnen, denn Eisenbahnen kann man nur bauen, wenn man Eisen hat. In der Natur findet man Eisen nur gemischt mit Steinen. Eisenerz ist viel Stein oder Fels, und darin versteckt ein wenig Eisen in ganz kleinen Stückchen. Wir, die Schweiz, wir haben nur wenig, wenig Eisenerz, am Gonzen gegenüber Maienfeld. Schwierig, schwierig. Das abzubauen, lohnt sich nicht." All das hörte ich sehr früh, und der liebe Papa schrieb mir die schwierigen Wörter auf alte Couverts und die Grossen konnten mir diese schwierigen Wörter vorlesen und alle wussten, wovon ich sprechen wollte. In England gibt es viel Eisenerz, das seit Beginn des Industriezeitalters  im grossen Stil abgebaut wird.  
Die Geschichte vom Nebel führt zur Industrialisierung (2)
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Die Geschichte vom Nebel führt zur Industrialisierung (2)
Wie kam der Smog nach London? In der Schule hörten wir alles, dessen war ich mir sicher, aber hören, verstehen, weitersagen und behalten, das waren vier Sachen!
Uns, der Kinderschar wurden drei Sorten von Geschichten erzählt: Die Sonntagsschule mit ihren Geschichten gehörte der Kirche, dem Pfarrer. Über die eigene Familie, die Verwandten, die Verstorbenen und den Dorfklatsch sprach man am Familientisch. Den ganzen Rest hatte uns die Schule mit ihren Schulbüchern beizubringen. Dazu lernten wir noch viel mehr, da unser Lehrer die NZZ las und viele Bücher hatte.
So kamen wir zur unglaublichen Geschichte über den Smog in London. Das Wort "SMOG" hatte es mir angetan. Ich konnte es mir leicht merken und es locker aussprechen. Schwierigkeiten bereitete mir die Grösse des SMOG. Unendlich viele kleine Dinge machten den SMOG. Ich kannte die Anzahl der Sandkörner auf den Sandhaufen nicht. Niemand interessierte sich dafür. Papa wiederholte: "Sehr, sehr viele, unendlich viele. Schau auf meine Hand, wir können sie nicht zählen." Die Grösse der grossen Zahlen mit immer noch einer Null dazu und die Zahl der Sandkörner auf den Sandhaufen, die passten in meinem Kopf gut zusammen, auch wenn die Erwachsenen das eine "Spinnerei" nannten. Ja, tausend mal tausend und eine Million mal eine Million kleine Dinge führten zum Smog-Unglück von London. Das ganze Geschehen war mir unheimlich und neu. Ich glaubte nicht, dass mein Smog tausende von Menschen töten konnte. Fertig. "Darüber spreche ich nicht, ich höre nur zu," lautete mein stiller Entschluss.
Es war im Weihnachtsmonat 1952. Eine Hochdruckzone lag über Südengland. Darunter, zwischen und über den Häusern der Riesenstadt London hing eine kalte, feuchte Luftschicht still und schwer. Die Leute froren und verbrannten in ihren Cheminées viel Holz und Kohle. Der Rauch konnte nicht aufsteigen, und kein Lüftlein wehte in weg. Dieser Rauch und eine Unmenge dazugehörender ganz feiner Staub verteilten sich in der kalten Luft. Es gab kein Entweichen. Das nannte man Luftverschmutzung 
Einschub: Am Abend im Bett sann ich über das nach, was ich verstanden hatte oder verstehen wollte: Eisen konnte nur mit einer Unmenge von Holz geschmolzen werden. Für sein Weltreich holzte England alle Wälder ab. Die langen Stämme dienten zum Bau der grossen Meerschiffe. Für Häuser, Möbel und Fässer genügte die mittlere Qualität. Den ganzen riesigen Rest - und das mussten unvorstellbare Mengen gewesen sein - verbrannten die Leute in den Cheminées zum Heizen oder in die Hochöfen zum Herausschmelzen von Eisen. Cheminées und Schmelzöfen kannte ich aus den Bildern in den Büchern des Lehrers. Weite Teile der Inseln waren kahl, dann nahm man statt Holz Steinkohle.
Wie dem auch sei. Beim Verbrennen all dieses Holzes gab es Rauch und Staub wie beim täglichen Kochen und Heizen in unserer Küche. Der Rauch stieg durch den Kamin hoch. Über dem Dach der Nachbarin, über allen Dächern gab es eine Rauchfahne (Einschübchen: Ein lustiges Wort, aber sehr richtig, denn wie eine Fahne drehte sich der Rauch im Wind). Bei Windstille und feuchtkaltem Wetter schaffte es dieser Rauch nur knapp über den Rand des Kamins, dann sank er langsam aufs Dach und verteilte sich zwischen den Häusern. War es noch schlimmer, so drückte ihn die schwere Luft in die Küche zurück. "Schlechtes Wetter, ich spüre mein Herz. Unsere Tante kann kaum atmen. Hoffentlich bekommen nicht alle den Husten," jammerte die Nachbarin. Einschub Ende.
Der Nachrichtensprecher berichtete von Smog in London, ein furchtbarer Nebel. Nun, ich verstand viele Wörter. Die Erwachsenen machten ernste Gesichter. Die Autos können nicht mehr fahren. Es gab viele Unfälle. Die Leute wurden aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen. Es wurde behauptet, der Nebel sei so dicht, dass man sich selbst in der nächsten Umgebung nicht mehr zurecht finden würde.
2017 Januar: Was ist an all dem wahr? Gemäss Internet wurden im Dezember 1952 in London tatsächlich gegen 10'000 Menschen Opfer von Smog. Nachdem sie das recherchiert hatte, erstaunte sie ihre jahrelange dumpfe Angst vor Nebel nicht mehr.
Der Nebel, die Luftverschmutzung! Ich schaffte es nicht (3)
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Der Nebel, die Luftverschmutzung! Ich schaffte es nicht (3)
2017 Es tat ihr weh zu erinnern, wie einsam sie als Kind mit all ihren Fragen war. Sie lebte in den 50er Jahren in ihrer grossen Welt, die immer grösser wurde, obwohl sie bereits gelernt hatte, dass die Welt immer gleich gross und gleich schwer blieb. Sie wurde nicht grösser und nicht kleiner, denn nichts ging verloren und nichts kam dazu. Sie leierte zum x-ten Male und in immer neuer Reihenfolge die Stationen des Wassers vor sich hin. Allein.
Einschub: Damals mit dem Grossvater am Brunnen hatten sie gemeinsam die Leute im grossen Dorf mit ihrer Kirche aufgezählt. Kein Durcheinander, nein, nein. Im Kopf drin waren sie den Wegen und Strassen gefolgt, Haus an Haus, Nachbar neben Nachbar. Der Grossvater hatte viele gekannt. Manchmal pirschten sie in Gedanken um ein Haus herum. Schwierig und sehr spannend. Ein einfaches Beispiel: Wer und was grenzte an den Bauernhof von Gebendinger? Im Kopf marschierten wir los. Das war erlaubt. Standen wir zwei, der Grossvater und ich, davor auf der asphaltierten Strasse, lag rechts, Haus an Haus, eng, nur ich, das Kind hätte durchgehen können, ein anderes Bauernhaus. Dieses war an den Bach gebaut, mit einer guten Mauer vom Wasser getrennt. Auf der Hinterseite, wir hatten sie nie gesehen und wussten doch, der Brunnen, der Hofplatz, der Miststock, der Gemüsegarten, der Baumgarten, dann die Felder. Zur linken Hand, der ehemalige Kirchweg, dann eine Familie mit drei Kindern. Die hatten wenig Land, nur Hühner und Ziegen. Der Mann flickte Velos und verkaufte Velobestandteile, am Samstag wischte er die Ränder der asphaltierten Strasse und sammelte ein, was da so herumlag. Die Frau, die Mutter der Kinder, ging waschen. Sie schafften es gut. Einschub Ende.
Fortsetzung: Wie der Grossvater und sie Dinge sehen konnten, die sie nie gesehen hatten, so machte sie nun Reisen mit dem Wasser. Was gelangweilt begann, wurde schnell zu einen spannenden Zusammensetzspiel: Wasserhahn, Schüttstein, Leitung, Dreckbächli, Bach, Fluss, Untiefe am Rand, Reh, Bauch, Pisse im Wald, Erde, Nebel, Wolke, Regen, Erde, Baum, Nebel, Wolke, Fels, Quelle, Reservoir, Leitung, Wasserhahn, Pfanne, Suppe, mein Bauch ..... Sie liebte das Spiel mit den Kreisen des Wassers.
Was für das Wasser stimmte, das galt auch für das Eisen. Auf der Esse, in der glühenden Kohle wurde Eisen weich und Papa konnte es biegen und hämmern. Wir machten einmal ein wenig flüssiges Eisen. "Es schmilzt wie Eis", behauptete Papa. Richtig, es wurde flüssig wie Wasser. Wir gossen es auf einen Stein und schon war es hart. Die Eisenbahnen hiessen nicht ohne Grund "Eisen"bahnen. Sie waren aus Eisen gemacht. Mit sehr viel Holz und Kohle konnte das Eisen aus den Steinen heraus geschmolzen werden. Eine unvorstellbare Menge Rauch entstand und machte die Luftverschmutzung. Der Lehrer erklärte uns mit einem Buch, wie Eisen gewonnen wurde. Papa lachte: Papierwissen. Ich bin Schlosser und war in einer Giesserei. Sie verstanden mich nicht. Das Holz und die Kohle machten die Luftverschmutzung, nicht das Eisen. Wie kam die Luftverschmutzung wieder zurück in die Erde? Mit dem Nebel und mit dem Regen? Ich schaffte es nicht. Vergessen und weiterfliegen. Sie konnte noch immer fliegen.
2017, 5. August 14 Uhr  Lasst uns fliegen und vergessen! Sie musste korrigieren. Es war nicht Zeit zum Erinnern und Schreiben. Fliegen, fliegen und nicht müde werden.
Wieviel Wasser braucht man, um die Hände zu waschen? Es kommt drauf an. (I)
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Wieviel Wasser braucht man, um die Hände zu waschen? Es kommt drauf an. (I)
Frage des Lehrers: "Wie viel Wasser braucht man, um die Hände zu waschen?""Eine Giesskanne, einen Krug, ein grosses Glas, Achselzucken,"so die Schätzungen der Schülerinnen und Schüler. Dann die bekannte Lehrerantwort: "Es kommt darauf an."
"Meine Hände sind vom vielen Korrigieren feucht. Unangenehm, da hilft nur waschen," der Lehrer stellte eine Schüssel in den Waschtrog, damals Brünneli genannt, und wusch die Hände mit Seife. Er fing das gebrauchte Wasser auf und wir füllten es ins Litermass und die kleinen Deziliterbecher. Resultat: 1 Liter und 12 kleine Deziliterbecher oder 2 Liter 2 Deziliter.
Dann suchten und besprachen wir drei Beispiele: "Eure Eltern kommen vom Feld. Sie haben den ganzen Morgen von Hand Unkraut gejät. Ihre Hände und Unterarme sind schmutzig?" Natürlich, sie waschen sich am laufenden Brunnen vor dem Haus. Sie brauchen kein zusätzliches Wasser. Dann geht der Vater in den Stall und die Mutter ins Haus. Vor dem Essen waschen alle die Hände mit warmem Wasser. Sie verwenden dafür ein kleines Becken, fassen ein wenig heisses Wasser hinten beim Herd und tragen es sorgfältig durch die Küche zum Schüttstein mit dem Kaltwasserhahn. Welch ein Gedränge! Als zweites Beispiel: "Die Grippe geht um. Viele Leute sind erkältet. Unsere Hände sind nicht schmutzig, aber wir waschen sie gründlich und reiben sie gut trocken, um uns nicht anzustecken." Und schliesslich: "Der Vater hatte die Mähmaschine abgespritzt, geölt und eingefettet. Schaut seine Hände! Ja, er braucht viel heisses Wasser und gute Seife."
Wie viel Wasser braucht man, um die Hände zu waschen? Es kommt darauf an. Ich hatte begriffen: "Es kommt drauf an. "
Wie schreiben wir einen Bericht über das Händewaschen? (II)
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Wie schreiben wir einen Bericht über das Händewaschen? (II)
Der Lehrer, er sprach und wir hörten und lernten: "Ein Bericht ist etwas Ähnliches wie ein Aufsatz. Also nehmt die Tafel und schreibt einen Bericht über das Händewaschen." Der Lehrer wandte sich den Mittelstufenschülern zu: "Ihr habt auf heute die Beschreibung zur "Schlacht am Morgarten "gelesen. Öffnet das Buch, sucht alle Tätigkeitswörter und notiert sie in euer Sprachheft."
Schon stand er wieder bei uns."Ihr könnt das nicht?" lachte er, "Alle Tafeln leer? Händewaschen ist doch eine Tätigkeit, die ihr kennt. Gestern haben wir darüber gesprochen. Ruth zeige es uns. Nein? Wer dann? Heinz." Der Junge eilte hinaus, schloss die Türe hinter sich und kam bald wieder zurück. "Nein, nein, so war das nicht gemeint. Wir haben ja nichts gesehen. Nun doch Ruth, benutze das Brünneli (= Waschtog) hier neben der Türe." Bei der ängstlichen Ruth ging alles langsam, sie schaute immer wieder misstrauisch den Lehrer an. "Gut machst du das." Wie konnte doch die Labalie zu einer spannenden Sache werden! "Heiri, du bist unser Radio-Reporter, du bist Heiner Gautschy, dessen Stimme kennen  doch alle von den Nachrichten." Der Bub berichtete:  "Ruth geht zum Brünneli und wäscht die Hände." "Viel zu ungenau! Schaut hin. Ruth, fange nochmals an. Seht, sie schiebt die Ärmel nach hinten. Gut. Stopp. Ich spiele selber Reporter. Versucht mit geschlossenen Augen zuzuhören. Ich beginne: Ein Mädchen steht am Brünneli. Es schiebt die beiden Ärmel zurück und dreht mit der rechten Hand den Wasserhahn auf. Sie netzt die Hände an und seift sie ein. Achtung: Augen zu. Der Hahn bleibt offen. Das Mädchen spült die Seife von den Händen, es schüttelt das Wasser von den Händen und reibt sie mit dem Tuch trocken. Der Hahn bleibt offen." Ruth sieht nicht, wie sie der Lehrer mit Handzeichen auffordert, den Hahn zuzudrehen. Die Schüler haben die Augen längst wieder geöffnet und machen auch Handzeichen. Ruth schaut die Kameraden an und begreift. Das Handtuch fällt auf den Boden. Endlich dreht Ruth den Hahn zu und verschwindet an ihrem Platz. Schnell hängt Heidi das Handtuch wieder auf. Der Lehrer bedankte sich bei Ruth und gratulierte dem scheuen Mädchen für seinen Mut. "Nochmals von vorne. Wer will es versuchen? Paul, du wäschst die Hände und Erna ist die Reporterin. Schön langsam. Ich will die Tätigkeitswörter aufschreiben," so ging es weiter und weiter.
Einschub, 2017:  Sie dachte, das war ein Unterrichtsgespräch. Sie hatte dieses Wort später während ihrer Ausbildung zur Lehrerin gelernt. Warum die Kinder Verben neu zunächst Tunwörter und erst später Tätigkeitswörter nennen sollten, verstand sie nicht. Einschub Ende.
"Es hat mir gut gefallen, wie Ruth die Hände über dem Brünneli abgeschüttelt hat. Warum?""Die Wassertropfen sind in den Waschtog und nicht auf den Schulzimmerboden gefallen. Das Wasser musste nicht vom Boden aufgetrocknet werden. Das Handtuch konnte geschont werden. Es gab auch für andere Kinder noch trockene Stellen. Ruth hat gut überlegt. Sie hat nur den untern Rand benutzt. Das ist rücksichtsvoll. Das freut mich."Dann das Missgeschick: "Das Handtuch fiel auf den Boden! Das kann passieren. Weil wir alle zugeschaut haben, war Ruth müde geworden. Heidi hat das Tuch schnell und unaufgefordert wieder aufgehängt. Danke Heidi." Hausaufgabe: Schreibt einen Bericht. Er soll zwischen sechs und zwölf Sätze lang sein. Auf dem Heimweg plauderten wir weiter. Es hätte noch einiges andere schief gehen können! Unsere Wege trennten sich.
Am folgenden Tag der Lehrer: "Im Sommer wird das Wasser häufig abgestellt und es muss gespart werden." Ruth meldet sich: "Es ist nicht nötig, dass ich den Wasserhahn voll aufdrehe, um die Hände zu netzen. Sind die Hände nass, kann ich, um Wasser zu sparen, den Hahn zudrehen." Paul: "Aber zum Einseifen brauche ich doch Wasser!" Alle waren einverstanden."Paul, komm nach vorn und schau. Was siehst du? Sage es den andern." Der Bub: "Im Brünneli unter dem Wasserhahn steht eine Schale. Darin hat es Wasser vom Annetzen der Hände. Das genügt, um die Hände einzuseifen." Bald waren die Hände von Paul voller Schaum. Gut, gut, er hatte kein zusätzliches Wasser gebraucht. Paul spülte die Seife mit dem Restwasser in der Schale vom den Händen, und erst zum Sauberspülen wurde der Hahn wieder kurz geöffnet.
Habt ihr noch andere Berichte geschrieben? Nein. Wir wollten die Reise von Holz aus dem Wald zum Verbraucher besprechen (1) Die Gant
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Habt ihr noch andere Berichte geschrieben? Nein. Wir wollten die Reise von Holz aus dem Wald zum Verbraucher besprechen (1) Die Gant
Gemeinsam? Leider nein. Doch einmal beschrieb jedes Kind das Fällen einer Tanne. Eher langweilig, doch nachher wollten wir gemeinsam überlegen und besprechen, was mit all dem Holz geschah. Achtung, der ganze Baum ist Holz, und nichts geht verloren. Kleine nutzlose Ästchen, um die sich niemand kümmert, die bleiben liegen, verfaulen und werden zu Erde. Das haben wir nicht besprochen, das hätte zu weit geführt, aber diesen Reim konnte ich mir selber machen.
Nun aber, was geschieht mit all dem Holz? Wir Schulkinder wussten, dass das Forstamt unserer Gemeinde jeden Winter, je nach Bedarf zwei oder drei öffentliche Ganten (= Auktion) organisiert, um gemeindeeigenes Holz zu versteigern, der meist Bietende bekam den Zuschlag. Hatten Private auch "Holz" zu verkaufen, so konnten sie sich einer solchen Gant anschliessen. Holz wurde verkauft! Holz brachte Geld!
Einschub: Ich war noch nie auf einer Gant gewesen. Ich musste auf einer Gant gewesen sein. Papa verstand das und nahm mich mit. Es war schrecklich, ich wäre fast gestorben! Da waren viele grosse Männer mit dicken Halstüchern und tief sitzenden Hüten, zum Schutze der Ohren hatten sie die Ohrenklappen heruntergezogen. Es waren dicke Männer, denn - das wusste ich von Papa - sie trugen über dem Hemd, einen alten Pullover, ein Tschöppli (= das Oberteil des Arbeitskleides eines Landwirtes, nicht vergessen Fachausdruck beim GVS nachsuchen), den dicken, langen Winterpullover und darüber, wer hatte, den Wintermantel oder einen Kaputt (= ausrangierten Militärmantel). Dicke Männer!
Das Holz zum Versteigern lag am Waldrand bereit. Eine Bise fegte über die offenen Felder und wirbelte den feinen Schnee auf. Es war kalt. Ich wurde überall zur Seite geschoben. Alle trugen grobe Winterschuhe. Der Boden war gefroren und verfuhrwerkt. Mühsam, mühsam für meine kleinen Schuhe. Niemand beachtete mich. Papa trug grosse Fäustlinge. Ich musste meine Handschuhe ausziehen, um irgend einen Zipfel von Papa sicher zu fassen. Ich durfte im Gewühl nicht verloren gehen. Ich hatte versprochen, selber auf mich Acht zu geben. Nun sass ich in der Patsche.
Papa kaufte ein Klafter Hartholz (= Mass für Brennholz), und sein Blick fiel zufällig auf mich. Er erschrak und steckte meine eiskalten Hände für einen Moment in seine gossen, warmen Fäustlinge. Au au au, Papa, weg damit, es tut so weh. Da gibts nur eins. Ich hörte nichts. Er packte mich, trug mich weg, setzte mich hinten auf den Gepäckträger, und er radelte mit dem Velo, so schnell er konnte, heim. Wir gingen nicht in die Stube. Nein, im Stall spülte er meine Hände mit kaltem Wasser ab und rieb sie mit einem sauberen Tuch trocken. Gemeinsam besuchten wir die kleinen Kälbchen. Er nahm mich aufs Knie und ich durfte meine eisigen Hände und meine kalten Arme unter seiner Jacke wärmen: "Wir schauen nun den Kälbchen zu, bis du warm hast. So brauchst du nicht in die Stube zu gehen, sonst schimpfen Mama und Grössi mit uns. Dein Dickkopf ist mit dem "Kuhnagel" (= stechender Schmerz in den Händen, hervorgrufen durch grosse Kälte) schon genug bestraft. Ich hatte das Wetter falsch eingeschätzt, statt wärmer wurde es kälter und dann dieser Biswind." Einschub Ende.
Über die Gant sprachen wir in der Schule nicht. Ich fragte den Lehrer. Er sagte nur ja, ja. Das war alles.
Wir wollten die Reise des Holzes besprechen! Vorbereitung des Fällens (2)
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Wir wollten die Reise des Holzes besprechen! Vorbereitung des Fällens (2)
"Achtung, der ganze Baum ist Holz und nichts geht verloren," der Lehrer wiederholte diesen Satz. Wir verstanden ihn nicht. Uns fiel nichts ein! Die Stimme des Lehrere: "Die Waldarbeiter schaffen Ordnung rund um die zu fällende Tanne!" Mein Kopf füllte sich mit Bildern: Das interessierte mich nicht. Und dann die Waldarbeiter? --- Nein, Papa und der Lehrling, was machten sie? --- Natürlich, sie liessen mich die Tannzapfen einsammeln. Die wollten wir trocknen und zum Anfeuern verwenden. Die Brombeerdornen hackte der Lehrling ab. Papa zündete seinen Stumpen (= kurze maschinengefertigte Zigarre) nochmals an, der wollte an jenem Tag nicht brennen." Meine Hand schnellte ungeduldig in dieHöhe. Meine Antwort passte.
Jetzt rollte der Lehrer ein Schulwandbild aus. Sein Schilfrohr glitt vom Wurzelansatz zur Spitze eines Baumes. Dies war nun unsererTanne. Sie stand zwischen noch höheren Bäumen schön gerade an einem leichten Abhang. Links Jungwuchs, rechts hinauf ein Waldweg. "Diese Tanne kann nicht mehr kräftig wachsen, sie bekommt zu wenig Sonne, darum wird sie gefällt," ich hatte wieder ohne Erlaubnis gesprochen und erntete doch ein lobendes Nicken. Beim Fallen soll der Baum möglichst wenig Schaden anrichten. Wir einigten uns schnell: Rechts, Richtung Waldweg. Das traf sich gut, denn auf der Gegenseite gab es zusätzlich eine kleine Schneise.
Im freien Gespräch ergänzten wir das Bild: Nun kam die Axt zum Einsatz. Kräftig schwang ein Mann die Axt. Die Kerbe auf der Seite der gewünschten Fallrichtung wuchs. Die Späne flogen. Die Kinder sammelten sie mit einem Sack ein. Ja, die wurden getrocknet und dienten auch zum Kochen oder Heizen. Zwei Männer begannen zu sägen. Erstaunlich wie viel Sägemehl es gab. Was macht man damit? So wenig, das lassen wir liegen. Der Baum zittert. Die Männer kommen schnell vorwärts. Alle zur Seite. Der Baum saust zur Erde. Puh, puh, ich machte nicht mit, all das interessierte mich nicht. Ich war doch schon oft bei Waldarbeiten dabei gewesen.
Wir wollten die Reise des Holzes besprechen! Alles andere schob sich dazwischen! (3)
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Wir wollten die Reise des Holzes besprechen! Alles andere schob sich dazwischen! (3)
Wir wollten in der Schule die Reise des Holzes in die Stadt besprechen! Schafften wir das? Ich freute mich und wollte doch vorbereitet sein. So schnitt ich aus all dem Papierzeug, das uns der Pöstler brachte, die Bilder von Möbeln aus. Der Familientisch half mit. Die Patin brachte mir Prospekte aus einem Möbelgeschäft.
Januar 2017: Alles andere schob sich dazwischen. Sie kam nicht zum Schreiben. Draussen war es winterlich kalt. Sie schmunzelte und dachte an früher: Ja, so war es in den Wintermonaten anfangs der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts auch. Jetzt beim Erinnern spürte sie tatsächlich erneut, wie allen die Kargheit des Krieges noch tief in den Knochen gesteckt hatte. Damals war es nicht gerne gesehen, wenn die Städter durch die Wälder streiften, um mit einem kleinen Körbchen in der Hand Beeren oder Pilze zu suchen. Das war erlaubt. Doch was steckte in den prall gefüllten Rucksäcken? Der Dorfpolizist war mit dem Velo unterwegs! Voller Mitleid dachte sie an die armen Familien, denen es an Holz für eine warme Stube fehlte, und die dazu noch in feuchten, ungeheizten Zimmern zu schlafen hatten. Gleichzeitig schob sie die Bilder von den aktuellen Flüchtlingsströmen weg. Sie wollte die Menschen, die sich langsam in der Kälte durch den Balkan Richtung Westeuropa wälzten, nicht sehen. Sie dachte wieder und wieder: Wir können nicht alle aufnehmen. Sie erlaubte sich in Gesprächen eine harte Linie zu vertreten, denn sie bemühte sich persönlich, ein paar jungen Leuten in den vielen abgelegenen Dörfern im Kongo eine Perspektive zu verschaffen.
18. Januar 2017 WEF: Die vierte industrielle Revolution. Sechs Stunden vor dem Fernseher: Vieles gesehen, vieles wieder vergessen und doch ein gutes Gefühl.
19. Januar: In Bern die Abgabe der Unterschriften für das Referendum gegen die Energiestrategie 2050. Vieles gesehen, vieles wieder vergessen und doch ein gutes Gefühl.
20. Januar Einsetzung von Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA:  Wieder vor dem Fernseher und wieder Vieles gesehen, vieles wieder vergessen und doch ein gutes Gefühl.Parallel die ganze Woche ein Gestürm mit Mietern. Draussen war es kalt  Ja, viel anderes hatte sich dazwischen geschoben. Einschub Ende.
Ja, wir beschäftigten uns damals in der Schule traurigerweise auch häufig mit "allem Andern", mit viel Langweiligem. Wo blieb die versprochene Reise mit dem Holz unserer Tanne in die Stadt? Dieses "alles Andere" wurde zu unserem Leben. Wir merkten es kaum. Ich wollte dann später in die Sekundarschule. Die Russen und die Amerikaner bauten immer grössere Bomben.
Die Reise: Aus dem Wald zum Verbraucher (4). Was sind Verbraucher?
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Die Reise: Aus dem Wald zum Verbraucher (4). Was sind Verbraucher?
Diese Überschrift stand damals als Arbeitstitel auf der Wandtafel. Das behauptete der Lehrer so leicht in grossen Worten. Doch glaubt nicht, wir hätten oft über unsere Tanne gesprochen. Leider gerade eben nicht! Der Lehrer hatte meinen Unwillen verstanden und meinte: "Es gehört zur Aufgabe der Schule, dass ihr viele Wörter kennt, gut sprechen lernt und ein wenig über die Nasenspitze hinaus denken könnt."
So besprachen wir mit viel "Hin und Her" das Wort "Verbraucher". Eigentlich war alles ganz einfach. Die Tätigkeitswörter "brauchen, verbrauchen", das war "Bubi liecht"(= kinderleicht) zu verstehen. Wir brauchten alle Schuhe, Kleider, ein Bett, Liebe, die Schule und vieles mehr. Unsere Familien waren täglich kleine Verbraucher von Holz fürs Heizen und zum Kochen. Also waren wir alle dauernd "Verbraucher". "Ob das so bleiben wird?" fragte der Lehrer. Wir ahnten, dass sich das ändern konnte. Die Frau des Lehrers und wir, wir hatten ja bereits einen elektrischen Kochherd und verbrauchten kein Holz mehr. Der Verbrauchsgegenstand änderte sich: Von Holz zu Strom. Das liess sich so leicht sagen, aber was hiess das?
Zusätzlich hatte der Lehrer uns aufgefordert, immer wieder über die verschiedenen Reisen des Holzes nachzudenken. Er gab uns ein Beispiel: Aus dem Wald zum Tischchen für den schwarzen Kaffee in einer schönen, feinen Stube in der Stadt. Rechnen, Lesen, Schreiben, auch Singen liefen parallel weiter. Der Familientisch und das "Gelbe Heft" mit seinen Kaufangeboten gaben uns viele Ideen: Sollte aus unserer Tanne eine neue Wagenbrücke (= Ladefläche) für den Futterwagen oder eine Brückenwaage (=öffentliche Waage für schwere Lasten) für Brückenwagen werden? Oh, wie liebte ich solche Verwirr-Spiele! Sollte ihr Holz als Auszugstisch in eine Stadtwohnung wandern? Oder sollte es als Baugerüstbrett weiter Wind und Wetter ausgeliefert sein? Dieses Reisen, diese Gedankenflüge mit dem Holz machten mir grossen Spass. Die Schule kam nicht soweit! Wir blieben bei allem andern stecken!
Die Reise: Aus dem Wald zum Verbraucher (5). Das enttäuschende Ende
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Die Reise: Aus dem Wald zum Verbraucher (5). Das enttäuschende Ende
Die erste von vielen unnötigen Mitteilungen des Lehrers: "Nächste Woche beginnen die Frühlings-Ferien." Das wussten wir doch, die Eltern sprachen davon, denn sie warteten auf unsere Mitarbeit. Ich liebte den Frühling. Am Nachmittag, wenn ich angestrengt in meiner hintersten Schulbank schrieb, schien die Sonne so schön warm auf meinen Rücken, und am Abend sangen die Amseln: Mamas Amsel pfiff auf dem Quittenbaum der Nachbarin, Grössis Amsel sass auf unserem Birnbaum. Und Papas Amsel? Er hatte viele Vögel, frühmorgens erfreuten sie ihn mit ihren Liedern.
Die zweite unnötige Mitteilung des Lehrers: "Bücher zum Abgeben vorbereiten." - Papa und Mama wollten vorbereitet sein und hatten je einen neuen Radiergummi gekauft, und wir hatten mit der Arbeit bereits begonnen. Womit hatten sie angefangen? Ja, beide Elternteile schrieben manchmal etwas in unsere Schulbücher, oder sie machten ein Zeichen. Wir alle wussten, was unsere Eltern taten, und das war streng verboten. Deshalb hänselte uns der Dorfklatsch. Papa: "Lasst sie! Wenn das das Schlimmste ist, was unter dem Himmel passiert!" Doch schon bevor es hiess: "Bücher zum Abgeben Vorbereiten", blätterten wir  - gemeint sind alle Erwachsenen, die ein wenig Zeit hatten, auch Grössi und der Lehrling -  sorgfältig durch unsere Schul-Bücher und radierten sie sauber. "Alles tipptopp! Nur dummes Geschwätz," lobte uns der Lehrer.
"Natürlich, die dritte unnötige Mitteilung durfte nicht fehlen: "Nach den Ferien kommt ihr in die nächste Klasse, alle. Ich halte nichts von der Repetiererei, wie sie sich seit dem Krieg in den grossen Schulhäusern in der Stadt einschleicht. Da lobe ich mir die Sechs-Klassen-Schule. Verpasstes hört ihr automatisch wieder." Ich hätte gerne eine Ein-Klassen-Schule besucht, besichtigt und zwar dann, wenn die Kinder in den Bänken sassen. Ich kannte die Pausenplätze mit den vielen Kindern. Ein Schulabwart, der zu unseren Kartoffelkunden zählte, hatte Mama und mich einmal in der Mittagszeit durch so ein grosses leeres Schulhaus geführt. Der gute Mann sah keine Möglichkeit, meinen Wunsch zu erfüllen, da nützte auch mein grosser Blumenstrauss nichts. So war es eben!
Gegen Ende Schuljahr, zum Stand der Dinge, jedes Jahr das Übliche. Viele Ziele hatten wir erreicht. Die Ziele des Lehrers waren nicht immer die meinen: "Unsere im Unterricht gefällte Tanne lag auf dem Waldboden. Der Stamm war zersägt. Der unterste Meter, mindere Qualität, Brennholz. Das schöne gerade Stammstück hatte die Sägerei gekauft. Der Rest des Stammes war wieder Brennholz. Die Äste lagen auf einem Haufen bereit für Wellen." Ich wusste, wie Wellen gemacht wurden. Fertig. Ich war enttäuscht. Ich hatte viel über mögliche Reisen des Holzes nachgedacht und Bilder zum Thema gesammelt. Das Holz meines Baumes reiste in verschiedenste Stuben und Kämmerchen, zu Arm und Reich, zu Krank und Gesund. Ich sprach mit dem Lehrer. Er tröstete mich: "Dies ist der Lauf der Dinge. Freue dich an all dem, was du neben der Schule gelernt hast. So ist es nun. Das ist gut so." Ich war enttäuscht. Juhui, nächste Woche beginnen die Osterferien, so war es in den 50er Jahren.
2017 27. Januar: Sie flog in den Kongo. Fertig. Sie war ein wenig enttäuscht, dass deshalb eine lange Unterbrechung der Schreiberei kam. Dies war der Lauf der Dinge, wie es der Lehrer ihnen damals in der Schule erklärt hatte. Fertig. Sie war aufgewühlt und blieb noch lange aufgewühlt, das gehörte zu ihren Reisen.
2017. 5. August, 17.17: Sie hatte die Haare gewaschen und während des Trocknens Schafgarbenblüten (= Achillea) im Garten einer Mieterin gesammelt. Mit Freude goss sie deren schönen Garten während der Ferienabwesenheit. Den Rasen liess sie von einem Unbekannten vor deren Rückkehr mähen. - Nein, nein, meine Lesenden, was denken Sie auch. Es war der Bekannte eines Bekannten einer Bekannten, den sie nicht kannte - . Schafgarbentee wirkte gegen vieles, das hatte sie von Grössi gelernt.  Zum x-ten Male erledigte sie so allerhand Kleinigkeiten und dachte über die sieben Texte zum Thema "Reise aus dem Wald zum Verbraucher" nach. Nein, sie löschte die sieben Texte nicht, denn sie spiegelten eine Erfahrung, die sich in ihrem weiteren Leben in vielen Varianten wiederholte. Meine Lesenden, Sie können mir sicher zustimmen: "Auch wenn wir uns Mühe geben, so geht doch wahrlich vieles anders, als wir es gerne hätten."
Dona Nobis Pacem, wir schafften es nicht! Oder doch?
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Dona Nobis Pacem, wir schafften es nicht! Oder doch?
Wie hatte sich doch unser lieber Lehrer damals abgemüht, uns dieses Lied, diesen Kanon zu lehren. Wir hatten es nicht geschafft! Oder - auf lange Sicht doch, nur ganz anders? Des Lehrers Ziel war es, mit dem alten, wunderbaren Kanon in der Adventszeit die Gruppe von Frauen, die am Montagnachmittag für den Basar zugunsten der Basler Mission strickten, zu überraschen. Er hatte sich einen dreistimmigen Kinderchor vorgestellt. Er schraubte seine Erwartungen zurück. Wir trugen den Kanon einstimmig vor. Die Frauen erfreute es so sehr, dass sie das Lied wieder und wieder wünschten. Sie unterhielten sich mit dem unzufriedenen Lehrer. Und - wie so oft, es ergab sich eine unerwartete Lösung.
Der Herr Pfarrer ehrte die fleissigen Strickerinnen mit einem Überraschungsbesuch. Er wusste Rat. Wir Kinder sangen gemeinsam die erste Stimme, dann setzten zwei Sängerinnen ein, dies waren die Krankenschwester und die Frau Pfarrer, beides gute Sängerinnen und des Liedes kundig. Schliesslich übernahmen die beiden nun anwesenden Tenöre, der Lehrer und der Pfarrer den dritten Einsatz. Kurz abgesprochen, geübt und schon klappte es famos. Wir waren begeistert, die Strickerinnen beeindruckt und der Lehrer erstaunt.
Das war ein Etappensieg. Nach den Weihnachtsferien war das Wechsel-Bild zwischen den Fenstern auf der Rückwand des Schulzimmers, seit längerem war es der Sämann, ersetzt durch eine Zusatz-Tafel. Darauf neu: dreimal fünf Notenlinien mit der Melodie von je einer Passage von Dona Nobis Pacem und darunter der Text. Jeden Morgen übten wir weiter. Der Lehrer fiedelte auf seiner Geige oder sang mit. Doch der stete Tropfen höhlte den Stein nicht. Am Tag nach der Fastnacht erklärte uns der Lehrer: "Wir schaffen es auch auf das Examen nicht." Er tat mir leid. Für mich war es gut, denn als Brummerli konnte ich nichts zum Gelingen beitragen, und dies war sehr hart für mich.
 
Wie hiessen die Kinder damals?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wie hiessen die Kinder damals?
Alle Achtung vor mir selber, jung und klein wie ich damals war, wollte ich die Namen der Kinder und Leute wissen und erinnern. Ich wiederholte sie vor dem Einschlafen, beim Erwachen, und ich füllte die Lücken während dem Morgenessen. Schön warm war es, und ich durfte mit meinem kleinen Giesskännchen selbständig giessen. Wie es sich gehörte, goss ich neben jeden Salat ein wenig. Der Salat durfte nicht nass werden, weil er sonst faulte. Keine Spur machen mit dem Wasser, denn Schnecken kriechen nicht gerne über trockene Erde. Nicht ganz einfach, ich wollte es gut machen, denn der Dorfklatsch fand es falsch, dass Papa und Mama mich diese Arbeit machen liessen. Ich konnte, auch wenn es hiess, ich könne nicht. Ich fiel nie ins Wasserkessi (grosser weiter Kessel unter dem Wasserhahn neben der Stalltüre). Diese mühsame und langwierige Arbeit machte ich mir spannend, in dem ich zu jedem Salat einen Namen sagte. Zuerst unsere Familie, dann das Dorf: Ernst, Marthi, Seline, Konrad, Maja, nochmals Ernst, Vreni, Gottfried, Jaggi, Julli, Hansjörg, Ursula, Wilfried, Lydia, Samuel, Susi, Uli, Elsi, Nelly, Hugo, Uli, Heiri, Alice, Hanni, Lili, Ferdinand, Kurt, Ruth, Margrit, Armin. In einer Familie, dreimal Fritz, dreimal Elsbeth und Trudi, Hanne, Walter, dann drei ledige Marie, Heiri, Hulda, nochmals drei ledige Jaggi, Fritz und Anna, weiter hinten im Dorf, 4 Kinder Adolf, Heidi, Max und Myrtha, vier weitere Jakob, Kurt, Klara, Heinz, Richard das Einzelkind, beim Hund Lux Hilde, Hans und Erna, weiter Jakob, Walter, Nelly und Willy, dann Helen, Susi, Walter, Konrad, Gottwohl, Josef, Hedi, Dorli, Rosmarie, Emil, Hulda, Olga.
2016 Donnerstag 28. April : Rahmenprogramm: Sie war ungeduldig. Wie sollte sie die Namen von damals ordnen? Überhaupt, sie war bereits spät dran, also speichern, logout und ab in den Garten, um Rhabarber für Alice zu schneiden.
2017, 5. August 17.45: War die Frage nach der Chronologie der Texte überhaupt ein Problem? Sie erinnerte doch kreuz und quer und immer wieder dasselbe in andern Kombinationen. Irgend ein Stichwort in den Massenmedien konnte einen Dominoeffekt auslösen.
Wie war es früher? Ganz früher? Besuche im Dorf
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wie war es früher? Ganz früher? Besuche im Dorf
Wie war es früher?  Vom Grossvater war nichts zu erfahren. Er versuchte mir den Unterschied zwischen seinem Abraham mit den Negern und meinem Abraham aus der Sonntagsschule zu erklären. Das interessierte mich nicht: "Zu weit weg. Wie ist es bei uns gewesen, in unserem Dorf?" Der Grossvater war zweimal umgezogen: Vom Hinterdorf ins "Rössli" und von "Rössli" hierher, ins Riegelhaus an der Kreuzung.
Anfangs 2016: Sie dachte an ihr Enkelkind. Es sollte einiges aus der Welt seiner Grossmutter erfahren können. So ging sie im April 2016 der Sache endlich etwas energischer und konkreter nach. Auslöser war die Nachricht, dass ihr Elternhaus abgerissen werden sollte. Statt auf der Umfahrungs-strasse an ihrem Dorf vorbei zu sausen, bog sie ab. Nicht ganz einfach, rechtwinklig, in eine schmale Strasse, in die "breite asphaltierte Hauptstrasse von damals". Die alte Strasse war ihr so fremd geworden. Kaum zu fassen, es gab Parkfelder, drei, eines wäre frei gewesen, doch sie verpasste die Gelegenheit. Langsam fuhr sie weiter; die alten Häuser erkannte sie nicht mehr. Schliesslich parkierte sie das Auto auf einem Flurweg und blieb sitzen.
Wie war es früher gewesen? Über Kaiser und Könige, Landgrafen und Vögte, kleine und grosse Adelsgeschlechter, Freie und Unfreie, Untertanen, Leibeigene, Söldner und Ritter,  über all das hatten wir in der Schule gesprochen. Spannend und schwierig! So ganz anders. Hinten in den Lesebüchern der vierten bis sechsten Klasse gab es dazu Texte ohne Bilder. Man hätte sich vieles zusammen buchstabieren können. ... Wenn ich nur ...
In der Umgebung des kleinen Dorfes gab und gibt es auch allerlei altes Gemäuer, kleine Burgruinen, die wir gelegentlich am Sonntag besuchten. Im Heftli die Krönung und Hochzeit der Königin Elisabeth von England, wir schauten es noch und noch an. "Diesen alten Zopf könnten sie ruhig abschneiden," neckte uns Papa, wir verstanden seinen Satz nicht. Die Königin war jung und soooo schön. Dazu viel Klatsch, Klatsch!
Die Dreifelderwirtschaft erklärte mir Papa ein wenig. Das Land wurde irgendwie gemeinschaftlich bewirtschaftet. Dazu war es in grosse Felder aufgeteilt. Sommergetreide, Wintergetreide und Brache wechselten reihum. Getrennt davon hatte man neben dem Haus einen Gemüsegarten, etwas Gross-, Klein- und allerhand Federvieh. Wichtig war, dass die Bauern im Herbst, zu Martini (= zum Martinstag, den 11. November) den Zehnten (= Naturalabgabe der Bauern an die Obrigkeit) abliefern konnten. Alte Zehntenscheunen erinnern an diese Steuern in Naturalien. "Kartoffeln und Mais zu essen, das sind neue Gewohnheiten, glaube mir, es war nicht schön" lauteten Grössis Gesprächsbeiträge.
Januar 2017: Liebe Enkelkinder: Eure Oma konnte zwar immer und immer etwas mehr in Erfahrung bringen, doch ihr Bild blieb diffus.
 
 
Was wusste der Gemeindehistoriker?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Was wusste der Gemeindehistoriker?
2016 Sommer: Sie kannten sich nicht. Er fragte sie mehrmals nach ihrer Familie und erklärte, er sei nicht auf ihr Dorf, das Dorf in der Mitte spezialisiert. Sie erinnerte sich, der alte Mann, der ihr gegenüber sass, war Primarlehrer im Dorf mit der Kirche gewesen, er hatte die vierte Klasse unterrichtet. Nun waren sie beide sechzig Jahre älter.
Er betonte: Früher lebten die Leute mit dem Empfinden, Land sei sehr knapp und kostbar, und deshalb gab es bis 1800 einen strengen Zonenplan. Alle Häuser waren eng zusammengebaut und von einem Etter (=Hecken und Holzzaun) zusammengehalten, der sie vor Dieben und wilden Tieren schützte (es gab im Winter hungrige Wolfsrudel und Bären). Ausserhalb durfte nicht gebaut werden. 1813 wurden alle Häuser Assekuranzverzeichnis aufgenommen. Unser Haus gehörte damals einem Morf, bis es 1925 an meinen Grossvater überging. Dann an ihren Vater. Wem war es nachher? Diese Fragen verschob sie auf später.
Sie hatte mehrmals mit diesem ehemaligen Primarlehrer über ihr Dorf geplaudert, und schliesslich erwähnte er so nebenbei, er sei so quasi der Gemeindehistoriker: In den alten Schriften sei der Leutpriester von Neftenbach 1208 erstmals erwähnt. Durch die Kirchen und Kirchgemeinden wären früh, heute noch erkennbare, stabile Strukturen entstanden, die irgendwie alle Menschen umfasst hätten. Man gehörte zu einer Kirche und kannte den Trampelfpad zu seiner Kirche und zu seinem Friedhof. Im Kirchenregister wurden die Eheschliessungen der freien Leute vermerkt, wenn alles geordnet lief und nicht etwa die Pest oder ein Krieg wütete. 
Sie hatte 2008 die 800-Jahrfeier ihrer Kirchgemeinde kurz besucht und alles wieder vergessen. Es hatte doch sicher eine Festschrift gegeben. Sie kannte die Kirchwege, denn auf ihrem Kirchweg war sie zum Kindergarten im grossen Dorf mit der Kirche marschiert. Die Asphaltstrasse sei zu gefährlich, hiess es. Auch das kleine Dorf unten im Tal und das grössere Dorf oben am Berg hatten ihre Kirchwege. Diese drei kleineren Dörfer waren sehr selbständig. Es verband sie der Stolz, nicht den gleichen Weg gegangen zu sein wie das grosse Dorf mit der Kirche.
Was sagte der Historiker zu dieser Frage? Tatsächlich, das grosse Dorf mit der Kirche stand früh unter der niedrigen Gerichtsherrschaft der Wart, diese ging 1540 ans Haus Breiten Landenberg aus Zürich über und 1611 an die Äbtissinnen von Paradies. Unsere drei kleineren Dörfer ohne Kirche gehörten zur Wart, zur Kyburg. Sie gingen 1264 an Habsburg über. 1420 wurden sie an Zürich verpfändet, und ab 1450 unterstanden sie dem Rat von Zürich. Dann folgten Stichwwort zu kaum erforschten und wenig geordneten Unterlagen:
Klein Jogg von Hirzel.
"Moderne Landwirtschaft", die Kommission von Zürich,
1780 genauer Zehntenplan vom grossen Dorf mit der Kirche
1797 Leonhard Ziegel, 1798 Reorganisiation
Nach und durch Napoleon wurde alles reorganisert.
2016 im Herbst ging es ein wenig weiter. Mit der Erlaubnis des Büros stieg sie mit dem Gemeindehistoriker ins Gemeindearchiv hinunter: Im Keller der neuen Gemeindekanzlei blätterte sie durch allerlei alte Gemeindebücher. Eher langweilig. Ob sie sich je die Zeit geben würde, diese Unterlagen genau zu lesen? Sie liess sich jedenfalls drei Kopien anfertigen:
          21.12.1877 und 1890 je eine Liste der Mitglieder der Wassergesellschaft,
         1931: Grossviehbestand 200, 53 Schweine und Ziegen
         1934: Beschluss die Strasse zu asphaltieren
Zusätzlich las sie Protokolle und Verzeichnisse betreffend Verdingkinder.
2017 3. Oktober Sie hatte ihre vagen Pläne nicht umsetzen können. Meine Leser und Leserinnen haben Sie jemals das Archiv Ihrer Bürgergemeinde besucht?
 
Was hatten die Dorfbewohner in den 50er Jahre für Pläne?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Was hatten die Dorfbewohner in den 50er Jahre für Pläne?
"Unsere Kinder sollen es besser haben!" "Unsere Kinder sollen es besser haben," das war der einzige Plan der Dorfbewohner. "Die Welt wird immer besser," davon war ich tiefst überzeugt. In vielen tonlosen Selbstgesprächen wiederholte ich mir diesen Satz, denn ich wollte daran glauben. Mein Entschluss stand fest: "Ich werde etwas dazu beitragen! Noch bin ich ein Kind ohne Geld, und ich soll eine Frau ohne Stimmrecht werden. Trotzdem will ich nach Amerika fliegen, wo all das Bessere herkommt. Warum, warum kommt alles, was "das Bessere" heisst, aus Amerika? Und es hiess, es sei gut, dass - Amerika die grössten Bomben hat." Ich schüttelte immer wieder den Kopf. Bomben wozu, wenn die Welt besser wird? Doch es hiess nur: "Unsere Kinder sollen es besser haben!"S eit Papa das kleine Radio besass, es kam übrigens aus Amerika, fehlte er mir oft. "Sei ruhig, sonst höre ich die Musilk nicht," er schob mich weg. Ich mochte das kleine, wunderbare Radio nicht leiden, auch wenn es von Amerika kam. Das kleine Radio hatte meine Welt verschlechtert! Und die Indianer? War die Welt der Indianer besser geworden? Ich wusste, der Grossvater war damals zu alt, und ich war damals zu klein, um die Indianer-Frage zu klären. Das war nötig. Ja, wenn ich gross bin, fliege ich nach Amerika und schaue mich nach "dem Besseren" um und besuche die Indianer. Später werde ich zu Alfi nach Afrika reisen, denn die Welt wird immer besser. Ich werde vieles besser verstehen. Ich werde etwas dazu beitragen, dass es bessser wird, wenn ich gross bin.
2015 Einschub (= eine Einladung zum Überspringen bis zum Stichwort "Fortsetzung") Sie blieb unverbesserlich optimistisch: "Die Welt wird immer besser!" Manchmal ersetzte sie das Ausrufezeichen durch ein Fragezeichen, durch viele Fragezeichen. Wurde die Welt wirklich immer besser? Die Bomben waren immer grösser, dann kleiner und dafür mehr an der Zahl geworden. Was hiess das ... ??? Und die Flüchtlinge?
Ende 2016: Wird die Welt immer besser? Wie als Kind so verstand sie auch als alte Frau die Welt nicht. War Gott durch Geld ersetzt worden? In zwei Tagen ist Weihnachten: Jesus wurde damals als Flüchtlingskind geboren, und sie, die Schreibende, wollte keine weitern Flüchtlinge aufnehmen. ... ?
23. April 2017 Sie hatte es geschafft! Ihr Leserbrief war abgedruckt worden. Hier dessen Titel und Text: "Er hat es geschafft! Vor mir liegt das schöne Bild des 16-jährigen Mohammad Wadafar. Ich habe es aus der SN vom 3. April 2017 ausgeschnitten. Der junge Afghane lernt schnell Deutsch und seine Sozialpädagogin Eveline König sagt: »Er ist sehr zuverlässig.» Er lebt in einer Wohngemeinschaft im ehemaligen Pfarrhaus St. Peter. Er hat ein Smartphone in der Hand. Die Familie von Mohammad ist sicher sehr glücklich, so guten Bericht von ihrem Sohn zu erhalten. Was wünschen sich andere afghanische Familien für ihre Söhne? Wovon träumen seine ehemaligen Kameraden in Afghanistan? Während den vergangenen Festtagen wurden hunderte von jungen Leuten vor der Küste von Libyen auf seetüchtige Schiffe umgeladen und nach Italien gebracht. Wie viele warten noch? Was haben sie zu verlieren? Was haben sie zu gewinnen? Wie viele sollen noch zu uns kommen? Wie viele von Sozialpädagogen betreute Wohngemeinschaften sind geplant? Wie viele ihrer Familienmitglieder haben die Chance, per Familiennachzug auch zu uns zu kommen? Persönlich habe ich seit Jahren gute Kontakte zu anerkannten Flüchtlingen, die ich nicht missen möchte. Und doch fürchte ich diesen Ansturm.  Wer halb Kalkutta aufnimmt, hilft nicht etwa Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta.“ (Peter Scholl-Latour, Buchautor und Journalist, 1924-2014)" Ende des Leserbriefes. Der alte Wunsch jeder Mutter blieb: "Unsere Kinder sollen es besser haben," "Unsere Kinder sollen es besser haben," dies umzusetzen, das ist der einzige Plan der Dorfbewohner im Kongo.
Fortsetzung:  Ich was in Sorge wegen dem Krieg. Zum Glück hatten wir im Keller einen Notvorrat. Ich wollte doch in die Sekundarschule.
 
Erinnerst du dich an deinen ersten Schultag?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Erinnerst du dich an deinen ersten Schultag?
Vorfreude ist die schönste Freude. ... Respekt, Sorgen, Angst. ... Ich tänzelte mit dem Tornister am Rücken durch die Stube. ... Alles tipptopp vorbereitet, nicht mehr und nicht weniger, wie es der Lehrer der Mutter erklärt hatte: Die leere Federschachtel, das Weihnachtsgeschenk der Sonntagsschule, Schwammbüchse mit feuchtem Schwamm, ein saugfähiger Lappen und ein sauberes Taschentuch.
Da war er nun, der lang ersehnte erste Schultag. Wir sassen in den Bänken. Alles o.k.. Ernüchternd ähnlich dem Kindergarten. Doch dann bekamen wir die Schiefertafel, schön schwarz mit weissem Holzrahmen, eine Seite mit Linien zum Schreiben und eine Seite mit Häuschen zum Rechnen. Ich wiederholte in Gedanken: Die Schiefertafel ist eine dünne Steinplatte, leicht zerbrechlich. Sorgfältig haben wir damit umzugehen. Ersatz hätten die Eltern zu bezahlen, ein Franken dreissig Rappen, informierte uns der Lehrer. Dazu ein Griffel. Der Lehrer zeigte uns, wie wir den Griffel zwischen Mittelfinger, Zeigfinger und Daumen zu halten und zu führen hatten. Schön schwierig!
Vier Buben und drei Mädchen. Wir stützten alle den rechten Arm auf das Pult und fassten unter Anleitung des Lehrers den Griffel korrekt. Ich stützte beide Arme auf das Pult und nahm den Griffel in die linke Hand. Einschub:"Welch ein Staatsverbrechen," das ahnte ich erst im Laufe der Jahre, Einschub Ende. "Das sehe ich nie mehr," erklärte mir der Lehrer. "Fertig damit, fertig." Nein, das war der Anfang einer leidvollen Geschichte.
Stolz zeigte ich beim Mittagessen Tafel und Griffel. Der Griffel machte die Runde. Ich schaute, alle nahmen den Griffel in die rechte Hand. Ich versuchte es auch. Gut, nickte mir der Vater zu. Er war vom selben Lehrer von links auf rechts umgewöhnt worden. Er verstand mich und murmelte: "Dieser Becher geht nicht an dir vorbei." Was meinte Papa? (=  war das eine Anspielung auf Sokrates oder auf Jesus Christus?).
Welche Erwartungen hattest du an die Schule?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Welche Erwartungen hattest du an die Schule?
MML-Zusatzfragen: Wurdest du auf die Schule vorbereitet? Wie war das im Vergleich zum Vorwissen deiner Schulkameraden?
Hohe, hohe Erwartungen, ich zählte auf die Schule, wie der Vater auf mich. Die Mutter hatte uns oft von ihren guten Leistungen in der Schule erzählt - und - der Vater habe ohne gute Leistungen eine Lehre gemacht und heute sei er der beste Bauer im Dorf. Er habe sogar ein Meisterdiplom. Man merke sich, solche Gespräche waren Mutter-Kinder-Geheimnisse. "Gut zu sein, konnte ja nicht schaden," das war mein Plan. Dann mit einer Schnute, breitspurig auf beiden Beinen stehend, tröstete ich mich mit dem Meisterdiplom des Vaters, der nicht gut gewesen war.
Zur Vorbereitung auf die Schule liessen die Grossen mich meinen Namen in Grossbuchstaben kopieren. Bald schrieb ich nur noch unbeobachtet, ich wollte den Satz "nimm den Bleistift in die rechte Hand" nicht immer hören. Ich schrieb mit der Hand, mit der ich gut konnte. Niemand brauchte deshalb böse mit mir zu sein. Der Vater half mir. Wir einigten uns: Er bestimmte und ich schwieg. Er legte den Bleistift in meine "richtige" Hand, umfasste diese kleine, dumme Hand mit seiner grossen Rechten, und die beiden Hände schrieben gemeinsam sog. richtig. Für diese Prozedur fand mein lieber Vater immer wieder ein wenig Zeit. Mit der falschen Hand konnte ich das Messer halten und Zwiebeln oder Kartoffeln schälen. Die moderne Kindergärtnerin hatte mich gewähren lassen. Der Vater und ich, wir schrieben gemeinsam. Bei der Feldarbeit tauchten neue Themen, auf "die richtige und die falsche Hand", "die rechte und die linke Hand","richtig und falsch", "rechts und links". Der Vater und ich, wir machten uns Sorgen.
Zur Vorbereitung der Feldarbeit schauten wir als Familie im Frühjahr sonntags die Felder an. So wollte ich im Frühling vor Schulbeginn einmal das leere Schulzimmer anschauen. "Nicht möglich," sagte der Dorfklatsch. Die Abwartfrau konnte mir helfen; ich schmeichelte mich bei ihr ein. Sie liess mich das Schulzimmer betreten. Sie führte mich durchs ganze Schulhaus. Meinen Wunsch, den Keller zu sehen, erfüllte sie. Die Treppe hinauf, Richtung Lehrerwohnung durften wir nicht. Sie wischte weiter und gab mir eine Kreide. Ich durfte auf der grossen Wandtafel zeichnen. Mit dem Satz "nimm die Kreide in die rechte Hand" bremste sie meine Freude. Das Schulzimmer kannte nun meine Sorge. Die sechs andern Erstklässler kannten die Schule gut, denn sie hatten ältere Geschwister. Ich war die Älteste unserer Familie.
Was weisst du noch über deinen Schulweg?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Was weisst du noch über deinen Schulweg?
Mein Schulweg? Wir wohnten doch gegenüber dem Schulhaus, was Vor- und Nachteile hatte. Nun, lasst uns all das überfliegen.
Wie hast du lesen gelernt? Mühsam.
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wie hast du lesen gelernt? Mühsam.
MML-Zusatzfrage: Was bedeutete das für dich?
L E S E N , was ich eben lesen nannte, das bedeutete mir sehr viel. Schon vor Schulbeginn suchte ich gerne in Zeitungen das immer gleiche kleine Wort, z.B. "Baum", schnitt dieses aus, zählte die Schnipsel und - falls es regnete und falls ich Leim bekam - klebte ich sie auf. LESEN, was ich eben lesen nannte, das fiel mir leicht, denn ich verstand es, aus den paar wenigen Wörtern, die ich erraten konnte, eine Geschichte zu erfinden und erstaunte damit anfänglich selbst den Lehrer. Lesen, was die andern lesen nannten, das konnte ich lange nicht. Vieles fiel ihr ein. Nein! Stopp! Überfliegen!  Für diese Mühsal und für soviel Angst passende, amüsante Wörter zu finden, das traute sie sich nicht zu. Fort, vorwärts, schnell überfliegen!
 
Wie hast du schreiben gelernt? Mühsam.
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wie hast du schreiben gelernt? Mühsam.
MML-Zusatzfrage: Welche Schreibwerkzeuge wurden verwendet?
Ich habe schreiben gelernt, und war jeden Abend stolz und glücklich, dass ich schreiben lernen konnte. "Schau, nichts ist selbstverständlich! Nicht alle Kinder haben das Glück, schreiben und lesen lernen zu können," das hatte mein Grossvater selig immer wieder gesagt. Ich hatte den Grossvater zwar nicht so recht verstanden, aber ich glaubte ihm: Es ist ein Glück, zu den Kindern zu gehören, die schreiben und lesen lernen konnten. Er war dankbar für unsere Dorfschule, die er klein und die ich gross nannte. In der Unterstufe schrieben wir selbstverständlich mit dem Griffel auf die Schiefertafel. Da ich Mama tüchtig half, spitzte mir Papa spät abends den Griffel am neuen Wetzstein, den er in seiner Schublade bereit hielt: "Das bisschen Staub, sagt meine Frau, das macht doch nichts ... ." Um mir das Schreiben zu erleichtern, erhielt ich, und nur ich, vom Lehrer bald einen Griffelstift.
Mit der linken Hand ging Schreiben ganz famos, doch der Lehrer fuhr immer mit dem Schwamm darüber, wenn er meine lockern Buchstaben sah. "Lieber wenig und eckig," war sein Wunsch. Mit beiden Händen gleichzeitig zu schreiben war erlaubt: Die linke umfasste und führte die rechte schwache Hand. Das war sehr anstrengend und ging langsam. Der Rücken tat weh. Die andern lachten, denn es sah lustig aus. Es sah lustig aus, das wusste ich, und doch gelang es mir nicht mitzulachen. Ja, schreiben mit beiden Händen wurde vom Lehrer knurrend akzeptiert. Wenigstens das! Hoffentlich! Ich konnte auch mit der linken Hand eckig schreiben. Manchmal tat ich das trotzig und stolz, häufig mit einem schlechten Gewissen, und gelegentlich meldeten es meine lieben Mitschüler dem Lehrer. Mühsam, das war es. Schreibwerkzeuge: Griffel, kurze Zeit Bleistift, dann Federhalter mit Feder und Tinte. Schmieren und Kleckse machen konnten die andern besser als ich.
Einschub 10. März 2017: Dieser kurze Abschnitt tönte zu freundlich. Sie hatte vergangene Nacht von der Mühsal des Schreibens geträumt. Ja, im Tornister hatte sie immer ein zusätzliches Taschentuch, um Tränen aufzufangen, die sie nicht wollte, die sie nicht wollte und die doch kamen. Nein, nein, sie weinte nicht, auch wenn weinen wohltuend war. Ende.
Im Tornister hatte ich auch einen saugfähigen Lappen für Hilfsdienste. Oben in jedem Pult waren zwei Tintenfässchen. Ein feierlicher Moment, wenn der Lehrer sie nachfüllte. Mit der grossen Tintenflasche, sie fasste zwei Liter, schritt er von Bank zu Bank und goss jedem Kind sein Fässchen sorgfältig voll. Nur, diese Tintenflasche hatte es so an sich. Auch wenn der Lehrer immer dieselbe Sorgfalt anwandte, so zog sie gelegentlich, ganz unerwartet an. Dann kam mein Lappen zum Einsatz. Schnell, schnell die Flecken weggeputzt, danke und zurück an den Platz. Auch sonst war ich immer gerne schnell zur Stelle, wenn es irgend ein Missgeschick gab. Ich hatte ein Auge auf den Platz von klein Max. Das durfte niemand sehen. Der Lappen war gross genug, um ein kleines Bisi aufzufangen.
Nun zu den Tränen: Die gehörten einfach dazu, alle wussten das. Ich hatte mir abgewöhnt, mich darüber zu ärgern oder mich zu schämen, aber ich wollte sie trotzdem nicht. Langsam, langsam hatte ich gelernt, die Richtung der Tränen zu ändern. Wenn es mit der Schreiberei wieder gar nicht klappte, so wie ich es wollte und sich die Augen langsam mit Wasser füllten, dann saugte ich langsam viel Luft durch die Nase hoch und stellte mir vor, wie die Luft voller Tränenwasser sachte aufstieg und die Tränen dann in den Bauch schickte. Verirrte sich ein Tröpfchen in die Lunge, so musste ich arg husten. Der Lehrer merkte, wenn ich kräftig zu atmen begann, und oft kam er mir zu Hilfe. Wie gerne wäre ich ein frohes unbeschwertes Kind gewesen! So wehmütige Gedanken konnte ich abschütteln, wie ein nasser Pudel die Tropfen aus seinem Fell. Ich dachte ans Kochen und an mein schönes, grosses, warmes Bett, das ich vom Grossvater geerbt hatte. Und jeden Abend konnte ich als glückliches Kind unter meiner warmen Decke einschlafen. Gott sei Dank.
 
Wie hast du rechnen gelernt? Mit Freude.
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wie hast du rechnen gelernt? Mit Freude.
" H E U T E" 2016:  Diese Frage hatte sie nachträglich selber eingefügt, denn Rechnen, der Umgang mit Geld, schien ihr immer wichtiger zu werden. Rechnen wurde im meet-my-life Programm nicht erwähnt!  Galt das Motto, über Geld spricht man nicht, Geld hat man? Mit dieser freiwillig selbst ergänzten Frage tat sie sich dann aber schwer. Ende.
Damals, bevor ich in den Kindergarten musste, legte ich fasziniert mit irgendwelchen Dingen (Blätter, Blümchen, Steinchen) irgendwelche Reihen und Gruppen, irgendwie: Fünf Steinchen für die Finger der linken Hand, fünf für die rechte Hand und fünf für jeden Fuss. Für Papa, Mama und uns drei Kinder brauchte ich in etwa ein Sandkastenkesseli voll kleine Steine. Vater und Mutter, das waren zwei, oder einmal Eltern. Eltern und ein Kind waren eine Familie, genau so waren Eltern mit zwei oder drei Kindern eine Familie. Zum Essen brauchten Eltern zwei Teller. Wie viele Teller brauchte eine Familie? "Diese Trauben waren mir zu sauer. Wo war der Grossvater?" Wir machten zusammen etwas anderes. Im Winter durfte ich meine Versuche mit Knöpfen aus der grossen Schachtel anstellen. Sehr gut, sehr schwierig, ich konnte den Grossen nicht erklären, was ich mit grosser Anstrengung tat.
Im Kindergarten sollten wir dann zählen. "Du kannst nicht zählen, du bisch hinedrie (=du bist im Rückstand)," stellte die Kindergartentante fest. Ich stand auf und presste die Lippen zusammen. Im Kindergarten durfte man nicht einfach so sprechen. Die Tante sagte, sei ruhig und sitz ab. Typisch Kindergarten. Eins, zwei, drei, die ganze Familie zählte am Morgen vier, fünf, sechs am Mittag und sieben, acht, neun, am Abend. Wir zählten alles. Wir schliefen ein , zehn, elf, zwölf ... Wir wachten auf zwanzig, dreissig, vierzig, ... hundert. Das konnte ich schnell, doch nun kam ich nicht mehr an die Reihe. Typisch Kindergarten.
In der Schule: Jedes Kind hatte ein flottes kleines Rechnungsbüchlein, etwas kleiner als das Milchbüchlein ca. A6, von der Frau des Lehrers geflickt, 32 Seiten. Für jede Ziffer eine Doppelseite mit kleinem Bild und Rechnungen, auf den restlichen Seiten folgten der Zehnerübergang und gemischte Rechnen bis zwanzig. Ich hatte das ganze Büchlein abgeschrieben, niemand interessierte dies, die Mutter fand es unnütz, mich freute es: Ich hatte das ganze Büchlein sorgfältig und schön mit der falschen Hand abgeschrieben, die Rechnungen waren richtig. In der Schule waren wir erst auf Seite zwanzig. Ich hatte viel Zeit, um den grossen Schülern zuzuhören.
Ein Mädchen ohne Schiefertafel?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Ein Mädchen ohne Schiefertafel?
 Wie es sich so gehörte, bekam ich am ersten Schultag meine neue, ungebrauchte Schiefertafel. Als meine Mutter und mein Vater Kinder waren, hatten sie am ersten Schultag auch eine Schiefertafel bekommen. Genau so meine Grosseltern. Wem immer ich von meiner schönen Schiefertafel erzählte, sie lachten: "Lange ist es her, doch selbstverständlich bekam ich eine Schiefertafel." Nur Trude hatte keine.
Wer Trude war? Sie tauchte kurz vor den Sommerferien auf dem Schulplatz auf. Ein fremdes Kind? "Der Vater hat mich gebracht, es sei nun an der Zeit, in die Schule zu gehen," erklärte sie dem Lehrer. Sie sei acht Jahre alt und könne lesen und schreiben. Weiter, sie wohne im Wohnwagen am Waldrand. Der Lehrer schien zu verstehen. Er nahm sie bei der Hand und stellte sie uns vor. Er bat uns, freundlich mit Trude zu sein, denn sie sei neu. Ah, das fremde Ding in dem schäbigen (= abgeschabten) Röckchen, das hiess Trude. "Schön, dass du lesen kannst," der Lehrer gab Trude das Buch - er hatte zufälligerweise eines in der Hand - und sie las. Wir staunten. "Nun gehen wir ins Schulzimmer, und ich zeige dir deinen Platz," er klatschte und wir verschwanden in unsern Bänken.
Spannend, ein neues Kind! Das erste neue Kind in unserer Schule namens Trude wohnte in einem Wohnwagen. Erstaunlich. Sie konnte lesen und schreiben und rechnen, aber sie besass keine Schiefertafel. Wie war das möglich? Ihren Eltern fehle die Zeit, um beim Lehrer vorbeizukommen. So etwas war möglich! Wir Kinder wurden uns einig, die Schule musste Trude eine Schiefertafel schenken. So geschah es, das war möglich. Trude war sehr manierlich, umgeben von einem frischen geheimnisvollen Wind. Trude war noch nie in einer Schule gewesen. Der Vater hatte ihr alles beigebracht, denn er war Scherenschleifer.
An einem Morgen nach ein paar Wochen lag die Schiefertafel vor der Schulhaustüre. Der Wohnwagen war weg. Wo war Trude, das Zigeunermädchen? Ich hatte mich mit Trude gut verstanden.
Was gab es doch alles für Kinder?
Seite 196
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Was gab es doch alles für Kinder?
Nein, nein, es gab nicht nur uns Bauern-Kinder vom kleinen Dorf. In unserem Kindergarten im Dorf mit der Kirche, da gab es das Kind vom Bäcker, das Kind vom Metzger, das Kind vom Müller, das Kind vom Friedhofsgärtner, das Kind vom Hufschmied, das Kind vom Lehrer, das Kind vom Pfarrer, soviele unterschiedliche Kinder. Und dann, in den Häusern in der Stadt nochmals Kinder. "Kinder sind sehr wichtig, sehr wichtig, sie sind die Altersvorsorge." ... ? ... Dank Mama bekam Grössi eine Rente. Papa und die Tanten gaben ihr nichts.
Nun eine Liste der Kindersorten:
  • Alfi, das Mädchen in der Missionsschule
  • Netti, bei der alten Jungfer hinten im Dorf, mein Alptraum auf den Weg zum Kindergarten
  • Trude, das Zigeunermädchen ohne Schiefertafel
  • Die zwei munteren Ausländerkinder unserer "Schneiderin"
  • Kriegskinder, Flüchtlingskinder: Die Grossmutter hatte gesehen, wie Kinder beim Rote-Kreuz-Zug von vornehmen Stadtleuten abgeholt wurden.
  • Uns, die braun gebrannten Landkinder
  • Dann die "mehrbesseren" Stadtkinder
  • Arbeiterkinder, Schlüsselkinder
  • Waisenkinder und Kinder ohne Vater.
  • Verdingkinder, Heimkinder
  • Viele viele Tierkinder
Achtung: Wir hatten mit einem Flüchtlingsmädchen gesprochen. Die Schwester unseres Maurers kam mit ihm bei uns vorbei, um die Kälbchen zu streicheln. "Das Kind ist ein Segen für mich und meinen Bruder, die wir beide ledig sind. Niemand wollte das arme Ding, so kam es schliesslich zu uns, obwohl man uns keines geben wollte. Wir erfüllen alle Bedingungen, ein eigenes Zimmer mit elektrischem Licht, ein WC mit Spülung, regelmässiges Essen," erzählte die Frau. Das Kind hatte Angst vor den Kälbchen, doch die beiden kamen wieder und wieder vorbei, so sehr soll das Kind Freude an unsern Tieren gehabt haben. Wir schenkten ihm den Rest unserer getrockneten Äpfel. Es gelang dem Mädchen, diese versteckt zwischen den Kleidern heim zu schmuggeln. 
Nun fiel mir die bedenkliche Geschichte der Mauskinder ein: " Wenn der Schnee lange auf den Wiesen liegt, so machen die Mäuse ein Fest," sorgte sich der Grossvater. Wir kauften vier Dutzend neue Mäusefallen. Herrlich warme Frühlingssonne, neben Blümchen aller Art jede Menge Mäusehaufen. Vater, Lehrling, Grossvater und ich machten uns ans Werk. Ich trug einen Kranz Mäusefallen und die drei Männer setzten die Fallen sorgfälltig und steckten Rütchen. Wir werweissten (= überlegen, beratschlagen), wie gross die Beute wohl sein werde. Am andern Morgen rückten wir mit einem kleinen Korb aus. Unendlich viele liebe, tote Mäuse, Mensch, ich konnte sie nicht zählen, und die Männer lachten nur. Ich fasste sie an und streichelte das weiche graue Fell. Mama-Mäuse, ich spürte es klar. Die MamaMaus in meiner Hand hatte Milch für ihre Kleinen vorbereitet. Vieles durchfuhr mich von der Hand ins Herz zum Hirn. Der Mund fragte: "Und die Bébé-Mäuse?" Die Männer hatten kein Gehör für meine Sorgen. Ich ging heim und versteckte mich. Sind Mäusekinder Kriegskinder? Zum Glück kam eine Katze und brachte mich auf andere Gedanken.
Was wusstest du von den Stadtkindern?
Seite 197
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Was wusstest du von den Stadtkindern?
Sie mussten zum Zahnarzt wie wir, vielleicht etwas häufiger, denn sie hatten weniger gartenfrisches Gemüse und nur abgerahmte Milch. Beim Kartoffeln Verkaufen kreuzten sich unser Wagen und das Fuhrwerk des Milchmannes regelmässig. Jeden zweiten Tag machte er dieselbe Tour, frühmorgens, das Pferd wartete immer wieder an einer andern Ecke, und der Milchmann eilte mit dem Milchkessel und den Butterkistchen von Haus zu Haus. "Für Frau Meier mit den vier Buben immer vier Liter und am Samstag ein Mödeli Anke ( 200 g Butter, abgepackt, mit einem Edelweiss verziert), Frau Müller immer 100 g Butter und ein Liter Milch (was die nur mit soviel Butter machte?), Frau Keller isst Margarine," so das Gemurmel des Milchmannes. Frau Meier war eine gute Kundin von uns, sie bestellte immer grosse Ausschuss-Kartoffeln zum halben Preis. Sie kaufte alles, was zum halben Preis zu haben war.
Die Stadtkinder trugen immer Schuhe und Socken wie ich, die ich es einfach nicht schaffte, barfuss auf und davon zu springen. "Das ist in Ordnung, meine Hilfe muss gut gehen können, sie darf sich nicht verletzen, und sie trägt den Schuhen gar Sorge," so meine Mutter.
Bei meiner Patin: Meine Patin mit Mann und Bébé hatten in der Stadt eine Dreizimmer-Wohnung mit Ofenheizung im ersten Stock gemietet. Die Wohnung zu schön, zu eng, zu schwierig für mich. Wegen der Autos durfte ich keine Ausflüge in die Umgebung machen. Immer wollte mir die Patin Sachen beibringen, die ich nicht konnte, z.B. den Tisch nach ihren Vorstellungen decken. Ich wusste doch nicht, wie sie es wünschte. Und ich sollte lesen, dabei war sie sicher, dass ich es nie lernen würde. Super war, dass sie einen elektrischen Staubsauger besass. Und es begab sich, dass ihr die Zuckerdose auf den Teppich fiel, und ihr die Zeit zum Saugen fehlte. Ich hatte ihr mehrmals gut zugeschaut und konnte diese Aufgabe übernehmen. Ich saugte den ganzen Teppich und wechselte den Aufsatz für den Holzboden. Die Patin war in der Küche beschäftigt und der Staubsauger und ich nützten die Gelegenheit, um den Gang zu putzen. Die Patin war überrascht und froh, dass ich mich auch noch um die beiden Schlafzimmer kümmerte. "Respekt, wie du das kannst!" war ihr Kommentar.
Die Abendspaziergänge mit dem Onkel waren eine weitere feine Sache. Wir rannten beide mit Leibeskräften und tranken, um zu verschnaufen, im nahen Restaurant ein grosses Glas Orangina. Die Patin müsse nicht alles wissen. Wie dem auch sei, ich war jedes Mal froh, wenn ich nach drei Tagen Ferien wieder heim durfte.
Die Stadtkinder lebten zu dritt oder zu viert in solchen Wohnungen, darum wollten sie alle zu den Pfadfindern. Für jedes Schuljahr ein Schulzimmer mit je einem Lehrer und den gleichen Büchern wie wir. In der Stadt zu leben war nicht mein Traum. Eine Reise nach Amerika oder ein Besuch bei Alfi in Afrika, das waren meine heimlichen Träume. Die enge Stadt mit dem gefährlichen Verkehr? Nein.
Wann und wie hast du gelernt Feuer für das Kochen zu machen?
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Wann und wie hast du gelernt Feuer für das Kochen zu machen?
Der Lehrer war wieder unpünktlich! Der kleine Zeiger stand nach der elf und der grosse war weit über die zwölf hinweg gerutscht. "Geh um elf sofort heim, mach Feuer zum Kochen," dies die Ermahnung der Mutter am Morgen vor der Schule. Ich streckte auf, der Lehrer jagte mich fort.
"Hurra, ich konnte Feuer machen, spielen mit Streichhölzern für Kinder verboten, Zündhölzchen ausserhalb der Reichweite von Kindern aufbewahren, das alles galt nicht für mich," Vieles schoss mir durch den Kopf. Mein Programm: "Asche wegfegen, auf die zerknüllte Zeitung kreuzweise Anfeuer-holz und zwei, drei kleine Scheite legen." Aller Mut her, sorgfältig und kräftig fasste ich mit Daumen, Zeigfinger und Mittelfinger das kleine Hölzchen möglichst weit vorn und dies nahe beim Herdloch, bei der Zeitung. Plötzlich sauste die Hand über das Schmirgelpapier. "Pf", eine Flamme, ich hatte es im ersten Anlauf geschafft. Die Flammen frassen Löcher durch die Wörter, das Holz knisterte. Ich schaute dem Feuer zu, legte Holz nach und schob die kleine Türe zu. Das Wasser in der Pfanne war schon ein wenig warm.
"Stinkendes Zeug, nicht Stumpen, nein eine lange, dünne, krumme Brissago hatte dein Grossvater jeden Sonntag geraucht, und dies bei Regenwetter in der Stube," schimpfte Mutter noch Jahre später. Ich erinnerte mich gut, ich hatte ihm immer zugeschaut und nur einmal ein wenig probiert, puh, hatte das gebrannt. Das ist alles Nebensache, ich wollte immer draussen rauchen, - denn früh übt sich, was eine Meisterin werden will - nein, dann zeigte mir der Grossvater, "wie Feuer machen ging", immer und immer, auch draussen auf dem Acker, wenn wir Stauden oder Abfall verbrannten, machten wir das zusammen. Für seine Enkeltochter nahm er viel Papier und zusätzliche Streichhölzer mit. Ich probierte noch und noch, bis es klappte, und als ich es konnte, war das unser Geheimnis. "Achtung, das machst du nie allein," hatte er mir vor und nach jeder Lektion eingeschärft.
Die Mutter musste informiert gewesen sein, denn der Grossvater war ein Engel und mein Bruder noch kein Schüler, da ermahnte sie mich, ihr beim Feuer machen gut zuzuschauen,  und danach fragte sie mich: "Traust du dir das zu?" Ich nickte. Es klappte. Bei gutem Wetter war es zur Routine geworden, dass das Wasser heiss war, wenn die Mutter vom Feld kam.
Wann hast du das erste Mal "gekocht"?
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Wann hast du das erste Mal "gekocht"?
Zunächst kaufte die Mutter den Kaffee hinten im Dorf in einem Haus, das mit einem sehr langen Wort angeschrieben war. Es gab viele Geschäfte, die diesen Namen trugen. Jahre später schaffte ich es. "Kolonialwarenhandlung", hiess es. Dort wurden Kunden selten und nur auf Verlangen bedient. Sicher war ich dabei, doch klein wie ich noch war, staunte ich einfach und streckte meine Nase sorgfältig in allerhand halb volle Säcke.
Als ich in die Schule kam, eröffnete der VOLG (Verband ost-schweizerischer landwirtschaftlicher Genossenschaften), wie in vielen "kleinen" Dörfern auch bei uns einen Laden. Das Wort VOLG und seine Bedeutung lernte ich mit Spass und Ungeduld, denn Papa hatte mir dafür verbotenerweise ein ganzes Päckli SUGUS versprochen und ich plante, diese heimlich zu geniessen. SUGUS verschenkte die Verkäuferin im VOLG an Kunden für grosse Besorgungen. Dazu gehörten wir, wenn wir Kaffee einkauften, aber Mama sagte immer nein danke. Unsere Gesichter wurden lang, wir kannten die Geschichte mit den Löchern in der Zähnen. Ein leichtes Zucken am Halse der Verkäuferin verriet uns ihr Verständnis. Ich brachte ihr wenig später einen Blumenstrauss und verhandelte mit ihr über die SUGUS. Sie bedauerte, sie respektierte Mamas Verbot. Ich hatte dies befürchtet, doch nun wusste ich es. Sie war erstaunt, dass ich ihr die Blumen trotzdem gab. Was hätte ich sonst damit machen sollen?
Einschub: Sugus waren einzeln verpackte, weiche, rechteckige aus Fruchtkonzentrat (Erdbeere, Orange, Zitrone, Ananas) hergestellte Zeltli (= Bonbon, Schleckwaren). Sie wurden in Päckli zu fünf verkauft. Das Wort Sugus kann wie Otto in beiden Richtungen gelesen werden. Einschub Ende.
Zurück zum Kaffee - wir liessen zwei Päckli Kaffeebohnen mittlerer Qualität mittelfein mahlen, dazu kamen zwei Aroma, je etwa so gross wie ein Päckli Kaffee und ein Extrakt, viel kleiner, dafür glänzig verpackt. Wir kauften auch kleine Maggi-Würfeli, Streuwürze, Villiger-Stumpen für Papa, und manchmal eine Flasche ORTA oder eine Schokolade mit Nüssen für uns und im Sommer manchmal eine Rolle Zellophanpapier (= durchsichtiges Papier), um die Konfitürengläser (=Marmalade) zu verschliessen. Das war's dann. Liebe Lesende, ich war damals stolz, dass ich die gleichen Wörter wie die Stadtleute benutzen konnte. Alle Zugaben für den Kaffee mischte Grössi auf zwei dicken Zeitungen auf dem Stubentisch sorgfältig und füllte sie in die drei Kaffeebüchsen. Wir durften nicht mitmischen und probieren wollten wir nicht, das Zeug schmeckte scheusslich, so schauten wir einfach zu und plauderten.
Während ich mich vorn mit der Milch beschäftigte, wurde im hinteren, dem linken Herdloch das Kaffeewasser langsam warm. Ich hatte es abgemessen: Den braunen Krug bis zwei Finger breit voll. Stand der Milchkrug voll und glücklich im Ofenrohr in der Stube an der Wärme, schob ich in der Küche Holz nach und holte die vorderste Kaffeebüchse. Nun hatte ich Pause. Ich nahm den Deckel von der Pfanne und schaute zu, wie das Kaffeewasser mehr und mehr dampfte. Bald begann ich das Kaffeepulver hineinzustreuen - drei gehäufte Löffel -, und sah zu, wie sich das Pulver auf dem Wasser verteilte. Aufgepasst! Wenn der Kaffee hochzusteigen begann, schnell weg von der Herdstelle, die Pfanne schnell auf die Aschentruhe stellen, denn guter Kaffee sollte nicht kochen. Nun die Pfanne mit dem Pfannendeckel verschlossen ruhen lassen, damit das Kaffeepulver auf den Pfannenboden sank. Ich nutzte die Zeit, um wieder Holz nachzulegen fürs Erwärmen des Schweinefutters und, war es nicht gerade Sommer, so schätzten alle warmes Wasser zum Waschen der Hände. Erst jetzt goss ich den Kaffee langsam durchs Sieb in den Krug. Gegen Ende unterbrach ich, um das Sieb zu leeren, denn es gehörte zu meinem Stolz, dass auch der letzte Rest Kaffee ohne Pulverrückstände getrunken werden konnte. Ich schaffte dies leicht. Der Tisch war gedeckt, die Pfannen geputzt, nun konnten sie kommen. Ich streichelte die Katze. Es ging uns gut.
Was konntest du kochen?
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Was konntest du kochen?
Unser Menu-Plan: Rösti, Salzkartoffeln, Hörnli, ein ganzes Kilogramm und noch etwas dazu, damit es Resten gab, Hörnli mit Gemüse und Eiern, Resten, Kartoffelstock und dann, und dann fing es wieder von vorne an. Wir liebten alle Rösti.
Rösti war meine Spezialität: Schön braun und doch feucht. Mein Geheimtipp: Starkes Feuer, häufig wenden und immer ein wenig Wasser auf die freie Stelle des heissen Pfannenbodens giessen, damit sich Wasserdampf bildete. Empfehlenswert und schnell: Geröstete Hafer- oder Griesssuppe mit fein geschnittenen Gemüseresten. Gemüse mit Käse bestreut,  Brotwürfelchen, Hackfleischsauce oder Bratwürste für Fleischtiger. Milchreis. Apfelmus. Und weiter: Erfindungen, Überraschungen der kleinen Köchin.
Ich kochte schnell, ich kochte alles, und was sich nicht kochen liess, wurde zu Salat. Ich interessierte mich für Mutters Kochbuch. Hätte ich doch besser lesen können! Kochen rettete den Tag. Kochen rettete fast jeden Tag. Dank Beten ging ich willig und gerne zur Schule. Die Schule war gottgewollt. Gott sei Dank gab es neben unserem Haus eine Schule. Er hatte mir einen viel besseren Platz gegeben als der schwarzen Alfi. Diese musste fern von ihrer Mama auf der Missionsstation in die Schule gehen. Sie musste tapfer sein, ich musste auch tapfer sein. Alfi und ich, wir weinten beide häufig in der Schule. Schande, ich wusste, der Lehrer hatte deshalb mit der Mutter gesprochen, und Mama nahm mich am Abend in die Arme: "Nicht weinen in der Schule," es tat ihr weh. "Du bleibt bei uns, was würden wir ohne die Köchin machen?" ich fühlte mich sicher. "Nicht weinen in der Schule," riet ich Alfi im Schlaf,"komm, wir beten miteinander. Wenn ich gross bin, und genug Geld habe, komme ich dich besuchen."
Kochen rettete den Tag. Ich erwähnte meine Fähigkeit in der Schule und erntete prompt eine Strafaufgabe. Ich hatte zehnmal: "Ich soll nicht lügen" und zehnmal "ich kann nicht kochen" sauber und schön zu schreiben. Mama und Papa schüttelten den Kopf. Es war ihnen ein Anliegen, diese Aufgabe zu unterschreiben. "Wir sind vom Krieg verschont geblieben! Was ist da eine Strafaufgabe schon!" Sie erklärten es mir. Wir sind verschont geblieben, ich hatte vom Krieg eine klare Vorstellung. Solche Gedanken verscheuchten meine Tränen. Übrigens Tränen müssen nicht über die Wangen kollern, sie können auch nach innen rollen, wie Essen durch den Hals in den Magen. Prima Erfindung. Das sagte ich niemandem. Wenn es viel Arbeit gab, waren alle froh, dass ich kochte. Natürlich half die Mutter beim Anrichten. Alle wunderten sich, wie ich das schaffte.
Geh~, mach Kaffee. Kommt nicht zuerst die Milch?
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Geh~, mach Kaffee. Kommt nicht zuerst die Milch?
Milch und Kaffee gab es immer zum Frühstück und zum Nachtessen. Milchkaffee gehörte dazu wie das Amen zum Vaterunser. Ohne ging es nicht. Fertig. Gab es einen Anlass für eine Verspätung, so warteten wir.
K-a-f-f-e-e,
trink nicht so viel Kaffee!
Nicht für Kinder ist der Türkentrank,
schwächt die Nerven, macht dich blass und krank.
Sei doch kein Muselmann,
der ihn nicht lassen kann!
Die Kinder im Dorf oben am Berg lernten dieses Lied in der Schule bei dem Lehrer, der Vegetarier war. Bei uns im mittleren Dorf war es verpönt, ja verboten, und doch sangen wir es immer wieder ganz laut, um die Erwachsenen, den Lehrer zu ärgern. - Ich mochte dieses Lied und ich mochte Kaffee, obwohl unser Lehrer auf sanfte Art versuchte, uns von der Wahrheit des oben stehenden Verses zu überzeugen und uns vom Kaffee wegzubringen.
Nun zum "Kaffee-machen", nein, nein zuerst musste die "Milch-gemacht" werden, d.h. die Stall-Milch musste aufgekocht werden, und das war schwierig. Das musste sein, denn kein Bauer wusste, ob sein Viehbestand tuberkulosefrei war, und alle fürchteten eine Übertragung der gefährlichen und ansteckenden Krankheit durch Rohmilch. Natürlich waren wir alle gegen TB geimpft. Konnten wir im Frühling erstmals kurze Ärmel tragen, verglichen wir voller Stolz unsere kleinen Narben.
Die aufzuwärmende Milch in der Pfanne im vorderen Herdloch musste sorgfältig überwacht werden, denn, war sie richtig erhitzt, so stieg sie schnell hoch, überflutete den Kochherd und brannte sich fest. Rauch und ein starker, übler Geruch breiteten sich aus. Und dann, die Putzerei und Reiberei bis alles weg war! Solche Unglücke mussten verhütet werden. Wir Kinder wurden als Wächter neben die Pfanne gestellt. Das tönt so simpel nach Nichtstun, doch es war eine mühsame, anstrengende, verhasste Aufgabe. Die Milch lag ruhig in der Pfanne, bildete eine Haut und ein paar Bläschen am Rand. Draussen spielten die andern Kinder. Eine Nachbarin kam vorbei und unterhielt sich mit Mama. "Pass auf," nebenbei eine Ermahnung der Mutter. Die Milch lauerte auf einen günstigen Moment! Es war, als könnte sie uns gezielt schikanieren. 
"Wache schieben," neckte uns Papa. Er wusste, was das hiess und kaufte deshalb einen, nein drei Milchwächter (Bilder siehe Google). Diese wurden vor dem Eingiessen der Milch auf den Pfannenboden gelegt und kurz vor dem Aufsteigen - wenn es in der Küche ruhig war - rief sein Klopfen die Köchin tatsächlich zum Herd. Es hiess, alles fallen lassen und schnell die Pfanne vom Feuer nehmen. Der Porzellanklopfer fiel nach dem ersten geglückten Einsatz auf den Boden - und kaputt war er. Der Glasklopfer erlitt nach ein paar Wochen das gleiche Schicksal. So blieb das Exemplar aus Metall, es klopfte weniger laut, und seine kleine Kette war schwierig zu putzen. Dieser überlebte die Zeit, in der mir Milchhüten zugeschoben wurde.
Geh heim, mach Kaffee! Niemand interessierte sich für die vielen Tücken, die sich da versteckten. Ich schaffte es, auch wenn ich noch fast etwas zu klein war dafür. Nota Bene, Kaffeemachen umfasste vieles: Feuer machen, Milch erhitzen, Kaffee zubereiten, den Tisch decken und das Schweinefutter aufwärmen. Ich verlangte viel Zeit für diese Aufgabe, denn ich kochte die nötige Milch in zwei Hälften auf. So konnte ich die Pfanne leichter handhaben, die Milch erhitzte sich schneller und hatte mehr Raum zum Aufsteigen. Es war zwar nicht gerne gesehen, aber für den Notfall stellte ich eine Tasse kaltes Wasser bereit. Es gab nur selten verpönte "Wassermilch" und die müden Feldarbeiter merkten es nicht. Sie glaubten, es zu ahnen, wenn die Büchse mit der Ovomaltine als Zusatz auf dem Tisch stand. Nein, nein, oft stellte ich die Ovomaltine bereit, um uns allen nach einem strengen Tag ein Freude zu machen. 
K-a-f-f-e-e nun kommt der Kaffee. Aus Respekt vor technischen Problem suchte sie nach einem neuen Untertitel.
Ja, wo bleibt der Kaffee?
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Ja, wo bleibt der Kaffee?
Zunächst kaufte die Mutter den Kaffee hinten im Dorf in einem Haus, das mit einem sehr langen Wort angeschrieben war. Es gab viele Geschäfte, die diesen Namen trugen. Jahre später schaffte ich es. "Kolonialwarenhandlung", hiess es. Dort wurden Kunden selten und nur auf Verlangen bedient. Sicher war ich dabei, doch klein wie ich noch war, staunte ich einfach und streckte meine Nase sorgfältig in allerhand halb volle Säcke.
Als ich in die Schule kam, eröffnete der VOLG (Verband ost-schweizerischer landwirtschaftlicher Genossenschaften), wie in vielen "kleinen" Dörfern auch bei uns einen Laden. Das Wort VOLG und seine Bedeutung lernte ich mit Spass und Ungeduld, denn Papa hatte mir dafür verbotenerweise ein ganzes Päckli SUGUS versprochen und ich plante, diese heimlich zu geniessen. SUGUS verschenkte die Verkäuferin im VOLG an Kunden für grosse Besorgungen. Dazu gehörten wir, wenn wir Kaffee einkauften, aber Mama sagte immer nein danke. Unsere Gesichter wurden lang, wir kannten die Geschichte mit den Löchern in der Zähnen. Ein leichtes Zucken am Halse der Verkäuferin verriet uns ihr Verständnis. Ich brachte ihr wenig später einen Blumenstrauss und verhandelte mit ihr über die SUGUS. Sie bedauerte, sie respektierte Mamas Verbot. Ich hatte dies befürchtet, doch nun wusste ich es. Sie war erstaunt, dass ich ihr die Blumen trotzdem gab. Was hätte ich sonst damit machen sollen? (Einschübchen: Sugus waren einzeln verpackte, weiche, rechteckige aus Fruchtkonzentrat (Erdbeere, Orange, Zitrone, Ananas) hergestellte Zeltli (= Bonbon, Schleckwaren). Sie wurden in Päckli zu fünf verkauft. Das Wort Sugus kann wie Otto in beiden Richtungen gelesen werden. Ende.)
Zurück zum Kaffee - wir liessen zwei Päckli Kaffeebohnen mittlerer Qualität mittelfein mahlen, dazu kamen zwei Aroma, je etwa so gross wie ein Päckli Kaffee und ein Extrakt, viel kleiner, dafür glänzig verpackt. Wir kauften auch kleine Maggi-Würfeli, Streuwürze, Villiger-Stumpen für Papa, und manchmal eine Flasche ORTA oder eine Schokolade mit Nüssen für uns und im Sommer manchmal eine Rolle Zellophanpapier (= durchsichtiges Papier), um die Konfitürengläser (=Marmalade) zu verschliessen. Das war's dann. Liebe Lesende, ich war damals stolz, dass ich die gleichen Wörter wie die Stadtleute benutzen konnte. Alle Zugaben für den Kaffee mischte Grössi auf zwei dicken Zeitungen auf dem Stubentisch sorgfältig und füllte sie in die drei Kaffeebüchsen. Wir durften nicht mitmischen und probieren wollten wir nicht, das Zeug schmeckte scheusslich, so schauten wir einfach zu und plauderten.
Während ich mich vorn mit der Milch beschäftigte, wurde im hinteren, dem linken Herdloch das Kaffeewasser langsam warm. Ich hatte es abgemessen: Den braunen Krug bis zwei Finger breit voll. Stand der Milchkrug voll und glücklich im Ofenrohr in der Stube an der Wärme, schob ich in der Küche Holz nach und holte die vorderste Kaffeebüchse. Nun hatte ich Pause. Ich nahm den Deckel von der Pfanne und schaute zu, wie das Kaffeewasser mehr und mehr dampfte. Bald begann ich das Kaffeepulver hineinzustreuen - drei gehäufte Löffel -, und sah zu, wie sich das Pulver auf dem Wasser verteilte. Aufgepasst! Wenn der Kaffee hochzusteigen begann, schnell weg von der Herdstelle, die Pfanne schnell auf die Aschentruhe stellen, denn guter Kaffee sollte nicht kochen. Nun die Pfanne mit dem Pfannendeckel verschlossen ruhen lassen, damit das Kaffeepulver auf den Pfannenboden sank. Ich nutzte die Zeit, um wieder Holz nachzulegen fürs Erwärmen des Schweinefutters und, war es nicht gerade Sommer, so schätzten alle warmes Wasser zum Waschen der Hände. Erst jetzt goss ich den Kaffee langsam durchs Sieb in den Krug. Gegen Ende unterbrach ich, um das Sieb zu leeren, denn es gehörte zu meinem Stolz, dass auch der letzte Rest Kaffee ohne Pulverrückstände getrunken werden konnte. Ich schaffte dies leicht. Der Tisch war gedeckt, die Pfannen geputzt, nun konnten sie kommen. Ich streichelte die Katze. Es ging uns gut.
Wie kommt das Schwein in die Pfanne?
Seite 203
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wie kommt das Schwein in die Pfanne?
Für Erntearbeiten durfte, konnte, musste ich in der Schule fehlen. Das trug mir unentschuldigte Absenzen ein. Ich verstand und verstand auch nicht. Für mich war das o.k., denn bei Regenwetter blieb ich lange in der Schule, solange wie uns der Lehrer gewähren liess. Mit unserem Lehrer konnte man sich richtig gut unterhalten. Warum nicht fehlen und mithelfen, wenn das Schwein in Braten und Rauchwürstchen verwandelt wurde? Lehrer und Eltern waren sich einig: "Nein, keine Diskussion. Kein Thema." Selbst der Kundenmetzger zögerte nicht mit seinem Nein. Alle assen Fleisch.
Beim Brot war das anders. Bereitwillig ging's mit dem Vater in die Mühle, und der Müller nahm mich nach hinten. Nicht viel zu sehen, Staub in den Augen und Staub in der Nase und Lärm in den Ohren. Die Körner oben durch einen Trichter eingefüllt, nach unten gefallen, zwischen den Mahlsteinen zerrieben und fertig war das Mehl. In grosse Säcke abgefüllt, auf einen Wagen mit Verdeck geladen, dieser von den Müllirossen - grosse, runde, schwere Pferde, mit kurzen Stummelschwänzchen - gezogen, verteilte der Müller das frische Mehl entsprechend der abgegebenen Körnermenge an die Bauernfamilien. Kein Mangel, es konnte Brot gebacken werden, die Menge.
Wie ging das nun mit dem Fleisch? Warum das eigenartige Gewürge bei diesem Thema? Ich war ein Fleischtiger, und die andern schätzten Fleisch auch? Ich erhaschte Einblicke in alle Arbeitsschritte und zählte diese dem Kundenmetzger auf: "Betäuben, stecken, ausbluten, in heissem Wasser abbrühen, enthaaren, an den Hinterbeinen aufhängen, spalten, aushöhlen (d.h. Darmpaket, Lunge, Herz, Leber raus), Blutwürste machen, das Fleisch zerlegt, zerkleinert, verarbeitet, essen." "Auswendig wie ein Gedicht," bemerkte der Störmetzger und verlangte einen weiteren Kaffee fertig (= Schwarzer Kaffee mit Schnapps). Dann noch das Thema "Menschenfresser"! Vom Grossvater wusste ich, dass die Indianer keine Menschenfresser waren. Warum gab es dieses Wort, wenn man nicht darüber sprechen durfte?
2016: Dies zu schreiben, hatte sie lange gezögert, denn sie verstand zwischenzeitlich die Erwachsenen von damals. Mann und Frau assen 2016 nur noch ausgewählte teure Stücke. "Komm, komm, nicht so scheinheilig, du hast doch damals gerne das weiche, warme Fleisch angefasst," sie hatte sich mehrere Stösse geben müssen, dann schrieb sie über das Schlachten der Schweine und das Mahlen der Körner. Dies gehörte alles auch zu ihrer Kinderwelt.
 
Habt ihr auch Blutwürste gemacht?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Habt ihr auch Blutwürste gemacht?
Selbstverständlich. Im Monat Dezember, am Vorabend des Termins für die Hausmetzgete, begann Ostern. Grössi und ich schälten viele Zwiebeln und sammelten die grossen Schalenstücke in einem Papiersack für den Osterhasen. Grössi halbierte dann die grossen Zwiebeln, und es begann eine Übungsstunde in "Zwiebel-fein-schneiden". Wir sassen nebeneinander auf der Eckbank in der Stube und sie schob mir ein Rüstbrett, eine halbe Zwiebel und ein frisch gewetztes Rüstmesser zu. Ich wusste, wie Grössi es wünschte. Ihr linkes Auge beobachtete mich. Einschneiden in Richtung Wurzelansatz, (Einschübchen: 5. Juli 2017: Noch war sie stolz, wie sie in Grössis Technik flink und fein und gleichmässig Zwiebeln schneiden konnte! Sie hatten zur Hochzeit einen Zwiebelhacker geschenkt bekommen, aber der zerhackt die Zwiebel nie einheitlich ins gewünschte Format. Der Mixer erst, der zerkleinderte die schönen Knollen zu einem Brei). "Einschneiden in Richtung Wurzelansatz, drehen ... gut wie du das machst. Danke, dass du mir hilfst," freute sich Grössi, "so können wir das letzte Feuer noch nutzen, um sie anzubraten." Grössi versprach mir eine Belohnung. Im Weitern überspringen wir unser Gespräch, denn das Zwiebelnandünsten war ja nur eine Vorbereitung für die Blutwürste am kommenden Morgen.
Der Störmetzger war da und ich in der Stube weggesperrt. Er machte vieles, was ich nicht sehen sollte, was mich nichts anging: "Ich sei noch zu klein, aber ich wusste doch." Nach einer Weile kam Grössi mit einem Kessel, um ihn auf der Ofenbank warmzustellen. Grössi hatte sich getäuscht, ich hatte es nicht vergessen. Ich durfte das Blut von unserem Schwein anschauen und ein wenig mit der Kelle darin rühren. Es war noch warm, es roch nach Blut. Wenig später brachte Grössi vorgewärmte Milch, unsere Zwiebeln und Blutwurstgewürz. Der Metzger kam und mischte alles in der Stube, und in der Küche im Schüttstein füllte er die wohlriechende Flüssigkeit in Därme. Dann lagen unsere Blutwürste eine Weile im heissen Wasser und schon waren sie fertig. Wir probierten: "Gut!" Wir assen gleich davon zum Mittagessen zu Sauerkraut und Kartoffeln. Obwohl es draussen kalt war, verschenkten wir sie grosszügig, und wir bekamen später auch wieder grosszügig zurück.
Einschub, 5. Juli 2017 : Wie sich die Zeiten ändern! Eine Überschrift in der Tageszeitung lautete: "Blut, Schweiss, Brot: Die Kunst von Frau Meyer". Es hiess, die Künstlerin lote mit ihrer Kunst Grenzen aus und provoziere. Nach ihrer Ausbildung als Pflegefachfrau habe sie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel studiert. Sie sei Trägerin des Manor-Kunstpreises 2016. Die von Frau Alexandra Meyer auf einer Aluminiumplatte präsentierte Blutwurst aus dem Jahr 2011 sorge immer noch für Furore. Wie sich die Zeiten ändern!
Wo und was lernte man? Warum gingen wir in die Schule?
Seite 205
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wo und was lernte man? Warum gingen wir in die Schule?
Wo lernt man? "In der Schule, in der Schule und nochmals in der Schule", Mama, Papa und der Dorfklatsch waren sich einig. Grössi wiegte den Kopf, nach links, noch rechts, nach links, sie wusste es nicht so recht: "Ich, in der Schule gefiel es mir gar nicht. Ich habe vieles im Unterricht (= kirchliche Unterweisung) gelernt, nachher in der Singschule, und später bei Berta Bachofner, Chueris erster Frau." Nach meiner Meinung fragte niemand. Ich lernte beim Dabeisein, beim Zuschauen und Selbermachen. Fertig. Sicher wollte ich später einmal wie Grössi in den Unterricht gehen. Die Singschule, das "Sonntag-Nachmittag-Singen" für Burschen und Mädchen im Alter zwischen der Konfirmation und dem Erwachsensein", die sei schon vor den Kriegen (= vor den beiden Weltkriegen) abgeschafft worden. Schade, da habe sie richtig schön singen gelernt. Sicher war: "Ich gehe in die Sekundarschule, wie Mama und Papa," auch wenn Grössi das mit: "Nutzlos, dummes Zeug!" abtat.
Was lernte man in der Schule? Die zweite Frage wieder an alle und die Antwort wieder von allen gleich:" Lesen, schreiben, rechnen." Und  Grössi? Sie überlegte:" Ich habe singen und schreiben und Geographie gelernt. Für das Rechnen, da brauchte ich nicht in die Schule zu gehen, das konnte ich einfach. So war's damals." "Grössi kann sehr gut rechnen," bestätigte Mama, "Sie kennt die Sorten, sie kann sogar schnell schriftlich rechnen. Wo sie das gelernt hat, das hat sie mir nicht verraten. Sicher in den Wirtshäusern, in denen sie gedient hat." Wir, ich, ich lernte jede Menge interessante Sachen in der Schule, nicht in der richtigen Schule, nein, an Regentagen, nach den Schulstunden, wenn keine Feldarbeit wartete und wir beim Lehrer bleiben durften.
Warum gingen wir eigentlich in die Schule? "Weg mit deinen ewigen Fragen! Man geht einfach in die Schule," die Antwort, wieder von allen gleich, auch von Grössi. Der Grossvater hatte mir noch gesagt: "Nächstes Jahr darfst du in die Schule." Er fand das gut. Von ihm wusste ich: "Ganz früher gab es bei uns nicht für alle Kinder eine Schule." Und weiter: "Jetzt gibt es bei uns überall Schulen." In der Sonntagsschule hatte ich gehört: "In Afrika gibt es zu wenig gute Schulen."
2017: Philosophische Fragen: Gehen wir in die Schule, um im Konkurrenzkampf zu bestehen? Meine Leser und Leserinnen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit, wo haben Sie die wichtigen Dinge für Ihr Leben gelernt?  
Wo, was und wie lernt man? Fragen an den Lehrer
Seite 206
Seite 206 wird geladen
7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wo, was und wie lernt man? Fragen an den Lehrer
Frage der kleinen Schülerin: "Wo kann man etwas lernen?" Der Lehrer: "Überall und immer! Man hat nie ausgelernt! Passt auf und lernt das Leben lang, dies ist mein Ratschlag." Pause - fertig. Ich verstand nur die "Wörter".
Die Frage von einem andern Tag: "Was soll man lernen?" Der Lehrer lachte (Einschübchen: Liebe Lesende, nun folgt eine Liste von Wörtern, die ich kaum verstand, "Wort-Gefässe" nannte sie der Lehrer, und ich sammelte diese Wort-Gefässe in meinem Kopf  wie vornehme Frauen schöne Kaffeetassen zum Aufstellen im Geschirrkasten oder wie feine Herren Briefmarken zum Einstecken in Alben und. Ende), er war gut aufgelegt, der Unterricht hatte noch nicht begonnen und alle sechs Klassen hörten zu. Er neckte und überforderte uns. Er zählte langsam auf: "Lebenskunst - Ausdauer - den Umgang mit Geld - Zeit einteilen - Umgangsformen - , " wir sassen still in unsern Bänken. "Wollt ihr noch mehr?" er lachte und weiter ging es: " - Respekt - Toleranz - Ordnung halten - Vertrauen," wir staunten. "Auch ganz praktische Dinge müsst ihr können: Einen Haushalt führen: kochen, putzen, waschen - Feldarbeit, die kennt ihr ja - Militärische Tüchtigkeit, denn es ist wichtig, dass ihr gute Soldaten werdet, die wir hoffentlich nie brauchen," uns wurde es zu viel, wir lachten verlegen, doch weiter ging es:" Turnen, singen, zeichnen, einen Beruf und vieles mehr." Etwas fehlte noch. Was müssen wir später, nach dem Tod des Lehrers noch lernen? Natürlich, natürlich den Computer, denn der weisshaarige Mann glaubte daran. ...  (Einschübchen: über die grossen Autobahnen und gar über die grossen Bomben, über die wollte er nicht sprechen, denn Politik gehöre nicht ins Schulzimmer und nicht auf die Kanzel, aber manchmal sprachen wir doch darüber, Ende.) ... Mit einer Mischung aus Scharme und Hartnäckigkeit, mit Fabeln und Geschichten aus dem Bauernkalender versuchte der Lehrer solche Wort-Gefässe mit Sinn zu füllen. Das mochte ich. Doch es gab auch Wörter wie Neid, Geiz, Misstrauen, Leichtsinn, Betrug, Verletzungen, Mord, Unglück, Trauer. Diese vermittelte der Lehrer mit Hilfe von Bildern und in Gebärdensprache. Die Frage blieb: "Was soll man lernen?"
Tage später eine weitere Frage der Schülerin: "Wie lernte man?" Der Lehrer scherzte: "Neugier ist ein guter Schulmeister. Zuschauen, zuhören, nachmachen, nachfragen, dabei sein. Durch Zeitungen, Bücher oder Radio - sofern man hat -, Männer an der Gemeindeversammlung, Frauen in der Kirche, nein alle in der Kirche, am Familientisch. Und dann das "Schulwissen" (Lesen, schreiben, rechnen, ruhig sitzen, Jahreszahlen) hier in der Schule. Merkt euch, Übung macht den Meister!" Trude hatte alles von ihrem Vater, dem Scherenschleifer gelernt. Sie reisten von Ort zu Ort. Zigeuner und Juden, das waren Völker, mitten unter uns und doch nicht wie wir. Darüber hatte ich noch mit Mutter und Grossmutter und dem Lehrer ernsthaft zu sprechen. Dass es auch anders geht, als man es sich gewohnt war, das hatte uns doch Trude, das Zigeunermädchen gezeigt. Die Universität erwähnte der Lehrer nicht. Von meinen Verwandten aus Zürich kannte ich zudem das Wort E.T.H.. Wieviel sollte man lernen? Gab es nicht viel zu viele Bücher?
Lernt man nicht mit sich ganz allein?
Seite 207
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Lernt man nicht mit sich ganz allein?
Man lernte doch mit sich allein, einfach so, mit sich ganz allein. Man sah die andern nur von aussen. Jedes Kind hatte eine andere Familie, und jedes Kind und seine Familie sah ich nur von aussen. Ich kannte sie kaum. War ich ehrlich, so musste ich mir eingestehen, ich fand keinen guten Weg, um diese andern Familien kennen zu lernen, ich konnte sie nur ansehen. Ich konnte nicht einmal in ein anderes Kind hineinsehen. Niemand wollte sich mit diesen Fragen beschäftigen. Unwichtig! Nein, nein, nicht fertig. Ich verglich Trude mit mir selber. Trude, das fremde Mädchen sang mit heller Stimme und tanzte mit leichtem Fuss. Mein Vater sang aus voller Kehle und tanzte mit Schwung. 
Mit Lesen und Schreiben, Velofahren und Stricken tat ich mich schwer. Ja, schliesslich konnte ich es. Doch zu begreifen und ehrlich zu wissen, dass mir lernen schwer fiel, das fiel mir sehr, sehr schwer. Hätten doch die Erwachsenen einfach gesagt "ja, dem ist so", statt meine bittere Erkenntnis in Zweifel zu ziehen. Statt etwas zu plappern wie, das komme schon noch. Oft waren der Lehrer und die Eltern müde. "Ich lerne langsam und schwer," dieser mein Satz bewies sich täglich neu im Schulzimmer, aber ... ich ... lernte  doch. Beharrlich und langsam lernte ich das Schulwissen. Schaute ich zurück, so konnte ich immer recht viel mehr als das Jahr zuvor. Ich blieb nicht hinter den andern zurück. Ich wusste, ich hatte angeblich das, was man ein grosses "Allgemeinwissen" nannte. Das stimmte mich zuversichtlich. Ich dachte an Alfi und an die Kinder im Krieg.
Ich war das fünfte Rad. So nannte man jemanden, der ausser beim Sammeln von Fastnachtsholz immer überzählig war. "Ich sei eben das fünfte Rad am Wagen, lernte ich. Es gebe so MenschenK alles tönte recht verächtlich." Wie war das mit den Rädern? Karretten hatten ein Rad, Handkarren, Velos und Motorräder zwei, Anhänger manchmal drei, Stosswagen, Pferdefuhrwerke und Autos vier. Mein Onkel, der Automechaniker, war anderer Meinung: "Autos müssen fünf Räder haben," und er zeigte mir das schöne Reserverad hinten im Kofferraum. Also war ich - ganz modern - ein Reserverad. Nein, nein, ich war das Steuerrad? Überhaupt: Maschinen hatten in ihrem Innern viele Schrauben und Räder.
Ich lernte für mich allein.
Wie ging es mit den Juden und den Zigeunern?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wie ging es mit den Juden und den Zigeunern?
Was wusstest du? Von den Juden: Vom Vater: "Viehhändler mit viel Geld, vor denen muss man sich hüten." Von der Mutter: "Sie sind über die ganze Welt verstreut. Ein netter Jude wollte mich als junges Mädchen nach Amerika mitnehmen." Von den Eltern gemeinsam: "Die Juden wurden während dem Krieg grausam verfolgt und teilweise ausgerottet. Sie haben eine andere Sprache, eine andere Religion, andere Essgewohnheiten, andere Feste, sie haben kein Land mehr."
Von den Zigeuern: Grössi bewunderte deren Freiheit, sie sind fröhlich, ungebunden und ziehen von Ort zu Ort. Grosse, dunkle Augen und lange, schwarze Haare, die Frauen. Scherenschleifer die Männer, manchmal sollen sie auch lange Finger haben. In Südfrankreich am Meer feiern sie manchmal grosse Feste. Aus Erfahrung: Trude, das Mädchen ohne Schiefertafel, im Wohnwagen. Einmal fuhr ein Korbwagen durchs Dorf. "Zigeuner, Zigeuner," ein Geschrei. "Doch wohl eher Landstreicher," meinte mein Vater. In der NZZ gab es keine Nachrichten zu den Juden und Zigeunern, die der Lehrer erwähnenswert fand. Ich selbst hatte mit lesen und schreiben, in Haus und Garten ohnehin viel zu tun, kein Platz für Zigeuner und Juden, vielleicht später.
Die Eltern interessierten sich weder für Juden noch für Zigeuner. Sie wollten einen tollen Bauernhof aufbauen. Meine Lesenden, was wissen Sie über Juden, Zigeuner und die Kurden?
Wie war mit den Büchern umzugehen?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wie war mit den Büchern umzugehen?
Die Schulgemeinde anvertraute jedem Kind mindestens zwei Bücher, im Winterhalbjahr sogar drei. In der ersten Woche nach den Frühlingsferien, zu Beginn des neuen Schuljahres teilte der Lehrer uns die "neuen" Bücher zu. Und er gab uns ein wenig Zeit, um sie anzuschauen, hauptsächlich um zu kontrollieren, ob alle schadhaften Stellen und Flecken markiert und visiert waren. Bitte Sorge tragen, stand vorn, Schulbücher waren sechs Jahre zu gebrauchen. Auf die Innenseite des hinteren Deckels eines ungebrauchten, ladenneuen Buches war zunächst ein Verzeichnis einzukleben. In diese Liste durften wir unseren Namen und das Empfangsdatum schreiben. Wir konnten lesen, wer das Buch vor uns benutzt hatte. Begehrt waren Bücher von guten Schülern. Glücklicherweise bekam ich meist ein älteres Buch, denn selbst versteckte Tränen machen das Papier wellig.
Aufgabe der Eltern war es, die Bücher sofort, später während den Ferien und bei Bedarf mit Packpapier einzubinden. Am nächsten Tag schrieben wir die Bücher unter Anleitung des Lehrers an. Auf der Vorderseite, nach vier Umdrehungen des Lineals von oben, zogen wir die erste Linie, leicht und fein, nach zwei weiteren Drehungen die zweite. Oben schrieben wir die Bezeichnung des Buches, darunter den Namen des Halters. Die älteren Schüler waren in dem Prozedere geübt, und sie halfen den kleinen. Ein disziplinarisch schwieriges Unterfangen. Wir durften uns Zeit lassen, denn der Lehrer las uns dazu vor, solange alles leise und geordnet ablief. Wurden wir laut, unterbrach er und las erst weiter, wenn es wieder ruhig wurde. Wer fertig war, schob die Bücher nach oben und verschränkte die Arme. Die Sechstklässler machten die Schlusskontolle und setzten sich auch. Der Lehrer las den angefangenen Abschnitt fertig und schickte die zappligen Beine auf den Pausenplatz. Er machte einen Rundgang durchs Zimmer und las die NZZ.
Erstes Gebot: Du sollst dem Buch Sorge tragen.
Zweites Gebot: Du sollst nicht ins Buch schreiben.
Drittes Gebot: Der Lehrer hat immer recht.
Viertes Gebot: Alle wissen dasselbe.
 
 
 
 
Wie ging das mit den Aufsätzen?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

Wie ging das mit den Aufsätzen?
Als Unterstufenkind beobachtete ich bewundernd, wie die Grossen, die Viert- bis Sechstklässer nach Weihnachten in schöne Aufsatzhefte schreiben durften. Wie gerne hätte ich eines in die Hände genommen. Leider gab es bei uns zuhause nichts dergleichen, weder von den Eltern noch von den Grosseltern, und ältere Geschwister hatte ich keine.
Einen grossen Sprung hatte ich beim Wechsel von der Unter- zur Mittelstufe gemacht. Für den Lehrer und mich erstaunlich und schwer zu glauben, wie gut ich in der vierten Klasse kleine Aufsätze schreiben konnte. Es gab da zwei Sorten von Aufsätzen, die "braven",
kurzen, langweiligen, fast fehlerfreien Texte, gut so, - daneben die Arbeiten der "Künstler", oft lange, genaue und phantasievolle Erzählungen, voller Fehler und nur schwer zu verstehen. Den Lehrer erfreuten die Künstler und er nahm sich viel Zeit, deren Arbeiten noch besser, zu machen. Oft verschob er Wörter, Sätze oder ganze Abschnitte. "Kurze Sätze! Höchst selten lange Sätze. Macht es dem Leser einfach! Benützt das Ausrufezeichen! Könnt ihr das Fragezeichen brauchen? Wer war dabei? Wie? Wo?" so lauteten die kurzen Anregungen vor dem Schreiben. "Gut gemacht! Spannend! Weiter so!", solche Ermutigungen gaben mir Schwung - gelegentlich schrieb er das ganze Werk in korrigierter Form auf ein frisches Blatt.
Dann waren die kurzen, fast fehlerfreien und die vom Lehrer überarbeiteten"Werke" ins Entwurfsheft abzuschreiben. Ein Glück, Verbesserungen hatten wir nicht zu machen. So oder anders, Ende November hatte jedes Kind zehn bis zwölf Aufsätze in sauberer Entwurfsform. 
Zu jedem Aufsatz gehörten auch eine bis drei kleine Zeichnungen. Im Dezember begann der "Schön-Schreibe-Drill", jeden Morgen eine halbe Stunde. Überzeugte unsere Schrift den Lehrer, gab er uns ein braunes Aufsatzheft aus teurem Papier, und man durfte mit der Reinschrift beginnen. Dabei gehörte ich zu den ersten. Mein Ziel war ein schönes Aufsatzheft für meine Kinder und Enkel, deshalb zeichnete ich daheim zusätzliche kleine Bildchen. Im Februar kam jeweils der Schulpräsident vorbei, und regelmässig musste/durfte ich ihm meine Aufsatzhefte zeigen. Scheu, doch voller Stolz und etwas misstrauisch, streckte ich dem Herrn Präsidenten mein Heft hin. Er war zufrieden. Ich hob die Hefte sorgfältig auf.
An welchen Höhepunkt des Unterrichtes erinnerst du dich?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

An welchen Höhepunkt des Unterrichtes erinnerst du dich?
2017, 15. September, Einschub Wo gehörte diese Frage hin? Nach langem Hin und Her verschob sie diese in die Unterstufe, denn nur in jenem Alter verstand sie es, solche Fragen wohlwollend und naïv zu stellen. Ende.
Höhepunkte? Der Höhepunkt: "Berufe und die Höhe der Einkommen" war Thema der Grossen. Die Kinder zählten Berufe auf, und der Lehrer notierte diese gruppiert auf, die Wandtafel: Bauer, Lehrer, Abwartsfrau der Schule, Chauffeur oder Verkäuferin beim Migros-Wagen, Tagelöhner, Knecht, Fuhrmann, Serviertochter, Metzger, Bäcker, Polizist, Maurerpolier, Bähnler, Lokomotivführer, Lehrer, Krankenschwester, "Doktor", Pfarrer, Messmer und Orgelspieler in der Kirche. Mit gespitzten Ohren hörte ich zu. Mein Vater war gelernter "Bauschlosser" und jetzt "Bauer mit Meisterdiplom", er bildete einen Lehrling aus. Ich hielt die Hand vor den Mund, wie uns geraten, wenn Schweigen schwer fiel. Hausaufgabe für die Grossen: Familiengespräch zum Thema "Überlegen wer verdient wieviel und warum". Ich gehörte zu den Kleinen, und doch sprachen wir den ganzen Abend über Ausbildungen: Jetzt in der Zeit nach dem Krieg war eine Lehre zum "Muss" geworden.
Am nächsten Tag ging es weiter. Der Lehrer unterrichtete uns Kleinen in irgend etwas, während die Grossen die Berufe mit Tinte und Spitzfeder sorgfältig ins Schreibheft kopierten. Später die Frage an die Grossen: Was fällt euch bei meiner Liste an der Tafel auf. Er hatte die Tätigkeiten bereits eingeteilt. Ungelernte, Gelernte, Zusatzausbildung, Studium. Der Vater hatte am Abend gesagt, der Pfarrer und der "Doktor" würden am meisten verdienen. Eine kleine Hand sauste vom Mund weg in die Höhe. Das linke Auge des Lehrers zwinkerte der Hand zu und das Kind fragte manierlich: "Bitte, wie viel verdient ein Lehrer?" Wohlwollendes Schweigen: "Du willst wissen, wie viel ich verdiene." Das Kind nickte mit strahlenden Augen: "Bitte." Lange und umständlich erklärte der Lehrer den Schülern, dass es sich nicht gehöre, nach dem Lohn zu fragen und wenn dies doch jemand täte, so riet er uns wahrheitsgetreu zu sagen: Mein Lohn reicht knapp, die Frau verdient noch etwas dazu, oder mein Lohn reicht, die Frau arbeitet nicht auswärts. Mehr nicht. Etwas später: Das Kind hatte alle Rechnungen fertig gelöst und schaute den Lehrer an. Es nickte immer wieder.
"Mein Lohn? Ein junger Lehrer verdient weniger als ein Lehrer mit Berufserfahrung. Ich verdiene gut, ich bin schon über vierzig Jahre an dieser Schule, und neu bekommen Lehrer an einer Gesamtschule eine Zulage. Ich verdiene" - er machte es spannend und zögerte - "ich verdiene 1'370 Franken." Er lachte: "Los, einpacken und heim. Keine Hausaufgaben, der Dorfklatsch wartet auf euch."
 
An welche Aufsatzthemen erinnerst Du dich noch?
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7.1.  Primarschulzeit – Primarschule Unterstufe.

An welche Aufsatzthemen erinnerst Du dich noch?
Die Aufsatzthemen hatten zu unseren Schulstunden, dem Schulstoff zu passen. "Nützt die Gelegenheit und zeigt, was ihr wisst, was ihr gelernt habt!" hiess es. Den genauen Titel schrieb der Lehrer ein paar Tage im voraus an die Wandtafel. Warum? Natürlich. Er gab uns Zeit zum Nachsinnen. Er wollte gute Aufsätze. "Der ist zu faul zum Korrigieren," munkelte der Dorfklatsch.
Wie dem auch sei, ich ging sofort in die Startlöcher ... . Ein neues Aufsatzthema, ein neues Familientischthema. War das so gemeint? Vielleicht, oder wahrscheinlich eher nicht. Auf dem Feld plauderten wir weiter. "Soviele schwierige Wörter!" die Mutter buchstabierte mir diese so nebenbei vor, und am Abend schrieben wir sie auf die Rückseite eines gebrauchten Briefumschlages. Diese waren kräftig und leicht aufzubewahren, damit mir Zeit blieb, die Wörter auswendig zu lernen. Die Mutter fühlte sich  in der Rechtschreibung sicher. Wir lachten oft beide: Gut gekaut, ist halb verdaut. "Das Aufsätzeschreiben scheint dir zu liegen," lobte mich der Lehrer, er war immer wieder überrascht. Ich sagte nichts. Papa und Mama meinten auch, es wäre besser, nichts zu sagen."Keine Fehler machen, alle, viele Wörter richtig zu schreiben", das war mein Aufsatzthema, mein Hauptthema.
Nun Beispiele von inhaltlichen Themen: Unsere Zugvögel, die Tiere im Winter, das Rote Kreuz, der Gotthard, der Bauer einst und jetzt, als die Grossmutter oder der Grossvater ein Kind war, die Heuernte, die Getreideernte, der erste Schnee, ich war krank, auf dem Pausenplatz, die Kinder in der Stadt. Wir dreschen, zu diesem Thema schrieb ich mehr als ein Heft, denn ich wollte all die vielen Arbeitsschritte erwähnen.
2016: Noch hoffte sie, gelegentlich eines ihrer Aufsatzhefte zu finden.
Verzeichnis der Fragen und Texte
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Verzeichnis der Fragen und Texte
Deine Primarschulklasse, kannst du sie beschreiben?
Wie hast du denken gelernt?
Was waren deine Ziele als Mittelstufenschülerin?
Was hiess es, eine Mittelstufenschülerin zu sein?
Was hiess es für die Eltern, eine Mittelstufenschülerin zu haben?
Wie klappte das mit den Hausaufgaben, die neu mit Tinte zu schreiben waren?
Ein Liederheft mit Tinte zu schreiben, war das nötig?
Wie war das mit dem Zweiten Weltkrieg? Teil 1
Wie war das mit dem Zweiten Weltkrieg? Teil 2
Was interessierte dich als Mittelstufenschülerin? (1) Henri Dufour
Was interessierte dich als Mittelstufenschülerin? (2) Louis Favre
Was interessierte dich als Mittelstufenschülerin? (3) Georg Fischer
Was ist auf unseren Banknoten zu sehen?
Wie ging das mit dem Geld bei euch daheim zu?
Wie war das mit dem Zweiten Weltkrieg? Louis Zamperini Teil  3
Grössi, was war der Generalstreik?
Was war deine ernüchternste Erinnerung an die Zeit in der Unterstufe?
Das Goldene Buch und der Alkohol und die Schule
Eine Mittelstufenschülerin und Alkohol?
Grössi, wie war der Erste Weltkrieg?
Ein Farbkasten?
Der Hausschwamm und die unheimlichen Sorgen?
Und wie war das mit der Bombe?
War der Krieg eigentlich fertig? Was ist ein Waffenstillstand?
Wie war es in den Ländern um uns herum?
Was habt ihr im Geschichtsunterricht gelernt?
Ein Aufstand in Ungarn, was ist das?
Flüchtlinge aus Ungarn?
Was lernten wir in der Schule zu den Flüchtlingen?
Die Flüchtlinge, die Rübenernte, die Schule - wie war das?
Halbkrank im Bett, was hast du geträumt?
Was habt ihr über Krankheiten gelernt? Wie kommen und gehen sie?
Die Traumreise zum Geburtstagskuchen
Beginn der Traumreise zum Geburtstagskuchen (1 )
Weiter mit der Traumreise zum Geburtstagskuchen (2 )
Kein Milchkaffee vor lauter Geburtstagskuchen (3)
Das Ende des Geburtstagskuchens ( 4)
Drei Dickköpfe und ein Pfännchen für das Bébé, was ist das?
Was ist das, ein Pfännchen voller "Popp Popp"?
Woher kommen die Samen? Wie wird gesät?
Was geschieht mit all den vielen Pflanzensamen?
Wie viele Weizenkörner braucht es für 500g Brot? Wie viele Brote habt ihr gemacht?
Wie habt ihr die vielen Teigbrote gebacken?
Einschub 1. August 2016: 1819 Schneesommer und Heisshunger
Die Ährenleserinnen, wo sind sie geblieben?
Wann mähst du das Getreide im Asp? Der Bindemäher
Wie ging das mit den Gärbchen? Das Bild von 1955
Wie war das mit den Pilzen nach dem Brand am Calanda?
Geschichte: Orgetorix und Co?
Die Frauen von Orgetorix und Co.? Waren sie Heiden?
Geographie, was war das?
Geschichte? Wir sollen all das später lernen?
Was war das für ein Geräusch im alten eingebauten Wohnzimmerschrank?
Wie hielten es die grossen Mädchen mit dem Essen?
Kochen als Mittelstufenschülerin?
An welche Schulkameraden erinnerst du dich?
Mittelstufe: Ein Singheft und zuviel Nähschule!
Ja und Rechnen?
Hast du noch ein Klassenfoto? Kannst du deine Mitschüler charakterisieren?
Wie war euer Lehrer bzw. eure Lehrerin?
Wie wurdet ihr unterrichtet?
Erinnerst du dich an Bestrafungsmethoden in der Schule?
Welche Fächer wurden unterrichtet? Welches war dein Lieblingsfach?
Hat dich die Schule zum Lesen angeregt? Welches waren deine Lieblingsbücher?
Welches sind deine Erinnerungen an Schulferien, Ferienlager, Schulreisen?
Wie waren die zehn Wochen Ferien verteilt?
Besitzt du noch Unterrichtsmedien, wie Lesebücher, Schreibhefte usw. aus dieser Zeit?
Wie waren deine Schulleistungen? Half dir jemand bei den Hausaufgaben?
Wie reagierten deine Eltern auf Zeugnisse?
Was tates du nach der Schule?
Welche Freunde hattest du aus der Schulklasse oder aus dem Schulhaus?
Warst du schon an einem Klassentreffen? Wie hat das auf dich gewirkt?
Wie war das mit der Vorbereitung auf die Sekundarschulprüfung?
Deine Primarschulklasse, kannst du sie beschreiben?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Deine Primarschulklasse, kannst du sie beschreiben?

Als Hausaufgabe der Begleitgruppe von MML sollten wir für den letzten Freitag im August 2017 eine der Jahrgangsklassen zwischen der vierten und sechsten Mittelstufe unserer Primarschule auswählen, die Namen auflisten und die Kinder beschreiben. Ich hatte nichts auszuwählen. Von der ersten bis zur sechsten Klasse waren wir die selben vier Buben und die selben drei Mädchen: Zine, der rotblonde Bube mit den grossen Kaninchen vom Dorf unten im Tal und drei Knaben aus unserem Dorf in der Mitte. Der musikalische Tino mit dem kräftigen schwarzen Haarschopf, Erich aus dem letzten Haus und Godi, der Sohn unserer Tagelöhnerin, der mir immer half. Dann die zwei unzertrennlichen Mädchen aus dem Dorf unten im Tal und ich, die ich nur über die Strasse zu stolpern brauchte, um vor der Schulhaustüre zu stehen. Wir sollten die Reihenfolge der Namen erklären, das Ganze mit Erlebnissen anreichern und den Lehrer beschreiben.

Warum der Bub mit den grossen Kaninchen zuerst? Ich wusste, seine Brüder hatten zwei Böcke (= männliche Kaninchen). Er hatte gesagt: “Wenn du ein Weibchen hast, kannst du damit vorbeikommen, auch wenn das keine Kindersache ist. “Zuerst die Erlaubnis der Eltern, Kaninchen zu halten, und dann diese Zusage! Ich war auf gutem Weg. Mein Ziel, in die Sekundarschule zu gehen, und nun dieser Kaninchenwunsch? Ja, es sollte beides möglich sein. An einer Gant ( = öffentliche Versteigerung) hatten Papa und ich den Zuschlag für einen sechsteiligen Kaninchenstall ergattert. Endlich, denn er durfte nicht mehr als sechzig Franken kosten, und immer und immer wieder hatte ein anderer Mann mehr als wir geboten. Sechzig Franken war Papas Angebot. Ich wusste von der Direktvermarktung unserer schönen und frischen Kartoffeln in der Stadt, dass ich eine Spitzenverkäuferin war. Diesen Titel hatte ich mir selber gegeben. Hatte ich doch viele lustige Namen und hiess es liebevoll: “Dem Tüfeli, dem Hexli, dem Jüdli, dem Spitzbueb, dem Kind mit dem lachenden Gesicht muss man etwas abkaufen und wenn es nur ist, um sein munteres Geschwätz zu hören oder um gute Wünsche zu empfangen.“ Nun machte ich kehrt, umgeben von Männern wollte ich kaufen. Ich wollte den Zuschlag für einen Kaninchenstall. Viermal hatte es nicht geklappt, aber an jenem Tag wollte ich. Mein Kaninchenstall wartete nämlich im Nachbardorf, und es war ein Leichtes für uns, diesen mit dem Pferdefuhrwerk heimzuholen. Die andern Ställe, die waren ohnehin zu weit weg gewesen, so konnten wir sie ja gar nicht allen Ernstes wollen. Gleich zu Beginn hatte ich mich neben meinen Kaninchenstall gestellt und blieb dort. Alle Interessenten lachte ich an und fuhr mit der Hand sanft über die Türe des Stalles. Viele verstanden, ich wünschte mir diesen Stall. Meine Augen hatten dies sogar dem Gantmeister erklären können. Er hatte mir zugenickt. Ein Mann sagte mit trauriger Stimme zu mir: “So eine wie du hat uns gefehlt.“ Papa bot Sechzig. Mit hochgestreckten Armen rief auch ich sechzig. Der Mann mit der traurigen Stimme gab dem Gantmeister ein Zeichen, und ich hatte meinen Kaninchenstall. Ich spürte: Das war gut für alle. Papa erklärte mir später, dass der Mann mit der traurigen Stimme und seine Frau nur Eltern eines sehr missratenen Sohnes seien, und sie hätten sich wohl ein Kind wie dich gewünscht, und darum habe er mir seinen Kaninchenstall zugeschlagen. Auf ein paar Franken mehr oder weniger sei es ihm nicht angekommen.

Nächster Punkt: Die Familie des Schuhmachers hatte meine Kaninchenfrau noch nicht aufgegessen, und ich konnte sie nun für ein paar Franken kaufen. Wir packten sie sorgfältig in einen Deckelkorb und wir, die Kaninchenfrau und ich, radelten ins Dorf unten im Tal. Alles hatte geklappt. An einem Morgen, drei Wochen später entdeckte ich in meinem Stall eine Kaninchenmutter mit blinden haarlosen Kindchen. Das Nest aus Mamas Bauchhaaren bewegte sich. „Die brauchen noch Ruhe, erzähle es niemandem,“ riet mir meine Mutter. Nun musste ich sehr, sehr lange warten. Nach einer Woche konnte ich die Kleinen mehr oder weniger sehen. Nach zwei Wochen schauten die Jungen munter in die Luft und versuchten aus dem Nest zu krabbeln. So herzig. Gott sei Dankt.

Nun zum musikalischen Tino mit dem kräftigen schwarzen Haarschopf. Auf meinem Kopf wuchsen spärlich ein paar rotblonde Haare, kaum genug für zwei Zöpfchen. Hätte ich Tinos kräftige, schwarze Haarpracht getragen, hätte niemand wegen dem dauernden Zurückschneiden geschimpft. Nein, die Leute hätten gesagt: „Was hat doch dieses Mädchen für zwei prächtige lange Zöpfe.“ In der dritten Klasse drückten Tino und ich, das „Brummerli“ die gleiche Bank. Donnerstags eilten seine Brüder bereits um 14:30 zum Bahnhof, denn sie hatten eine Spezialerlaubnis. Sie besuchten in der nahen Stadt den Kurs für Aspiranten der Militärmusikrekrutenschule. Tino hatte keine solchen Pläne, er hatte es nicht nötig, denn er, der Jüngste blies die Instrumente seiner Brüder ohne Unterricht. Er half mir beim Singen, er sang immer meine Stimme und gab mir Handzeichen, wenn ich daneben war. So kam es, dass wir ganz selbstverständlich Hand in Hand in unserer Bank sassen. Hatten wir zu schreiben, so suchten sich unsere Füsse. Niemandem fiel das auf, auch uns nicht, bis Tino ein Missgeschick passierte und mir dann auch. Am Boden ein grosser See! Wir kicherten, der Lehrer musste ein wenig Schimpfen, das war seine Pflicht. Nun begann er uns zu beobachten, und er sprach mit Mama. Sie verlangte keine Umplatzierung von mir, doch war sie gegen das sogenannte „Händchenhalten“. Ich verstand nicht, es war doch so schön. Ich wusste, in der Schule musste ich sehr gut gehorchen, da ich in einer „gewissen Art“ Mühe hatte. Also liess ich es.

Nun zu Erich aus dem letzten Haus: Leider waren unsere Familien verkracht. Weder er noch ich wussten warum. Doch beide hatten wir die Weisung, uns zu meiden. Schade, denn wir mochten uns gut. Fehlte noch Godi, der Sohn unserer Tagelöhnerin: Er war mein Bruder, und seit der Klassenzusammenkunft im Mai weiss ich, er ist mein Bruder. Er ass häufig mit uns. Ich tischte für ihn, als wäre er mein älterer Bruder. Das schätzte er. Noch an der Klassenzusammenkunft schwärmte er von Speck und Brot und Essiggurken oder Tomaten zum Abendessen bei uns: „Auch wenn meine Mutter schräg schaute, du hast mich immer wieder bedient. Ich musste nie fragen. Es gab genug. Du hast nicht auf sie gehört. Dafür habe ich dir gerne geholfen. Ich habe nie mehr so guten Speck gegessen wie damals bei euch. Ich kannte euer Haus und die Scheune. Erst vor kurzem habe ich meiner Frau erzählt, wie du und ich im Estrich den Samen aus getrockneten Buschnelken klopften, im Garten ein Beet hackten, leicht wässerten und den Samen ausstreuten. Runkeln (= Futterrüben für Vieh), Sellerie und Zwiebeln haben wir geerntet. ... und nur wir, mit unserer Mutter mit uns Kindern, durften auf euren Feldern Ähren lesen. Ihr habt immer auf das Nachrechen verzichtet, damit wir leicht und schnell viel sammeln konnten. Du warst damals mein Schatz,“ ja, er war und ist mein Bruder.

Dann die zwei unzertrennlichen Mädchen aus dem Dorf unten im Tal. Ich war neidisch auf sie. Sie liessen mich links liegen und schienen viele Geheimnisse zu haben. Jedenfalls tuschelten sie immer zusammen, und ich durfte nicht wissen und nicht hören. Wichtig war dabei, dass meine Augen Zeugen waren.

Der Lehrer: Er war super. Rückblickend kann ich sagen, sein Unterricht und die Sonntagsschule bilden bis heute den Rahmen meines Wissens und Verstehens. Später wurde dieser Rahmen  ergänzt und mit Details aufgefüllt, aber nicht erweitert. Verziehener Negativpunkt: Meine Umschulung zur Rechtshändigkeit, doch auch diese Erfahrungen möchte ich in guten Momenten nicht missen. Als Zeichen meines Dankes, bleibe ich beim Besuch des Grabes meiner Eltern vor seinem Grab stehen und bringe seit ein paar Jahren auch ein paar Blumen für ihn. Nochmals Danke.

2017 Ende Oktober:: Das Grab ihres Primarlehrers war aufgehoben worden..

Wie hast du denken gelernt?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie hast du denken gelernt?
Denken im Innern, das ist eine grossartig Sache! Das konnte ich bereits zu Beginn der Mittelstufe gut. Denken ist nicht Träumen oder Dösen. Wirklich bewusst und klar zu denken, das war schwierig, doch viel einfacher als lesen oder gar schreiben. Ich rechnete lange mit den Fingern und flüsterte die Zahlen leise. Denken mit den Zahlen, das klappte bald: Gerade hinsitzen, die Arme verschränken, die Lippen schliessen, die verlangten Zahlen in der Zahlenreihe suchen, im Kopf drinnen darauf zeigen, sich merken ohne zu nicken, zwei Zahlen zusammenzählen ohne den Kopf zu bewegen und das Ergebnis im Kopf drin denken. Ganz ruhig sitzen bleiben und mit dem Ergebnis warten. Das war denken. Ich machte es gerne. Sehr anstrengend, ich konnte es! Papa auch, der Lehrling lachte immer und schaffte es nicht, Mama wollte nicht, aber sie hätte es sicher gekonnt, Grössi konnte nicht, aber sie wollte. Sie mühte sich ab und bewegte doch immer die Lippen wie beim Lesen. Sie übte, wenn sie allein und unbeobachtet war. Schliesslich konnte sie ohne sich zu bewegen zusammenzählen, nicht aber wegzählen. Die Kleinen interessierte das nicht. Das war denken.
Weiter, immer und immer, schnell zwischendurch, forderte uns der Lehrer auf, Sätze aus dem Alltag fertig zu denken. Ein Beispiel: Der Lehrer sagte: "Ich stehe am Morgen auf und - nun denkt jedes von euch ein Satzende." Er gab den Schülern ein wenig Zeit, bevor er weiterfuhr: "Ich stehe am Morgen auf und - nun suchst und denkst du ein Satzende, das du schriftdeutsch sagen kannst. Aufstrecken!" Husch, husch, wir durften unsere gedachten Sätze sagen. Es war erlaubt, Sätze von andern zu wiederholen. Ein "Gut" erhielt, wer einen neuen Satz wusste. Mein Satz hiess: Ich stehe am Morgen auf und höre das Vieh im Stall brüllen. Ich hatte gemerkt, dass der Lehrer solch ungewohnte Sätze mochte. Ein anderes Mal ganz anders, der Lehrer: "Es ist jetzt halb zwölf, überlegt euch, was um diese Zeit im grossen Dorf mit der Kirche alles passiert.- Nun ruft alle euren Satz sofort." Ein Geschrei und ein Durcheinander! Auf das Handzeichen des Lehrers plötzlich wieder Ruhe. Die Erklärung des Lehrers: "So ist es auf der Welt. Gleichzeitig passiert vieles. Schnell, schnell aufzählen. Der Reihe nach, eins nach dem andern, wer zögert wird übersprungen." Auch die scheue Ruth hatte einen Satz bereit. All das gehörte zum kleinen Einmaleins des Denkens.
Das erste Mal richtig gedacht habe ich, als uns der Lehrer die Fabel vom Fuchs und vom Storch erzählte: "Der Fuchs hatte einen Storch zu Gast und setzte ihm köstliche Dinge vor," als Hausaufgabe hatten wir uns die Lieblingsspeisen des Fuchs und des Storchs auszudenken. Wie üblich überlegen wir gemeinsam am Familientisch, und im Bett liess ich mir alles nochmals durch den Kopf gehen. Ich dachte mir ein Gespräch zwischen dem Fuchs und dem Storch aus, und das klappte. Ich dachte: Der Fuchs erzählt in Sätzen mit ICH von seiner Höhle und seinen Streifzügen in der Nacht und in der Frühe des Morgens. Der Storch erklärt: ICH wohne auf dem Kirchturm und fliege über den Weiher. Ich habe dich schon gesehen. Beide sprechen als ICH und ich denke all das als ICH. In den Gedanken gibt es drei ICH. Ich beschloss: Das ist denken. Das ... ist ... denken. Basta!
Was waren deine Ziele als Mittelstufenschülerin?
Seite 216
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was waren deine Ziele als Mittelstufenschülerin?
Erstes Ziel: Die SEKUNDARSCHULE und nur die SEKUNDARSCHULE. Irgendwie verschwommen hatte ich dieses Ziel bereits als kleine Schülerin,  - nur - ich durfte das doch niemandem sagen, alle hätten gelacht. Im Sommer der vierten Klasse packte mich dieses Ziel endgültig: Kurz entschlossen - alles weg, wie Grössi mir das erklärt hatte. Ich wurde ganz eifrig. Welch ein Glücksfall, diese Sechsklassen-Schule! Ich schrieb mit gespitzten Ohren, was ich eben zu schreiben hatte, und hörte zu, was den Grossen erklärt wurde. Die Sechstklässler begannen schon nach den Herbstferien mit den Vorbereitungen auf die Sekundarschul-Prüfung, und nach Weihnachten arbeiteten sie getrennt, ob viel oder wenig entschieden sie selber. Am ersten Tag im neuen Jahr winkte der Lehrer die Sechstklässlen zum Pult. Ich, ich musste auch hingehen und sehen und hören, was der Lehrer ihnen zeigte und erklärte: "Ich verlange jedes Jahr die Prüfungsblätter von der Prüfung in die Sekundarschule und habe diese während Jahren gesammelt. Deshalb könnt ihr viel üben. Am Montagnachmittag verteile ich die Blätter, und ihr könnt sie daheim oder zwischendurch lösen und mir laufend zur Korrektur bringen. Ihr entscheidet, wie viele ihr machen wollt. Denkt daran, es ist bald Frühling.""Denk dran, du bis bald in der sechsten," hiess das für mich. Um mir Klarheit zu verschaffen und dem Geschwätz ein Ende zu setzen, hatte ich den Lehrer gefragt, ob ich frech sei. Er hatte gelacht: "Nein, du bist eine Wundernase." Ich gab ihm das Stichwort "Bettelkatze" und da antwortete er: "Nein, richtig ist, dass du in ein paar Tagen mit dem gleichen Wunsch nochmals kommst - und - deine Augen können einen um den Finger wickeln. Auch bist du enorm "gwehrig", und das ist gut so, denn du hast es nicht einfach. Eure ganze Familie ist "gwehrig". All das hörte ich gerne. Zudem war ich ein  "Fleischtiger".
2016 Zwei Verständnishilfen: "gwehrig" hiess damals kämpferisch, kriegerisch, nicht mit richtigen Waffen, nicht mit den Fäusten und nicht mit dem Maul, sondern als Lebenshaltung; wir packten fröhlich, kurzentschlossen zu und gaben nicht so schnell auf. In den 1950er Jahren schien ihr die Lebensgrundstimmung generell "gwehriger" zu sein als nach der Jahrtausendwende. Die Eltern trauten den Kindern viel zu, sie spornten sie an, zu zeigen, was in ihnen steckt. Man hatte kein Auto, um die Kinder schnell in die Schule zu bringen, die schafften das selber. "Enorm" konnte sie nicht übersetzen, es bedeutete etwas wie "sehr, sehr", doch nicht linear und hart wie ein Pfeil, sondern eher rund wie ein Steh auf Männchens, das ist unten rund und schwer und kann nicht anders, als immer wieder aufstehen.
Zweites Ziel: SELBSTÄNDIGKEIT: Mit viel Mühe hatte ich in der dritten Klasse gegen Ende Sommer Radfahren gelernt. Doch schon im Herbst konnte ich die Schuhe zum Flicken bringen. Mit einer grossen Tasche, sorgfältig eingeklemmt auf dem Gepäckträger radelte ich auf der geteerten Strasse ins Dorf mit der Kirche mit dem Zwiebelturm, die nicht die unserige war. Gut, dass es hiess: "Du bist ein Kind, du hast Zeit zu warten, bis die Schuhe repariert sind." Nein, nein, ich wartete doch nicht, ich schaute aufmerksam zu. Ich machte dem Schuhmacher, der sich nur schwer bewegen konnte, allerlei Handreichungen. Der Schuhmacher litt an den Folgen einer Kinderlähmung. Ich konnte ihm sogar beim Bäcker ein Brot kaufen."Denk dran, du bist bald in der sechsten," wiederholte ich, wenn ich mit dem Velo allein unterwegs war. "Allein kann sie das gut, und sie will," beschwichtigte die Mutter die besorgten Nachbarinnen. Schon in der vierten Klasse besuchte ich regelmässig die alte Tante im Spital. Alle Kinder durften den Rain (= die steil abfallende Strasse) neben unserem Haus hinunterfahren, sie schoben dann ihr Rad wieder hinauf und sausten erneut hinunter. Ich verstand nicht, warum ich das Velo die steil abfallende Strasse hinunter schieben musste, wahrscheinlich weil ich das Sonntagsröcklein trug und in die Stadt fuhr, um einen Besuch zu machen. Hinten auf dem Gepäckträger waren meine Sachen eingeklemmt: Ein Blumenstrauss, zum Schutz in eine Zeitung gewickelt. Zu meiner Sicherheit und für Mamas Beruhigung mein braunes Täschchen mit zwei Franken in Kleingeld in ein sauberes Taschentuch eingeknüpft, einem Blatt mit Name, Adresse und Telefonnummer sowie zwei Traubenzückerli. Stolz radelte ich übers Land in die Stadt. Dort gab es viele Autos, Radfahrer, Fussgänger und Bäume, welche mir die Sicht versperrten. Bei den drei Linden hatte ich der Hauptstrasse halb links zu folgen. "Viel los heute. Steig ab und schiebe das Velo über den Fussgängerstreifen!" befahl ich mir. "Nun durch die schöne Allee und vor der Eisenbahnbrücke wieder absteigen und links abbliegen. Warten, warten, jetzt nach dem roten Auto ist es gut, geh schnell. Geschafft," ich sprach halblaut. "Nochmals links, über den Parkplatz - zehn markierte Felder für Autos - zum Veloständer." Ich schloss mein Velo ab, hängte mein Täschchen um und marschierte zur Tante, die in einer Hilfs-Baracke untergebracht war. Ich war selbständig. Für weitere Einzelheiten, insbesondere meine Erkundigungsgänge ins und durchs Hauptgebäude interessierte sich niemand. Hauptsache ich kam wieder gut heim.
DRITTES Ziel: Selten oder nicht in der Schule weinen. Das war es. "Es war nicht immer schön. Glaube mir, es wird immer besser," ich wiederholte Grössis Satz.
Wenn ich im Keller Süssmost für das Mittagessen holte, hatte ich ein wenig Musse, denn ich durfte den kleinen Hahn nur wenig öffnen: "Ganz langsam, damit der Filter genug Zeit hat, um die Luft zu reinigen." Gerne warf ich dann einen Kontroll-Blick auf unsere Notvorräte. Mama war dankbar dafür.
Was hiess, es eine Mittelstufenschülerin zu sein?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was hiess, es eine Mittelstufenschülerin zu sein?
Erwartungsvoll hatte ich daraufhin gefiebert: Nicht mehr zu den Kleinen, sondern zu den Grossen zu gehören. Den ganzen Sommer vor sieben Uhr in die Schule gehen. Keine Schiefertafel mehr, sondern täglich mit Tinte in die Hefte schreiben, mehr Fächer, d.h. am Montagnachmittag immer zeichnen, zweimal Nähschule, und wenn das Wetter am Mittwochmorgen es zuliess, zunächst Turnen für die Grossen, zusätzliche Bücher, ein richtiges Gesangbuch. Und dann das grosse Privileg, das  Vorrecht, das Sonderrecht der Grossen: Nur die Sachen im Tornister heim tragen, die für die Hausaufgaben gebraucht wurden. Die andern Schulsachen waren vor dem Heim gehen im Fach unter der Pultklappe geordnet aufzubeigen. Die Betonung lag auf "geordnet". Wer das nicht schaffte, hatte - um leichter daran denken zu können - eine Woche wie die Kleinen alles heimzutragen.
Am Montag der zweiten Woche des neuen Schuljahres durften alle Kinder alles in der Schule lassen. Was war los? Wir waren erstaunt. "Nichts mehr anfassen, alle Pultklappen hoch, gerade hin stehen, die Hände hinter den Rücken. Zunächst werft ihr einen Blick auf euern eigenen Platz. Auf mein Handzeichen hin, dürft ihr leise durch alle Bankreihen gehen, und schauen, wie die andern ihr Schulmaterial geordnet haben. Ist Euer Rundgang fertig, könnt ihr euch von mir verabschieden und auf dem Heimweg besprechen, was ihr beobachtet habt." Das war unsere Hausaufgabe, und das war des Lehrers Art, uns Ordnung zu lehren.
In der Mittelstufe war es dann wirklich anders als gedacht, und es gab kein Zurück mehr in die Kinderzeit. Ich spürte tief in mir drin: "Es gibt kein zurück." Und im Laufe des Sommers stellte ich mehrmals fest: Du bist nicht mehr das kleine, artige Kind, das sich mit herzigem Stämpfeln einen Platz schaffen kann, du bist nun ein "Schulmädchen". So wurden damals die Mittelstufenschülerinnen genannt, und da es gab eine zweite Sorte, die "Schulbuben". Und -  wir begannen "Dökterlis" zu spielen.
Was hiess es für die Eltern, eine Mittelstufenschülerin zu haben?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was hiess es für die Eltern, eine Mittelstufenschülerin zu haben?
"Am Montag verlassen erstmals alle meine drei Kinder das Haus," stellte Mutter gegen Ende der Frühlingsferien vor Beginn des neuen Schuljahres wiederholt fest: "Die Grosse, die Viertklässlerin wird nun immer um sieben Uhr in der Schule sein, der Bub geht in die zweite Klasse und die Kleine beginnt mit dem Kindergarten. Jeden Morgen bin ich ein paar Stunden allein, ich werde mich daran gewöhnen müssen. Wie doch die Jahre vergehen." Der Vater lachte und Grössi seufzte: "Meine Beine werden steif." Seit Ostern hatten wir einen andern Lehrling. Es kam wirklich vieles auf uns zu. "Hoffentlich konnten wir gut zu einander sein (Einschübchen: Das hiess, einen freundlichen, geduldigen Umgangston finden, damit wir zusammenwirken konnten wie frisch geschmierte Zahnräder), nur kein Sand, nur kein Sand im Getriebe," das wünschten sich Kopf und Herz der angehenden Mittelstufenschülerin.
Und draussen? Wir pflanzten erstmals Zwiebeln, ein Versuch, nur fünf Aren. Papa hatte eine zusätzliche Wiese gepachtet und im Stall Platz für weitere Rinder gemacht. Er hatte noch mehr Saatkartoffeln bestellt als letztes Jahr, denn wir hatten gut verkauft und hätten mehr brauchen können. Und was noch? Ich war bereits so gross, dass ich gar nicht wissen wollte, was alles auf uns zukam. Zupacken und weg damit, nach Grössis Devise. Ich verstand so Wörter wie Devise, Privileg, Prozedere oder Fazit, denn Papa brauchte sie, weil er wusste, dass er mir damit eine kleine Freude machte. Sagen oder gar schreiben konnte ich solche Wörter nicht, wir lachten nur beide.
Und in der Schule? Es gab mehr Fächer und immer mehr Hausaufgaben. Ja, es kam vieles auf mich zu. Die Eltern erwarteten auch spürbar mehr. "Gross zu sein" war zu verdienen.
Wie klappte das mit den Hausaufgaben, die neu mit Tinte zu schreiben waren?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie klappte das mit den Hausaufgaben, die neu mit Tinte zu schreiben waren?
Es war dorfbekannt, in der Mittelstufe waren die Hausaufgaben mit Tinte und Feder zu schreiben. Ende Winter hatte Papa bereits ein kleines Fässchen Tinte gekauft. Die Familie bestimmte: "Für die Hausaufgaben darfst du nun immer an Papas Platz oben am Tisch sitzen." Zunächst hatte ich Heft, Federhalter und Feder auf eine alte Zeitung zu legen, und dann gab mir Mama das Tintenfässchen.
An einem regnerischen Sonntag hatten wir geübt. Jedes hatte an Papas Platz seinen Namen mit Bleistift geschrieben: Papa, Mama, Grössi, Lehrling, ich, Brüderchen und selbst klein Schwesterchen. Es hatte wunderbar geklappt. Dann holte Mama das Tintenfässchen und ich schrieb meinen Namen mit Tinte. Allen schärfte Papa ein, mich nicht zu stören, nicht in die Stube zu trampen, solange das Tintenfässchen offen da stand. War ich mit den Aufgaben fertig, sollte Mama die Tinte sofort in den Sekretär zurückstellen. Der Lehrling schenkte mir zur Ehre des Tages sein ganz neues Löschblatt, und Grössi steuerte zum Putzen der Feder ein altes Taschentuch bei und für einen allfälligen Notfall einen sehr saugfähigen Lappen. Sie staunte: "Wie schön diese Metallfeder ist! Wir haben damals mit einem Gänsekiel geschrieben, ich habe oft geschmiert". Ja, mit einer Tierfeder hatten sie früher geschrieben, der Lehrer hatte uns das erklärt, aber ich verstand das natürlich nicht. Gänse gab es in unserem Dorf keine, doch Papa behauptete, wir könnten es auch mit einer Rabenfeder versuchen. Wenn er bei der Feldarbeit eine schöne finde, bringe er sie heim.
EINSCHUB: Ich staunte von neuem, wie schnell ich, ein Mensch im Innern funktionierte, wie eine Kantinenküche. Im Inneren etwas zu erledigen, war ohnehin besser, ich brauchte das dauernde "das geht nicht, das kannst du nicht, das tut man nicht", nicht zu hören. Das nennt man denken, das haben wir auch in der Schule gelernt. So dachte ich nun: "Lieber Papa, das mit der Feder wirst du vergessen. Bei schönem Wetter vorwärts mit der Feldarbeit, und bei Regen sind die Federn struppig. Wir machen das anders." Ich holte häufig bei der dicken, alten Bäuerin Eier. Sie hatte Freude an meinem Geplauder und sagte immer: "Schön, dass du mir die Neuigkeiten aus dem Dorf bringst, danke." Die hatte einen prächtigen weissen Hahn mit einer lauten Stimme. Ich war mir gewiss, sie gab mir Federn. So war es dann. Da ich ungeduldig war, überbrachte ich ihr meinen Wunsch noch vor dem Nachtessen. Schnell, schnell, während dem Scheiter holen kurz verschwinden, dass es niemand merkte. Natürlich, als ich kommenden Freitag Eier holte, streckte sie mir ein Zeitungsbündel entgegen. Wir schauten sorgfältig oben hinein: "Da sind deine Federn. Nun könnt ihr es am Sonntag probieren. Erzähle mir dann, ob es klappte." Einschub Ende.
All das hatte ich gedacht, und gleichzeitig hatten wir den Vater davon überzeugt, dass wir nun "schmieren" wollten, absichtlich, nur ein wenig. Mit schnellem Kopfnicken hatte ich meine Geschwister unterstützt, ich teilte ihren Wunsch, konnte aber beim Denken nicht sprechen. Wir hatten Glück, Mama schüttelte den Kopf, doch Papa liebte Experimente: "Ja, doch versprecht, die Hände nachher sauber, ich betone, sauber zu waschen. Wir machen zwei Versuche." Zunächst schrieb er ein Wort und fuhr mit dem Finger über die noch feuchte Tinte. Es war verschmiert. Wir probierten alle, selbst Mama war neugierig und wollte die Erfahrung machen. Es fiel ihr schwer, mit dem Finger über ein frisch und sauber geschriebenes Wort zu fahren. Doch sie tat es. Als zweites tupfte Papa jedem von uns ein wenig Tinte auf die Handinnenfläche und wir hatten den Tupfer zu zerreiben. Nun verschraubte er das Tintenfässchen sorgfältig und ... stellte es ? Wir wussten es doch - in den Sekretär. Weiter: Der grosse blaue Fleck auf der Handinnenseite liess sich mit Grössis Lappen nicht zum Verschwinden bringen. Mit viel Wasser? Nein. Selbst das Waschen mit Seife überstand er. Die Hände blieben verschmiert, auch den alten Lappen brachten wir nicht mehr sauber. Nicht schlimm! Weg mit dem Lappen in den Lumpensack, und den Fleck auf der Handinnenseite sieht ja niemand. Die verschmierten Worte vom ersten Versuchsteil liessen sich mit dem Gummi nicht wegradieren. Ja, mit dem im Mund befeuchteten Finger liessen sie sich etwas verwischen, der Klecks vergrösserte sich und wurde heller, aber er war nicht weg. Rieb man kräftig, gab es ein Loch im Papier und der Fleck war dann tatsächlich weg. Aber? Fazit: Mit Tinte höchste Sorgfalt! Mit den Hahnenfedern, nein, das schafften wir nicht. Nur Geschmier. Schliesslich steckten wir die Federn in eine Kartoffel und hängten diese als Vogelscheuche über das Salatbeet. Alle, die ganze Familie inklusive Grössi und Lehrling, der Lehrer und ich, wir waren optimistisch.
Beim Lernen gab es immer Wellen, d.h. Zeiten während denen der Lehrer auf ein Thema besonders achtete. So hiess es zu Anfang des Schuljahrs "Schön und flüssig Schreiben". Deshalb hatten wir Viertklässer jeden Tag eine Seite, die Fünftklässler zwei Seiten und die Sechstklässler drei Seiten aus dem Lesebuch abzuschreiben. Der Lehrer erklärte, die Grossen sollen zügig schreiben, die Viertklässler sorgfältig und die Fünftklässler etwas dazwischen. Richtzeit für alle war dreissig Minuten. Pro Seite waren fünf schwierige Wörter zu unterstreichen. Diese Hausaufgabe war morgens vor Schulbeginn einzeln vorzulegen und zu besprechen mit der Hoffnung, nicht nur ein Häklein für gesehen, sondern ein "Gut" zu erhalten. "Kommt etwas früher, denn ich möchte mit dem Korrigieren rechtzeitig fertig sein und den Unterricht um sieben Uhr beginnen. Das erste Kind kann an der Türe klopfen und ich gebe ihm dann .... ." Nun folgte eine Sprechpause, wir horchten auf, alle Augen waren aufs Pult gerichtet. Der Lehrer hob den Papierkorb hoch, und - auf das Pult rollte ein schöner neuer Ball. Der Lehrer brauchte den Satz nicht fertig zu machen. Als die Heuernte begann, durften wir an schönen Tagen nicht schreiben, wir sollten den Eltern helfen. Wie gerne hätte ich trotzdem geschrieben. Ich fand es so feierlich und wohltuend, an Papas Platz zu sitzen und ganz allein in der Stube mit Tinte zu schreiben, um ein "gut" zu verdienen.
Ein Liederheft mit Tinte zu schreiben, war das nötig?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Ein Liederheft mit Tinte zu schreiben, war das nötig?
Ich war und blieb ein Brummerli und doch freute ich mich unheimlich an unserem Singbuch. Es lag unter dem Pultdeckel und während dem Unterricht strich ich heimlich wieder und wieder mit der Hand darüber. Eigentlich hätten wir es immer in der Schule lassen können, doch an regnerischen Tagen und über das Wochenende nahm ich es heim. Damit konnte ich Grössi eine Freude machen. Sie sang gerne, und es war schön, eine Weile mit ihr auf dem Sofa zu sitzen und im Singbuch zu blättern. Sie suchte nach Liedern, die sie kannte, und die sang sie dann. Wehmütig bedauerte sie: "Nur schade, dass so viele alte Lieder fehlen." Ein paar Wortfetzen schwirrten noch in ihrem Gedächtnis herum, aber nein. Wir waren oft überrascht, denn am nächsten Morgen konnte sie die erste Strophe wieder und nach ein paar Tagen sang die alte Frau beim Abwaschen ganz unerwartet: "Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum." Wir staunten und sie sagte: "Wie oft habe ich das damals (ca. 1900) in der Schule gehört und dann vergessen, und nun kann ich mich wieder erinnern."
Der Lehrer vermisste auch gewisse Lieder, deshalb liess er uns ein Singheft schreiben. Er hatte dafür eine bessere Papier-Qualität ausgewählt, denn er hoffte, dass es die eine oder andere Familie daheim benützen würde. Schrecklich, er diktierte uns die Texte und wir hatten sie mit Tinte zu schreiben. Ich wollte es schön machen. Auf meine Frage zu Beginn, ob wir etwas zu den Liedern ins Heft zeichnen dürften, meinte er, das könne er sich gut vorstellen, warum eigentlich nicht. Nun, es kam anders. Ich begann das Liedheft zu fürchten. Mir hätten die Lieder im Buch genügt.
"Aus grauer Städte Mauern, wir ziehn hinaus aufs Feld, wer bleibt, der mag versauern, wir ziehen in die Welt", das war das erste Lied, das er uns an einem Montagmorgen diktierte. Ich verstand nur chinesisch. Was hiess das "aus grauer Städte Mauern"? Unsere Stadt, wo wir die Kartoffeln verkauften, war nicht grau. Ich hatte es klar im Gedächtnis, weder die Stadt mit dem Wasserfall noch die Stadt am See mit dem Zoo war grau. Mauern? Nein, viele fertige Häuser und ein paar Baustellen. Bilder aus dem Krieg zeigten Stadtreste aus grauen Mauern. Ich verstand nicht und schrieb nicht, und schrieb dann doch. Der Lehrer konnte mein Angebot, das Lied nach Schulschluss von einem Sechstklässler abzuschreiben, nicht annehmen. Er war geduldig, meine Augen wurden trüb - Tränen - und die Tinte des erzwungenermassen Geschriebenen zerfloss. Noch konnte ich ruhig sitzen und mit dem Löschblatt versuchen, zu retten was zu retten war. Zurück blieb mein erstes Geschmier, zum Glück kein Loch im Papier.
Als Unterstufenkind hatte ich beim Schreiben mit Tinte nie geweint, denn die Schreiberei war damals wie ein Spaziergang im schönen Sonntagsröckchen. Am Morgen langsam Schritt für Schritt angeleitet, ordentliche, saubere, einzelne Buchstaben in Schnürlischrift, Wörter und Sätze, je mehrmals mit Tinte abschreiben. Am Nachmittag die gleichen Sätze nochmals sorgfältig und dann schneller und schliesslich durchmischt mit Wörtern von Vortagen schreiben. Anfänglich waren das wenige, doch, man täusche sich nicht, bald waren es recht viele. Dies ging flott, denn ich kannte ja all die vielen Wörter und verstand, was die Sätze sagten. Es war anstrengend. Ich wischte mit dem Taschentuch den Schweiss von meinen beiden Schreibhänden und schützte das Papier mit dem Löschblatt. Alles blieb sauber, der Rücken tat weh. Mit dem Griffel oder dem Bleistift wagte ich manchmal mit der rechten Hand allein zu schreiben, - unbeholfen, steif, zittrig ... , nicht aber mit Tinte. Schliesslich schrieb der Lehrer den Liedtext an die Tafel, denn alle Schüler hatten Mühe. Das Geschmier auf der ersten Seite liess ich trocknen, und verwandelte es später mit den Farbstiften in die Stadt am See mit dem Zoo.
Wie war das mit dem Zweiten Weltkrieg ? Teil 1
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie war das mit dem Zweiten Weltkrieg ? Teil 1
2017 19. Juni: Nach allerlei Unbill mit dem von ihr geschätzten meet my life Programm  hatte sie sich entschlossen, den Zweiten Weltkrieg nicht zu erwähnen. Alles ihr wichtig Erscheinende glaubte sie geschrieben zu haben. Sie räumte sich Zeit ein nachzusinnen. Liebevoll schob sie alle Gedanken an den Zweiten Weltkrieg weg. Erfolglos.
2017 8. Juli: Missmutig nahm sie die Schreiberarbeit wieder auf. Sofort tauchte das Thema Zweiter Welrkrieg auf und trotzig schrieb sie, was ihr gerade einfiel. So begann sie mit dem Deutscher Kämpfer und dessen Zusammensetzspiel. Ende.
Fortsetzung: Damals, im Sommer 1951 hatte er uns besucht. Seine heiser, fast krächzende Stimme hallte noch lange in meinen Ohren nach. Für ihn glich das Ende des Zweiten Weltkrieges einem wirren Haufen wild zusammengefegter Restteile der unterschiedlichsten Zusammensetzspiele. Sie waren in einer Blechschachtel unter einem schweren Deckel verstaut. Er hatte dieses Bild erwähnt, als ich heimlich den Gesprächen der Erwachsenen lauschte. Plötzlich hatte ich auch eine Schachtel, eine Schuhschachtel. Bei monotonen Arbeiten oder auf einer langen, einsamen Velofahrt schaute mein inneres Auge die Teilchen an. Sonderbar, sie trugen Namen: der Lehrer, Mama, Papa, seine Militärkameraden, Grössi, das Flüchtlingskind, Inge mit ihrem Vater, meinem Deutsche Kämpfer, unbekannte Soldaten, Krüppel (= Kriegsversehrte, z.B. der Strassenarbeiter mit der Armprothese). Daneben gab es eine Liste von Gegenständen: Bilder,  Zeitungen, der Radio, Papas Militärausrüstung - eine ganze Menge Sachen -, Mamas Photoalbum, unsere Armee: Soldaten, Bunker, Panzersperren, und schliesslich meine Fragen: Wie viele Soldaten hatten Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich und die andern Länder, damals ???????? (Einschübchen: Erinnern Sie sich bitte! Viele Fragezeichen sind kein Schreibversehen, sondern sie sind Stellvertreter für die vielen Fragen, die mich bedrängten und die ich nicht denken wollte.)
Meine Phantasie krallte sich an einem beliebigen Teilchen fest und schuf eine neue Welt mit weiteren Fragen. Ich war überzeugt: Jeder Deutsche Soldat hatte ein Gewehr. Wer hatte die neuen Gewehre gemacht, wenn die Männer kämpften? Waren das die Frauen? Wer sorgte sich um die Kinder? Was geschah mit dem Gewehr eines toten Soldaten? Sicher gingen viele Grabsteine (=Erkennungsmarken) verloren. Wie erfuhren dann Frau und Kind vom Tod des Vaters? Zum Glück war ich mit dem Aufhängen der Wäsche fertig. ... Oft begann meine Reise mit einem Bild aus der zweiten Klasse. Ich sass in der zweiten Reihe in der zweihintersten Bank. Ich hörte die Stimme des Lehrers zu; er erklärte uns, es sei schwierig, über den Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Es sei zu furchtbar gewesen. Alle Erwachsenen hätten sie erlebt, die grosse Angst. Jede und jeder auf seine Art, furchtbar. Das Dröhnen der Bomber. Was wartete auf die Deutschen Städte? Was erlebten die Leute dort? Uns ging es trotz allem gut. Jetzt sei es vorbei und alle wollten vergessen, in der Gegenwart leben und für eine bessere Zukunft arbeiten. Das gelte auch für ihn, den Lehrer. Es werde alles besser. Es dauere noch lange, bis man darüber sprechen könne. In zwanzig oder dreissig Jahren könnten Bücher darüber geschrieben werden. Ich spürte gut, alle wollten vergessen und vorwärts schauen. Was sollte da so schwierig sein? Der Deutsche Kämpfer hatte doch den Eltern auch vieles erzählt, nichts Schönes, aber vieles. Einiges hatte ich gehört und ich wollte mehr wissen. Und - Pause - War das tatsächlich so? Auch ich wollte vergessen, was uns der deutsche Gast erzählt hatte. Es war zu grausam, als dass ich es jemandem hätte erzählen können. Statt dessen wollte ich hören, was die Erwachsenen hier in der Schweiz erlebt hatten. Sie waren ja verschont geblieben.
Mama begann immer mit der Angst, dem Dröhnen der Bomber, der Verdunkelung, aber eigentlich wollte sie von ihrer Liebesgeschichte mit Papa schwärmen. Das genügte mir als Mittelstufenschülerin nicht mehr. Ich drängte, und sie sagte schliesslich: "Sei ruhig, es fällt mir zuviel ein. Ich weiss nicht, wo ich beginnen sollte, viele kleine Fetzen." Dann schwieg sie.
Papa war erleichtert und dankbar und ein wenig stolz. Er sang Militärlieder und übte mit mir Kennwörter. Er erzählte nur, wenn er zufällig einen Militärkameraden traf. Ich stellte mir dann die beiden neben mir plaudernden Männer in Uniform beim Verteilen des Essens vor. Sie standen mit der Gamelle (= Essgeschirr der Soldaten) in der Hand in einer Reihe und warteten auf den Spatz (= Suppe mit Siedfleisch). Ich wusste von Papa, der wirklich nicht wählerisch war, dass das Essen oft schlecht war. Was assen die Männer in den Schützengräben?  Viele, viele weitere Teilchen kannte ich. Doch die Fragen blieben: Wie war das mit dem Krieg? Was konnte ich tun, dass es nicht mehr soweit kam? Meine Lesenden, was wurde Ihnen vom Zweite Weltkrieg erzählt? Haben Sie persönliche Erinnerungen? Was erzählen Sie Ihren Enkelkindern davon?
 
Wie war das mit dem Zweiten Weltkrieg ? Teil 2
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie war das mit dem Zweiten Weltkrieg ? Teil 2
 
2017 20. Juni : Schwierigkeiten bei der Bedinung des MML-Programms - und dann war bereits Ende Monat. Wo war die Zeit geblieben? Das fragte sie sich immer wieder.- Das fragt sie sich im besondern am 30. Juni 2017 auf dem Weg zum Besuch eines ehemaligen Arbeitkollegen, der seit 26. Februar 2000 querschnitt gelähmt war. 16 Jahre lag er letzte Kontakt zurück. Wo war die Zeit geblieben? -  In der ersten Juli Woche 2017 weilte sie täglich bei einer aus Syrien geflohenen Kurdin; gemeinsam brachten sie deren Schlussarbeit, zu Modul 2, Orientierung im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen zu einem gute Ende. Doch los nun! Warum sass damals der Deutsche Kämpfer in ihre Stube? Am 8. Juli fuhr sie das MML-Programm wieder hoch, alles klappte gut. Einschub Ende. 
Fortsetzung: Erinnerungen in der Erinnerung: Ich war eine Mittelstufenschülerin, als mir Mama den Grund seines Besuches erklärte. Ich sagte ihr aber nicht, dass ich damals auf dem Kachelofen versteckt, hinter dem Vorhang, als Unterstufenkind heimlich den abendlichen Gesprächen zwischen den Eltern und ihrem deutschen Gast zugehört hatte. Beim Essen hatten wir über seine Velofahrt von Stuttgart zu uns in die Schweiz geplaudert. Die Grossen hatten die Gespräche über den Krieg und die Gefangenschaft auf den Abend verschoben, es sei besser, wenn die Kinder im Bett seien.
Ja, die Kinder waren im Bett. Die Kleinen schliefen. Inge, unsere Praktikantin, die Tochter unseres Gastes schrieb in ihrer Kammer an ihren Hausaufgaben. Doch ein Kind - leise und achtsam - hatte es unbemerkt bis hinunter auf den Kachelofen hinter den Vorhang geschafft. Es hatte gespitzte Ohren. Der Gast erzählte, vor zwei Jahren sei er aus der russischen Gefangenschaft entlassen worden. Es gehe ihm langsam etwas besser. Seit ein paar Wochen würden seine Erinnerungen einem grossen, nein vielen riesigen Zusammensetzspielen gleichen, von denen die übrig gebliebenen Einzelteile wirr in einer alten Schachtel lägen. Dieses Bild helfe ihm, in der Nacht Ruhe zu finden, und das gebe ihm Kraft für den Alltag, für die Zukunft. Viele Teile seien verloren, gestohlen, verbrannt, zerstört, vermisst oder einfach weg. Ja, dank der Schachtel mit dem schweren Deckel könne er wieder etwas ruhiger schlafen. Alle schwiegen. Das Kind wagte kaum zu atmen. - Er erzähle gerne, das tue ihm gut. Er fange einfach an, und die Eltern sollten ungeniert Fragen stellen. Erzählen tue ihm gut. Diesen Satz wiederholte er immer wieder. Doch wie war der deutsche Kämpfer zu uns gekommen?
Mama war überlastet, das war bekannt. Unser Pfarrer hatte eine Anfrage für Praktikumsplätze für angehende Kindergärtnerinnen aus Deutschland auf dem Tisch. Irgendwo weit weg träumte Inge von einem Praktikumsplatz in der Schweiz, aber ihrer Familie fehlte es an allem. Meine Eltern träumten von einer einsatzfreudigen Hilfe. Der Pfarrer schaffte es. Er kannte Mamas Not. Er wusste, dass Papa im Frühsommer dank der Direktvermarktung der Kartoffeln etwas flüssiges Geld hatte. Und - seine Frau Pfarrer verwaltete die Kleider für Bedürftige. So schickte er dreissig Franken, einen Koffer Kleider und ein Formular mit unserer Adresse nach Deutschland. Wir warteten. Es geschah nichts. Wir kamen mit der Feldarbeit gut voran, denn es war trocken.
Eines Tages, wir sassen eben beim Abendbrot, da klopfte der Pöstler und erklärte: "Ich war mit einem Express-Brief auf der Station. Als der Zug anhielt, half der Kondukteur diesem Mädchen mit dem schäbigen Köfferchen aus dem Zug und gab dem Bahnhofvorstand dieses Blatt. Da ich vor Ort war, gab er mir dieses Papier und ich lud den Koffer auf mein Velo. Da habt ihr sie. Schaut hier," das Blatt lag vor Papa, und weg war der Pöstler. Wir rückten zusammen. Glas, Teller und Besteck lagen schon vor dem fremden Mädchen. Es war Inge aus Stuttgart. Sie trank hastig ein Glas Süssmost und noch eins. "Nun nimmst du besser Tee, ich weiss nicht, ob dein Magen Süssmost gewohnt ist," Mama stoppte Inge ungern. Inge war unsere Praktikantin. Wir verstanden uns sofort gut. Inge kannte viele Lieder. Es machte uns Spass, schriftdeutsch zu sprechen. Nebenbei erzählte sie vom Leben in ihrer grossen Stadt, vom Krieg und von ihrem Vater, der sehr glücklich war, dass Inge zu uns in die Schweiz hatte kommen können. Schliesslich verriet sie uns, dass ihr Vater immer noch hoffte, auch einmal den Boden der Schweiz betreten zu dürfen. Wir luden ihn ein, und er traf per Velo an einem Mittwoch am späten Morgen bei uns ein. 
Was interessierte dich als Mittelstufenschülerin? Henri Dufour (1)
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was interessierte dich als Mittelstufenschülerin? Henri Dufour (1)
Der Grossvater hatte sich für Abraham Linckoln interessiert. Der Vater träumte von Gandhi. Er, der während dem Zweiten Weltkrieg entschlossen war, den Deutschen an der Grenze die Stirn zu bieten, er war ein Kriegsgegner geworden. Ich verstand das nicht: "Eine gute Armee ist dringend nötig. Ich werde FHD." Grössi war gefangen von der Idee: "Es war nicht schön, es wird alles immer besser." Die Mutter fühlte sich durch den frühen Tod ihres Vaters für ewig benachteiligt. Grosi war dankbar für das Rote Kreuz. Der Lehrer erzählte uns von General Dufour. Mir hatten es alle diese Themen angetan, doch mit dem Lehrer blieb ich unserem ersten General treu. Er hatte einen Bruderkrieg verhindert, und das war super.
2016 Achtung, sie liebte ihr Bild vom General, so wie sie es sich anhand der Erzählungen des Lehrers und in ihrer Fantasie zurecht gelegt hatte. Sie war nicht bereit es im Internet zu überprüfen, auch jetzt im vorgerückten Alter nicht. Einschub Ende.
Nun meine Fantasiegeschichte über das Leben unseres General Dufour. Jedes Mal etwas anders. Hier eine Kurzfassung: Aus den Kantonen war 1848 gerade eben die Schweiz im heutigen Sinne gemacht worden. Ein schwieriger und wenig durchsichtiger Vorgang. Für Primarschüler nicht geeignet. Jedenfalls, diese Schweiz brauchte eine moderne Karte und Herr Dufour leitete die Vermessung und die Aufzeichnung des ganzen Landes. Die Karte war sehr gut, und sie wurde Dufour-Karte genannt. Der Lehrer hat uns so eine Dufour-Karte gezeigt, alles sehr fein und genau, grau in grau. Für Kinder nicht zu gebrauchen. Der höchste Gipfel der neuen Schweiz bekam den Namen Dufour-Spitze. Wir bestaunten die alte Karte ein wenig.
Dieser Kartenzeichner war der erste General der Schweiz. Er musste sein Land also genauer gekannt haben als jeder andere. Das war gut so, denn er wurde zum General in einem Bruderkrieg gewählt. Die katholischen Kantone griffen die reformierten Kantone an. Der General machte aus den reformierten Männern eine gute Armee. Seine Soldaten murrten, sie wollten kämpfen, denn sie waren in der Überzahl und des Sieges gewiss. Sie gehorchten dem General, und dieser wollte - das war sein Geheimnis - einen Bruderkrieg, eine Schlacht verhindern. Er liess seine Soldaten durch die katholischen Gebiete marschieren, aber er wich den gegnerischen Truppen gleichzeitig geschickt aus. Es kam zu keinen Kämpfen, zu keinem Gemetzel Schweizer gegen Schweizer gekommen. Die Soldaten verloren das Interesse an diesem Krieg, der keiner war. Die reformierte und die katholische Bevölkerung war erleichtert, und der General wurde abgesetzt. Wir lernten, einen Krieg zu verhindern, ist besser als ein Sieg, aber schwierig. Unser General hatte auf den Ruhm und die Ehre eines Sieges verzichtet und auch das Töten zwischen Brüdern verhindert.
Dufour und Dunant gehörten zu den Vätern des Roten Kreuzes. Wer, was, wo, warum, war mir zu viel. Grosi war dankbar für das Rote Kreuz, so war ich auch dafür dankbar. Fertig
2016 Für die tatsächlichen historischen Gegebenheiten siehe Internet: Innert 0.55 Sekunden 16'400'000 Ergebnisse.
Was interessierte dich als Mittelstufenschülerin? Louis Favre (2)
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was interessierte dich als Mittelstufenschülerin? Louis Favre (2)
"Die Eisenbahnen und der Gotthardtunnel und Louis Faver," vom Lehrer und von Papa bewundert. Der Gotthardtunnel, wie war das möglich? "Vom Vierwaldstättersee, den Fluss Reuss hoch, durch den Gotthardtunel, dem Fluss Tessin nach hinunter zum Luganersee," mit dem Stab zeigte der Lehrer diese Strecke auf der Wandkarte. Viele interessante Bilder dazu lagen hinten auf dem Tisch: Die Gotthardkutsche, die Teufelsbrücke, das Kirchlein von Wassen, die wilde Schlucht, steile Berge, Felswände und eine Türe, gut verschlossen, denn dahinter lagerten die militärischen Geheimnisse. Später lag die Schweizerkarte offen auf unsern Pulten und wir folgten den Kehrtunnels sorgfältig. Wieviele waren es? Ich weiss es nicht mehr. Alle bewunderten Favre, der musste gut rechnen können! Im Norden und im Süden hätten sie zu sprengen angefangen, nicht einfach irgendwie gegraben, nein Sprengen mit Dynamit durch den Fels.
Papa hatte zufällig frischen, noch feuchten Sand geholt, um den Silo abzudecken. Er half uns durch diesen Sandberg einen Tunnel zu bohren. Wir probierten, ein Fehlschlag. Der Tunnel stürzte zusammen. Der Sand war im Innern zu trocken. Wir, nein der Vater goss am Samstagabend mit Giesskanne und Brause viel Wasser auf den Sandberg. Seine Arme waren lang genug. Wir schauten zu, und der Vater sagte: "Wir müssen planen: Wo und womit und wann?" Am Sonntagmorgen nach der Sonntagsschule, in den Arbeitskleidern der vergangenen Woche, mit unsern beiden Spielzeug-Schäufelchen und den Sandkuchenformen. Der Haufen war zu flach. Mit der grossen Schaufel machte der Vater einen richtigen Berg und klopfte den Sand fest. Der Tunnel sollte zwei Kinderarme lang werden. Wir wollten es wie Favre machen und begannen an zwei Orten. Es klappte mühsam und nur dank Papa. Wir mussten lange bohren und viel Sand aus den Löchern schaffen. Mit etwas mogeln traf sich meine Hand mit den Finger der Schwester. Fertig! Wir hatten Hunger.
Acht Jahre hatten sie am Gotthardtunnel gebaut, solange wie unsere Schulzeit, es schien uns eine Ewigkeit, 15 km. Tage, Wochen, ja Monate vor dem Durchbruch hätten sie die Sprengungen der andern Gruppen gehört und dann der Durchbruch. Sie hatten sich tatsächlich getroffen. Unglaublich. Favre und viele andere Männer haben im Berg ihr Leben gelassen. Als Sechstklässlerin marschierten Papa, der Bruder und ich über den Gotthardpass und fuhren müde durch den Tunnel zurück. Die Kehrtunnel, das kleine Kirchlein von Wassen weit unten, dann auf gleicher Höhe, später weiter oben, bald links, bald rechts, unglaublich. Wir schliefen ein.
2016 Für die tatsächlichen historischen Gegebenheiten siehe Internet.
Einschub: Durch den Gotthard gab es nicht nur einen Tunnel, nein, nein, und das passte gut zum Zweite Weltkrieg, im Gotthard gab es ein ganzes System von Bunkern und Räumen. Der Vater wusste nichts Genaues, er hatte nur viel davon tuscheln hören. Meinen Vergleich mit einem System von Mäusegängen, in denen Menschen aufrecht gehen konnten, gefiel ihm nicht. Meine Detailfragen nach Verpflegung und Sanitären Anlagen empfand er als stossend. Der Lehrer erklärte uns, im Falle eines Deutschen Angriffes wären das Büro des Generals und der Bundesrat in unterirdische Räumlichkeiten im Gotthardmassiv verlegt worden. Wie konnte ich nur vergessen, während unserer Wanderung über den Pass nach Spuren dieser Festung oder nach Bunkern Ausschau zu halten?
Was interessierte dich als Mittelstufenschülerin? Georg Fischer(3)
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was interessierte dich als Mittelstufenschülerin? Georg Fischer(3)
Warum standen die beiden Buchstaben GF auf den drei Dolendeckeln in unserem Dorf? Papa wusste es. GF war die Abkürzung für Georg Fischer, dem Besitzer der Giessereien in Schaffhausen, die diese Dolendeckel machte. In den Mittelstufenschulbüchern gab es zu allem, so auch zu Johann Conrad Fischer (1773 - 1854), dem Vater von Georg Fischer (1804 -1888) eine Geschichte zu lesen. Der Lehrer erwähnte auch Georg Fischer, den Enkel (1864 - 1955), der bereits vor dem Ersten Weltkrieg aus der Firma ausschied. Was der Lehrer erklärte, verstand ich nicht (Einschübchen: Sie hatte diese Jahreszahlen bei Google nachgesucht), aber ich wusste, für mich war die Zeit von "Rösslein Hü" endgültig vorbei. Ich war eine Mittelstufenschülerin.
Im Geografieunterricht hatten wir geschaut, wo Schaffhausen liegt. Dies, obwohl wir schon alle dort waren, auf der Schulreise in der Unterstufe an den grössten Wasserfall Europas und zum Munot. Ich war damals noch wirklich klein und interessierte, mich nur für Glacée.
Auch jetzt interessierte ich mich nicht für Georg Fischer, den Inhaber der Giesserei, sondern für seinen Vater Johann Conrad Fischer, den Pionier, den Abenteurer und Quacksalber. Papa und ich gaben ihm diese drei Namen. Der Lehrer bezeichnete ihn als Pionier, weil er am Anfang der technischen Zeit lebte und arbeitete. Abenteurer konnte man ihn nennen, weil er in der Zeit vor Auto und Eisenbahn durch Europa reiste. Quacksalber, weil es ihm Spass machte - man stelle sich das vor - , heisses, flüssiges Eisen mit andern Metallen zu mischen. So wie eine Quacksalberin aus Kräutern und Fetten heilende Salben macht, so mischte Fischer Eisen mit verschiedenen Metalen zu Stahl. Papa und ich sprachen darüber. Er baute aus einer alten Mühle ein Stahlwerk, das innert hundert Jahren zur grossen, internationalen Fabrik wurde (wir sind in den 1950er Jahren). Mit dem Wort Schwerindustrie wurden alle Giesereinen zusammengefasst. Sie waren sehr wichtig. Die Tausender-Note zeigte Giesser bei der Arbeit. Ein Mann aus dem Dorf auf dem Berg fuhr mit der Eisenbahn jeden Tag dorthin zur Arbeit. Ich kannte ihn nicht. Diese Fabrik, die Giesserein von innen anzusehen, war für mich ein Ding der Unmöglichkeit.
2016 für die tatsächlichen historischen Gegebenheiten siehe Internet.
2016 August  Anlässich einer Führung durch die MEDITech AG, die einen Teil der alten Giesserein gekauft und ungebaut hatte, konnte sie einen Teil der alten Gebäude von innen besichtigen. MEDITech, eine Frima, die sich seit Ende der 1970er Jahre aus einer Freizeitbeschäftigung zu einem hochmodernen Unternehmen für die Verpackung von Medizinalprodukten (Hüftpfannen, Zahnimplantaten, u.a.) entwickelt hatte, mit über 170 Angestellten. So etwas war also noch möglich. Deshalb dachte immer wieder an den Vater Fischer.
Was ist auf unseren Banknoten zu sehen?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was ist auf unseren Banknoten zu sehen?
Da ich mich sehr für Geld interessierte, erinnerte mich Georg Fischer an unsere grösste Banknote. Wir hatten eine, und Papa hatte sie mir gelegentlich als Belohung für besondere Einsätze gezeigt. Ich wollte den Lehrer das wissen lassen und überlegte mir eine Rätselfrage. In einem günstigen Moment stellte ich sie: "Eine Giesserei können wir leicht in der Tasche verstecken. Wie?" Seinen missbilligenden Blick, sein Kopfschütteln beantwortete mein Finger, der auf seine Hosentasche zeigte. Er zog das Portemonnaie heraus und lachte.
Eine Woche später, der Lehrer war in der Stadt gewesen, legte er einen Briefumschlag auf das Pult und fragte: "Was ist auf den Rückseiten unsere Banknoten abgebildet?" Schweigen: "Es sind meist Arbeiten, die ihr kennt." Der Lehrer fuhr mit den Armen hin und her. Die Kinderschar: "Mähen." "Gut, ein Mäher," nun schlug er kräftig von oben schräg nach unten: "Sträucher abhacken.""Nicht schlecht, ein Holzfäller, doch nun kommt etwas ganz anderes." Der Lehrer setzte sich hin, nahm etwas in die linke Hand und machte mit dem rechten Unterarm kurze Bewegungen. Unsere Antwort: "Socken flicken." "Das könnt ihr nicht erraten. Es sind Frauen, die sticken. Doch nun kommt nach hinten zum Tisch," der Lehrer zog neue Nötchen aus dem Umschlag. Alle Augen schauten gespannt zu, wie er sie auf den Tisch legte: 5 Franken, 20 Franken, 50 Franken, 100 Franken, 500 Franken, 1000 Franken. Er erklärte: "Auf der Vorderseite ist die Wertangabe als Zahl und in den drei Amtssprachen." Er hatte mehrere Zwanziger-Nötli mitgebracht, und wir durfen sie in kleinen Gruppen in die Hand nehmen und lesen: "Vingt Francs, zwanzig Franken, venti Franci". Das Wort "Schweizerische Nationalbank" auch in drei Sprachen. Sie macht und überwacht das Geld. Unheimlich spannend für ein Kind, das sich für Geld interessiert. Nun drehte er die Noten - die Schüler waren müde und unruhig geworden - und zählte auf: "Wilhelm Tell, Pestalozzi, der Holzfäller, der Mäher, drei Handstickerinnen, die Giesserei. Geht an den Platz und macht die Arbeit von gestern fertig." Zum Glück durften wir uns bald auf dem Pausenplatz tummeln. Nachher zeigte er uns die Noten nochmals kurz und sagte: "Öffnet die Rechenbücher und beginnt mit dem Satzaufgaben." Ich war enttäuscht. Ich wollte doch mehr über das Geld wissen. Der Lehrer zeigte die Noten auch den kleinen Schülern. Die staunten, sie durften die 20-Noten auch in die Hände nehmen: "Ganz neu, das kann man riechen." Der Lehrer lachte und begann: "10 Fr., 20 Fr.," und die Schüler weiter: "30 Fr,  ... 100 Fr." Ein paar Tage später ergänzte der Lehrer: "Es gibt bald neue Noten, da viele Fälschungen in Umlauf sind."
Nun eine Frage an meine Leserinnen und Leser: "Wie sehen die zur Zeit gültigen Banknoten aus? Sie zögern. Ich verstehe, Sie zahlen alles mit der Karte. Doch erkundigen Sie bitte gelegentlich auf einer Bank."
Wie ging das mit dem Geld zu bei euch daheim?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie ging das mit dem Geld zu bei euch daheim?
Meine Lesenden: "Wie gingen die Eltern in Ihrer Kindheit mit dem Geld um? Überlegen Sie bitte einen Moment.
"Geld hat man, über Geld spricht man nicht," wir kannten den Spruch. Er galt im engsten Familienkreis nicht. Dazu zählten Mama, Papa und wir drei Kinder. Grössi und der Lehrling, die mit uns den Tisch teilten, und all die Verwandten und Bekannten gehörten nicht dazu. Ich, die Grösste, interessierte mich für Geld. Ob die beiden Kleinen mein Interesse teilten, wusste ich nicht. Wichtig war mir, dass ich den Zugang zum Geld hatte. Ich ging noch nicht zur Schule, als ich bereits das bei der Direkvermarktung erzielte Kleingeld, sortieren konnte.
Mama legte nach dem Mittagessen das grosse an den vier Enden sorgfältig zusammengeknüpfte Nastuch mit den Münzen auf den Tisch und brachte die Kleinen für das Mittagsschläfchen ins Bett. Sofort machte ich mich am Tisch zu schaffen. Ich tastete das Taschentuch ab und suchte nach grossen Münzen. War Mama zurück öffnete sie das Taschentuch und begann zu zählen. Da ich mich ruhig verhielt, durfte ich mithelfen: Immer die gleichen zusammen. Mama verstand bald und liess mich mit dem geöffneten Taschentuch allein. Sie war müde und freute sich zu sehen, wie ich mit allen 5, 10, 20 und 50-Rappenstücken kleine Haufen und mit den 1, 2 und 5 Fränklern Türmchen gemachte hatte. Bald verstand ich es, die Rappenstücke sorgfältig in viele Türme mit je zehn Batzen zu verwandeln. Papa nahm sich Zeit, mich alles zu lehren. Den Tageserlös von rund 100 Franken schrieben die Eltern ins Märtbuechli (= kleines Notizheft, reserviert für die Einnahmen vom Direktverkauf). Sie bereiteten im Taschentuch das Wechselgeld für den folgenden Tag vor. Die zurückbleibenden Rappenstücke wanderten in eine Blechbüchse und die Frankenstücke in eine Kartonschachtel, beide standen in der untern Schublade im Schlafzimmerkasten der Eltern. Beide waren dorthin umgezogen, damit ich, mit Betonung auf ich das Geld verräumen und Bedarfsfall schnell etwas holen konnte. Dieses Vergnügen verteidigte ich erfolgreich gegenüber den Kleinen. Ich war für die Geldgeschäfte zuständig.
Das ging noch weiter. Ich übernahm das verhasste monatliche Aufaddieren des Milchbüchleins, wenn ich als Belohung die Einzahlungen auf der Post erledigen durfte. Der Posthalter kontrollierte die Eintragungen und die Addition der Eltern und ich zählte ihm, wie die Erwachsenen das Geld auf die Theke. Er hätte es vorgezogen, das spürte ich wohl, wenn ich ihm das Portemonnaie geschlossen übergeben hätte, aber das Vergnügen, das Geld hinzuzählen, das liess ich mir nicht nehmen, dies besonders, wenn andere Leute auf die Bedienung warteten und zusehen konnten. Ich fürchtete den Posthalter deshalb ein wenig und wich ihm aus. Die Eltern verstanden ihn, und doch waren sie, hauptsächlich Papa, mit meinem Vorgehen einverstanden.
Es ging noch weiter. Der Holzpreis war damals hoch, und Papa hatte im Vorfrühling unsere gesunden, geraden Stämme dem meist bietenden Zimmermann verkauft, obwohl er nicht bar bezahlen konnte. Die Zahlungen wurden auf den Herbst geplant in Raten von 2'000 per Monat. Es wurde uns geraten, das Geld sehr pünktlich einzufordern. Es stand viel Feldarbeit an, deshalb stiegen Papa und ich auf unsere Velos und sprachen bei unserem Schuldner vor. Papa erklärte: "Meine Tochter kommt am Mittwoch-Nachmittag allein vorbei und holt das Geld ab." Die Männer unterhielten sich lange. Papa trug das Risiko eines Überfalls, und ich hatte eine Quittung zu überreichen, sobald ich das Geld in meine kleine braue Tasche gesteckt hatte. Ich passte gut auf. Die Sekundarschulprüfung war für eine Weile vergessen. Die Eltern erwarteten mich. Es klappte gut. Viel später, als die Verwandten davon erfuhren, schüttelten sie die Köpfe und waren entsetzt.    
Wie war das mit dem Zweiten Weltkrieg? Louis Zamperini Teil 3
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie war das mit dem Zweiten Weltkrieg? Louis Zamperini Teil 3
Auch Gegenstände sprachen zu mir, dem Schulkind: "Ich, Papas Karabiner, ich bin ein schwieriges Exemplar. Oh, meine Treffsicherheit, die ist schwach. Das Fadenkreuz, ja ich sehe es, aber ...ich treffe nicht. Ein Kranzschütze hat deines Vaters Vermutung bestätigt. Auch er schoss mit mir nicht ins Schwarze. Gott sei Dank wurde ich nie gebraucht. Die langen, bangen Nächte haben mir genügt. Was habe ich da nicht alles gehört! ...  Nun schweigen die Waffen! Haha. Nur noch die lächerlichen obligatorischen, jährlichen Schiessübungen. Sie werden durchgeführt, um die Soldaten in Übung zu halten und - das ist mir wichtig - damit sich in meinem Lauf kein Rost ansetzt." Pause. "Ich," sprach dann die feldgrüne Uniform, "ich war im Winter zu dünn, und im Sommer gab ich zu heiss. Wie oft war ich nass und schmutzig. Dein Vater lag im Schützengraben. Zum Glück konnte er von seiner schönen Frau und dir träumen. Er fror und hatte keinen Ort zum Trocknen der durchnässten Kleider. Jetzt schimpft deine Mama, weil ich im Kasten viel Platz brauche. Hoffentlich spart sie nicht mit dem Mottenschutz." Pause. Und der Rest der Ausrüstung? Er lag still da und verstaubte: Der Gürtel mit dem Bajonett, das Militärtaschenmesser, die Erkennungsmarke, das Dienstbüchlein, der Brotsack, die genagelten Schuhe, die Gamelle mit Besteck. Und vieles mehr, alle Dinge hatten nur einen Wunsch: "Lasst uns in Ruhe, wir haben unseren Dienst geleistet." Doch etwas - als Belohnung durfte ich zweimal aus der Gamelle essen. Gemüsesuppe konnte ich gut löffeln, etwas fremdartig. Hörnli mit Tomatensauce ja, aber sicher nicht Kartoffelstock, Rübli und Bratwurst. Ich hatte es probieren dürfen, das genügte mir. Papa sang bei der Feldarbeit: Die Nacht ist ohne Ende, der Himmel ohne Stern, die Strasse ohne Ende, und was wir lieben fern.
Bunker und Panzersperren hatte mich mein Lieblingsonkel per Auto sehen lassen. Alle schimpften darüber. Er hatte mir auch Bilder von ausgebombten Häusern und Gruppen von flüchtenden Müttern mit Kindern und Grossvätern gezeigt. Das blieb unser Geheimnis. Er erzählte mir allerhand Schreckliches, das er nur vom Hörensagen wusste, und er behauptete, zu Zeiten des Krieges würden viele Erfindungen gemacht. In der vierten Klasse in der Ferienkolonie, in der Gruppe von etwa 30 Kindern, die sich einen Schlafsaal teilten, dachte ich oft an den Krieg. Es tauchten neue Fragen auf. Im Krieg, wie waschen sich die Soldaten? Der Onkel lachte, mit viel kaltem Wasser. Doch auch er wollte meine Fragen nach dem Geruch des Blutes und nach der Pflege von eiternden Wunden von Mehrfachverletzten nicht hören. Was geschah mit den herumliegenden, verstümmelten Leichen im Sommer? Sicher schrien und stöhnten die verwundeten Soldaten vor Schmerzen, oder sie weinten leise vor Heimweh. Niemand brachte ihnen etwas zu trinken. Es wurde langsam dunkel und nie mehr hell. Der Gestank einer toten Katze hatte den Grossvater selig und mich einmal in die hinterste Ecke eines Schuppens gelockt. "Fürchterlich, da hast du für deine Wundernase," hatte der Grossvater gemurrt. Wir verlochten den modrigen Tierkörper. Wir, der Onkel und ich schauten dann gemeinsam den Motor seines Autos an und sprachen über meine Ziele, die Sekundarschulprüfung und - den Plan, vielleicht nach Amerika auszuwandern.
2017 9. Juli  Lange hatte sie vermutet, die als Unterstufenkind verbotenerweise abgelauschten Erzählungen des Deutschen Kämpfers hätten ihre Real-Phantasie übermässig angeregt. Doch die Berichte über Boko Haram und den IS (Islamische Staat) bestätigten ihre Befürchtungen. So lernte sie den Schilderungen des Deutschen Kämpfers langsam Glauben zu schenken. Seine Ausführungen zur russischen Gefangenschaft hatten wohl viel Wahres an sich. Wie hungrige Hunde seien sie auf einander losgehetzt worden. Menschlichkeit sei bestraft worden. Ja, so war das mit dem Zweite Weltkrieg. Bitte, etwas mehr Abstand halten und vom Rauschen des Windes in den Bäumen träumen!
2017, Sonntag 16. Juli SRF 2, 20.00 Das Kriegsdrama "Unbroken": Sie hatte den Garten einer Nachbarin gegossen und sich nachher zu ihrem Mann vor die Glotze gesetzt. Der Film, den er schaute, basierte auf der Lebensgeschichte des Amerikaners Louis Zamperini (1917-2014). Als Sohn mittelloser italienischer Einwanderer hatte er keine einfache Kindheit. Im sonntäglichen Gottesdienst hörte er regelmässig, dass wir zur Versöhnung aufgerufen seien. Doch immer öfter schlug er sich mit Kleinkriminellen herum und geriet mit der Polizei aneinander. Als sein Bruder sah, wie schnell er laufen konnte, begann er ihn zu trainieren. Bald gehörte er zu den schnellsten Langstreckenläufern. Noch unerfahren lief er an den Olympischen Spielen in Berlin, 1936 als Langstreckenläufer (5000m) die schnellste Endrunde. Er spürte sein Potenzial für einen Podestplatz und war entschlossen 1940 an der Spielen in Tokio teilzunehmen. Doch es kam anders.
Im Zweite Weltkrieg stürzte Louis Zamperinier mit einem amerikanischen Bomber über dem Pazifik ab. Er und andere Crew-Mitglieder trieben 47 Tage auf offener See, bis sie von den Japanern gerettet wurden. Louis Zamperini landete in einem Kriegsgefangenen- Lager, wo ihn der sadistische japanische Kommandant, Watamabe quälte. ... Die Erinnerungen an die Erzählungen ihres Deutschen Kämpfer wurden zu Bildern - unglaublich - ... Wie einige andere Kameraden überlebte Zamperini und sah seine Heimat wieder. Hier endet der Film. Louis Zamperini lebte  w e i t e r. Die Versöhnung zwischen den Völkern wurde sein Ziel. Sein Peiniger tauchte unter und versuchte sich nach der Amnestie 1952 auch für den Frieden einzusetzen. Er lehnte ein Treffen mit Louis Zamperini ab. Zamparini wurde schliesslich geehrt: An den Olympischen Spielen 1998 in Nagano, Japan marschierte er als Fackelträger ein. - Ein Held. -  Geduld, Geduld, es wird sich wenden, verlasst euch fest darauf, in Gottes weisen Händen, liegt aller Welten Lauf. Ja, das war der Zweite Weltkrieg.
Meine Leser und Leserinnen, bitte sprechen Sie über den Zweite Weltkrieg. Bitte machen Sie eine Liste der aktuellen Kriege! Sie schütteln den Kopf. Nein? Ich verstehe, dass Sie nichts von all diesen Scheusslichkeiten wissen wollen. Seien Sie wenigstens mutig und verurteilen sie Gräueltaten energisch. Danke.
Grössi, was war der Generalstreik?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Grössi, was war der Generalstreik?
Kind, Kind hör auf mit deinen Fragen. Pause. Bitte, bitte. Der Generalstreik? Pause. "Es war furchtbar. Ich hatte wahrlich alle Hände voll zu tun: Sechs kleine Kinder, eins nach dem andern und dann wieder schwanger. Ich wollte nicht mehr. Das "Heimet" (=Bauernhof) und die Wirtschaft und der Hunger. Wir, die Bauersleute, wir hatten Gott sei Dank genug, aber die in den Städten, diese Bettlerei. Immer kamen sie gelaufen. Sie wollten sogar Schmuck gegen einen Sack Kartoffeln und ein Stück vom Schwein tauschen. Rund herum der Krieg." Grössi glättete die Taschentücher und ich faltete sie. Der Krieg ja, aber ich fragte doch nach dem Generalstreik? Ausser Grössi wusste niemand etwas.
"Lass mir Zeit. Als ob es mit der Krieg nicht genug gewesen wäre! Zusätzlich hatten die in Russland im "siebezehni" (=1917) noch zwei Revolutionen, zwei. Sie wollten alles anders. Ich weiss zu wenig. 1918 nach der grossen Grippe - du weisst, ich habe drei Kinder verloren -, als der Krieg im Herbst langsam vorbei war, da gab es in Zürich eine gefährliche Versammlung mit vielen Ausländern. Es hiess in der Zeitung, die Russen wollten nun auch in der Schweiz eine Revolution machen - schau, ich verstand und verstehe das alles zu wenig - Warte. - Der Bundesrat machte deshalb wieder eine Mobilmachung. Unser Bekannter, Hans musste in Zürich einrücken. Es soll sehr gefährlich gewesen sein. Doch Hans hat später immer nur erzählt, wie sie zu zweit mit dem Gewehr bei Fuss hinter einem Lokomotivführer gestanden seien. Eine wunderbare Fahrt durchs Mittelland hätten sie gemacht. Unerwartet schnell hat man nichts mehr aus Zürich gehört. Schau, wir hatten anderes zu tun. Es wurde viel erzählt. Das nennt man den "Generalstreik". So, nun ruhig. Mach vorwärts mit Falten der Taschentücher. Ich brauche den Platz. Ich will die Überkleider in der Mitte durchglätten und dann falten." Um Grössi eine Freude zu bereiten, holte ich für uns beide eine Schale Tee aus dem Ofenrohr. Fein, er war noch schön warm.
2017, 15. Juni: Sie hatte die Ausstellung "1917 Revolution. Russland und die Schweiz" im Landesmuseum mehrmals besucht. Viele Bilder zeugten von Hunger, Kälte, Not, Elend, Unruhen, Krieg, Verfolgung und Vertreibung oder zeigten Photos von Zeitzeugen.  Viel Geschriebenes, das sie im Rahmen der Ausstellung nicht zu handhaben wusste.  Wenig Konkretes zum Generalstreik. Neu war, dass vieles, das sie damals durch Grössis Schilderungen erfahren hatte, nach den wenigen Angaben durchaus glaubwürdig war (für weitere Informationen ab ins Internet: in 0,49 Sekunden nur 112'000 Ergebnisse).
Was war deine ernüchternste Erinnerung als Mittelstufenschülerin an deine Zeit als Unterstufenkind?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was war deine ernüchternste Erinnerung als Mittelstufenschülerin an deine Zeit als Unterstufenkind?
Hatte ich als Mittelstufenschülerin ein wenig Musse, so machte es mir Freude, die Kleinen zu beobachten und mich an meine eigenen Erfahrungen zu erinnern: "Erinnern heisst nicht vergessen", selbst wenn ich vergessen will."
Nun ... es gab da etwas, das ich gerne vergessen hätte, aber nicht vergessen konnte, so sehr ich es vergessen wollte. Ich musste mir das als Mittelstufenschülerin eingestehen:" Du warst fähig, aus Neugierde zu quälen, doch immerhin hattest du den Anstand, das von dir gemarterte Tierchen zu töten. Ja, Punkt Schlusszeichen. ... . Das darf und kann und will ich nicht beschönigen, auch wenn die Erwachsenen Gesprächen zu diesem Thema auswichen oder noch schlimmer, mich beschwichtigen wollten, das sei doch nicht schlimm. Sie verstanden einfach nicht, es ging nicht um die kleine Schnecke. Die werden zum Glück für die Salatköpfe ohnehin von Igeln und Co. gefressen. Es ging um das, was ich getan hatte. Überhaupt, die Erwachsenen mit ihrer Ehrlichkeit. Ehrlichkeit forderte mir viel Mut und Härte ab. Ich wollte nicht in den Sumpf hinein rutschen, schon gar nicht darin stecken bleiben! Basta!
Nun also das unspektakuläre Erlebnis, das 2016 Schlüsselerlebnis genannt worden wäre: Wieder und wieder sah ich die kleine unbehauste Schnecke vor mir, die auf der Steinplatte unter dem Wasserhahn im Garten ihren Durst stillen wollte. Zufällig war mein kleiner Mädchenschuh auf sie getreten und ich hatte beobachtet, wie sie sich zusammenzog. Interessant. Sie streckte sich wieder nach dem Nass und ich tippte sie erneut an. Interessant. Sie musste sehr Durst haben, doch schon wieder mein Tritt. Interessant. Ich führte mein Spiel, meine Versuche weiter und stoppte nicht, selbst als ich spürte, dass ich dem kleinen Tier weh tat. Zwar erschrak ich ob mir, und doch fügte ich dem wehrlosen Ding mit Lust weiter Schmerzen zu. Dann packte ich mich am Schopf: "Nein, so nicht. Schäme dich. Du hast sie übel zugerichtet, töte sie." Ich erlöste mein kleines Opfer, indem ich es mit dem Absatz auf der Steinplatte zerrieb.
Du sollst nicht Töten, du sollst auch nicht quälen. Wie leicht das geschah! Dies sollte mir eine Lehre sein. Ich sagte: "Es tut mir leid." Den zweiten Satzteil, der da heisst: "Ich will es nicht mehr tun," konnte ich nicht sagen und sagte ihn auch nicht, da mich keine erwachsene Person dazu zwang. Statt dessen wiederholte ich leise: "Entschuldigung, hoffentlich tue ich es nicht mehr." Das stimmte für mich.
Das Goldene Buch und der Alkohol und die Schule?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Das Goldene Buch und der Alkohol und die Schule?
Grössi hatte etwas gegen Alkohol, und ich erinnerte mich, dass sie es gar nicht gerne sah, wenn Chueri am Sonntag, am späteren Nachmittag mit dem Velo ins nächste Dorf ins "Bahnhöfli" fuhr. "Er kommt gereizt zurück und reagiert zornig wegen jedem Wort, das man sagt oder eben nicht sagt," jammerte sie. Von Mama wussten wir, dass er sich dort ein Bierchen oder zwei oder vielleicht drei genehmigte. Sie erlaubte uns dann ausnahmsweise im Schlafzimmer zu spielen: "Verschwindet, ich will nicht, dass ihr ihn so seht." Einmal schaffte ich es, dass er mich mitnahm. In der Gaststube, an allen Tischen rauchende, laut gestikulierende alte Männer und vor jedem eine Bierflasche. Am ersten Tisch neben der Eingangtüre waren noch Plätze frei. Der Grossvater bestellte sich ein Glas Sauren (vergorener Apfelsaft) und mir ein Glas Orangina. Ich war irgendwie fasziniert von dieser mir neuen fremden Welt. Die alten Männer winkten: "Was ist los? Komm zu uns, wir haben gerade eine frische Runde bestellt." Ich schaute den Grossvater an. Mein lieber Grossvater blieb bei mir und winkte ab. Er war doch kein alter Mann wie diese da, und wir hatten seine Brissago bereits am Morgen geraucht. Ich musste husten und die Augen brannten mich. Mit Mühe schafften wir den Heimweg. Das war einer seiner letzten Besuche im "Bahnhöfli".
Nachher schimpfte und klagte er am Sonntag am späteren Abend: "Ich schaffe es nicht mehr, ich bin ein alter Mann." Waren wir daheim, holte ihm Mutter einen halben Liter Sauren aus dem Keller. Die Erwachsenen tranken ein Gläschen mit ihm und wir durften probieren, obwohl wir nicht sollten, ein ganz klein wenig. Meist genügte uns eine Nase voll. "Wenigstens etwas Gutes hat sein Altwerden," kommentierte Grössi. Dass wir probieren durften, das musste ein Familiengeheimnis bleiben, denn Kinder - Alkohol trinken - nein und nochmals nein. Mit den Worten "Was ihr da macht, ist nicht trinken. Ihr stillt euren Gwunder (= Neugier) und dann habt ihr es nicht nötig, heimlich einen Schluck zu nehmen," schloss Vater regelmässig den feierlichen Moment des Probierens. Als ich in die zweite Klasse ging, wurde dieses Geheimnis noch viel strenger, denn in der Schule wurde das "Goldene Buch" geführt.
Das kam so: Unser Lehrer und seine Frau waren Abstinenzler - ach, was es doch brauchte, bis ich dieses Wort nicht mehr vergass. Sie waren Mitglieder des Blauen Kreuzes, und sie verzichteten vollständig auf Alkohol: Keinen Sauren, keinen Wein, kein Bier, keinen Kaffee mit etwas drin, keinen Wunderbalsam und keine Wundermittel. Im Herbst und im Frühling, kurz vor dem Examen, sprachen wir einen ganzen Nachmittag über das Thema Alkohol, und der Lehrer warnte uns vor den Gefahren. Um uns in der Enthaltsamkeit zu unterstützen, wurde das sog. Goldene Buch geführt. Das war der grösste und schönste Ringordner, den ich je gesehen hatte. Darin bekam jedes Kind ein Blatt. Oben auf der Seite stand das Versprechen "auf Alkohol" zu verzichten und dann folgten viele Linien. Diese waren für Datum und Unterschrift vorgesehen. Die Frau des Lehrers führte dieses Buch mit uns.
Nach den allgemeinen Hinweisen, Ermahnungen und Erklärungen durften wir der Reihe nach ins Nähschulzimmer zur Frau des Lehrers und unser Blatt unterschreiben. Ich wusste, ich konnte und wollte nicht unterschreiben, denn zum Familienverband zu gehören und bei besondern Anlässen wenigstens ein Näschen voll zu nehmen, darauf wollte ich nicht verzichten. Ich war nicht gefährdet, wie man das nannte. Ich unterschrieb schliesslich, ich durfte ausnahmsweise mit der linken Hand schreiben, so wichtig war die Sache. Ich konnte sehr wohl Vorname und Name ordentlich schreiben. Für den Lehrer und seine Frau versprach ich schriftlich, auf Alkohol zu verzichten. Für mich waren es leere Worte, Ehrlichkeit der Erwachsenen. Schlimm, zum Verzweifeln, jetzt hätte ich ein Schlücklein gebraucht.
Eine Mittelstufenschülerin und Alkohol ??
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Eine Mittelstufenschülerin und Alkohol ??
Schnaps interessierte mich. Schnaps war mein gedachtes Wort für Alkohol. Man sprach nicht über Alkohol, nicht über Schnaps, und doch war er da. Warum dieses Getue? Ich wollte dem auf die Sprünge kommen und sammelte Erfahrungen und Beobachtungen. Erinnern und denken können waren dabei gefragte Fähigkeiten.
Au, au, sich nur nicht verletzen, sonst leerte Mama, und sie tat es gar nicht gerne, ein wenig Schnaps auf die Wunde, au, au. Trafen die Verletzung und der Schnaps Papa, so verzog er das Gesicht, schimpfte, schrie, machte Spass und wir lachten. Nicht Schnaps, sondern Reinbenzin verwendeten wir, um Heftpflaster sorgfältig, schmerzfrei und sauber abzulösen. Bei der Pflege von Wunden wollten wir immer alle zu schauen. Nach einem Gewitter - zum Glück war nichts passiert - tranken die Männer kalten Kaffee mit Schnaps, um sich zu beruhigen. So ein Gewitter war ein aufregendes Grossereignis. Angst gehörte dazu. Ich dachte: "Was nützt Angst," und liess mich doch von der Angst der andern mitreissen.
Wertloses Obst fütterten wir dem Vieh, machten Most daraus oder füllten es in ein Fass. Jeden Herbst, wenn es bereits kalt war, kam eine Brennerei ins Dorf und verwandelte dieses vergorene Obst zu Schnaps. In grossen Kesseln wurde es erhitzt, der Dampf oben von einer Haube abgefangen und durch ein Gestänge in eine Korbflasche geleitet. Nichts für kleine Mädchen, doch der Braumeister war freundlich. Wir sprachen miteinander, deshalb wusste ich, dass jede Obstsorte einen andern Schnaps ergab. Weitergehende Details des Brennens interessierten mich nicht. 
Was machte Schnaps mit den Leuten, was Milch, Süssmost, Wasser oder Tee nicht konnten? Er brannte auf der Zunge, schrecklich. Saurer Most, Bier und Wein, alles schrecklich, ich hatte bereits alles probieren dürfen. Was machte Schnaps mit den erwachsenen Männern? Man werde betrunken, war die gängig Antwort. Nur Grössi war vernünftig."Schnaps hilft beim Vergessen," wiederholte sie bei unseren geheimen Gesprächen," Schnaps hilft beim Vergessen von Sorgen. Er macht fröhlich. Er gibt eine Fröhlichkeit, die man wieder und wieder haben möchte. Er kostet viel Geld. Dann fehlt der Familie das Geld, um Essen zu kaufen, und das macht neue Sorgen, und der Vater braucht wieder Geld, um Schnaps zu kaufen, um die Sorgen zu vergessen." Schrecklich die vielen Sorgen, die Grössi aufzählte. Für viele Frauen war Schnapps die grösste Sorge. Kein Geld, zuviele Kinder, keine rechte Arbeit, kein Friede in der Familie. Diese Sorgen verstand ich. Der Schnaps half diese Sorgen zu vergessen, das verstand ich nicht.
Grössi, was war der Erste Weltkrieg?
Seite 233
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Grössi, was war der Erste Weltkrieg?
Ich wusste sehr wohl, wir hatten drei Generäle gehabt. Mein Liebling General Henri Dufour, der den Krieg verhindert hatte, den "deutschen" General Ulrich Wille im Ersten Weltkrieg und Henri Guisan im letzten Krieg, über den niemand sprechen wollte.
2017 7. November: Der Korrektor hatte einen vierten General erwähnt, nämlich Hans Herzog während des Deutsch-Französischen Krieges 1870-71. Sie wusste tatsächlich schon damals, dass es vor dem Ersten Weltkrieg den Krieg zwischen Deutschland und Frankreich gegeben hatte. Der Nachbar, der sich für Geographie interessiert hatte, war ein Bébé am Ende jenes Krieges gewesen. Sie wusste auch, wenn sie ehrlich sein wollte, dass französische Soldaten in die Schweiz "kamen", und dass die Armee der Schweiz noch nicht gut organisiert war. Einschub End.
Grössi und ich setzten damals Wintergemüse. Warum ich wieder zu fragen begann, daran konnte sie sich nicht erinnern. Doch Grössi sagte damals wie so oft davor und darnach: "Kind, Kind, du weisst doch, dass ich nichts Genaues weiss." "Aber was denkst du? Grössi, du hast immer gesagt, jener Erste Krieg habe in der Luft gelegen. Was heisst das? Wegen einem Mord und Missverständnissen hätten sie zu kämpfen angefangen, in ganz Europa, ein Durcheinander? Stimmt es, dass es vor jenem Krieg fast keine Flieger gab, dass sie am Ende jenes Krieges, aus Flugzeugen schossen und dass sie die Bomben erfunden hatten? Stimmt es, dass sie am Ende jenes Krieges auch mit Panzern kämpften? Stimmt es, dass am Ende jenes Krieges alles anders war? Wie anders?" Nach einer Pause und nach vielem Nicken und grossen, drängenden Blicken sagte die alte Frau schliesslich: " Ja, viel Angst, Elend und Not und Hunger, Elend und Not, töten und zerstören, sinnlos. Gott sei Dank, wir blieben verschont. Geh und hole die Giesskanne. Die Erde ist trockener, als ich meinte, und die Wolken haben sich verzogen," beendete Grössi mein Thema, denn sie wusste, wie gerne und sorgfältig ich die frisch gepflanzten Setzlinge angoss.
Ein Farbkasten ?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Ein Farbkasten ?
An einem regnerischen Mittwoch-Morgen, als wir nicht auf dem Pausenplatz turnen konnten, zeigte uns der Lehrer das Geschenk der Firma Caran d'Ache: Einen Farbkasten.
Wir standen hinten um den Tisch. Ein Gedränge, alle wollten die Nase zuvorderst haben. Der Farbkasten, eine kleine Blechkiste wartete auf dem Tisch und die linke Hand des Lehrers gab uns ein Zeichen: "Gut, eine Freude zu sehen, wie schnell ihr einen Kreis gebildet habt." Pause. Der Lehrer nimmt den  Kasten in die Hände. Alle Augen sind darauf fixiert: "Ich zeige und erkläre euch nun diesen Farbkasten. Wenn ihr so ruhig bleibt, male ich auch ein wenig damit." Wir überfliegen nun des Lehrers Erklärungen. Schliesslich malte er Bäume und eine Wiese. Er war ein Künstler.
Mama kaufte für mich ganz allein einen Kasten Deckfarben in der Stadt. Einfach so. Wunderbar. Ich versteckte ihn unter dem Kopfkissen meines Bettes. Auch wenn ich noch so müde war, ich konnte ihn vor dem Einschlafen kurz anschauen und mich daran freuen. Danke Mama.
Der Hausschwamm und die unheimlichen Sorgen ?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Der Hausschwamm und die unheimlichen Sorgen ?
Papa nahm die "ernste Sache" leicht."Geschwätz, nichts als Geschwätz. Passiert etwas, so sind wir den Bomben und den Strahlen machtlos ausgesetzt. Da nützen weder die Armee des Bundesrates noch Mamas Notvorräte etwas. Ich könnte Uniform und Gewehr ruhigen Gewissens abgeben," dies war seine Überzeugung. Und doch ging er gelegentlich mit mir in den neuen Keller, und wir machten eine Besichtigung vor Ort, wie die Erwachsenen so was damals nannten. Zu unserem neuen Keller, der mich beruhigte, waren wir durch ein Unglück, einen teuren Schadensfall gekommen. Es begann mit einem hässlichen Fleck an der Trennwand neben dem Fass mit dem Brennobst. Wir brachten die Stelle nicht sauber. Nichts half, niemand wusste, was es sein könnte.
Da las Papa in der Bauernzeitung etwas von "Hausschwamm". Er verlangte vom erwähnten Experten einen Kellerbesuch und dieser erkannte auf den ersten Blick: "Hausschwamm. Handeln sie sofort, er breitet sich im Herbst schnell aus." Wir bestellten das empfohlene Mittel. Es traf am nächsten Tag per Express und Nachnahme ein. Es war sehr teuer. Gemeinsam suchten wir nach "Flecken", und Papa pinselte alle jeden zweiten Tag tüchtig ein. Einige verschwanden, doch tauchten neue auf. Wir verbrauchten drei Büchsen und der Experte wurde wieder bestellt: "Schlechter Bericht. Bretter, Balken, Mauerwerk und Erde, alles ausbrechen und in eine Kiesgrube führen!" Mama machte sich Sorgen. Papa erklärte: "Ihr wisst, wir haben immer mehr Vieh und ich träume seit einiger Zeit von einem Futtersilo oder einem richtigen Rübenkeller. Nun wird es der Rübenkeller sein, der Hausschwamm bestimmt es so." Wir waren guter Dinge, und ein trockener Herbst erleichterte unsere Arbeit. Der Maurer stüzte Grossmutters Stube ab und - zusätzlich zur strengen Herbstarbeit - schafften wir täglich mit vereinten Kräften einen Wagen voll krankes Material hinauf, hinaus und sofort mit Pferd und Wagen weg in die Abfallgrube der Gemeinde.
Der Experte war zufrieden. Wir hatten weit mehr Erde weggeführt, als verlangt, da Papa einen grossen Rübenkeller wollte. In der zusätzlichen Ecke durften wir für diesen Winter unsere Rüben lagern. War die Luft trocken, so lüfteten wir tüchtig, und gegen Ende des kommenden Sommers gab der Experte grünes Licht. Der Keller wurde nach neuster Mode ausgemauert, damit der Schwamm keine Chance mehr hatte. Mama bekam ein praktisches Gestell für die Notvorräte, gross genug auch für Sachen, die wir nur gelegentlich brauchten (Schuhschmiere, Bodenwichse, Bürsten und Ähnliches).
Unsere Besichtigungen: Papa: "Hier drin passiert uns nichts: Boden aus Beton, Diele aus Beton, gemauerte Wände, ein kleiner ausgemauerter Lichtschacht, eine Öffnung gegen das Futtertenn und eine dicke Eichentüre zum Keller sowie Eichenbretter zum Verschliessen der beiden andern Öffnungen, ein Wasserhahn und welch ein Luxus, ein kleiner Schacht. Ist die Lage sehr gefährlich, schaffen wir Wolldecken, etwas zu Essen und Taschenlampen hier hinein. Wenn auf die Stadt am See eine Bombe fällt, überleben wir hier drin vielleicht aufs erste, doch den Strahlen sind wir machtlos ausgesetzt. Ich werde mich um die Tiere kümmern, ihr bleibt drin. Nach ein paar Tagen  ????  Schau, mit diesem neuen Keller sind wir besser gerüstet als andere. Ich bin sicher, die werfen keine Bombe ab, es passiert nichts. Bete."
Ich lag warm und weich und dankbar im Bett. Im Kopf drin dachte es: Heute haben wir die ersten Rüben im neuen Keller eingelagert. Gott sei Dank, wir haben einen Luftschutzkeller. Ärger und Streit sind vorbei. Die Weizenernte war besser als erwartet, und viele Äpfel reiften an den Bäumen. Wir hatten die Schäden des Hausschwamms unterschätzt. Grössi musste in den oberen Stock ziehen. Ihr Zimmerboden und ihr Kachelofen waren auch zu ersetzen. Ich konnte mir in der Erinnerung noch gut vorstellen, wie wir sorgfältig die Kacheln in Kisten legten und hinaus trugen. Nun dachte ich richtig. Ich steuerte die Gedanken und schlief dabei ein.
 
Und wie war das mit der Bombe?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Und wie war das mit der Bombe?
Die NZZ hatte in ihrer Sonntagsausgabe einen sehr langen Artikel zur Bombe veröffentlicht. "Was ich euch jetzt erkläre, braucht ihr nicht zu behalten, aber ihr sollt es einmal gehört haben," begann der Lehrer seinen Vortrag. Wir sassen still in den Bänken. Der Lehrer sprach, machte eine Skizze an der Tafel und notierte ein paar Wörter. Ich hörte gerne Sachen, die wir nicht zu wissen brauchten, und ich schrieb so halbheimlich die beiden Wörter URAN und PLUTONIUM auf ein Blatt. Der Lehrer sah mich wohlwollend an. Er hatte verstanden, dass er mich nur schwer am Abschreiben solch unbekannter Wörter hindern konnte. Wir hatten das Thema "unnötige Wörter" an einem regnerischen Tag ausführlich miteinander besprochen. Ich hatte mich abgemüht und dem Lehrer zu erklären versucht, dass mein Herz froh werde, wenn ich unnötige Wörter sammeln könnte. Ich fragte ihn direkt, wem das denn schade. Er schickte mich ohne Antwort heim und am folgenden Morgen sagte er: "Tu es, wenn es dich freut, denn es schadet niemandem."
Das Wort "URAN" konnte ich mir leicht merken: Urgrossmutter, Urgrossvater, viele Ahnen und Urahnen, ein Urahn. "BLUTONIUM" hiess im Dialekt "blutt-oni-Um"hang, in Schriftsprache "nackt- ohne-Um"hang. Niemand interessierte sich für meine Eselsbrücken, doch sie halfen mir. Ein Kraftwerk ohne Wasser dafür mit vielen ganz kleinen "Urahnen" gab sehr, sehr viel mehr Strom als ein Wasserkraftwerk, doch es war gefährlich. Die Amerikaner wollten und brauchten diese Kraftwerke mit Urahnen, denn die gaben nicht nur Strom für die Familien sondern auch das Blutt-oni-um für die Atombomben. Unglaublich, niemand sprach darüber, die Erwachsenen kannten die Geschichte von den zwei Städten in Japan. Ich kannte sie auch. Unglaublich, meine Fragen wurden einfach so beiseite geschoben. Unglaublich. Als Mittelstufenschülerin nervte ich nicht mehr wie als kleines Kind, ich schwieg und dachte nach und wollte vergessen. Ich wollte ja später nach Amerika, denn von dort kommt alles Gute und Neue. Ich bemühte mich auch, die Geschichten meines lieben Grossvaters selig von den Indianern und den Negern in meinen Gedanken zu vergessen. Doch das klappte nicht. So beschloss ich: Denken ist das Gegenteil von vergessen. Ich verstand das alles nicht. Für mich stand fest, aus Amerika kommt alles Neue und Gute. Punkt Schluss. Achtung Sekundarschulprüfung!
Diese Atombomben brachten sogar den Bundesrat in Aufregung und er verlangte, dass in neuen Häusern immer ein Luftschutzkeller eingebaut wird, ähnlich wie der Rübenkeller von Papa, nur kleiner und noch besser. Ein Ding der Unmöglichkeit! Unser neues Schulhaus wurde mit so einem Luftschutzkeller gebaut und sogar mit einem Kellerspital, oder hiess es Spitalkeller, mit einer schmalen ausgemauerten Einfahrt, gerade breit genug, damit ein kleiner Jeep, beladen mit verletzten Soldaten hineinfahren konnte. So weit durfte es nicht kommen! Punkt Schluss. Ich ging regelmässig auf dem Bauplatz vorbei. Die Arbeiter kannten mich. Sie lachten: "Die Chefin kommt." Einmal musste ich länger als gewohnt auf der Baustelle bleiben, denn Männer in Uniformen, der Baumeister und der Architekt sprachen mit ernsten Gesichtern. Sie hatten wahrlich andere Sorgen, als mich zu bemerken. Vorsichtig und mit lieben Gedanken folgte ich ihnen. Wir gingen in den Kellerspital. Es gab noch nicht viel zu sehen ausser kleinen Räumen. Ich verstand ihre Wörter gut, und verstand die Sätze trotzdem nicht. Es dauerte lange, doch ich wagte nicht allein wegzugehen. Hinten hatten sie die provisorische Türe versperrt und nach vorn kannte ich den Weg nicht.
Am nächsten Morgen teilte uns der Lehrer mit: "Ihr dürft gerne bei eurem neuen Schulhaus vorbeigehen, aber im Keller habt ihr nichts zu suchen." Punkt. Papa behauptete: "Wir brauchen diesen Spital nie." Ich betete: "Hoffentlich brauchen wir diesen Spital nie!"
War der Krieg eigentlich fertig? Was ist ein Waffenstillstand?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

War der Krieg eigentlich fertig? Was ist ein Waffenstillstand?
Ich wusste, die Waffen schwiegen. Ich wusste, wir sind verschont geblieben. Ich wusste nicht, ob der Krieg fertig war. Ich fragte mich: "Stehen die grossen Tanks und die Flugzeuge einfach nur still oder sind sie sauber geputzt in den Kasernen zurück. Als Mittelstufenschülerin schaffte ich es, diese Frage so zu bilden, dass mir der Lehrer eine Antwort gab, die für eine erwachsene Person gepasst hätte. Zufriedenheit, Freude und Stolz erfüllten mich. Der Lehrer bemühte sich. Pech für uns beide, er sprach zu schnell und sagte wieder einmal zu viel. Seine Wörter wurden in meinem Kopf zu Bildern, und diese lenkten mich ab. Mit tief gesenktem Kopf lachte ich im Verstohlenen: "Waffenruhe = die Waffen ruhten," hatte er gesagt, mein Bild: Die Waffen schliefen, sie lagen bequem auf dem Sofa. Der Lehrer: "Die Waffen schwiegen", meine Gedanken: Die Waffen halten die Hand vor den Mund, sie sagten nichts, sie dachten. Ich dachte: "Lehrer, Lehrer, du willst, dass wir immer die richtigen Wörter suchen, du solltest sagen: Die Waffen stehen herum und die Soldaten ruhen sich aus, sie schweigen und trauern um die toten Kameraden." Ich war wieder einmal nicht bei der Sache, wie angeblich oft. Achtung: Sekundarschulprüfung!
Doch ich lernte: Die Grossmächte hatten, als ich ein kleines Bébé war, einen Waffenstillstand vereinbart. Die Waffen standen still, und immer mehr Soldaten konnten heim zu ihren Familien. Richtig Friede zu machen, sei zu schwierig gewesen. Ich war froh, dass wir mit dem Lehrer immer wieder über die Welt sprechen konnten. Als Mittelstufenschülerin war ich dankbar, dass wir während dem Essen den Radio einschalteten und die Nachrichten hörten. Mit Handzeichen ermahnte ich meinerseits die Kleinen zum Schweigen. War das schwierig, so versprach ich ihnen etwas mit grossen Augen. Schnappte ich Wörter wie Tank oder Panzer auf, dachte ich sofort an Krieg. Das merkte Mama. Mit leichtem Kopfschütteln bat sie mich zu schweigen, und ihre zwinkernden Augen vertrösteten mich auf später. Wir waren uns einig, die Kleinen brauchten nicht alles zu wissen. Immer wieder beruhigte mich dann Mama. Beim schwierigen Thema "Tank und Panzer" nahm sie mich jeweils in den Arm, und ich lauschte der immer gleichen Erklärung. Nahe bei Mama kamen mir ihre bekannten Worte wieder in den Sinn: "Wenn ihr, meine Kinder gar nicht gehorcht und mault, hole ich manchmal den Teppichklopfer und ihr merkt, was euch droht. Ihr macht dann, was ich will und wir sprechen darüber. Ganz ähnlich geschieht das in den ausländischen Städten. Sind die Leute mit der Regierung nicht zufrieden, so maulen sie auch. Damit die Regierung das merkt, machen sie manchmal riesige Versammlungen und schreien laut. Dann lässt die Regierung die Tanks durch die Stadt fahren, und die Menschen bekommen Angst. Sie verschwinden in den Häusern. Sie gehorchen, denn sie wollen keinen Bruderkrieg, und wegen der Bombe schon gar keinen dritten grossen." Alle wollten, dass die Waffen weiterhin still standen und nicht schossen. War der Krieg fertig? Sicher war, die Waffen standen meistens still.
Wie war es in den Ländern um uns herum?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie war es in den Ländern um uns herum?
Über der Wandtafel für die Fünft- und Sechstklässler hing die alte Europakarte, deren Aufroll-Mechanismus nicht mehr funktionierte. Der Lehrer erklärte: "Ich werde bald pensioniert und überlasse es meinem Nachfolger, eine neue Karte zu bestellen. Die Aufteilung der Länder wird sich in den nächsten Jahren ohnehin wieder ändern. So ist es besser zu zuwarten. Mit jenen drei kleinen Ländern dort oben an der Ostsee (jedes ist in einer andern Farbe eingezeichnet und jedes hat in etwa die Grösse der Schweiz ), der Lehrer streckte sich, er stand auf die Zehen, denn das Schilfrohr war etwas zu kurz - mit jenen drei kleinen Ländern weiss niemand, wie es weitergeht. Lassen wir das. (Einschübchen: Gemeint waren Estland, Lettland und Litauen). Unsere vier grossen Nachbarn heissen ... ?" er fuhr mit dem Schilfrohr über ein Land und wir riefen den Namen im Chor .
Über unsere Nachbarländer wusste ich zu wenig. Mit den paar Fetzen, die ich gehört hatte, konnte ich mir kein befriedigendes Bild machen. Ja, der Krieg hatte in allen vier Ländern die Häuser zerstört. Inge aus Stuttgart und das Flüchtlingskind hatten uns ein wenig davon erzählt, aber ich verstand das alles nicht gut. Mir vorzustellen, was es bedeutet "von Bomben zerstört und ausgebrannt", das wagte ich nicht. Deutschland und Österreich waren besetzt. Was heisst das? An Weihnachten sind in der Kirche alle Plätze besetzt. "Rot" hiess bei einem neumödigen (= nach neuer Mode) WC besetzt. Grössi besetzte mir immer einen Platz neben sich. Österreich und Deutschland waren also von den Siegern besetzt, d.h. die Soldaten von Frankreich, England, Amerika und Russland blieben dort. Österreich wurde 1955 wieder frei, im Herbst ging der letzte fremde Soldat heim. Österreich war nun ein Land wie wir. Es hiess, es habe versprechen müssen, ein Land wie wir zu sein. Das war doch gut, wir waren ja verschont geblieben. Deutschland blieb von Franzosen, Engländern, Amerikanern und Russen weiterhin besetzt. Mir war das unheimlich. Achtung: Sekundarschulprüfung!
Wollte ich dem alten Nachbar, der sich für Geografie interessierte, eine Freude machen und begrüsste ich ihn mit: "Bébé am Ende des Krieges," und er erwiderte: "Bébé am Ende des Krieges." Wir lachten beide. Seine Mutter hatte ihm erzählt, er sei am Ende des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich geboren. Also war er - welch eine Mühe hatte ich, ihm das zu erklären - wie ich ein "Bébé am Ende des Krieges". Auf den Krieg des Nachbar folgte der Erste Grosse Weltkrieg und dann erst mein ZweiterGrosser Weltkrieg. Dazwischen soll es auch allerlei andere kleine Kriege gegeben haben????? Doch nun kommt das Spannende zu den Nachbarländern! Der Nachbar erzählte mir immer wieder langsam, wie ich das verlangte, von früher: Es sei alles ganz anders gewesen. Zur Zeit seiner Geburt hätten sich die vielen kleinen Fürsten nördlich des Rheins unter dem Namen Deutschland mit einem Kaiser zusammengeschlossen. Erst so sei Deutschland entstanden. Die kleinen Fürsten in Italien hätte sich unter dem Namen Italien mit einem König zusammengeschlossen und sie wären Italien geworden. Frankreich mit dem Kaiser sei immer Frankreich gewesen. In Österreich mit seinem Kaiser habe es immer viele Kriegereien gegeben. So soll es mit den Ländern um uns herum gewesen sein. Der alte Nachbar war nie dort gewesen. Er und ich, wir hatten unser Land, die Schweiz nie verlassen. Und - wir fanden beide tüchtige Kaiser und Könige gut. Ich wollte gerne von Ländern mit Kaisern und Königen umgeben sein. Ob es sie noch gab, interessierte mich nicht. Dank der Titelseite des Gelben Heftes hatten wir wenigstens Bilder von der Königin Elisabeth I von England. Achtung: Sekundarschulprüfung!
Ich konnte dem alten Nachbarn erklären, dass sich unsere Kantone unter dem Namen Schweiz mit dem General Dufour zusammengeschlossen hatten. Warum haben sich eigentlich alle zusammengeschlossen? Der Alte behauptete, wegen der Zusammenschlüsse seien nun alle frei und gleich. An dieser Stelle trennten sich unsere Wege. Ich wollte keinen Streit mit ihm, und er wollte auch keinen Streit mit mir. Er ging nach rechts und ich nach links. An einem andern Tag sagte ich: "Wer sechs Tage in die Schule geht, ist nicht frei." Der Alte meinte: "Wer sechs Tage arbeitet, ist auch nicht frei." Und dann gleich, das sind wir schon gar nicht. Es gibt Männer, die viel Land besitzen, und Männer, die kein Land besitzen. Ich behauptete, dass Männer mehr Rechte als Frauen hätten. Er ging nach rechts und ich nach links.   
Warum wir in der Schule viel von den Höhlenbewohnern und den Pfahl-bauern gelernt haben, das wussten weder der Alte noch ich. Wir vermuteten beide: "Vielleicht wünschten sich viele Leute, wie er und ich, ein Leben als Jäger und Sammler (und ich dachte zusätzlich als Jägerin und Sammlerin) in einem warmen Land: Keine Hausaufgaben, keine Feldarbeit, keine Hausarbeit, keinen Notvorrat, durch Wälder und Wiesen in die Weite ziehen, nach dem Lagerfeuer in Laubhütten schlafen. "Auf, zurück ins Paradies," ärgerte mich der Alte. Der Wind rauschte in den Bäumen. Meine Leser und Leserinnen, was denken Sie über die Veränderungen in Europa? Werden wir bald eine Internet-Community?
Was habt ihr im Geschichtsunterricht gelernt?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was habt ihr im Geschichtsunterricht gelernt?
Wann und wo und was und von wem lernte man eigentlich die Geschichte der Welt? Dank meiner spitzen Ohren, der Sechsklassenschule, dem Radio, dem Familientisch, dem Dorfklatsch, der NZZ des Lehrers und von unterwegs wusste ich allerhand und hinten im Viert-, Fünft- und Sechstklass-Lesebuch stand vieles geschrieben, das ich nur schwer verstand. Etwas ganz Schönes: Während wir Mittelstufenschüler am Montagnachmittag zeichneten, las der Lehrer den Kleinen die zwei neuen SJW-Hefte vor, eines erzählte vom Leben einer Pfahlbauer-Familie und das andere von einem Höhlenbewohner-Vater, der mit  seinen zwei Buben auf die Jagd ging, und der Höhlenbewohner-Mutter, die mit ihren zwei kleinen Mädchen Pilze suchte. Meine Eltern kauften diese Hefte, beide zusammen kosteten 1 Franken 20 Rappen. Wieviel kostete eines? Wir lasen die Hefte im Winter gemeinsam am Stubentisch, jedes einen Satz. Damit wir das Geschriebene gut sehen konnten, zog Mama die Lampe nach unten. Grössi sass auf dem Sofa im Dunkel, sie hörte zu und kraulte die Katze.
Nun zur Sache: 1291 die Gründung der Eidgenossenschaft. Das müsst ihr im Schlaf wissen! Im Lesebuch standen dazu die beiden Gedichte "der Bannwald" und "Mutter, ich bleibe bei dir", Auszüge aus Schillers Wilhelm Tell. Diese Bergler, alles mutige Leute, die sich dem Leben stellten. Der Lehrer erzählt uns viel. Er kannte neben den Bergen, Tälern und Seen der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden auch die Kantone Luzern, Zug und Glarus persönlich. Wenn ich richtig verstand, so war das Leben damals überall und immer ziemlich gleich. In meinem Leben hatte sich bereits vieles verändert. Neu hatten wie ein Telefon, einen Kartoffelgraber, elektrisches Licht im untern und im obern Gang, eine automatische Waschmaschine und einen elektrischen Kochherd. Was hatte sich früher geändert?
Mit Papa, Mama und dem Lehrling konnte ich von Wilhelm Tell schwärmen. Grössi hatte mit den Bergfrauen Mitleid. Sie schüttelte den Kopf: "Von den Frauen, den Kindern, den vielen gewöhnlichen Männern, über das Tagewerk dieser Menschen sprecht ihr nicht. Glaube mir, es waren harte Zeiten, die hatten kaum zu essen. Magere, steile. kleine Äckerlein und acht Monate Schnee. Häufig hatten die im Winter sogar mit ihren Tieren das Nachtlager geteilt." Ich war stolz, eine Schweizerin zu sein. Im warmen Bett während dem Einschlafen zählte ich mir all die Kriege auf, die wir wissen sollten: die Schlasch bei Morgarten, die Zürcher Mordnacht, Sempacherkrieg, der alte Zürichkrieg, die acht örtige Eidgenossenschaft, Schwabenkrieg, Karl der Kühne: bei Grandson das Gut und bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut, die dreizehnörtige Eidgenossenschaft. ...Und ...  Ende des Stoffes der Primarschule.
In der Geographie lernten wir die Namen aller Kantone, und diese Kantone machten 1848 die Bundesverfassung und Dufour aus dem Lesebuch zeichnete die Schweizerkarte, verhinderte einen Krieg und arbeitete beim Roten Kreuz. Schliesslich kamen die Gespräche mit dem alten Nachbar, der sich für Geographie interessierte. Achtung:  Sekundarschulprüfung.
Ein Aufstand in Ungarn, was war das?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Ein Aufstand in Ungarn, was war das?
"Ich weiss nicht, mir gefallen die Entwicklungen in Osteuropa nicht," so immer wieder Papas nachdenklich klingender Kommentar nach den Nachrichten. Mama und ich hatten den Notvorrat vergrössert: 30 Flaschen Rapsöl, 50 kg Salz, 50 kg Zucker, 10 kg Hörnli, 5 kg Reis, Mehl und Kartoffeln, Gemüse und Obst hatten wir ohnehin. Es lag etwas in der Luft. Es konnte jederzeit losgehen!
Ende Oktober 1956 waren in vielen Städten allerhand Versammlungen und in Budapest grosse Studentendemonstration, denen sich immer mehr Leute anschlossen. Dann die Meldung in den Abend-Nachrichten: "Überraschend ein Aufstand in Ungarn." Die Radiosprecher wechselten sich ab und berichteten mit erregten Stimmen viel, viel. Sie zählten Plätze und Strassen auf. Wir hörten alle gespannt zu. Schüsse waren gefallen. Die Eltern tauschten Blicke aus. Grössi ging früher als gewohnt zu Bett, sie fühle sich nicht wohl. "Gute Nacht, Mutter, wir fühlen uns auch nicht wohl," meinte Papa. Wir winkten Grössi nur mit der Hand und sie nickte uns zu. Wir hatten Angst. Wir schwiegen. Diese Nacht teilten wir Kinder das Ehebett mit der Mutter. Papa war das zu eng, und er schlief in meinem Bett ausgezeichnet. Am nächsten Morgen verzog sich der Nebel bald, und die Herbstsonne schien warm. Es wartete viel Feldarbeit, wir waren wegen dem Regen im Rückstand.
Im Radio jeden Tag neue Horrormeldungen - Schiessereien in den Strassen - eine neue Regierung - alle unsere Kartoffeln lagen nun endlich im Schopf - der Einmarsch der Russen - wir hörten die Nachrichten immer. - Die Rüben waren noch einzubringen. - Alle politisierten. - Wir Kinder politisierten auf dem Pausenplatz. - Ausführliche Berichte in der NZZ. Der Lehrer fand es richtig, dass der Westen nicht eingriff.
Verhaftungswellen. .... Flüchtlingswellen. ... Schliesslich reisten 12'000 Flüchtlinge in Buchs ein.
Flüchtlinge aus Ungarn ?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Flüchtlinge aus Ungarn ?
Ja, 1956 Flüchtlinge aus Ungarn. Der wirkliche Krieg war ganz nah. Wir ergänzten den Notvorrat. Die Sekundarschule nahte trotzdem. Behüte sie und uns Gott. Der Bundesrat hatte sich bereit erklärt, 12'000 Flüchtlinge aufzunehmen. Sie reisten per Bahn in Buchs ein. Sie hatten alles zurücklassen müssen.
Wir spendeten pro Familienmitglied einen Sack Kartoffeln, vier Harrasse Äpfel, Küchentücher und ein wenig Geld. Alle Familien spendeten. Ein Lieferwagen fuhr damit nach Buchs. Wir waren dankbar. ... Flüchtlinge aus Ungarn. ... Wie konnte das nur sein? Tief drin in meinem Herz war ich überzeugt gewesen, dass die bösen Menschen am Aussterben wären. Und nun das! ... Flüchtlinge aus Ungarn. Die Worte verfolgten mich. ... Flüchtlinge aus Ungarn, es dachte und es drehte sich immer derselbe Satz in meinem Kopf. 12'000 Flüchtlinge. Das Dorf mit unsere Kirche zählte etwa 500 Einwohner. Vierundzwanzig solche Dörfer. Ich schickte diesen Menschen gute Gedanken. Sie hatten kein Gesicht und keine Stimmen. Es kamen Erwachsene und Kinder, namenlose Gestalten. Mein Atem stockte immer wieder. Die Hände hielten beim Schreiben der Hausaufgaben inne. Das Herz klopfte langsam und leise. Ich schüttelte mich und machte vorwärts. Doch schon dachte ich an Alfi, die allein auf der Missionsstation leben musste. Hoffentlich waren die Eltern, oder wenigstens der Vater oder die Mutter bei den Flüchtlingskindern. Es war Herbst. Nach dem nassen Sommer waren wir mit den Feldarbeiten im Rückstand. Zum Glück hatten wir einen neuen Rübenkeller.
Budapest, Wien, Buchs, jeden Tag traf ein Zug ein, und jeden Abend betete ich für sie. Buchs, als Grenzort war vorbereitet. Das Dörfli, die Barackensiedlung neben dem Bahnhof, aus dem Zweiten Weltkrieg wurde wohnlich hergerichtet. Täglich neue Meldungen. Am Abend im warmen Bett vor dem Einschlafen erfand ich eine FortsetzungGeschichte mit immer denselben Personen: Vater, Mutter und Zwillingsmädchen in meinem Alter. Im Stimmengewirr der Erwachsenen hörte ich die Stimme meiner Zwillinge. Sie erzählten: "Es ging alles schnell. Papa drängte, sie wollen mich holen. Wir zogen uns warm an, die Winterschuhe und den Mantel. Papa suchte allerhand Papiere im Kasten. Die Mutter packte etwas zu essen ein. Auf einem Umweg rannten wir zum Bahnhof und sprangen auf den Zug. Dieser sauste los. Die Eltern fanden eine Ecke zum Sitzen, sie nahmen uns auf die Knie, wir kuschelten uns zusammen. Der Zug rollte, es wurde dunkel, der Zug rollte, wir schliefen und rollten - unheimlich, wir rollten fort, nur fort. Über die Grenze nach Österreich, durch Österreich, in die Schweiz, und in Buchs stiegen wir aus. Eine freundliche Männerstimme begrüsste uns auf ungarisch und schickte uns ins Barackendörfli." Sie waren bei uns. Ich schlief ein.
(Einschübchen: Ich hatte mir damals nicht nur vorgestellt sondern aufgeschrieben, wie ich mich mit den Zwillingen traf und mit ihnen sprach. Doch mein Wunsch nach einem entsprechenden Aufsatzthema erfüllte sich nicht). Die Sekundarschulprüfung nahte trotzdem.
Was lernten wir in der Schule zu den Flüchtlingen?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was lernten wir in der Schule zu den Flüchtlingen?
"Was ich euch nun erzähle, ist Zeitgeschichte und damit Oberstufenstoff," begann der Lehrer jeweils seine spannenden Ausführungen. Achtung: Sekundarschulprüfung. Wie eine Katze, die zum Sprung auf einen dummen Vogel ansetzt, vor Freude ein wenig zittert, so öffnete ich das Zeichenheft und setzte mich mit verschränkten Armen senkrecht hin. Ich wollte die wichtigen Wörter, die der Lehrer auf die Wandtafel schrieb, notieren. Dies half mir beim Erzählen am Familientisch.
Oktober 2016: Als alte Frau staunte sie über die Denk-Fähigkeit, die sie damals als Mittelstufenschülerin schon hatte. Dass sie diese in der Oberstufe bald eingebüsst haben sollte, das ahnte sie nicht, und das hätte sie niemals geglaubt, wer immer ihr das gesagt hätte. 2916 verzog sie den Mund und warf einen verächtlichen Blick auf sich selber. Sie schämte sich, dass sie nun als alte Frau gar nicht so viel mehr verstand als das, was ihnen damals der Primarlehrer erzählt hatte. Meine Leserinnen und Leser, die Welt entwickelte sich dann rasant weiter. Dass Sie jetzt mit dem Internet weit mehr wissen, oder hätten wissen können, das war ihr klar. Erlauben Sie mir eine Bitte: Schmunzeln Sie ein wenig, wenn Sie diese Erinnerungen einer alten Frau an ihre Jugend in der Vor-Internet-Zeit lesen. Glauben Sie mir, es war nicht immer schön. Was war da doch für viele rasante Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg! Einschub Ende.
Nun die Wörter in meinem Zeichenheft: Zeitgeschichte, Kommunismus, Eiserner Vorhang, Kalter Krieg. Ich war enttäuscht, nur so wenige. Der Lehrer war geduldig, er unterrichtete uns fast täglich ein paar Minuten in Zeitgeschichte. Plötzlich verstand ich, ich hatte einen Gedankenblitz: "Zeitgeschichte, das ist das Jetzt, die Gegenwart, das Jahr 1956. Geschichte funktioniert wie Grammatik und umfasst Vorgegenwart, Gegenwart und Zukunft. Die Vorgegenwart erzählt, was passiert ist, was wir selber erlebt haben und was wir jetzt noch merken. Beispiel: Der Eiserne Vorhang hat Europa in zwei Teile zerschnitten.  Die Gegenwart beschreibt, was gerade passiert. Beispiel: Russische Panzer fahren durch Budapest. Die Zukunft sagt voraus, was bald passieren oder eben nicht passieren wird. Beispiel: Russland will, dass alle Völker den Kommunismus einführen. Das wird viele Jahre brauchen, die Russen sind überzeugt. Der Lehrer glaubte nicht daran. Vergangenheit nennt man die gewöhnliche Geschichte, die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bis zurück zu den Höhlenbewohnern. Mir half diese Einteilung, der Lehrer lachte: "Oh, du mit deinen Eselsbrücken." Die Sekundarschulprüfung!
Kalter Krieg werden die Spannungen zwischen Amerika und Russland genannt. Gehört Osteuropa zu Russland? Die Regierung von Russland will überall und für alle "Freiheit und Gleichheit und ??? einführen. Wir im Westen wollen das nicht, wir denken, das wird nicht klappen. Ein paar Leute im Osten denken auch so. Deshalb organisieren sie Versammlungen. Das hat Russland nicht gern, und sie schicken die Panzer. So etwas passiert jetzt, in der Gegenwart in Ungarn. Die Leute haben sehr Angst. Die Redner und die Leute, die denken wie wir, müssen zu uns kommen, sonst werden sie verhaftet, geschlagen und getötet. Das sind Flüchtlinge. Wir müssen sie freundlich aufnehmen. Ende Zeitgeschichte.
Papa und ich? Wir alle haben auch sehr Angst, aber wir haben keinen Ort, wo wir hingehen möchten. "Gehen wir nach Amerika?" schlug ich vor und sah Papa an. "Wir bleiben in unserm Dorf und pflanzen tüchtig an. Amerika ist stark. Sie könnten uns verteidigen, wenn sie das dann tatsächlich wollen. Mach weiter," antwortete Papa und wir arbeiteten tüchtig. Der Lehrer sagte immer wieder: "Seid ruhig, die Bombe wird nicht eingesetzt."
Im Winter war Polen das Thema. Mama hatte die Grippe. Der Frühling 1957 kam, und ich musste an die Prüfung in die Sekundarschule denken.
Die Flüchtlinge, die Rübenernte, die Schule - wie war das?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Die Flüchtlinge, die Rübenernte, die Schule - wie war das?
Es war eine strenge Zeit. Wind und Regen erschwerten die Herbstarbeiten. Mühsam, mühsam war es. Dann die vielen guten Gedanken, die ich den Flüchtlingen schickte und die Gebete für den Frieden, die ich mir abverlangte, all das kostete viel Kraft. Zusätzlich wollte ich noch dankbar sein, denn es ging mir gut. Am Mittwoch-Nachmittag war schulfrei. Zum Glück hellte es kurz auf. Wir schafften es, die letzten Rüben zu ernten und in unserem neuen Keller zu pucksiern. Dann links und rechts noch etwas erledigen  - und - dann noch Hausaufgaben. Achtung, die Sekundarschulprüfung.
Dann Donnerstagmorgen, ich schaffte es nicht mehr, ich konnte nicht mehr wollen. Ich sass trotzig in meiner Schulbank. Heimlich packte ich, was ich später daheim brauchen wollte, in den Tornister. In der Pause jammerte ich dem Lehrer etwas vor, und er bestätigte: "Ich habe gemerkt, dass du sehr müde bist. Es regnet draussen, geh heim ins Bett, sonst wirst du noch krank." Ich war glücklich. Mama staunte. "Nein, ich will keinen Tee, ich will nur ins Bett," das war Mama recht. Ich verschwand mit dem Tornister im obern Stock. Ich wollte nur ins Bett und in Ruhe glücklich sein. So lag ich dann lange unter der Decke und liess es mir wohl ergehen. "Nein, heute stehe ich nicht mehr auf," dachte mein Kopf, und meine Hände zogen das Nachthemd an. Wumff, da lag ich wieder. Wie schön war es doch, ein wenig unehrlich zu sein. Ich war nicht krank, es fehlte mir einfach an gutem Willen, deshalb schaffte ich es nicht mehr. Diese Krankheit war mein und nur mein Geheimnis. Ich war frei.
Wahrscheinlich schlief ich dann lange. Auf dem Nachttischlein neben dem Bett standen ein "Müesli", ein Stück Brot und eine Kanne Tee. Ich ass und machte mich an meine Arbeit. Ich hatte in letzter Zeit das Zeichnen fürs Aufsatzheft arg vernachlässigt. Schnell, schnell ein paar Skizzen von alten Dreschsachen für den Aufsatz "Getreideernte einst": Ein paar lange, grosse Garben, mit "Garbenseili" zusammengebunden, ausgebreitetes Getreide, drei Flegel, ein paar alte Säcke, alles Sachen, die ich leicht zeichnen konnte. Die Männer beim Flegeln, nein sowas zeichnete ich doch nicht. Viel zu schwer.
Wohl kannte ich die Erzählungen vom Dreschen mit den Flegeln im Takt. Wir hätten genug Flegel gehabt für einen Versuch, doch wir haben es nie probiert. Alle Kinder, Grössi und der Lehrling wollten. Papa zuckte die Schultern: "Ich enthalte mich der Stimme, ich bin neutral." "Stellt euch die Unordnung von Körnern, Stroh und den Staub vor. Wer macht nachher Ordung? Nein. Das gibt es nicht!" Mama war müde und bremste. Grössi sang: "Hört ihr die Drescher, sie dreschen im Takt, tick tack tack, tick tack tack." Dann ihr obligater Satz: "Glaubt mir, es war nicht immer schön, es wird besser."
Die Rübenernte war fertig. Ich begann wieder zu träumen. Papier und Farbstifte schnell in den Tornister geschoben, alles untem Bett versteckt und wumff wieder unter die Decke. Ich war glücklich.
Halbkrank im Bett, was hast du geträumt?
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Halbkrank im Bett, was hast du geträumt?
Draussen regnete und stürmte es. Der Lehrer hatte mich heim geschickt. Er hatte verstanden, dass ich müde war, und er wollte nicht, dass ich krank wurde. Nun lag ich unter der warmen, grossen Feder-Decke. Ich war glücklich. Ich war frei. Ich war dankbar und - ich war ein wenig unehrlich, doch das musste ich sein, denn das Leben gab mir freiwillig weder Zeit noch Raum für Musse, um glücklich, frei und dankbar zu sein. So war es. "Danke lieber Lehrer, danke lieber Lehrer. Soll doch der Dorfklatsch über ihn rätschen (=gehässig reden), er war und blieb mein lieber Lehrer. Danke lieber Lehrer." Wie konnte mir so was zufallen? Ein Wunder, dass er mich heim geschickt hatte.
Ich lag so halb eingerollt unter der Decke und machte grosse Reisen und Riesen-Sprünge. Das Vordach schützte unsere Fenster vor Wind und Regen, so konnte ich das Hudelwetter weder sehen noch hören. Der Zug musste letztes Jahr einmal auf offener Strecke anhalten und warten. Niemand kannte den Grund. Mama und ich sassen im Wagen und schauten verärgert die dicken Wolken an, die träge am Himmel hingen und die Sonne versteckten. Fingen sie sich nun an zu bewegen? Schoben sie sich hin und her zu schieben? Ja, sie ballten sich zusammen und türmten sich auf. Ein Gewitter, ein Gewitter, oder doch nicht? Nun, wir schätzten uns glücklich, denn wir sassen im Wagen. Die Scheibe schützte uns vor den Tropfen. Diese krallten sich am Staub auf der Glasscheibe fest. Drei, vier ganz nah beisammen, sie begannen nach unten zu rollen und nahmen weitere mit. Starker Regen fiel, und das Wasser rollte über die Scheibe. Der Wind warf uns immer grössere Tropfen entgegen. Ich lachte spöttisch: "Wir sitzen im Trockenen. Wind, zeige nur was du kannst, du triffst uns nicht." Mama war froh, dass es nicht hagelte. Ade kleines Windchen, ade Sturm, ade Regen, unser Zug fuhr wieder, er hielt mit etwas Verspätung an und entliess uns auf die nasse Strasse. Es regnete nicht mehr. Ich spürte, wie die frische Luft in meine Lunge strömte.
Nein, unter der Bettdecke, da war es muffig. Ich schob die Decke weg. Tag und Nacht, auf dem Feld und im Schulzimmer, im Bett und bei den Hausaufgaben, immer atmete es. Ich konnte den Atem nur kurz anhalten. Ein Versuch: "Wer kann den Atem am längsten anhalten?" Papa hatte eine Uhr mit Sekundenzeiger. Wir hatten es einmal gemeinsam versucht: "Achtung fertig los." Papa und der Lehrling konnten den Atem mehr als eine Minute anhalten. Ihr Köpf wurden rot. Das schien uns Kindern unentlich lange. Wir versuchten  eine Minute ganz ruhig zu sitzen, doch das war zu schwierig.
Lustlos zeichnete ich wieder ein wenig, nichts geriet mir. Also alles Zeichenmaterial wieder in den Tornister und unter das Bett. Zum Glück hatte ich ein warmes Bett. Beim Schwimmen und Tauchen muss man die Luft auch anhalten. Papa konnte all das. Er hatte es in der Rekrutenschule gelernt. Der Lehrling konnte es auch. Papa zeigte uns die Schwimmbewegungen. Auf einem Stuhl übten wir den Armzug. Dann hiess er uns, mit dem Bauch auf der Sitzfläche des Stuhls zu liegen, und seine Arme machten mit unseren Füssen den Beinzug. Schwierig, zum Glück vergass er diese Übungen bald. Der Lehrer machte auch ein paar Mal solche Trockenübungen mit uns. Dazu standen wir auf einem Bein und machten Armzug und Beinschlag kombiniert. Schwierig, zum Glück vergass der Lehrer diese Übungen auch bald wieder.
Die Kinder aus dem kleinen Dorf unten im Tal mit den Kiesgruben waren des Schwimmens kundig. Ruth zählte zu ihnen. Sie brachte mir sogar einen aufgeblasenen Pneu vom Automechaniker und mühte sich geduldig mit mir ab. Danke Ruth. Rücklings darauf liegen und paddeln, das war wunderbar. Aber hinein liegen und dann Armschlag und Beinzug oder Armzug und Beinschlag, zu schwierig, zu schwierig. An mir sollte es nicht fehlen, ich übte deshalb ein wenig im warmen Bett. Luft anhalten und tauchen übte ich auch. Ja, ich war im Sommer mutig gewesen. Mit zu gepresser Nase, hatte ich das Gesicht ins kühle Wasser des Brunnens gedrückt und durch den Mund ein paar Bläschen ausgepresst. Ich hatte es geschafft. Wenn es die Geschwister auch besser konnten, ich konnte es auch ein wenig. Fertig und gut so.
Jetzt war ich krank, wie schön. Ich hatte die Flüchtlinge vergessen. Die Welt war rund und schön, und ich schlief ein. Die Sekundarschule war weit weg.
Was habt ihr über Krankheiten gelernt? Wie kommen und gehen sie?
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Was habt ihr über Krankheiten gelernt? Wie kommen und gehen sie?
In der Schule durfte man nur fehlen, wenn man krank war. Das gab im Zeugnis eine entschuldigte Absenz. Völlig in Ordnung. Heimlich zuhause bleiben oder einfach so herum streifen, das gab es für uns Landkinder nicht. Der Dorfklatsch war auch Dorfpolizist. In der Stadt soll es Kinder gegeben haben, welche die Schule schwänzten, die wurden mit dem Vermerk "unentschuldigte Absenz" im Zeugnis bestraft. Nur die Eltern und ich wussten, dass auch ich zwei Mal unentschuldigte Absenzen hatte. Ich schämte mich und war gleichzeitig stolz darauf. Ich nickte wohlwollend mit dem Kopf.
Es war im Sommer. Viel Arbeit stand an. Der Lehrling hatte den ganzen Tag Berufsschule. Die Mutter hatte mit dem Lehrer gesprochen. Er hatte gesagt: "Geht nicht. Wenn das Kind nicht kommt, gibt es eine unentschuldigte Absenz." Das Kind kam nicht in die Schule. Ich arbeitete den ganzen Nachmittag und Abend tüchtig. Ich war müde und stolz. Mama half mir beim Waschen und trug mich ins Bett. Sie sagte "danke" und "behüte Dich Gott", und ich schlief voller Stolz ein. Was war da schon eine unentschuldigte Absenz? Die Eltern und ich, wir waren uns einig: "Zeugnisse werden selten angeschaut, und wenn, so sicher nicht die Seiten betreffend die Unterstufe."
Und dann, im Herbst, am Donnerstagmorgen, nachdem wir am Mittwochnachmittag zuvor mit viel Einsatz die letzten Rüben geerntet hatten, da jammerte ich dem Lehrer in der Pause etwas vor, und er bestätigte: "Ich habe gemerkt, dass du sehr müde bist. Es regnet draussen, geh heim ins Bett, sonst wirst du noch krank." Ich durfte heimgehen, damit ich nicht krank wurde. Ich war also noch gesund, oder doch nicht?
Wir hatten Wörter rund ums Thema "gesund" und "krank" als Hausaufgabe gesammelt und kunterbunt an die Wandtafel und ins Heft geschrieben. Wir sprachen über die verschiedenen Krankheiten, was mich nicht sonderlich interessierte. Ich behielt im Gedächtnis: Krankheiten fallen nicht vom Himmel und sind dann da. Nein, sie schicken Vorboten und beginnen ganz langsam, oft merkt man es gar nicht. Dann sind sie da und werden stärker und stärker - und langsam oder schneller verschwinden sie wieder. Sie hüpften oft von Person zu Person, d.h. man steckte sich gegenseitig an. Um das zu verhindern, war es ratsam, dass die angesteckte Person daheim blieb. War jemand sehr müde, und besonders, wenn früh zu Bett gehen nicht half, war es ratsam sich einen Ruhetag zu "nehmen". Vielleicht war man bereits angesteckt oder der Körper war schwach und bereit, eine Ansteckung anzunehmen. Der Lehrer riet uns, in diesem kritischen Zustand daheim zu bleiben. Sollten die Eltern dies nicht erlauben, so forderte er uns auf, mit ihm zu sprechen. Er versprach nicht, uns heim zu schicken, aber er war bereit, darüber nachzudenken.
Unser Lehrer war immer gesund, er kam immer in die Schule, das heisst, er liess keine einzige Schulstunde ausfallen. Schade und auch gut. Er erklärte uns: "Ich merke, wenn etwas - gemeint war eine Krankheit - auf mich zu kommt, dann schone ich mich, esse viel Obst und Gemüse, haupsächlich Sauerkraut und trinke viel Tee. Ich gebe euch etwas länger Pause, lasse euch zeichnen, viel lesen und schicke euch pünktlich heim. So geht es schnell und gut vorbei."
 
Die Traumreise vor dem Geburtstagskuchen.
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Die Traumreise vor dem Geburtstagskuchen.
Um ehrlich zu sein, ich hatte es dem Lehrer leicht gemacht, mich heim zu schicken. Ich hatte etwas mehr als nötig und etwas lauter als nötig gehustet und geschnupft und gegähnt. Er wollte mich schonen, ich sollte nicht krank werden. Er gab mir Raum und Zeit, um Gedankenreisen zu machen oder an schöne und schwierige Erlebnisse zu denken. Dazu gehörte der Geburtstagskuchen für Mama. Wir hatten ihn gemacht, ganz allein und ohne Erlaubnis. Ich hatte die Sekundarschulprüfung vergessen. Im Herbst nach dem Durchbruch der Wand zwischen Küche und Waschküche bestellte der Vater an der OLMA (Ostschweizerische land- und milchwirtschaftliche Ausstellung) einen elektrischen Kochherd. Sicher, in der Küche war es zu eng, er sollte in der Waschküche seinen Platz finden. Mama und Grössi, immer zerstritten, schimpften jetzt gemeinsam in den schönsten Tönen.
"Der Lieferwagen, der Lieferwagen," wir riefen Papa schnell, denn die beiden Frauen waren entschlossen, die Annahme unseres Kochherdes zu verweigern. Als Papa den Männer zeigte, wo er zu platzieren war, verstummten die Streithähne und verschwanden. Drei Platten und drei Knöpfe, Stufen eins bis vier, die kleine war eine Schnellkochplatte. Papa und ich legten die Hand auf die grosse Platte und einer der Männer schaltete auf eins. Langsam, langsam wurde es warm. Schnell die Hand weg, denn schon wurde es heiss. "Der Backofen?" "Ober- und Unterhitze kombiniert, für Kuchen 160 Grad, für Fleisch 240 Grad, hier ist eine Anleitung mit Rezepten. Du kleine Wundernase, jetzt kannst du Mami einen Geburtstagskuchen backen!" Die Männer lachten und ich nahm das schöne Büchlein schnell in die Hand. "Gib es der Mutter. Schon eine halbe Stunde vorbei, wir müssen schnell weiter," die beiden Männer sprangen ins Auto, und weg waren sie. Ich hatte einen Plan: Der Mann hatte es gesagt,  160 Grad für Kuchen. Lieber Gott, lass mich einen Geburtstagskuchen backen!
Die beiden Frauen, Mama und Grössi, schimpften noch ein paar Tage, doch immer leiser. Papa machte sich nach dem Mittagessen einen Nescafé. Mama wollte keinen, doch später standen zwei gebrauchte Tassen auf dem Tisch. Grössi wusste auch, wie der Herd zu bedienen war. Ihre Tochter hatte es ihr gezeigt, als wir auf dem Feld waren. Im Gespräch mit der Nachbarin lobte die Mutter den neuen Herd.
Eigentlich wollte ich ja über den Geburtstagskuchen für Mama schreiben. Es war eine Biskuit-Roulade mit Johannisbeer-Konfiture gefüllt. Meine wenig geliebte Patin machte solche, wenn ich bei ihr "in den Ferien" war. Ich "durfte" dann das Eiweiss steif schlagen. Auf arges Drängen hin zeigte sie mir, wie Eiweiss und Eigelb getrennt werden können - und es gelang mir auf Anhieb. Einschub: Wegen technischer Schwierigkeiten, fügte sie eine zusätzliche Frage ein und verschob den Geburtstagskuchen. Einschub Ende.
Beginn der Traumreise mit dem Geburtstagskuchen! (1)
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Beginn der Traumreise mit dem Geburtstagskuchen! (1)
Ja, die Geschichte von der Biskuit-Roulade mit Johannisbeer-Konfitüre. Der feine Duft! Und wie sie schön aussah! Alles klappte schliesslich! Davon will ich, jetzt elf Jahre und drei Monate alt, später als Grossmutter meinen Enkelkindern erzählen. Vielleicht haben sie dann Lust, selber eine zu backen. Ich werde es ihnen erlauben und in der Stube stricken, damit sie unbeobachtet ihre Erfahrungen machen können. Grössi und Grosi und die Mama, sie alle konnten damals, als sie Kinder waren, im grossen, mit Holz gefeuerten Kachelofen nicht allein Kuchen backen. Also konnten sie mir auch nichts erzählen.
Im handgeschriebenen Rezeptheft von Tante Elise hatte ich ein Rezept für Biskuit-Rouladen gefunden. Mühsam zu lesen, so eine schnörklige Schrift, mindestens die Zahlen waren klar. Meine wenig geliebte Patin hatte mich ihr Rezept nicht abschreiben lassen, doch ich wusste vom Zuschauen, wie es ging.
Ich besprach mich mit meinen Geschwistern. Der Bruder war begeistert, er wollte gerade zwei Rouladen machen. "Kannst du das? Ob es uns wohl gelingt," das Schwesterchen zweifelte, doch sie wollte mit von der Partie sein. Wann? Mama musste am Mittwoch, am Tag vor ihrem Geburtstag in die Stadt zum Spezialarzt. Da wollte sie uns nicht mitnehmen, da wollten wir schon gar nicht mit, denn die lange Warterei, das war uns zuviel. Mittwochnachmittag war schulfrei. Grössi war bei ihrer Tochter in den Ferien. Die Männer wollten in den Wald, obwohl es regnete. Es traf sich gut, wir versprachen manierlich in der Stube zu spielen oder zu zeichnen.
Ein elektrischer Kochherd, ein rechteckiges Wähenblech und Butterbrotpapier, unsere Küche war modern ausstaffiert. Vier grosse Eier, vier Löffel Wasser, 200 g Weissmehl, 200g Zucker, ein Teelöfffel Backpulver, wir hatten alles, was für eine Biskuit-Roulade nötig war. Von den sechzehn Eiern im Kasten wählten wir die grössten aus. Streit war zu verhindern, deshalb suchte jedes Kind eines aus, und das vierte bestimmten wir per Abzählvers: "Aazelle, Bölle schelle, d'Chatz gaht uf Walliselle, chund sie wider hei, hät si chrummi Bei, piff, paff, puff und du bisch duss." Die vier Eier waren bestimmt. Nun kam der erste grosse Moment, das Aufteilen der Eier in Eiweiss und Eigelb. Die Glasschale für das Eiweiss und die Kuchenschüssel für das Eigelb, beide standen auf dem Küchentisch. Ängstlich schlug ich das erste Ei gegen den Rand der Glasschüssel. Es passierte nichts. Nach weitern Fehlschlägen, schaffte es der Bruder. Ein kräftiger Schlag, die Eischale sprang und Eiweiss tropfte in die Glasschüssel. Der Bruder schrie. Schnell griff ich nach dem Ei und brach die Schale sorgfältig entzwei. In der einen Schalenhälfte lag das Eigelb und wieder tropfte Eiweiss in die Glasschüssel. Das war gut so. Ruhig und gespannt schauten Brüderchen und Schwesterchen zu. Sorgfältig leerte ich das Eigelb in die andere, die leere Eischalenhälfte. Dabei fiel weiteres Eiweiss in die Glasschale. Eine Freude, wie das klappte. Das Eigelb noch ein paar Mal hin und her gegossen, alles Eiweiss in der Glasschale und das Eigelb lag gross und rund und nackt in der Kuchenschüssel. Der goldene Dotter eines Landeis mit einem Ansatz. Deshalb wussten wir, dass der gesprenkelte Hahn dieses Ei im Körper eines weissen Huhnes unserer kleinen, dicken Eierverkäuferin befruchtet hatte. Doch weiter. Da ich es wieder nicht wagte, die Eischale aufzuschlagen, übernahm es der Bruder erneut. Bei der Schale des dritten Eis war ich mutig genug: Mit kräftigem Zug herzhaft auf den Rand. Der Bruder teilte nun Eiweiss und Eigelb. Tipptopp. Der Bruder bestimmt: Du schlägst das Ei auf und die Kleine teilt Eiweiss und Eigelb. Voller Stolz, sorgfältig hin und her, klein Schwesterchen konnte es. Doch dann plumps, der goldene Eidotter lag im Eiweiss. Stille, was tun? Ich holte einen mittelgrossen Löffel, schob den goldenen Dotter mit Zeige- und Mittelfinger sorgfältig hinein und beförderte ihn zu den drei andern in die Kuchenschüssel. Das Unglück war behoben. Unser Abenteuer konnte weitergehen. Einschub: Aus Angst vor technischen Problemen unterbrach sie hier die Schreiberei und fügte einen weiteren Abschnitt ein. Einschub Ende.
Weiter mit der Traumreise zum Geburtstagskuchen (2)
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Weiter mit der Traumreise zum Geburtstagskuchen (2)
Es war so schön im Bett zu träumen. Hier, ich erinnerte klar, brauchte ich eine kleine Verschnaufpause: Vier Eidotter in der Kuchenschüssel und vier Eiweiss in der Glasschale. Als nächstes gaben wir vier Löffel kaltes Wasser zu den Eigelben. Schwesterchen durfte mit der Kuchenkelle zu mischen beginnen, und der Bruder machte sich mit dem grossen Schwingbesen hinter die Eiweis. Wir hatten vorher darüber gesprochen, und er war bereit, die vier Eiweis sehr lange zu schlagen. Richtig, schon wurde die gallertartige Masse weisslich und leicht schaumig. Stolz forderte er mich auf, weiter zu machen und nicht nur ihnen beiden zuzuschauen.
200 Gramm Zucker. Kilo und Pfund zu wägen, das war ein leichtes Ding mit unserer Küchenwaage, doch ich brauchte 200 Gramm. Mama fragen, doch die war zum Glück weg. Nach Mamas Methode, Papa fragen, der war leider im Wald. Mein Vorschlag: Wir machen es so, wie wenn Papa die Mischung für die Motorspritze vorbereitet. Ich wog ein Pfund 500 g Zucker in einem Becken wie folgt: Leeres Becken ca. 600 g, dazu ca. 500 g Zucker im ganzen 1 Kg und 100 Gramm, das heisst ein wenig mehr als 1 Kg, d.h. 1 Kg und dazu ein kleines Strichlein. Die Waage wollte nicht so recht, doch wir waren uns einig, lieber etwas zuviel als zu wenig Zucker. Unsere ca. 500 Zucker verteilte ich anschliessend gleichmässig in zwei kleine gleichgrosse Schüsselchen, d.h. je ca. 250 g. Sehr gut. Die Geschwister rührten nicht mehr. Ich rapportierte laut: Ein gestrichener Esslöffel Mehl wiegt nach Grössis Aussagen zehn Gramm. Also fünf gestrichene Esslöffel Zucker weg. Das ging leicht. Bei leichtem Schütteln verflachte der Zuckerberg. Dies fünf Mal, und die 200 Gramm Zucker konnten zum Eigelbmus gegossen werden. Die Geschwister rührten wieder. Den Rest des Zuckers füllte ich sorgfältig ins Zuckerbecken zurück. Ein kleines Stosses des Bruders und schon lag Zucker daneben. Schnell tupften sie das verschüttete Süss mit dem feuchten Finger auf. Es soll ihm nicht absichtlich passiert sein! Ausserhalb des Rezeptes fügte ich, wie ich bei der Patin gesehen hatte, eine winzig kleine Prise Salz dazu.
Schwesterchen gab mir die Schüssel nicht, es mischte mühsam die Eier-Wasser-Masse mit dem Berg Zucker. Der Bruder schlug beim Eiweiss weiter, das nun wirklich schon Schnee gleich sah. Die Schale konnte er noch nicht drehen. "Weiter, weiter, wir rühren und du?" Ja, die 200 Gramm Mehl bestimmte ich nun so wie den Zucker. Das Mehl rann aber nicht wie Zucker vom Esslöffel. Wie Grössi streifte ich den Berg weg. Die Geschwister rührten wacker. Ich mischte einen Teelöffel Backpulver unter das Mehl. Dann ging ich durch den neuen Durchgang in die Waschküche und holte aus unserem neuen elektrischen Herd das schöne rechteckige Wähenblech und die Rolle mit dem Spezialpapier, welches das Anbrennen verhinderte. Wäre all das vor einem Jahr denkbar gewesen? Nein.
Die Geschwister sahen zu und rührten. Auf ihre fragenden Blicke bestätigte ich ihnen: "Ja, ich weiss, wie man den Backofen bedient. 160 Grad für Kuchen hat der Mann gesagt." Um das Blech gut zu schützen, entschied ich mich für zwei Bahnen Spezialpapier. Damit es schön flach im Blech lag und nicht immer verrutschte, beschwerte ich es mit Esslöffeln. Einschub: Ja, das war damals ein schwieriges Geschäft gewesen, - und sie schob, zwar ungern, doch nötig, einen weitern Abschnitt ein. 
Kein Milchkaffee vor lauter Geburtstagskuchen (3)
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Kein Milchkaffee vor lauter Geburtstagskuchen (3)
Schwesterchen hatte tüchtig gerührt. Die Farbe der Eier-Zucker-Masse hatte von gelb zu blassgelb gewechselt, wie es sein musste. Nein, zwei kleine Finger naschten:" Oh fein, nur ein bisschen." Nun schüttete ich das Mehl zur Eiermasse und nahm die Kelle selber in die Hand. Sorgfältig und kräftig mischte ich alles und gab die Kelle wieder in kleinere Hände."Ich kann die Schüssel drehen, hurra, wir haben Eierschnee. Der schmeckt aber nicht gut," wir plauderten durcheinander.
Ich mahnte die Geschwister zur Ruhe, denn nun kamen schwierigere Teile unseres Abenteuers. Den Backofen auf die 160 Grad schalten, das tat ich jetzt, denn er musste ca. 15 Minuten vorgeheizt werden. Nun zog ich, langsam und bedächtig - wie ich es bei der Patin beobachtet hatte -, den Eierschnee unter die Mehl-Zucker-Eier-Masse. Das dauerte eine Weile. Ich gab die Kelle dabei nicht aus der Hand. Jetzt schien mir die Mischung gut. Also leerte ich das Ganze auf das Backpapier. Ich war etwas klein, doch es gelang mir. "Gib uns die Schüssel, wir wollen ausschlecken. Ausputzen ist nicht nötig, lass uns viel, oh fein,"lobten die Kleinen. Mit dem Rücken des Metzger Messers verteilte ich die Teigmasse sorgfältig auf dem Blech. Dann schnell damit in den heissen Ofen, damit der Teig nicht zusammenfällt.
Fünf nach drei zeigte die Küchenuhr. Phantastisch, wie alles klappte. Zum Glück hatte Papa das Herdmodell mit einer Scheibe in der Backofentüre gewählt. So konnten wir zusehen, was passierte. Der Ofen war sehr heiss, aber es passierte nichts. Ich räumte den Küchentisch ab und streute, wie die Patin das tat, ein wenig Zucker auf die glatte Tischfläche. Jetzt zog ich die grossen Topfhandschuhe an. Grössi hatte sie uns gekauft. Oh, es duftete ein wenig. Drei Augenpaare schauten gespannt in den Backofen. Es tat sich etwas, der Teig ging auf. Wir schauten ruhig zu. Viertel nach drei. 15 Minuten bei mittlerer Hitze backen, war im Rezept zu lesen. Die Patin sagte: "Es muss gut duften, dann öffne ich die Türe ein wenig und schaue hinein. Ist der Kuchen hellbraun, schnell heraus damit." Sie hatte keine Glasscheibe wie wir. Soweit waren wir noch nicht, zu hell, ja fast noch weiss. Ich hatte echt Angst. Lieber Gott schicke mir einen Schutzengel. Nie hatte ich ein heisses Blech aus dem Holzofen nehmen dürfen, und nun stand ich mit den grossen Topflappen vor dem elektrischen Herd. "Achtung Kinder, bald ist es soweit. Es wird schwierig. Passt auf, ich muss schnell machen. Zur Not stelle ich das heisse Blech auf den Boden. Macht mir dann Platz!" warnte ich die Geschwister.
Nun war es soweit, hell braun, wir waren uns einig. Ich öffnete die Türe, zog das heisse Blech heraus und musste es auf den Boden stellen. Das machte nichts, denn der war aus Stein. Schön sah unser Biskuit aus, fein duftete es. Wir staunten ein wenig. Dann ging es weiter. Ich bugsierte (= mit Mühe wegschaffen) das heisse Blech auf den Küchentisch und stand - ich war zu wenig gross - auf ein Taburett. Ich zögerte - ein Schutzengel bitte - , ich machte allerhand Handbewegungen, um mir vorzustellen, wie ich das Blech stürzen sollte. EinschubStürzen war der Fachausdruck für das kehren des Bleches, damit der dünne Kuchen auf den Zucker zu liegen kam. Die Patin hatte ihn mich gelehrt. Deshalb hatte ich diesen Fachausdruck trotz Tante Elises Schnörkelschrift erkennen und richtig verstehen können. Das war mir eine grosse Hilfe. Einschub Ende.
Mit den dicken Handschuhen zog ich das heisse Blech mit dem flachen Kuchen dem Körper entlang hoch und klappte es auf den Tisch. "Wuff", der kleine Luftstoss blies einen Teil des Zuckers weg. Gut gemeistert! Nun galt es zu warten, bis wir das Blech mit blossen Händen abheben konnten. Ich bereitete die Johannisbeer-Konfitüre vor. "Nun geht's, es ist gegangen," meldeten die kleinen Hände, die das Blech abgetastet, angefasst und weg gehoben hatten. Hier lag nun unser Biskuit. Das Backpapier nach oben und die schöne, hellbraune Seite nach unten im Zucker. Mühsam zogen wir nun das Backpapier vom Kuchen. Jetzt die Konfitüre. Es stand etwas von zwei Zentimetern vom Rand weg in Tante Elises Heft. Was hiess das? Doch nicht zwei Zentimeter dick? Mit dem Rücken des Metzgermessers verteilte ich das ganze Glas Konfi, etwas zu grosszügig, wie sich später herausstellte.
Mit vereinten Kräften rollten wir den dünnen Kuchen mit der Konfi zusammen und gaben unserm "Kuchen" so die Form einer Roulade. Hurra! Hinten und vorn schnitten wir ein wenig ab und legten sie auf die Cake-Form. Ich war müde. Der Bruder machte in der Küche Ordnung. Schliesslich putzte ich alles sauber. Papa und der Lehrling kamen vom Wald zurück und bewunderten unser Werk; dass ihr das gekonnt habt! Heisse Milch und Kaffee hatten wir vergessen. Kein Problem, der elektrische Kochherd und Papa waren schnell soweit. Wir versteckten die Roulade noch rechtzeitig bevor Mama zurück kam.
Das war meine Lieblings-Geschichte, die Erinnerung an den Geburtstagskuchen, die ich "krank" im warmen Bett nachtäumte. Sie packte mich, Schritt für Schritt war sie wieder da.  
Das Ende des Geburtstagskuchens? (4)
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Das Ende des Geburtstagskuchens? (4)
Wir sassen versammelt am Tisch, als Mama vom Besuch beim Spezialarzt zurück kam: "Sagt gleich, was habt ihr angestellt. Heraus mit der Sprache, ihr sitzt so ruhig wie Engelchen, die kein Wässerchen trüben können." "Du scheinst guten Bericht vom Arzt zu bringen, wenn du uns so begrüssest," lenkte der Vater ab. Mit Kopfschütteln und geradem Rücken hiess er Mama schweigen: "Trink auch einen Kaffee, es ist alles in bester Ordnung." Wir spürten alle, Mama traute uns nicht, und sie hatte ja guten Grund. Es stimmte, wir machten eine Mauer gegen sie. Schwesterchen kicherte und stopfte den Mund voller Brot. Der Bruder trank seine Milch, und ich holte ein frisches Taschentuch: "Morgen hast du Geburtstag, du darfst ausschlafen. Papa weckt mich früh genug, damit ich rechtzeitig das Morgenessen machen kann. Wir holen dich dann". "Mit dem Holzherd, damit das Ofen-Bänkli warm wird," ermahnte mich die Mutter."Ich bringe als Geschenk eine ganze Woche jeden Abend Holz in die Küche," ergänzte der Lehrling.
Niemand verriet etwas. Am Morgen gab mir Papa ein paar Kerzenstummelchen. Auf einem "heiss" vorgewärmten Teller konnte ich sie mühelos ankleben. Der Bruder hatte sich früh und schnell angezogen, und er bewachte Mutters Schlafzimmertüre. "Keine Nachthemden am Tisch," mit der Hand schickte der Vater die Kleine weg. Er zündete die Kerzchen an. Wie schön, Mama durfte kommen. Papa holte unsere Biskuitroulade. Mama wollte ihren Augen nicht trauen: "Woher?" "Können wir sie gleich jetzt essen, bitte, bitte," hiess das Geburtstagslied. "Gebt Mama die Hand, eins nach dem andern, und gratuliert schön, dann essen wir euer WERK," bestimmte Papa. Wir plauderten und riefen durcheinander. Ein Stimmengewirr. Papa zerschnitt unsere Biskuitroulade: "Ruhe nun, damit ich geordnet verteilen kann." Wir schoben unsere Teller nach vorn. Ein ganz grosses Stück für Mama und fünf kleine Stücke für uns. Um Maulereien zu verhindern, hatten wir zum Verteilen eine feste Reihenfolge, jedes durfte auswählen, die jüngste zuerst, dann der Bruder, ich, der Lehrling und der Rest für Papa. Grössi hatten wir nicht vergessen, nein, sie war ja bei ihrer Tochter in den Ferien.
Unsere Roulade war wunderbar, nur zu klein, darin waren wir uns einig. Wir konnten Mama nun Recht geben, sie hatte am Vorabend richtig vermutet, wir hatten etwas "angestellt". Die Roulade mit der zuvielen Johannisbeeren-Konfi war weg. Mit diesem Negativ-Punkt hatte sie nochmals Recht. "Es ist Mamas Geburtstag," betonte Papa und schüttelte den Kopf. Er wollte, dass wir schwiegen. Dann lobte er mich mit einem kurzen Kopfnicken, und er zog die Augenbrauen hoch, damit bat er mich um Nachsicht, er sagte ohne Worte: "So ist unsere tüchtige Mama nun einmal."  Ein gutes Gefühl: Ich hatte es geschafft, wir hatten es geschafft. Danke schön, ihr Schutzengel.
 
Drei Dickköpfe und ein Pfännchen für das Bébé, was ist das?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Drei Dickköpfe und ein Pfännchen für das Bébé, was ist das?
Ja, das Rechaud, das "in", für die Schule richtig musste es heissen, "auf" der linken hinteren Ecke des Küchentisches stand, es verleitete mich immer wieder zu kurzen Traumpausen. Diese begannen meist mit einem Blick auf unser Objekt, das Rechaud. Wie für die Schule und wohl für die ganze Welt korrekt, stand es auf dem Küchentisch. Keine Diskussion, ich, der Dickkopf brauchte nicht Recht zu haben, ich passte mich in der Schule als Schülerin an und sagte auf! Für das Kind daheim, stand das Rechaud in der linken hinteren Ecke, links geschützt von der Seitenwand des Küchenkastens und hinten von der weiss getünchten Mauer, unter der grossen Spezialsteckdose für billigen Strom, Kochstrom, den man auch zum Glätten hätte benutzen können, wenn es in der Küche nur etwas mehr Platz gegeben hätte. Der Stecker und das kurze Kabel lagen irgendwie daneben. Das grosse Becken zum Aufrahmen der frischen Stallmilch stand davor. Vieles wusste ich so genau, weil mich mein Dickkopf gelehrt hatte, zu warten und nochmals genau hinzuschauen, bevor ich etwas behauptete. Unser Rechaud stand zwischen andern Sachen in der hintern Ecke auf dem Tisch.
Nach diesem Umweg über meinen Dickkopf wieder zurück zum Rechaud. Es schenkte uns viele schöne Momente im harten Alltag. Es soll kurz vor meiner Geburt dort platziert worden sein. "Wir, der Grossvater und ich, haben es kauft. Du kamst ja Mitten im Winter zur Welt. Wir dachten, deine Mutter könnte, wenn es so weit ist, mit diesem elektrischen Ding die Flaschen für dich wärmen oder wenigstens warm halten. Aber das hatte ihr nicht gepasst, es musste nach ihrem Kopf gehen. Wenn du Dich gemeldet hast, wo und wann immer das war, hat sie dich genommen und die Bluse ein wenig aufgemacht. Und du, du hast getrunken und zurückgelegt im Wägeli, hat man nichts mehr von dir gehört. Auch nachts ging's so. Keine Erziehung, es musste nach deinem Kopf gehen," das hatte mir Grössi jeweils erzählt, wenn sie mit Mama Streit hatte, und das geschah oft. In der Erinnerung, als grosses Mädchen schüttelte ich den Kopf. Ich liebte das Bild von mir als Bébé ganz nahe bei der Mutter, einem Bébé, das leise und lieb grösser wurde. Mama erzählte nämlich, ich sei ein praktisches Kind gewesen, sie habe mich leicht überall hin mitnehmen können. Wenn ich gemööglt (= mit leisen Tönen den Hunger anmelden) habe, hätte sich ihre Brust mit Milch gefüllt, und sie sei froh gewesen, wenn ich schnell, schnell ein wenig getrunken hätte. Keine Sorgen, alles richtig in Zusammensetzung und Wärme, kein Vorbereiten und kein Einpacken und Warmstellen von Flaschen. Es sei gut gemeint gewesen von Grössi und Chueri, das Rechaud für dich zu kaufen, aber sie, als moderne Frau, habe es nicht gebraucht. Schön sei, wie man damit schnell etwas Kleines für einen verspäteten Esser richtig heiss machen könne, und es nicht nur lauwarm aus dem Ofenrohr servieren müsse. Grössi sei beleidigt gewesen, weil sie es nicht für dich gebraucht hätten. Sie hätten manchen Streit gehabt.
Wenn ich das Rechaud sah, schmunzelte ich: Der dicke Kopf von Grössi, der dicke Kopf von Mama und der dicke Kopf des Bébé. Punkt. Fertig. So ist es. Im warmen Bett sann ich oft über die verschiedenen Dickköpfe nach.
 
Was ist das, ein Pfännchen voller "Popp Popp"?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was ist das, ein Pfännchen voller "Popp Popp"?
Das Bébé-Pfännchen brachte uns viel Gutes, u.a. Popcorn, der in unserer Familie "Popp Popp" hiess.
2016 23. November Einschub: An jenem Tag voller Hindernisse machte sie sich schliesslich  für das Weihnachtsessen der Internationalen Schule "schön". Unerwartet war sie eingeladen worden. Ihre Plaudereien über ihre "Firma" im Kongo stiessen auf gutes Echo. Es wurde ihr Modeschmuck für die Mamas in den abgelegenen Dörfern versprochen. Die ausführliche Schilderung ihre Mühe mit den MML-Programmeine und die Schreibhemmung hatte sie gelöscht. Ende Einschub.
Nun zurück ins warme Bett, zum nicht kranken und nicht ganz gesunden Kind und seinen Erinnerungen an das Bébé-Pfännchen. Viel Gutes hat es uns gebracht. Was denn? Es kommt, es kommt. Papa ging jedes Jahr allein oder mit Mama an die OLMA, und er brachte immer eine Tasche voller schöner, meist farbiger Prospekte zurück. Beim Erzählen sortierten wir diese. Zwei oder drei bewahrte er sorgfältig in seiner Schublade auf, ein paar gab er dem Lehrling und den grossen Rest bekamen wir zum Ausschneiden und Aufkleben. Manchmal brachte er auch ein paar Müsterli zum Probieren und einmal ein Säckli kleine Maiskörner. Mama und Grössi lachten, weil er tat, als wäre das etwas Besonderes.
Warten, warten, er las den sehr klein geschriebenen Text und verlangte Pflanzenfett. "Das haben wir nicht," distanzierten sich die Frauen. "Doch, doch, gebt mir das Kokosfett, das ich letzte Woche für Weihnachtsguetzli aus der Stadt gebracht habe." Papa ging in die Küche, wir folgten ihm. Das Kokosfett kam. Ein Stück davon wanderte ins Pfännchen. Das Milchbecken musste Platz machen. Das Rechaud wurde auf Stufe zwei geschaltet. Das Fett begann zu schmelzen und Papa bedeckte den Boden mit seinen Maiskörnchen. Er schob das Pfännchen hin und her, Bläschen stiegen auf, die Maiskörner blähten sich auf und wechselten die Farbe von gold zu blass gelb. Es war ruhig in der Küche. Alle Augen schauten. Popp, wir wichen zurück. Popp, Popp, schnell den Deckel auf die Pfanne. Popp, Popp, Poppoppoppopp, Popp. Papa fuhr weiter hin und her. Popp, Popp. Gebt mir die grosse Gemüseschüssel. Popp und Popp. Er glaubte es sei fertig. Popp, Popp. Papa öffnete den Deckel ein wenig. Was sahen wir? Wo waren die Maiskörner? Die Pfanne war voll.
Papa leerte den "sonderbaren" Inhalt in die Schüssel und trug diese von der Küche in die Stube. Alle folgten. "Popcorn, Popcorn, wie es an der OLMA verkauft wird," Papa steckte ein paar in den Mund, wir auch, wir auch. Popcorn wie an der OLMA. Das schmeckte Mama und Grössi auch. Beim nächsten Besuch in der Stadt kauften wir für einen Franken zehn Rappen wieder ein Säckli, und wieder und wieder. Popcorn zu machen, ein Kinderspiel, wenn wir durften, und wir durften oft.
Woher kommen die Samen? Wie wird gesät?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Woher kommen die Samen? Wie wird gesät?
In der Mittelstufe unterhielten wir uns während einer ganzen Woche täglich nur über die grosse Menge und die vielen Arten von Pflanzensamen. In munterem Geplauder trugen wir zusammen, was uns gerade so einfiel. Dann natürlich als Thema unserer Hausaufgabe: Selber überlegen, was kenne ich für Samen, was haben wir für Samen daheim, wo begegne ich Samen auf meinem Schulweg? Gibt es Pflanzen, die keine Samen machen? Für mich Hausaufgaben gleich Familientischthema.
Getreide wird gesät, Kartoffeln gesteckt, die Erdbeeren machen ganze Ketten von Ablegern, das Wiesengras wächst von alleine, hartnäckiges Unkraut versucht es mit unterirdischen Ausläufern. Die Grossmutter machte Geranien-Stecklinge und sie sammelte Samen von den Gartenblumen. Dazu liess sie die Knospen an kräftigen Pflanzen stehen. Während Tagen beobachteten wir gemeinsam, wie die Knospen wuchsen und sich langsam öffneten. Die Blume wurde schöner und schöner, und die Insekten besuchten sie, um Honig zu sammeln und um "Samen zu machen", was immer das hiess. Dann verlor die Schöne ihre Pracht, sie verblühte und Grossmutter liess sie dann, wie sie es nannte, ausreifen. Der Fruchtknoten mit den Samen wuchs und verdorrte schliesslich langsam. Am Abend eines heissen Tages schnitten wir unsere Samenstände ab und liessen sie in Grossmutters Kammer weiter trocknen, bis sie in einem noch guten Papiersack in der Samenschachtel auf den nächsten Frühling warteten. Bei alledem hatte ich in der einen oder andern Form Hand angelegt, ich brauchte niemanden zu fragen. Ein Ratschlag von Grössi: Die Samen geraten besser, wenn du mit den Pflanzen, die du dafür ausgewählt hast, sprichst. Die Äpfel und Birnen, all das Obst, das war klar, die hatten im Innern kleine Kernchen oder Steine. Aber die Kartoffeln? Der Vater erklärte: "Ihr wisst doch, wie die Kartoffeln kurz und spärlich weiss blühen, bevor die Stauden zusammenfallen. Dort bilden sie kleine Früchte mit Samen, die interessieren uns nicht. Was wir essen und Kartoffeln nennen, das sind unterirdische Wurzelverdickungen. Ein paar ganz gesunde in der Grösse einer kleinen Kinderfaust heben wir auf und stecken sie im nächsten Frühjahr wieder."
Bitte den Notvorrat und Vorbereitungen auf die Sekundarschule nicht vergessen.Wir säten viel. Es begann im Frühling mit dem Frühbeet, genannt Treibkasten. Sachte und sorgfältig säten wir dort im Familienverband das erste Gemüse, sogar Tomaten. "Petersilie wächst sicher, wenn auf die Saat noch Schnee fällt," sagte die Grossmutter. Für die Ansaat der grossen gut vorbereiteten Felder entlehnten wir eine Sämaschine, die von zwei Pferden gezogen wurde.
Die Einsaat (Klee in die Gerste) machten wir von Hand im Dreischritt. Ich wollte und ich konnte mit dem Vater und dem Lehrling mithalten, denn Papa war einverstanden. Mit dem Besenstiel hatte er für mich eine kleine Zeichnung auf dem Hausplatz gemacht. "Eine gute Idee, eine solche Skizze gehört ins Tagbuch des Lehrlings. Das machen wir heute Abend zu dritt am Stubentisch," das wird klappen, freute sich mein Herz. So ging es dann: Stramm organisiert standen wir drei am Ackerrand, in der linken Hand das Becken mit den winzig kleinen schwarzen Kügelchen, dem Kleesamen und die rechte Hand, die Saathand wartete. Der Start war etwas schwierig, denn wir säten um eins versetzt. Doch keine Details hier, wir hatten mit Sand auf der Wiese hinter dem Haus eine Trockenübung gemacht. So schritten wir dann über das Feld. Papa's Befehl an die rechte Hand: Nehmen, links, Mitte, rechts, nehmen, links, Mitte, rechts, nehmen.....den Samen in gleichmässigen Bogen auswerfen, zu jedem Wort ein Schritt, im Viertakt.- Warum nannte man das Dreischritt "Fragezeichen" - Fürs gute Gelingen hatten wir zudem auf den Abstand und die Schrittlänge zu achten. Kein Problem: Papa und der Lehrling waren in etwa gleich gross, und ich war geübt neben Papa im gleichen Schritt zu gehen. Nehmen, links, Mitte, rechts, nehmen, links, Mitte, rechts ... wir schritten über das Feld.
Am folgenden Tag, alle Schüler wussten etwas zu erzählen und der Lehrer fasste zusammen: "Eindrücklich, was für Wege die Pflanzen finden. Es ist noch lange nicht alles erforscht. Die Natur hütet noch manches Geheimnis."
60 Jahre später: siehe Internet.
 
Was geschieht mit all den vielen Pflanzensamen?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was geschieht mit all den vielen Pflanzensamen?
Blumensamen: Zinniensamen, Asternsamen, Sonnenblumensamen ... Gemüsesamen: Salatsamen, Blumenkohlsamen, Tomatensamen ... Getreidesamen, Grassamen, Samen für Bäume ... Natürlich, du willst eine Sammlung, einen Überblick über all die Samenarten! Immer diese Nerverei! Ich kann das nicht ändern, ich bin nun so. Und überhaupt, irgendwie war ich auch stolz auf mich selber.
Wie viele Samen gibt es? In etwa, nur eine grobe Rechnung. Eine Weizenähre hat, sagen wir einmal, vierzig Körner. Das Unkraut hacken wir ab, bevor die Samen reif sind. Die Samenstände von besonders hartnäckigem Unkraut sammeln wir ein und verbrennen sie. Grassamen, Blumensamen? Die fressen die Vögel, sie fallen auf den Boden für die kleinen Tiere oder ins Wasser für die Fische. Sie bleiben im Boden, sie verfaulen oder verdorren. Papa hatte wenig Ausdauer im Überlegen, er wollte weiterarbeiten. Niemand hatte Interesse. Selber war ich immer wieder beeindruckt ob dem Reichtum der Natur. Es gibt zu viele Samen, sie werden vergeudet! Warum zu viele? Hatten die Pflanzen Angst?
Neu begann ich als Mittelstufenschülerin allerhand Versuche zu machen, so auch mit Samen, ich durfte. Ich konnte nicht so leicht hinglauben, was man da alles sagte, ich wollte selber sehen. Das verstand meine Familie. Im Winter hatten wir Zeit, zu warten und zu beobachten. Papa führte das Kommando, und der Lehrling notierte täglich unsere Beobachtungen in seinem Tagebuch, und er schrieb einen Schlussbericht: Blumentopf mit Weizenkörnern in die Kälte (Resultat: nichts passiert), Blumentopf mit Weizenkörnern in die dunkelste Ecke im Putzkasten (Resultat: lange dünne weisse schwache Hälmchen), zwei Blumentöpfe mit Weizenkörnern auf die Fensterbank in der geheizten Stube (einer mit Wasser, Resultat: Tipptopp), und einer ohne Wasser, kein Nachgiessen (Resultat: nichts), ein paar Körner auf einem immer feuchten Fliessblatt (Resultat: anfänglich gut, dann schwächlich) und ein paar Körner in einem Glas, halb gefüllt mit Wasser (Resultat: saugen sich voll und verfaulen). Auf die weiteren mehr oder weniger geglückten Stuben-, Garten- oder Feldversuche wird hier nicht eingetreten. Nur zwei Störungen seien kurz angedeutet: die Gefahr von Tierfrass - Schnecken, Erdflöhe und oder - mangelnde Keimfähigkeit der Samen.
Wie viele Weizenkörner braucht es für 500 g Brot? Wie viele Brote habt ihr gemacht?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie viele Weizenkörner braucht es für 500 g Brot? Wie viele Brote habt ihr gemacht?
"Wir essen viele Samen," - wir schauten den Lehrer mit Erstaunen an - "Ja, wir essen viele Samen. Ihr glaubt das nicht? Also eure Hausaufgabe: Denkt darüber nach und sprecht am Abend, wenn ihr in ein Stück Brot beisst, mit euren Angehörigen darüber," so der Lehrer. Wir wussten, wer unsere Angehörigen waren, denn wir hatten das Wort am Morgen gelernt. Papa stimmte dem Lehrer zu: "Wir essen täglich viele Samen und merken es nicht. Meine Kinder haben keine Ahnung. Das darf doch nicht wahr sein!" Ja, es war ein bisschen zum Schämen. Papa musste nachhelfen: "Du warst doch in der Mühle und dort," er machte eine Pause und ich ergänzte: "habe ich gesehen, wie unsere Weizenkörner zu Mehl gemahlen werden, und daraus bäckt Mama Brot." "Und," der Vater war nicht zufrieden,"und!"  ich fuhr weiter: "Wir säen auch Körner im Herbst." Papa wusste nicht, wieviele Körner es für ein Stück Brot braucht. Er meinte eine grosse Handvoll. Ich versuchte zu zählen, doch dies war nutzlos. Unsere Küchenwaage war zuverlässig, wir konnten bis zu drei Kilogramm wägen, auf Pfunde genau, aber nicht kleine Dinge wie Briefe oder ein paar Körner. Der Bäcker erklärte mir: "Ein grosses Stück, 100g? Ich backe täglich von einem ganzen Sack Mehl Brot." Er liess mich stehen und bediente die nächste Kundin.
2016: Nun kam ihr die offene Frage wieder in den Sinn. Welch ein satter Duft stieg ihr damals leise in die Nase, wenn sie neben einem offenen Weizensack stand, die Körner zwischen den Finger durchgleiten liess oder die Arme tief in den Körnersack steckte. Sie erinnerte sich gut, wie der Vater bei diesem Vergnügen auf saubere Hände achtete. Nun 2016 Frage 1 an Google: Wie schwer sind 1000 Weizenkörner? 3'980'000 Ergebnisse in Sekundenschnelle. Eine Selbstverständlichkeit, doch hätte ihr jemand so was vor sechzig Jahren erzählt, sie hätte sich den Kopf gehalten. Also das Tausendkorngewicht TKG von Weizen ist  40-50 g, das heisst 1000 Weizenkörner wiegen 40 bis 50 Gramm. Frage 2 an Google: 100 g Weizen ergeben wie viel Mehl? Nur ca. 7'840 Ergebnisse in 29 Sekunden.100 Kg Weizenkörner ergeben 70 Kg Mehl, 100 g Weizen entsprechen 70 g Mehl. Frage 3: Für 100 g Brot braucht es wieviel Mehl? 500g Mehl geben 750g Brot. Wie viele Körner ergeben 500 g Brot. Sie hatte mit einem Vielsatz und dem Taschenrechner 9523,8 Körner errechnet. Für ihren alten Kopf hiess das, 10'000 Körner ergeben ca. 500 g Brot. (Einschübchen: Bravo, sie hatte es geschafft, diesen und nur diesen Abschnitt auszudrucken, um die Rechnung in Musse zu wiederholen.)
Fortsetzung: Damals in der Kindheit hatten wir bei meist gereizter Stimmung all zehn Tage einen Ofen voll Brot gebacken. Die Mutter brauchte die Hilfe eines Mannes, um die Backmulde aus der Nebenkammer in die Stube zu tragen. "Immer kommst du damit im letzten Moment," ein gehässiger Wortwechsel begann und schliesslich half Papa. Der Lehrling holte den angefangenen Mehlsack im obern Gang und leerte sofort einen Teil des Mehls in die Mulde. Damit machte er Mama eine Freude. Die Männer verschwanden im Stall. Die Arbeit mit dem Teig konnte beginnen. Mama machte eine kleine Vertiefung im Mehl und mischte darin die Hefe mit einem halben Liter lauwarmen Wasser zum ersten Vorteig. Naschen lohnte sich nicht. Es schmeckte nicht gut, aber es ging auf, langsam, langsam. Wenn wir in unsern Nachthemden steckten, durften wir zusehen, wie unter Mamas geschickter Hand aus einem Krug Wasser und weiterem Mehl der grosse, der zweite Vorteig entstand. Diesen liessen wir über Nacht gehen. Nur das Salz nicht vergessen. Die Mutter streute es am Abend auf das noch trockene Mehl. Am nächsten Morgen, wenn der Vater Gras für das Vieh holte, war sie bereits am Kneten. Unsere Mitarbeit war nicht gefragt. Tauchten wir doch auf, jagte sie uns energisch zurück ins Bett. Wenn wir es arg wünschten, und es sein musste, durften wir als Belohnung für gutes Betragen gelegentlich leise zuschauen. 
Aus dem fertigen Teig formte sie neun grosse und drei kleine Teigstücke, und bestreute diese mit etwas Mehl. Sie legte diese zum Aufgehen in der Knetmulde nebeneinander, die Teigkratze über den Muldenrand gehängt und der Deckel darauf. Bitte die Kratze nicht vergessen, denn der Teig ging leichter auf, wenn er etwas frische Luft hatte. Ein kleiner Spalt genügte.
Wie habt ihr die vielen Teigbrote gebacken?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie habt ihr die vielen Teigbrote gebacken?
Vor dem Frühstück heizte Mama den Kachelofen leicht vor, damit es in der Stube warm wurde. Jeden Winter hatten wir extra grosse Wellen und zusätzlich Aststücke für das Backen vorbereitet. Sofort nach dem Morgenessen brachte der Lehrling die von Mama im voraus bestimmte Menge in die Küche. Dann feuerte sie tüchtig ein. In der Stube riefen auch schon die Teigstücke aus der Backmulde: "Kommt und schaut, wie prächtig wir aufgegangen sind! Wir  kleben zusammen und füllen die halbe Mulde." Der Teig war nun weich, das wussten wir, denn, wenn es während den Schulferien regnete, so gab uns Mama ein kleines Stück. Wir durften es kneten und formen, wie es uns gefiel. Welch ein Spass! Mama knetete den Teig ein zweites Mal, und sie formte schöne runde Brote. Nein, nein, nicht mehr zurück in die Mulde. Diese war nun zu eng. Nein, nein, noch nicht in den heissen Ofen. Noch brannte dort das Holz und die Brote waren zu klein. Der Muldendeckel lag auf der Ofenbank bereit, und die Brotlaibe wurden in Reihen daraufgelegt, drei mal vier. Sie berührten sich gegenseitig nicht. Doch sie wuchsen und wuchsen und wuchsen zusammen. Das war gut so. 
Während dessen wusch Mama das Frühstücksgeschirr, und das Holz im Ofen fiel zusammen. Nun kam eine unbeliebte, fast gefährliche Arbeit: Mama schaffte die Glutreste aus dem heissen Ofen und fegte den heissen Ofenboden mit einem feuchten Lappen sauber. Jetzt war es soweit. Die in der Hälfte überlegten Teiglaibe wurden auf dem Brotschieber in den Ofen "geschossen", drei mal vier nebeneinander. Geschafft! Mama machte kein Handzeichen, wie Grössi das zu tun pflegte. Sie wollte auch nicht über dieses Thema sprechen. Sie wollte verschnaufen, putzen und alles wieder verräumen. Bald begann es fein zu duften. Nach eineinhalb Stunden war es so weit. Zwölf grosse goldbraune Brote konnte Mama aus dem Ofen ziehen. Sie waren ganz heiss. Mama fasste sie mit einem Tuch an. War eins von uns anwesend, so durften wir den Staub von der Unterseite abwischen. Zum Auskühlen legte Mama alle Brote in eine grosse Zaine. Gott sei Dank, gut geraten.
Wir wussten, es galt als ungesund, das frische Brot vor dem Abend anzuschneiden, aber wir taten es doch. Das Brot schmeckte nie so gut wie ofenfrisch und warm!
Einschub 1. August 2016: 1816 Schneesommer und Heisshunger
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Einschub 1. August 2016: 1816 Schneesommer und Heisshunger
2016, 1. August: Unerhofft schnell konnte sie im Ritterhaus Bubikon im Zürcher Oberland die Ausstellung "1816 Schneesommer und Heisshunger" besuchen. - Es war ihr wichtig, denn sie hing immer wieder Erinnerungsfetzen an Grössi nach, besonders dem Bild, wie alte Frau den Kopf nachdenklich hin und her wiegte und seufzte:" Kind, es war gar nicht schön" und einen Moment später nochmals: "Glaube mir, es war gar nicht schön", und dann schaute mich Grössi an: "Ich bin dankbar, es geht uns gut." Einschub Ende.
Damals, wenn ich nachgefragt hatte, wie es noch früher gewesen sei, zur Zeit als ihre Mutter, gemeint war die Zeit als Grössis Mutter, ein Kind gewesen war, und wie es gewesen war als Grössis Grössi ein Kind gewesen war, immer wieder nur: "Die hatten viel Hunger, meine Mutter hätte nie geboren werden dürfen. Die hatten viel Hunger. Nur wer für seine Kinder anständig sorgen kann, darf Kinder haben. Ich hätte nie gedacht, dass ich je Kinder haben könnte und dann - nach dem unerwarteten und traurigen Tod von Berta Bachofner hat mich Konrad Huber, der Chueri geheiratet und es ging mir immer besser, immer besser", sie kam ins Schwärmen. Dann fiel sie wieder in ihre Kindheit zurück: "Meine Brüder waren nie selbständig, die konnten nicht heiraten, das war gut so, denn die hätten nie für jemanden sorgen können."Grössi nickte und fuhr eine Weile später fort: "Glaube mir, es waren unruhige Zeiten, es gab viel Hunger und Elend. Komm, wir holen Holz zum Kochen,"sie nahm mich an der Hand, wir füllten gemeinsam die Zaine mit Scheitchen und trugen diese in die Küche. Wir waren wieder in den frühen fünfziger Jahren.
2016: Der Kurzbesuch jener Ausstellung hatte sie erschüttert. Sie spürte etwas von der Mühsal jener fernen Jahre und vom tiefen Wahrheitsgehalt der Äusserungen von Grössi. Sie plante, im September einen ganzen Nachmittag dort zu weilen und dabei zu versuchen, die aufgelegten Zeitdokumente zu lesen. Sie hatte dann, zwar geplant und doch unerwartet, schon am 2. September 2016 einen Nachmittag in jener Ausstellung verbracht und vieles über die grossen Zusammenhänge, die erste Welle der Globalisierung und den Dreieckshandel im frühen neunzehnten Jahrhundert gelesen. Kurz gefasst: Handelsware, Stoffe, Gewehre, Alkohol von Europa nach Afrika, Sklaven von Afrika nach Amerika, Rohstoffe, Baumwolle, Kaffee von Amerika nach Europa. Einschub Ende.
Noch bevor ich in die Schule ging, hatte mir der Grossvater selig immer wieder von Amerika mit seinen Indianern erzählt. Als es zu wenig Indianer gab, hätten die weissen Leute in Amerika Neger aus Afrika bestellt. Der alte Mann hatte immer den Kopf geschüttelt, und das gefiel mir, dem kleinen Mädchen nicht. Deshalb hatte ich den Grossvater wieder und wieder gefragt. Was verheimlichte mir Chueri? Vielleicht wusste oder ahnte der alte Mann mehr, als er zu sagen wagte. - Seit langem hatte das Binnenland Schweiz vom Sklavenhandel profitiert. Noch keine 100 Jahre war es her, dass die Sklaverei in den USA verboten worden war (1865), als der Grossvater 1950 starb . Einschub: Wahrscheinlich hätte man es wissen können, aber die kleinen Leute hatten genug andere Sorgen. Dampfmaschinen, Spinn- und Webmaschinen hielten Einzug, die Welt geriet aus den Fugen. Auch in der Schweiz, im Zürcher Oberland wurden Fabriken (Spinnereien und Webereien) gebaut. Die Heimarbeit wurde ersetzt, und die emsigen Spinnerinnen und die tüchtigen Weberinnen verschwanden, und dadurch wurde das Geld in vielen Familien rar. Grössis Satz passte: "Glaube mir, es war nicht schön."
2016 Der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora am 15. April 1815 war die grösste Eruption seit mehr als 20'000 JahrenDas ausgeworfene Material bewirkte globale Klimaveränderungen, die dem Jahr 1816 die Bezeichnung das «Jahr ohne Sommer» einbrachten. Die Abkühlung des Klimas durch die Vulkanasche in der Atmosphäre bescherte auch der Schweiz Hunger und Verarmung. «Das Regenwetter hält an. Es kann nichts wachsen, es ist immer zu kalt», schrieb ein Elsässer Zeitgenosse im Juli 1816. "In diesem Monat schneite es mehrfach bis in tiefe Lagen." Die Schweizer assen Gras. 
Damals: Ihre Erinnerungen an Grössis Erinnerungen hatten viel Wahres an sich: "Glaube mir, es war nicht schön. Es waren unruhige Zeiten, es gab viel Hunger und Elend, Missernten und Arbeitslosigkeit.
Die Ährenleserinnen, wo sind sie geblieben?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Die Ährenleserinnen, wo sind sie geblieben?
Wenn wir das Heu heim führten, sammelten wir die zurückgebliebenen Halme mit dem Rechen sorgfältig ein. "Nichts darf verlorengehen!" so die Regel. Wenn die Männer die Weizengarben mit Mühe heim führten, sammelten wir die zurückgebliebenen Halme und Ähren  nicht ein, obwohl die Regel "nichts darf verloren gehen!" auch hier galt.
Die Frauen, d.h. die Bäuerin und die Tagelöhnerinnen, sofern man hatte, hoben das trockene Getreide mit der Zutraggabel sorgfältig auf die ausgelegten Garbenseilchen. Ich mühte mich mit dem Legen dieser Garbenseilchen ab, aber ich konnte den Ansprüchen der Grossen nur mit äusserster Anstrengung genügen. Alle waren froh, wenn Grössi mit dem Abwasch fertig war und auch aufs Feld kam. Nun konnten sie mich wegschicken. Grössi übernahm mein Ärbetli (= kleine Arbeit) noch so gerne. Sie ertrug strenge Arbeit in der Hitze nicht mehr.
Die Männer, d.h. Papa und der Lehrling, banden die Garben und luden sie auf das Pferdefahrzeug; eine grosse Anstrengung. Papa schimpfte mit den Frauen: "Wie häufig muss ich euch sagen: Macht die Garben kleiner, wir schaffen es kaum." Schliesslich rollte die Ernte heimzu. In der Scheune wurde sie abgeladen und mit dem Seilzug auf den Scheuneboden befördert. Wohl waren alle mit Sorgfalt bei der Arbeit, aber es war verpönt, mit dem Rechen auch die letzten Ähren zusammen zu ramassieren.
Denn, was nach eingebrachter Ernte auf den Feldern zurückblieb, das gehörte den Ährenleserinnen. Diese Frauen waren keine Bäuerinnen, sondern Frauen von Arbeitern ohne Land. Sie hatten die Erlaubnis, gegen Abend auf den abgeernten Feldern die liegen gebliebenen Ähren einzusammeln. Jede wollte die Erste sein und am meisten einsammeln. Auf unsere Felder durfte nur unsere Tagelöhnerin mit ihren Kindern. Sie waren tüchtig, und doch schien mir diese Arbeit der Mühe kaum wert. Tief im Herzen drin taten sie mir Leid. Irgend ein Bauer liess dann ihre Säcke voller Ähren durch die Dreschmaschine laufen. Ihre Ausbeute: Wenn es hoch kam drei Viertel Sack Körner. Wir konnten mehr als fünfzig Säcke zu hundert Kilogramm verkaufen. Das zeigte klar, wir waren nicht "frei und gleich", wie der alte Mann, der sich für Geografie interessiert, behauptete.
Die Ährenleserinnen verschwanden bald. Es gab mehr kleine Arbeiten, bei der Post, im Schulhaus, beim Bäcker, beim Pfarrer - und die Bindemäher übertrafen die Handarbeit. Nach der Ernte mit dem Bindemäher blieb nichts mehr auf den Feldern zurück, denn die Maschine hatte alle Halme sorgfältig zusammengebunden.
"Ja, die Maschinen haben schon vielen Leuten die Arbeit weggenommen, denn sie machen alles besser und schneller und billiger," räsonierte Grössi. "Als ich auf die Welt kam, wurde bereits keine Baumwolle mehr zum Spinnen und Weben in die Dörfer gebracht. Meine Grossmutter und besonders die Grosstante, die nur schwer gehen konnte, sollen flinke Weberinnen gewesen sei. Sie hätten beide gut verdient. Ich habe die beiden nicht gekannt. Ein Spinnrad stand noch eine Weile im Estrich und verstaubte. Ich kann weder spinnen noch weben. Stoff ist heute billig." Die Spinnerinnen und die Weberinnen waren verschwunden, und dadurch war das Geld in vielen Familien rar geworden. Grössis Satz passte: "Glaube mir, es war nicht schön."
Wann mähst du das Getreide im Asp? Der Bindemäher
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wann mähst du das Getreide im Asp? Der Bindemäher
Noch Anfang der 1950er Jahre wurde alles Getreide mit der von den Pferden gezogenen Mähmaschine mit Ableger geschnitten. Dann folgte viel Handarbeit: Ausbreiten, - wie häufig hatten wir Pech, es regnte und wir mussten darum das ganze Feld trocknen - , wenden, zu kleinen Häufchen rechen, antragen (= auf Garbenseilchen legen), zu Garben binden, auf das Pferdefuhrwerk laden und heimführen. So wurde es gemacht, bis ein Militärkamerad meinem Vater anerbot - Papa konnte nicht ausreden, Mama schüttelte den Kopf: "Nein, nein, da helfe ich nicht. Ich verlange, dass du Emil abtelefonierst und sofort mit den Pferden im Asp ans Werk gehst. Es wartet viel Arbeit auf uns !" "Emil hat kein Telefon und er ist mit dem Bindemäher und dem Traktor unterwegs und kommt vorbei," erklärte Papa ruhig. Er freute sich, Emil hatte ihm vorgeschlagen, auf dem Heimweg unser grosses Getreide-Feld im Asp mit seinem Bindemäher abzuschneiden: "Die Bauern sind misstrauisch, sie wollen nicht.  Sagt einer ja, muss ich ein kleines unebenes Äckerchen mähen. So kann ich nicht zeigen, wie fantastisch mein Bindemäher funktioniert. Dein Asp ist gross und eben. Das ganze Feld steht. Hinten und vorn hat es Platz zum Wenden. Du hast alles gut vorbereitet." Ich wusste, nun ging bald ein Traum von Papa in Erfüllung, er meinte: "Höre, meine liebe Frau, Emil will mir einen guten Dienst erweisen. Dieses Angebot kann ich nicht ausschlagen. Ich könnte ihn auch gar nicht erreichen, er hat doch kein Telefon auf dem Traktor. Wir lassen ihn kommen und sehen. Ist seine Arbeit nicht gut, so schicke ich ihn weiter." Kurz nach dem Mittagessen holte Emil Papa und den Lehrling ab, sie nahmen das Velo. Da Mama nicht mit wollte, durften der Bruder und ich auf dem Traktor mitfahren. Die Arbeit von Emil war fantastisch. Wir staunten: Das Getreide wurde geschnitten, zusammengeschoben, automatisch zu kleinen Garben gebunden und ausgeworfen. Die kleinen Garben lagen schön in einer Reihe. Der Traktor drehte seine Runden und der Bindemäher warf eine weitere Reihe Gärbchen aus. Da lagen sie schön Reihe neben Reihe. In knapp zwei Stunden war das grosse Feld geschnitten. Was nun? Papa hatte sich am Sonntag mit dem Motorroller umgesehen, und in der Tasche seiner Arbeitsjacke steckte eine Seite der Bauernzeitung. Er wusste wie die Garben zum Trocknen aufzustellen waren.
Papa führte das Kommando. Es klappte gut. Wir hatten bereits eine Reihe Puppen gestellt, als Emil fertig war. Er winkte: "Gut wie ihr das macht. Ich muss weiter." Die von den Pferden gezogene Mähmaschine mit Ableger wurde noch zum Schneiden von Silomais gebraucht.
Wie ging das mit den Gärbchen? Bild von 1955
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie ging das mit den Gärbchen? Bild von 1955

Das Mädchen auf dem Photo von 1955.

Ein Jugendbild auswählen und beschreiben, was dadurch aktualisiert wird, und dann beides dem ehrenamtlich tätigen Professor mailen,“ dies war die Hausaufgabe für den Vormittags-Kurs am 30. Juni 2017. Bereits am 30. Mai hatte sie dies erledigt und sich auch wiederholt in Gedanken für diese Chance bedankt. Sie freute sich.

Liebe Leserin, lieber Leser mit diesem Bild lade ich Sie ein, einen Blick in meine private Kinderwelt zu werfen. Diese gab es damals in mannigfacherweise und sie war mir wichtig. Es war meine alleinige Welt. Alle hätten wissen dürfen und wissen können, aber niemand interessierte sich. Basta.

Der Bindemäher des Nachbarn hatte bereits am Morgen unser Weizenfeld gemäht und die Halme automatisch in handliche kleine Garben gebunden und ausgeworfen. Sie lagen zunächst gleichmässig verteilt auf unserm Acker, bis wir sie zum Austrocknen aufstellten. Sechs kleine Garben gaben eine Puppe: Eine in der Mitte, vier seitwärts zum Abstützen und eine zum Abdecken.

Das Bild mit dem strahlenden selbstbewussten Mädchen mit der kleinen Garbe in den Armen liegt jetzt vor mir. Ich kann mich gut an alle Details der Aufnahme erinnern. Mama, die Kleinen und die Tagelöhnerin hatten sich bereits auf den Heimweg gemacht, um den Mittagstisch zu richten. Papa, der Lehrling und ich stellten die letzten Garben auf. Endspurt - schnell, schnell. Der Lehrling und ich, jetzt - der Lehrling und ich, jetzt - wir stellen die Gärbchen gleichzeitig wechselseitig auf das „Jetzt“ des Papas an die Mittelpuppe, die Papa hielt. Zack, Zack.

Eines meiner Augen sah ein oranges Auto auf der Asphaltstrasse. Der Lehrling und ich, jetzt - der Lehrling und ich, jetzt, und fertig war die Puppe. Das Auto bog auf den Feldweg ein und hielt vor unserem Acker. Der Lehrling und ich, jetzt – jetzt - fertig war die nächste Puppe. Der Lehrling und ich. Ein Mann mit einem Photoapparat stieg aus dem Auto. Jetzt, jetzt, fertig, wir arbeiteten im Takt. Schon stand der Fremde neben uns: „Darf ich ein paar Bilder machen?“ Papa nickte, wir schalteten einen Gang zurück. „Arbeiten sie bitte weiter, während ich knipse. Ich suche Sommerbilder für Zeitungen,“ und nebenbei erklärte er uns, dass er nicht wisse, ob und wann eines der Bilder erscheinen würde. Papa meinte: “Alles in Ordnung.“ „Jetzt, - jetzt, - fertig“. Ich arbeitete tüchtig – der soll nur sehen - und ich nickte ihm zu. Er verstand und machte Bilder von mir alleine, viele. Dann wechselte er nochmals ein paar Worte mit Papa, und weg war er. Beim Mittagessen konnten wir etwas Spannendes erzählen und nachher war's vergessen. Pause. Es war vergessen.

Nein, nein nicht für mich. Das Schulphoto war lange in aller Munde, doch nicht in meinem und schon gar nicht in meinem Herzen. Nein, nein, von der schwierigen Welt der Schule, durch die alle durch mussten, von der wollte ich kein Bild. Ich nahm es, weil Mama mir die sieben Franken zwanzig gegeben hatte. Und - ich wollte nicht durch Gespräche von einer Ansicht überzeugt werden, die schlicht und einfach nicht die meine war. Ich hätte das ganze Geld lieber in meinem Kässeli für Afrika gespart. Doch das durfte ich nicht. Es musste das Schulphoto sein. Ich hatte meine Lage schnell erkannt und verbrauchte keine Kraft für eine im voraus verlorene Schlacht, denn ich wollte in die Sekundarschule.

Viele Bilder hatte der Photograph von mir gemacht. Ich hatte es geschafft. Was passierte wohl mit all den schönen Photos von mir? „Gut, gut, schön, halte die Garbe so, schön, schau in die Ferne. Ich brauche eine andere Spule. Schön, gut. So schön kann Arbeiten sein,“ ich nickte, er lachte und wir schauten uns an und lachten beide. Ich sagte Danke und er sagte auch Danke. Ein Moment der Stille, und weg war er.

Ja, es gab andere Welten. Ich kannte sie und konnte ihnen Wörter geben. Sie existierten.

Mehr als zehn Jahre später – ich wohnte nicht mehr daheim - lag das Bild als Reklamekarte für Dünger in den Briefkästen des Dorfes in der Mitte. Bei einem meiner Besuche daheim zeigte und schenkte es mir eine Nachbarin:„Schau, dieses Bild. So hast du ausgesehen, als du noch ein Schulmädchen warst. Haben sie es dir gezeigt? Nein? Da, nimm es mit.“ Ja, das Mädchen mit der Weizengarbe war ich. Ich hatte die rotkarierte Trägerschürze sofort erkannt. Den Latz oben quer zierte eine kleine Stickerei. Mama hatte mir zwei solche Schürzen für den ersten Schultag genäht und an einem Sonntagnachmittag mit Hexenstichen verschönert. Ich trug die beiden abwechselnd während den drei Jahren Unterstufe und später zur Feldarbeit. Dazu das dunkelblaue fein schräg karierte Röcklein mit allerhand weissen und roten Blümchen, genäht aus der Ärmelschürze von Tante Elise selig. Braungebrannt, die blonden Zöpfchen hinten zusammengebunden, damit sie bei der Arbeit nicht störten. Das war gut so. Ich war photographiert worden. Ich hatte es geschafft.

Wie war das mit den Pilzen nach dem Brand am Calanda?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie war das mit den Pilzen nach dem Brand am Calanda?
Nun die Geschichte von den Pilzen nach dem Waldbrand am Calanda, wie ich sie während der Primarschulzeit gehört hatte, die niemanden interessierte und die mich doch staunen liess.
Die Berge, die Berge! Wir freuten uns, wenn sie über dem dunklen Tannenwald am Horizont glänzten. Die Leute, die in den Häusern unten im kleinen Dorf wohnten, die konnten die Berge nie sehen. Die meisten von uns, den Leuten vom mittleren Dorf, wir hatten ein Fenster, und sei es auch nur das Estrichfenster, das wir öffnen konnten, um die Berge zu bewundern, wenn die Sicht klar war. Für die Leute im oberen Dorf war die Sicht auf die Berge kein Thema. War die Sicht klar, brauchten sie nur die Köpfe zu heben und in die Ferne zu schauen und sie sahen die Berge. Auch Mama interessierte sich nicht für die Berge, denn sie hatte in ihren ledigen Jahren, vor dem Krieg mit dem Töchterchor zwei Reisen in die Berge gemacht. Sie erzählte uns mit Begeisterung, wie sie hinter einander in einer Reihe (richtig wäre gewesen, zu sagen in Einer-Kolonne) auf einem schmalen Weg, sich mit einer Hand an einem Seil festhaltend, in schwindelnder Höhe gipfelwärts marschiert seien. Sie hätten in einer Hütte übernachtet und während dem Sonnenuntergang gesungen. "Diese Zeit ist für mich vorbei, ich habe nun euch drei und Papa, und das ist gut so," wir hörten diese Geschichte immer wieder und sie endete in einer Umarmung. Mama hatte uns gern. Grössi schüttelte den Kopf: "Wie man nur kann. Enge Täler, Steine und Schatten, viele Kinder und kein Brot, da will ich nicht hin." Papa und ich, wir wären gerne auf die Berge geklettert.
Zurück zum Calanda: Ich war zwar noch nie dort gewesen, aber ich wusste: "Die Berge sind sehr hoch und steinig. Es ist dort trocken, weil das Wasser unten schnell wegfliesst. Im Sommer ist es heiss. Karge Pflanzen versuchen dort zu wachsen, und im Laufe der Jahrhunderte haben es sogar trotzige Bäume geschafft. Schon zur Zeit von Wilhelm Tell gab es Bergwälder, die geschützt werden mussten. Immer und immer wieder bläst der Föhn durch die Bergtäler und trocknet alles aus. Die Bergleute wissen, dass sie dann kein Feuer zum Kochen machen dürfen, denn schon ein kleiner Funke könnte im Sturm mit dem Rauch fortwirbeln, einen trockenen Baum anzünden und - einen Waldbrand entfachen. Das sei während dem Krieg passiert. Es wird gesagt: Ein unerfahrener Offizier aus der Stadt habe während einer Schiessübung mit Kanonen den Calanda als Ziel bestimmt. Welch ein Missgeschick, denn dabei soll ein fallender Funke das trockene Gras angezündet haben. Der Föhn habe das seine beigetragen, und alle Bäume auf dem Calanda seien abgebrannt. Furchtbar. Die Leute seien erstarrt, nicht für immer, aber doch ähnlich wie in der Geschichte von Sodom und Gomora. Drei Tage habe es gebrannt. Alles war weg, der Berg war grau und kahl.
2016: Sie hatte ihrem Gedächtnis nicht vertraut und darum mit dem zuständigen Förster telefoniert. Der bestätigte ihre Erinnerungen. Sie erfuhr ergänzend, dass dem Wald damals noch viel Respekt entgegen gebracht worden sei, denn Holz habe gutes Geld gebracht. Die Aufforstung sei deshalb umsichtig und sorgfältig geplant worden. 20 Jahre habe sie in Anspruch genommen. Die Zeiten hätten sich geändert, so etwas könne man sich heute nicht mehr leisten. Doch Besucher könnten noch heute, 2016 leicht den Unterschied zwischen dem kräftigen Jungwald und Streifen des verschonten Bannwaldes erkennen. Ende.
Der Lehrer hatte uns damals erzählt, nach dem Waldbrand seien auf dem Calanda während mehreren Jahren viele Pilze gewachsen, deren Samen die Hitze des Feuers gebraucht hätten, um sich entwickeln zu können.
Geschichte: Orgetorix und Co?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Geschichte: Orgetorix und Co?
In der fünften Klasse: Orgetorix. Leicht verärgert, konnte mein Vater das Gedicht auswendig dahin leiern. War er gut aufgelegt, versuchte er es mit unterschiedlicher Stimmführung wie ein Schauspieler zu rezitieren. Durch dieses Gedicht lernten wir einiges aus der alten Zeit, der Zeit vor 2'000 Jahren, vor dem Jahr Null, vor der Geburt von Jesus Christus. Ein paasendes Schulwandbild hing hinten über dem Tisch.
Orgetorix hatte in unserer Gegend gelebt. Wir kannten Eichen, die seinen Vorstellungen  entsprochen haben könnten. Nichts sprach gegen die Vermutung, dass wir mit unsern blonden Haaren Nachfahren von Orgetorix hätten sein können. Wir waren Helvetier. CH war die Abkürzung für unser Land. Der Name stand so auf dem Fünf-Franken-Stück: Confoederatio Helvetica. Offiziell Schweizerische Eidgenossenschaft oder in der Umgangssprache einfach Schweiz. Diese Namen sind in jede unserer vier Landessprachen übersetzt. Zum Glück regnete es draussen und der Lehrer hatte Zeit, uns all die verschiedenen Namen in den andern Landessprachen aufzuschreiben.
An der Wandtafel stand in schöner Druckschrift der Arbeitstitel: Das Fragezeichen ? und das Ausrufezeichen ! Dieser Arbeitstitel entsprach einer Kapitelüberschrift im Sprachbuch, das wir während den Stunden der sog. stillen Beschäftigung benutzten. Der Lehrer begann: "Aufgepasst! Satzzeichen schreiben wir nur, aber bis zur Pause sprechen oder lesen wir alle Satzzeichen laut und deutlich. Das tönt so: Nehmt das Lesebuch! (Ausrufezeichen). Wie heisst der Held in unserem Gedicht? (Fragezeichen)". Komisch wie das tönte es mit den gesprochenen Satzzeichen. Der Lehrer fuhr weiter: "Orgetorix stellte den Helvetier. ein paar Fragen (Punkt). Lest mir seine Fragen vor! (Ausrufezeichen). Was möchtet ihr aus der Zeit von Orgetorix wissen? (Fragezeichen). Bildet Fragesätze! Einfache Fragen!" Orgetorix, was habt ihr gegessen? Wie sahen eure Häuser aus? Wieviele Leute wohnten in deinem Dorf ? Womit habt ihr Kleider gemacht? Gingen die Kinder in die Schule? Habt ihr mit Pfeil und Bogen gejagt? Hattest du ein Auto? Sicher nicht! Überlegt! Keine dummen Fragen! Achtung! Hört ihr die Ausrufezeichen hinter diesen kurzen Sätzen? Nehmt die Hefte! Schreibt zwei Fragen von Orgetorix ab! Macht selber fünf Fragesätze! Sucht und schreibt fünf kurze Sätze, die ein Ausrufezeichen brauchen! An die Arbeit! Los! Und wir schrieben.
Am Familientisch erzählte ich und fragte die Erwachsenen (eine gute Fünftklässlerin spricht von Erwachsenen und nicht von den Grossen): "War Orgetorix der Anführer einer Horde Halbwilder? War er ein Häuptling wie Winnetou? War er ein Vorfahre von Wilhelm Tell?" Mir machten diese Gestalten Angst, und doch konnte mir Mama viel abverlagen, wenn ich dafür am Radio in der Kinderstunde das Hörspiel von Winnetou hören durfte. Grössi schrieb selten, und sie benutzte keine Fragezeichen. Zwar im Dauerkrieg mit Mama -  aber sofort einig waren sich die beiden Frauen über die Wirkung eines Fragezeichens. Der Name Orgetorix mit Ausrufezeichen und Name Orgetorix mit Fragezeichen waren zwei verschiedene Sachen. Basta! Das Gesprächsthema wurde gewechselt. Bei mir lösten ? und ! ganz unterschiedliche Traumreisen aus. Das ? zog Zweifel nach sich, das ! löste Bewunderung aus.
Der Lehrer: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Fragezeichen, Ausrufezeichen, Punkt sind auch "Bilder". Ob ein Fragezeichen oder ein Punkt gesetzt wird, das macht einen grossen Unterschied. ? und ! und auch der . geben Platz für ganz unterschiedliche Überlegungen.
2016 "Orgetorix" war für sie zu einer Metapher, einer Ikone geworden. Durch diese Schreiberei lebte das Gedicht wieder auf. Zum Glück war es ein Leichtes, das alte Gedicht im Internet zu finden, zu kopieren und hier einzufügen. Warum nicht? Sie dachte, später werde sie überlegen, ob sie es löschen sollte.
19. April 2017 : Beim Überarbeiten der Texte war sie erneut ganz konkret auf Orgetorix gestossen. Sie blieb unschlüssig. Orgetorix war ein versteckter Schatz aus ihrer Kindheit, an den sie dachte, wenn sie im Wand eine grosse Eiche sah.  Den wollte sie an ihre Enkelinnen weitergeben. Durch diesen Text war dies vielleicht tatsächlich möglich. Wie sonst?
 
Orgetorix (von Alfred Hartmann, 1814 -1897)
I.
Es standen im Ring auf grasiger Au
Helvetiens Mannen aus jeglichem Gau,
die Mannen vom ganzen Land;
sie standen beisammen in Waffen und Wehr,
die wuchtige Keule, den spitzigen Speer,
die hatte jeder zur Hand.

Und mitten im Ringe flammenden Blicks,
da stand der Häuptling Orgetorix.

und sprach mit beredtem Mund:
»Was weilen wir hier im kargen Tal?
Was bauen wir Hütten auf schwankem Pfahl?
Hört, was ich euch rate zur Stund’!

Wir stecken die morschen Hütten in Brand;
wir ziehen hinunter ins gallische Land;
wir ziehen mit Weib und Kind.
Wer trotzt wohl unserer Keulen Wucht?
Wir jagen die Memmen in die Flucht,
wie die Spreue des Kornes der Wind.

Wo die Traube reift, wo die Mandeln blüht,
wo des Mädchens schwarzbraunes Auge glüht,
wo nimmer die Schneeflocke fällt, –
Helvetiens Mannen, dahin, dahin,
in die gallischen Lande laßt uns ziehn!
Dem Starken gehört die Welt!«

Die trotzigen Mannen jubelten wild,
und jeder schlug mit dem Schwert an den Schild,
daß es laut am Fels widerhallt’!
Der Kriegszug ward beschlossen im Ring;
ein Rauschen wie Geisterflüstern ging
durch die heiligen Eichen im Wald.

»Zwei volle Jahre geb' ich euch Frist,
bis alles zur Reise bereitet ist;
zwei Jahre noch wollen wir harren.
Zwei volle Jahre noch habt ihr Zeit,
zu bauen das Korn, zu wirken das Kleid,
ans Joch zu gewöhnen die Farren.

Und ist dann alles zur Fahrt bestellt,
so stürzen wir jäh auf das gallische Feld
wie der Strom, der den Damm gebrochen,
wie die Lawine jäh zu Tale geht,
wenn der Südsturm über den Gletscher weht.«
So hatte der Häuptling gesprochen.

II.

Und wiederum standen die Mannen im Ring,
berufen, zu halten ein Blutgeding,
ein Ding auf Leben und Sterben.
Und wiederum stand Orgetorix
in Ringes Mitte finsteren Blicks;
es ging um Leben und Sterben.

»Und glaubt ihr mich schuldig, was mir so fern,
ich woll' mich erschwingen zu eurem Herrn
und woll' euch machen zu Knechten;
und liehet ihr dem Verleumder das Ohr,
und wenn ich euer Vertrauen verlor,
so will ich mit euch nicht rechten.

Zieht ohne mich fort ins gallische Land,
den Rhodan hinunter zum Meeresstrand;
ein anderer mag euch weisen.
Doch dass ihr mit Unrecht mir gegrollt
und dass ich euch nimmer verraten wollt',
das soll mein Blut euch beweisen...«

Und stiess sich das eherne Schwert ins Herz;
er fiel in den Sand mit stummem Schmerz –
wo fändet ihr seinesgleichen?
Und schweigend auseinander ging der Ring,
berufen zum Blutgeding;
es bebten die heiligen Eichen.
 
2016 Ja, die alten Geschichten von Winnetou, Wilhelm Tell, Orgetorix und all die Erzählungen aus der Bibel. ... Sie schwebte durch ihre Erinnerungen, und dabei fielen ihr auch die Vorbereitungen für die Sekundarschulprüfung ein. Sie fühlte sich daheim. Auf dem Boden dieser alten Bilder wurzelte das gemeinsame Wissen, die gemeinsame und verbindenden Volkskultur. Diese Wurzeln fanden immer weniger sauberes Wasser. Die Völker und Religionen durchmischten sich mehr und mehr. Patchwork? Waren die Eichen ihres Volkes alt geworden? Sie wagte nicht nein zu sagen. Sie wagte nicht ja zu sagen. Sie begann zu fliegen.
 
Die Frauen von Orgetorix und Co.? Waren sie Heiden?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Die Frauen von Orgetorix und Co.? Waren sie Heiden?
"Diese Frage musste ja kommen," schmunzelte der Lehrer. Wir waren uns einig: "So kräftige Männer hatten irgendwelche Frauen." Hinter diesen Satz konnte ich wieder ein Fragezeichen und ein Ausrufezeichen setzen, das war mir sofort klar.
Wir phantasierten einiges zusammen: Die Frau des Orgetorix machte am offenen Feuer einen Wildschweinebraten. Tell hatte seiner Frau eine Gämse gebracht und Winnetou half seiner Indianerin beim Zerlegen und Aufteilen eines Büffels. Weiter in die Details zu gehen, gehörte sich für die Schule nicht. Das war gut so, denn es liess mir viel Raum für Phantasiereisen.
Christen war der Sammelbegriff für Reformierte, Katholiken, Stündeler und all die vielen andern, die etwas Ähnliches glaubten und zusätzlich sehr sicher waren, dass sie Recht hatten. Ich konnte ein Fragezeichen setzen, denn ich wusste nicht so recht wer, was und wie. Der Rest der Welt, waren das Heiden? Orgetorix ? Winnetou ? Wilhelm ? Jesus, ein Jude? Solche Fragen, was brachten die mir für Vorwürfe, Ärger und Streit!
Ja, ich ging weiterhin jeden Sonntag brav in die Sonntagsschule. Bequem! Dann musste ich Mama nicht helfen, dann konnte Grössi keine Wünsche haben, und auch Papa konnte seine besonderen Ärbetli (kleine für ein Kind geeignete Arbeiten) selber machen. Ich zog mein wunderbares Sonntagsröcklein an. Mama und ich hatten es in der Stadt, im Warenhaus Doster im zweiten Stock, links hinten anprobiert und gekauft. Zwanzig Franken wollten wir ausgeben. Die schönen Röckli kosteten mehr. Schliesslich standen noch ein rot- oder ein blaukariertes zur Wahl, vorne eine Reihe gläserne Knöpfchen zum Schliessen und mit einem schmalen Gürtchen aus Plastik. Eine feine Sache für 27 Franken 70. Beide hatten auch einen kleinen Saum. Wir konnten es also nächstes Jahr länger machen. - Und da brachte die Verkäuferin noch eins, ein wunderbares. Mama und ich staunten, das war es, selbst wenn es - die Verkäuferin suchte nach dem Preisschild, sie fand es nicht und verschwand im hinteren Teil des Ladens - wir schlüpften hinein. Hoppla, das ging schnell, ein Gummizug in der Taille und hinten am Hals ein einziges Knöpfchen. Ein bisschen gezupft, und es sass perfekt. Es kostete 32 Franken 70. "Das ist sein Geld wert, der Preis geht niemanden etwas an, verstanden!" Papa war stolz auf unsere Wahl.
In meinem wunderbaren Röcklein sass ich in der Sonntagsschule und döste vor mich hin. Meine kleine Schwester lutschte versteckt am Daumen, und der Bruder sass bei den Buben. U.a. betete ich für Alfi, Netti, Trude und all die armen Kinder ohne Bett. Vor dem Heimgehen legte ich den einen Batzen in die Opferbüchse für die Basler Mission, der andere war für Alfi bestimmt, und er wanderte heimlich in mein Sparkässeli. Geld war mir wichtig.
 
Geographie, was war das?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Geographie, was war das?
Geographie und all die Wörter wie Photographie, Telephon, Alphabet schrieben wir damals in den 1950er Jahren mit "ph". "Das wird sich ändern, ph wird zu f," prophezeite der Lehrer und lachte: "Das haben sie uns schon während meiner Ausbildung im Lehrerseminar vor bald 50 Jahren erzählt. Alles blieb beim Alten. Also schreibt Geographie mit "ph", sonst gibt es einen Fehler." 2016 Die Änderungen in der deutschen Rechtschreibung hatten sich dahin geschleppt: Konferenzen und Streitgespräche und Kompromisse. 1996 was es soweit, dann Nachbesserungen 2004 und 2006. Sie kümmerte sich wenig darum. Das Rechtschreibprogramm im Computer tat es.
Zurück zu Geografie: "Jetzt gehste du in die vierte Klasse. Jetzt hast du Geographie. Was macht in der Geographie? Geographie war mein Lieblingsfach. Was lernen die Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg in der Geographie?" Ich mochte solche Fragen des alten Nachbarn nicht, denn am Anfang der vierten Klasse verstand ich kaum, was wir lernten. Im Schulzimmer vorne links in der Ecke stand auf dem flachen Kasten, in dem die vielen interessanten Wandbilder lagen, eine Kugel, die Weltkugel, die richtigerweise Globus genannt werden sollte.
Unser Haus, unser Dorf und die Felder waren der Mittelpunkt meiner Welt, damals als ich noch klein war und mit dem Löffel ass. In der Zeit als kleine Schülerin, ich benutzte stolz und ordentlich Messer, Gabel und Löffel, dann begann sich "meine Welt" mit all den Hügeln, Bächen und Dörfern zu ändern. Viele Berge und Städte kannte ich nicht, aber wir hätten sie mit dem Velo oder der Eisenbahn erreichen können. Sie lagen alle nebeneinander auf einer unebenen Scheibe. Die Welt war eine Scheibe! Warum auch nicht, das leuchtete doch ein! Aber natürlich, die Erwachsenen, die behaupteten, die Welt sei eine Kugel und wir würden auf der Kugel leben! Ich mühte mich ab, wenn schon, so lebten wir doch in der Kugel drinnen. 
In der Geographie, in der vierten Klasse schauten wir als erstes den Globus, der auf dem flachen Kasten Stand, genauer an. Jedes durfte die leicht schräg stehende Kugel, die Erde mit der Hand drehen. "In der obern Hälfte, der kleine rote Fleck ist die Schweiz - blau ist die Farbe des Wassers, der Meere mit dem Salzwasser," - mit dem Zeigestab, durften wir das unbekannte Meer berühren. Niemand hatte es je gesehen, auch der Lehrer nicht.- "Grün und braun ist der Boden, das Festland, die Länder, die fünf Kontinente. "Nein, nicht mit dem Finger, mit dem Stab behelfsweise zeigen wir die Sachen mit dem umgekehrten Bleistift , genauso wie wir mit Besteck essen. "Schnell ein paar Sätze zu jedem Kontinent! Wir zählten auf, was wir wussten, der Lehrer fasste zusammen: In Afrika ist es sehr heiss, dort in den Kolonien leben schwarze Menschen, Amerika gehörte früher den Indianern, den Rothäuten wie Winnetou, bis der weisse Mann sie besiegt und durch schwarze Sklaven ersetzt hat. All das sagte der Lehrer nicht, obwohl er es wissen musste. Ich presste die Lippen zusammen. In Asien leben die gelben Chinesen, diese essen gerne Reis, und sie haben die Chinesische Mauer gebaut. Nach Australien wurden füher die Verbrecher gebracht. Wir leben in Europa und schicken Missionare in alle Kontinente." Es regnete draussen, und der Lehrer hatte Zeit, um mit uns zu plaudern. Ob das richtig war und richtig ist, was auf der Welt getan wird, der Lehrer hatte so seine Zweifel. Ich konnte meine negative Meinung kundtun und erzählte dazu meine Geschichte von Alfi. Wahrlich, ich begann langsam zu ahnen, warum der Grossvater selig immer langsam den Kopf schüttelte, wenn ich eine Geschichte von den Sklaven hören wollte.
In der dritten Woche lernten wir: "Unsere Welt ist eine Kugel und heisst Erde. In der Mitte der Erde ist es heiss und es gibt dort auch eine grosse Kraft, welche die Menschen, die Tiere und die Steine auf der unteren Seite der Welt festhält. Ähnlich wie mein Magnet die Kraft hat, eure Schreibfedern anzuziehen und zu halten," der Lehrer nahm seinen Magneten aus der Schublade, und es klappte mit den Federn. Jedes Kind konnte es versuchen. Wir schauten zu und hörten den Satz: "All das lernt ihr später genauer, doch ihr sollt schon jetzt eine Ahnung haben. Wenn ihr mehr wissen wollt, könnt ihr mich in der Pause oder an einem regnerischen Tag nach der Schule fragen."
Nach einem Monat begann die richtige Geographie. In der Vierten bekamen wir eine Karte vom Bezirk, in der Fünften vom Kanton und in der Sechsten von der Schweiz. Jedes Kind einzeln bekam eine Karte als Leihgabe (ein neu gelerntes Wort!) in die Hände. Wir durften die Karte in Ruhe anschauen, und der Lehrer stellte uns Suchaufgaben. Ja, wir besprachen vieles, so den Bau der Eisenbahnlinien und der Strassen und sogar die Planung der Autobahnen. Es gab zwei grosse Wandkarten von der Schweiz, eine nur Berge, Flüsse und Dörfer. Auf der andern waren die Kantone und je ein wenig der Nachbarländer in verschiedenen Farben klar sichtbar. Weiter gab es eine von Europa, veraltete Karten von Afrika und Amerika, den Globus und das neue grosse Kartenbuch, den Atlas des Lehrers privat. Schliesslich veraltete Kursbücher der SBB. Bregenz-Genf, Basel-Chiasso, die Ost-West- und die Nord-Süd-Verbindung. Wir stellten Reiserouten zusammen, lernten günstige Verbindungen zu suchen und lernten als Hausaufgaben die Bahnhöfe und Stationen auswendig. Und was gab es da nicht alles für Flüsse und Seen und Berge und Täler! Diese  Geographie der Briefträger machte mir Spass, denn die konnte ich im Familienverband bei der Feldarbeit lernen. Dagegen machten mir die Namen aus dem Welschland Mühe, wir sollten sie auf deutsch und auf französisch können!
Bald schon konnte ich die Augen des alten Nachbarn zum Leuchten bringen, wenn ich ihm ein wenig vom Globus und den Karten erzählte. Er interessierte sich und wusste vieles. Es war bekannt, dass er gut lesen konnte. Er brauchte keine Brille.
 
 
 
Geschichte? Wir sollen all das später lernen?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Geschichte? Wir sollen all das später lernen?
"All das lernt ihr später genauer, doch gestern habe ich in der NZZ etwas Interessantes gelesen, und hier habe ich noch ein paar Bilder dazu, die ich in einem meiner Bücher gefunden habe," der Lehrer begann zu erzählen. Ich lernte später, dass das Geschichtsunterricht war.
Zusammengesetzt aus der Besprechung von Wandbildern, von Gedichten, von Texten in den Lesebüchern und durch meine Fragerei konnte ich im Kopf langsam eine Reihe zur Geschichte machen: vier Eiszeiten, Pfahlbauer, Höhlenbewohner, Römer, Germanen, Helvetier, Hunnen, Gallus und Kolumban aus Irland, Karl der Grosse, 1291, eine Reihe Schlachten, 1350 Eidgenossenschaft mit acht Kantonen, Karl der Kühn, Niklaus von Flüe, Buchdruck, Entdeckungen, Schiffsreisen, Amerika 1491, 1513 Eidgenossenschaft mit dreizehn Kantonen. Nachher folgt der Stoff der Oberstufe, der "all das lernt ihr später genauer" Abschnitt.
Der Lehrer war nicht unzufrieden mit meiner Aufzählung. Er glaubte mir, dass ich zu jedem der Wörter etwas hätte sagen können. Die Schulreisen der Mittelstufe führte uns in die Urkantone. "Das Rüttli besuchen wir nicht," bestimmte der Lehrer. Mit den Eltern gingen wir einmal ins Museum. Ich war entschlossen das "All-das-lernt-ihr-später- genauer" Genannte, in der Sekundarschule wirklich gut zu lernen.
2016 Durch ihre Plaudereien mit dem alten Lehrer hatte sie sehr viel gelernt, als sie damals ahnte. Der Reiz, damit Seiten zu füllen, war gross. Doch nein. Meine Lesenden, was erinnern Sie vom Geschichtsunterricht in der Primarschule?
Was war das für ein Geräusch im alten, eingebauten Wohnzimmerschrank?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Was war das für ein Geräusch im alten, eingebauten Wohnzimmerschrank?

Ich sass in der warmen Stube am Tisch und machte Hausaufgaben. Achtung: Sekundarschulprüfung. Draussen Regen und Wind, und der Rest der Familie hatte im kalten Schopf Kartoffeln zu sortieren. Der weiss-schwarze Kater schnurrte auf dem Sofa. Ich konnte es nicht lassen, ihm immer wieder ein kleines Besüchlein zu machen und ihn ein wenig zu necken, bis er die Krallen ausfuhr und mit der Tatze nach mir schlug.

Dann schrieb ich weiter. Doch nun ein Geräusch im Stubenkasten (= im alten, eingebauten Wohnzimmerschrank). Das machte mir Angst. Ein Einbrecher? Der Kater drehte den Kopf und spitzte die Ohren. Es wurde wieder ruhig. Der Kopf des Kater lag wieder ruhig auf seinen Pfoten. Meine Hände waren feucht, ich wollte kein Angsthase sein. Wieder das Geräusch, wieder gespitzte Kater-Ohren. Ich trocknete die Hände mit dem Taschentuch. Das Geräusch. Die Katze schoss zur Türe des alten Stubenkastens und begann zu kratzen. Sie wollte in den Kasten. So aufgeregt und angriffig hatte ich unseren lieben Kater noch nie gesehen. Weitere Geräusche, aus unserer Katze wurde ein wilder Kater. Ängstlich, verzweifelt - es mag doch wohl kein Wolf sein - öffnete ich ihm die Kastentüre. Der Kater packte ein Tier, eine grosse Ratte, und riss sie in die Stube. Die Ratte floh quer über den Teppich. Der Kater stürzte sich auf sie. Die beiden Tiere kämpften wild. Ich stand auf der Bank. Man wusste ja nicht, was noch kam. Die Schüssel mit der Milch für die Katzen kippte um. Die Ratte floh zwischen den nassen Schuhen durch unter den Kachelofen und verschwand in meiner Stoffschachtel. Dem Kater - entschlossen hinterher - gelang es irgendwie meine Schachtel nach vorne zu schaffen und die Ratte sprang aufs Sofa und machte kehrt. Die beiden Tiere ... nun Auge in Auge. Der Kater machte einen Sprung, die Ratte schrie auf. Beide Tiere rollten über den Boden. Der Kater hatte gesiegt. Blutspuren am Boden. Ich wagte kaum zu atmen. Der Kater war erschöpft und zog sich auf das Sofa zurück. Ich wagte es nicht, die Stube vorbei an der Ratte zu verlassen. Ich stand noch immer auf der Bank. Zum Glück ging Papa über den Hofplatz. Durch das aufgerissene Fenster rief ich um Hilfe. Papa lachte. Ich wusste nicht, was sagen. Er lachte und kam und staunte und verstand. Die Ratte zuckte, ein Todestritt von Papa und wir hatten es geschafft.

2017, 1. August 11.15 Toll, wie sie mit dem Durchlesen vorwärts kam! Doch nun tauchte eine Gefahr auf: Viele ähnliche, kleine, aber dramatische Begebenheiten begannen ihr einzufallen. Nein, nein! Die Flügel leicht bewegen, herum schauen und ab in die Luft. Weiterfliegen und vergessen!


Wie hielten es die grossen Mädchen mit dem Essen?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie hielten es die grossen Mädchen mit dem Essen?
Ja, es war Mode geworden, dass wir Mittelstufenschülerinnen beim Essen unsere Vorlieben entwickelten. Wir versuchten uns gegenseitig im Nicht-Mögen und Nörgeln und Schimpfen zu übertreffen. Das war unser neuer Gesprächsstoff. Erdbeeren, Kirschen, allerhand andere Beeren, Zwetschgen, Birnen und Äpfel, alles hatten wir frisch vom Garten oder vom Baum für zwischendurch zum Naschen, soviel wir wollten. Ein guter Grund um am Familientisch zunehmend weniger zu mögen. Ich wollte auch schnäderfräss (= wählerisch, heikel) sein wie die andern, aber das war schwierig, denn mit Ausnahme der grünen Bohnen schmeckte mir alles ausgezeichnet. Doch diese, nein! Schon ihr Anblick löste bei mir Brechreiz aus. Leider konnte ich mit diesen "grünen Bohnen" nicht viel zum neuen Thema beitragen. Ich brauchte nicht einmal eine List zu erfinden. Ich ordnete sie am Tellerrand, und in einem günstigen Moment verschwanden sie. Papa hatte mir unbemerkt aus der Patsche geholfen, und genau das interessierte die andern nicht. Überhaupt, meistens war ich doch die Köchin, und ich kochte gut. Zur Zeit meiner Unverträglichkeit von grünen Bohnen gab es häufig "gschwungenen Nidel ( = handgerührter Schlagrahm mit reichlich Zucker") zum Dessert, einfach so ein wenig, aus einer Schüssel in der Mitte des Tisches. Alle bedienten sich mit ihrem eigenen Löffel.
2016 : Wir wussten sehr wohl, dass das als unhygienisch galt, dass sich dies nicht gehörte, aber was sollte uns das kümmern, es war so gut! Auch die Erinnerung blieb süss. Ende.
Das war in der Zeit vor den Kühlschränken. Am Abend stellten wir ein Becken frischer Milch auf den Küchentisch und liessen sie über Nacht aufrahmen. Wir hatten gute Milch. Es bildete sich eine dicke, schwimmende Rahmschicht, welche Mama am Morgen sorgfältig mit einem Löffel in eine kleine Schüssel schöpfte, denn niemand mochte die Haut, die sich sonst beim Aufwärmen der Milch gebildet hätte. Was geschah mit diesem Rahm? Wir hatten ja keinen Kühlschrank. Im Sommer, wenn es heiss war, gab es daraus den feinen süssen geschwungenen Nidel zum Nachtisch. Eine gute Lösung für eine Familie, in der alle eher mager waren. War es kühl oder gar Winter, so machten wir Butter daraus. Dies gehörte zu unserem Leben wie alle zehn Tage Brotbacken, im Winter zwei Mal ein Schwein schlachten und im Frühling die Sekundarschulprüfung. 
Essen ist ein Thema wie das Wetter, alle können mitreden. Überlegen Sie nun kurz, was mochten Sie als Kind nicht? Wie reagierten Ihre Eltern? Und noch eine andere Frage: Können Sie sich an den Milchmann erinnern, wie er die Milch am frühen Morgen brachte? Gab es Hausierer in Ihrer Gegend?
Kochen als Mittelstufenschülerin?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Kochen als Mittelstufenschülerin?
Die jungen Burschen, die in unserer Familie das landwirtschaftliche Lehrjahr machten, hatten als Teil ihrer Ausbildung ein Tagebuch in Form eines Ringheftes zu führen. Dieses erhielt der Lehrling jeweils von unseren Eltern als Anfangsgeschenk. Es begab sich, dass Vater und Mutter je eines kauften und wir zwei hatten, eines zu viel. Unsere Familie hatte "das gelbe Heft" abonniert, und darin gab es immer eine Seite mit zur Jahreszeit passenden Rezepten, Bild und Text. Ich schaute die Bilder sorgfältig an. Schien mir der Vorschlag umsetzbar, las ich das entsprechende Rezept durch. Gefiel mir das Bild besonders gut und hatten wir die erforderlichen Zutaten, so schnitt ich Text und Bild aus und hob beides in einem grossen, gebrauchten, gelben Briefumschlag auf. Dieses Vorgehen befriedigte mich nicht. 
Nun hatten wir ein Ringheft zu viel, das kam mir gelegen. Ich durfte versuchen, es zu benutzen, es hiess: "Wenn du willst, warum nicht, es werden höchstens ein paar Blätter unnütz verbraucht." Am folgenden Sonntagnachmittag begann ich. Kartoffelsalate waren das Thema der neusten Ausgabe des gelben Heftes, die Bildchen waren schön, der Text verständlich und Kartoffeln hatten wir jede Menge. Ich begann mit "Kartoffelsalat mit Sardellen", das musste ja mit Sardinen auch gehen, und so eine kleine Büchse stand schon lange hinten im Kasten. Die Überschrift in Druckschrift gefolgt vom Bildchen, sorgfältig ausgeschnitten, mit Zementit eingeklebt, und schliesslich der Rezepttext. Alles fein säuberlich mit Feder und Tinte. Ich war glücklich. Ich machte ein Rezeptbuch, das brauchte ich als Mittenstufenköchin.
2016 Das Ringheft von damals lag neben ihr. Was hatte sie doch als Kind nicht alles gemacht und getan. Es fiel ihr u.a. ein, wie sie als Fünft-Klässlerin gemeinsam mit Grössi die Geburt eines Kälbchens begleitet hatte: Kot und Mist weggeräumt, viel frisches Stroh hinter und unter die liegende Kuh geschoben, mit dem Tier gesprochen, die Hände gewaschen, die Füsschen des Kälbchens gefasst und leicht gezogen. Das Näschen, der ganze Kopf, nach einer Weile die Brust, nun kräftig gezogen und schon glitt der Hinterteil ins Stroh. Die Nabelschnur trennen, auf eine Handbreite kürzen und ausstreifen. Grössi half tüchtig mit beim Trockenreiben. Unser Kälbchen versuchte schon aufzustehen. Zum Glück kam nun Papa.
An welche Schulkameraden erinnerst du dich?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

An welche Schulkameraden erinnerst du dich?
MML-Zusatzfrage: Erinnerst du dich an Vorfälle?
2016: Sie erinnerte sich an alle, und irgendwo hatte sie das Schulphoto noch, das sie damals eigentlich gar nicht gewollte hatte. Ende.
Ich war nicht beliebt, unsere Familie war nicht beliebt, meine beiden kleinen Geschwister schafften es. Sie galten als zwei wohl geratene Kinder. Meine Primarschulzeit war vorbei, der alte Lehrer war pensioniert, und eine neue Zeit brach an. Das neue Schulhaus wurde tatsächlich gebaut, von einem andern Architekten und ganz anders, als der alte Lehrer es vorgeschlagen hatte. Nach moderner Art war ein Wettbewerb mit Ausschreibung durchgeführt worden. Alle Architekten sollten eine Chance bekommen. Man sagte, ein studierter Architekt aus Zürich habe den Zuschlag bekommen. Für uns Landkinder wurde vor jedem der beiden Schulzimmer eine Terrasse für sog. Freiluftunterricht gebaut. Am Familientisch lachten wir darüber: "Wozu? Wir haben doch genug frische Luft auf dem Schulweg und auf den Feldern." Der Dorfklatsch schimpfte: "Es kann nicht genug kosten! Bezahlen müssen wir."
Wir besuchten den Bauplatz immer wieder. Interessant! Für die Zuleitung von Wasser und Strom musste ein Graben ausgehoben werden, dies ganz modern mit einem Bagger. Der hatte weder Augen noch ein Gespür für die Natur und verletzte den Wurzelstock der Föhre, die laut Plan hätte stehen bleiben sollen, so gründlich, dass sie im folgenden Sommer vertrocknete und gefällt werden musste.
Als Unterstufenkind liebte und verehrte ich einen grossen Jungen mit einem langen Namen. Bei der Feldarbeit zählten Mama und ich die Buchstaben seines Namens. Mein Verehrter hatte sieben Buchstaben im Vornamen und sieben Buchstaben im Nachnamen. Wie die Mittelstufenschüler konnte ich nun ein Namensrätsel erfinden. Am Platz des Lehrers durfte ich mein Rätsel den Mittelstufenschülern auf Schriftdeutsch vortragen: "Der Vorname hat so viele Buchstaben wie die Woche Tage und der Familienname auch. Wie heisst das Kind?" Mein Verehrter erkannte sich sofort. Der Lehrer und ich sahen das Leuchten in seinen Augen. Wir liessen die andern raten.
Mittelstufe: Ein Singheft und zuviel Nähschule!
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Mittelstufe: Ein Singheft und zuviel Nähschule!
Der Lehrer sang nicht mehr einfach mit uns. Nein, er diktierte uns die Liedtexte ins Singheft, und wir mussten sie wie ein Gedicht auswendig lernen. Warum konnten wir nicht einfach das Gesangbuch benutzen? Der gute Lehrer hatte die üble Gewohnheit, die Texte nach seinem Gutdünken zu verbessern. "Warum könnt ihr nicht singen, wie wir es damals gelernt haben," schimpften die Mutter und Grössi. Sie kannten die Eigenart unseres Schulmeisters, und ihr Geschimpfe galt nicht mir. Grosi und meine Patin bedauerten, dass ich nicht einmal in der Lage sei, die Liedstrophen gut zu lernen und richtig zu erinnern, geschweige denn zu singen. Unsere jüngeren Cousins besuchten die Schule in einem andern Dorf. Sie wurden über alle Masse gelobt, weil sie die Texte kannten. Klar, sie sangen die Strophen, wie alle Gesangbücher sie vorschlugen.
Der Lehrer begleitete unsern Gesang oft mit der Geige, das gefiel mir gut. Liebenswürdigerweise übersprang er mich, das Brummerli, beim Vorsingen. Dazu im Turnen: Eine Niete. Und im Zeichnen: Sosolala. Zwei, vier, dann sechs Stunden Nähschule, das war mir zu viel, auch wenn ich alles leicht konnte und auf Wunsch so machte, wie die Nähschullehrerin es verlangte.
Unsere erste Näschi-Stunde (= Näh- oder Handarbeitsschulstunde): Wir sassen sehr ordentlich in den Bänken. Die Nähschullehrerin hatte für uns vier Mädchen je eine Strickarbeit vorbereitet und legte diese vor uns auf den Tisch. Dann beschäftigte sie die Grösseren. Rotes Garn, zwanzig Maschen breit, vier Rippen hoch, alles gezählt! Ich machte mich an die Arbeit. Ich wollte die Zeichensprache meiner Kameradinnen nicht verstehen. Erst als ich zwei Nadeln gestrickt hatte, verschränkte ich die Arme. Dann begann der Strickunterricht: "Zum Stricken ist der Faden bei der linken Hand zwischen dem kleinen Finger und dem Ringfinger ganz unten von aussen nach innen, nachher zwischen dem Mittel- und Zeigefinger wieder ganz unten nach aussen zu ziehen und anschliessend zweimal um den Zeigefinger zu wickeln. Dann ... ," "Bitte, meine Leserinnen lassen Sie mich den Strickunterricht hier unterbrechen," Grössi hatte mich alles korrekt gelehrt. Sie hatte sich nämlich bei einem älteren Mädchen, das von derselben Lehrerin unterrichtet wurde, erkundigt. Gut gemacht! Bravo Grössi!
Alles wurde sorgfältig und umständlich erklärt. Ich verheilt mich ruhig.  Fingerhut und Nähnadel waren entsprechend dem Lehrbuch zu halten. ... Bis wir den ersten Stich nähen durften! Vieles wurde anders, aber nicht besser gemacht, als ich es bei Mama zuhause gelernt hatte. "Mach wie die Lehrerin es wünscht," riet und rief der Familientisch. Es klappte gut. Flink und schnell wie ich, das langsame Kind war, durfte ich bald eine kleine Extra-Arbeit machen: "Nein, nein, ich will nicht heimgehen. Es macht nichts, wenn sie keine Zeit haben. Darf ich mit jenen kleinen Filzstreifen und ein wenig vom farbigen Stickgarn der grossen Mädchen ein kleines Nadelkissen machen?" "Versuche es, nimm was du brauchst!" die Nählehrerin nickte mir zu und los ging es. Ich faltete den Filz, nähte ein kleines Säcklein und stickte in jede der vier Ecken ein Blümchen. Die Lehrerin staunte! Sie zögerte und erklärte und fragte mich dann umständlich: "Ich suche nach einem Geschenk für meine Mutter. Als ich dein kleines Kissen sah, dachte ich, das wäre es ... Pause ... " Ich fiel ihr ins Wort: "Es regnet draussen, dann kann ich ruhig hier bleiben und es fertig machen. Bitte geben sie mir noch etwas Füllmaterial." Mit der linken Hand ging alles schnell. Schon fertig, ich streckte das Kisselchen in die Höhe.
Welch ein Glück, neu wurde erlaubt, dass wir in der sechsten Klasse die langen Nähte beim Sommernachthemd mit der Tretmaschine nähen durften. Das machte Spass, denn nun durfte ich daheim Mamas Nähmaschine selbständig benutzen. Ich ging gerne in die Nähschule, doch ich hätte lieber Geometrie gehabt wie die Buben. Die Sekundarschulprüfung, sie nahte.
Ja und Rechnen?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Ja und Rechnen?
Rechnen war mir wichtig, und doch vernachlässigte ich es. Rechnen machte mir keine Angst und ich machte es gern und es freute mich, wenn mir eine Seite mit sauber geschriebenen "Stöckli" (= eine Gruppe von sechs Rechnungen) gelang. "Das ist nicht rechnen mein Kind, das ist schön schreiben!" meinte Papa. Ich ärgerte mich, dass ich nicht verstand, was er meinte.
2016 Sie, meine lesenden Partner, Sie können kaum ahnen, wie sehr die Schreibende im nachhinein bedauerte, nicht mehr Wert auf Rechnen gelegt zu haben. Ja, Rechnen gehörte immer in die Kategorie von "ferner liefen", und sie schenkte diesem Fach nicht die Beachtung, die ihm ziemte. Ihr Leben lang kamen Feld-, später Gartenarbeit und Blumen vor Rechnen. Ein dringender Ratschlag an alle Leser und Leserinnen: Ich ahne nun, dass hinter "Rechnen" eine ganze Welt versteckt ist. Nehmen Sie sich Zeit, Rechnen zu lernen und Rechnen zu üben und Rechnen anzuwenden. Dazu zähle ich auch Formeln und Masseinheiten. Glauben Sie nicht einfach, was Sie immer wieder hören oder lesen, sondern rechnen Sie nach und verifizieren Sie selber. Bitte, bitte!
2017 Achtung: Google, Facebook, Amazon und & sind Rechenmaschinen, die, um mehr Profit abwerfen zu können, in rasantem Tempo weiterentwickelt werden. Achtung, keine Angst, doch seien sie vorsichtig. - Wo führt das hin? Achtung ??????. Bitte erinnern Sie sich, "viele Fragezeichen" stehen für nicht formulierte Fragen. Es ist mir ein grosser Wunsch, dass Sie über Ihre Erfahrungen, die Sie mit dem Fach Rechnen machten, sprechen und jetzt, in welcher Lage auch immer Sie sich befinden, wieder mit Rechnen beginnen.
Hast du noch ein Klassenfoto? Kannst du anhand dessen deine Mitschüler noch charakterisieren?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Hast du noch ein Klassenfoto? Kannst du anhand dessen deine Mitschüler noch charakterisieren?
MML-Zusatzfragen: Oder falls kein Foto vorhanden, aus der Einnerung beschreiben? Wer sass wo in der Klasse?
Meine Primarschulklasse von 1951 -1957
Als Hausaufgabe auf den letzten Freitag im August 2017 sollten wir als Teilnehmende am Begleitkurs eine der Jahrgangsklassen zwischen der vierten und sechsten Mittelstufe unserer Primarschule auswählen, die Namen auflisten und die Kinder beschreiben. Ich hatte nichts auszuwählen. Von der ersten bis zur sechsten Klasse waren wir die selben vier Buben und die selben drei Mädchen: Zine, der rotblonde Bube mit den grossen Kaninchen vom Dorf unten im Tal und drei Knaben aus unserem Dorf in der Mitte. Der musikalische Tino mit dem kräftigen, schwarzen Haarschopf, Erich aus dem letzten Haus und Godi, der Sohn unserer Tagelöhnerin, der mir immer half. Dann die zwei unzertrennlichen Mädchen aus dem Dorf unten im Tal und ich, die ich nur über die Strasse zu fallen brauchte, um vor der Schulhaustüre zu stehen. Wir sollten die Reihenfolge der Namen erklären, das ganze mit Erlebnissen anreichern und den Lehrer beschreiben.

Warum der Bub mit den grossen Kaninchen zuerst? Ich wusste, seine Brüder hatten zwei Böcke (= männliche Kaninchen). Er hatte gesagt: “Wenn du ein Weibchen hast, kannst du damit vorbeikommen, auch wenn das keine Kindersache ist." Zuerst die Erlaubnis der Eltern, Kaninchen zu halten, und dann diese Zusage! Ich war auf gutem Weg. Mein Ziel, in die Sekundarschule zu gehen, und nun dieser Kaninchenwunsch? Ja, es sollte beides möglich sein. An einer Gant ( = öffentliche Versteigerung) hatten Papa und ich den Zuschlag für einen sechsteiligen Kaninchenstall ergattert. Endlich, denn er durfte nicht mehr als sechzig Franken kosten und immer und immer hatte ein anderer Mann mehr als wir geboten. Sechzig Franken, war Papas Angebot. Ich wusste von der Direktvermarktung unserer schönen und frischen Kartoffeln in der Stadt, dass ich eine Spitzenverkäuferin war. Diesen Titel hatte ich mir selber gegeben. Hatten doch die Käuferinnen viele lustige Namen für mich und sagten sie liebevoll: “Dem Tüfeli, dem Hexli, dem Jüdli, dem Spitzbueb, dem Kind, mit dem lachenden Gesicht muss man etwas abkaufen und wenn es nur ist, um sein munteres Geschwätz zu hören oder um gute Wünsche zu empfangen.“ Nun machte ich kehrt, umgeben von Männern wollte ich kaufen. Ich wollte den Zuschlag für einen Kaninchenstall. Viermal hatte es nicht geklappt, aber an jenem Tag wollte ich. Mein Kaninchenstall wartete nämlich im Nachbardorf, und es war ein leichtes für uns, diesen mit dem Pferdefuhrwerk heimzuholen. Die andern Ställe, die wären ohnehin zu weit weg gewesen, so konnten wir sie ja gar nicht allen Ernstes wollen. Gleich zu Beginn hatte ich mich neben meinen Kaninchenstall gestellte und blieb dort. Alle Interessenten lachte ich an und fuhr mit der Hand sanft über die Türe des Stalles. Viele verstanden, ich wünschte mir diesen Stall. Meine Augen hatten dies sogar dem Gantmeister erklären können. Er hatte mir zugenickt. Ein Mann sagte mit trauriger Stimme zu mir: “So eine wie du hat uns gefehlt.“ Papa bot Sechzig. Mit hochgestreckten Armen rief auch ich sechzig. Der Mann mit der traurigen Stimme gab dem Gantmeister ein Zeichen und ich hatte meinen Kaninchenstall. Ich spürte: Das war gut für alle. Papa erklärte mir später, dass der Mann mit der traurigen Stimme und seine Frau nur Eltern eines sehr missratenen Sohnes seien, und sie hätten sich wohl ein Kind wie dich gewünscht, und darum habe er mir seinen Kaninchenstall zugeschlagen. Auf ein paar Franken mehr sei es ihm nicht angekommen.

Nächster Punkt: Die Familie des Schuhmachers hatte meine Kaninchenfrau noch nicht aufgegessen und ich konnte sie nun für ein paar Franken kaufen. Wir packten sie sorgfältig in einen Deckelkorb und wir, die Kaninchenfrau und ich radelten ins Dorf unten im Tal. Alles hatte geklappt. An einem Morgen, drei Wochen später entdeckte ich in meinem Stall eine Kaninchenmutter mit blinden haarlosen Kindchen. Das Nest aus Mamas Bauchhaaren bewegte sich. „Die brauchen noch Ruhe, erzähle es niemandem,“ riet mir meine Mutter. Nun musste ich sehr, sehr lange warten. Nach einer Woche konnte ich die Kleinen mehr oder weniger sehen. Nach zwei Wochen schauten die Jungen munter in die Luft und versuchten aus dem Nest zu krabbeln. So herzig. Gott sei dankt.

Nun zum musikalischen Tino mit dem kräftigen, schwarzen Haarschopf. Auf meinem Kopf wuchsen spärlich ein paar rotblonde Haare, kaum genug für zwei Zöpfchen. Hätte ich Tinos kräftige, schwarze Haarpracht getragen, hätte niemand wegen dem dauernden Zurückschneiden geschimpft. Nein, die Leute hätten gesagt: „Was hat doch dieses Mädchen für zwei prächtige lange Zöpfe.“ In der dritten Klasse drückten Tino und ich, das „Brummerli“ die gleiche Bank. Donnerstags eilten seine Brüder bereits um 14:30 zum Bahnhof, denn sie hatten eine Spezialerlaubnis. Sie besuchten in der nahen Stadt den Kurs für Aspiranten der Militärmusikrekrutenschule. Tino hatte keine solchen Pläne, er hatte es nicht nötig, denn er, der Jüngste blies die Instrumente seiner Brüder ohne Unterricht. Er half mir beim Singen, er sang immer meine Stimme und gab mir Handzeichen, wenn ich daneben war. So kam es, dass wir ganz selbstverständlich Hand in Hand in unserer Bank sassen. Hatten wir zu schreiben, so suchten sich unsere Füsse. Niemandem fiel das auf, auch uns nicht, bis Tino ein Missgeschick passierte und mir dann auch. Am Boden ein grosser See! Wir kicherten, der Lehrer musste ein wenig Schimpfen, das war seine Pflicht. Nun begann er uns zu beobachten, und er sprach mit Mama. Sie verlangte keine Umplazierung von mir, doch war sie gegen das sogenannte „Händchen halten“. Ich verstand nicht, es war doch so schön. Ich wusste, in der Schule musste ich sehr gut gehorchen, da ich in einer „gewissen Art“ Mühe hatte. Also liess ich es.

Nun zu Erich aus dem letzten Haus: Leider waren unsere Familien verkracht. Weder er noch ich wussten warum. Doch beide hatten wie die Weisung, uns zu meiden. Schade, denn wir mochten uns gut.

Fehlte noch Godi, der Sohn unserer Tagelöhnerin: Er war mein Bruder und seit der Klassenzusammenkunft im Mai 2017 weiss ich, er ist mein Bruder geblieben. Er ass häufig mit uns. Ich tische für ihn. Das schätzte er. Noch an der Klassenzusammenkunft schwärmte er von Speck und Brot und Essiggurken oder Tomaten zum Abendessen bei uns: „Auch wenn meine Mutter schräg schaute, du hast mich immer wieder bedient. Ich musste nie fragen. Es gab genug. Du hast nicht auf sie gehört. Dafür habe ich dir gerne geholfen. Ich habe nie mehr so guten Speck gegessen wie damals bei euch. Ich kannte euer Haus und die Scheune. Erst vor kurzem habe ich meiner Frau erzählt, wie du und ich im Estrich den Samen aus getrockneten Buschnelken klopften, im Garten ein Beet hackten, leicht wässerten und den Samen ausstreuten. Runkeln (= Futterrüben für Vieh), Sellerie und Zwiebeln haben wir geerntet. ... und nur wir mit unserer Mutter durften auf euren Feldern Ähren lesen. Ihr habt immer auf das Nachrechen verzichtet, damit wir leicht und schnell viel sammeln konnten. Du warst damals mein Schatz,“ ja, er war und ist mein Bruder.

Dann die zwei unzertrennlichen Mädchen aus dem Dorf unten im Tal. Ich war neidisch auf sie. Sie liessen mich links liegen und schienen viele Geheimnisse zu haben. Jedenfalls tuschelten sie immer zusammen und ich durfte nicht wissen und nicht hören. Wichtig war dabei, dass meine Augen Zeugen waren. Im Winter trugen wir ein Gestältchen und handgestrickte Strümpfe, handgesticke Socken, Mützen und Handschuhe, handgestricke Pullover und lederne Schuhe, die nicht dicht waren. Nur bei viel Schnee zum Schlitteln waren sog. Sikhosen passend, wenn man hatte. Meine Leserinnen, können Sie sich erinnern, wie die wollenen Sachen immer wieder ausgelütet und geputzt wurden. Wie sie erst im Fühling, wenn die Sonne wieder gut wärmte und die Vögel sangen, sorgfältig von Hand gewaschen und im Schatten getrocknet wurden?

Der Lehrer: Er war super gewesen. Noch keine zehn Jahre später konnte sie rückblickend sagen, dass sein Unterricht und die Sonntagschule den Rahmen ihres Wissens und Verstehens bildeten. Später wurde dieser Rahmen lediglich ergänzt und mit Details aufgefüllt, aber nicht erweitert. - Verziehener Negativpunkt: Ihre konsequente Umschulung von Links- zu Rechtshändigkeit, doch auch dieser Erfahrungen konnte sie später positives abgewinnen. Als Zeichen ihres Dankes, blieb sie beim Besuch des Grabes ihrer Eltern immer kurz vor seinem Grab stehen und ein paar Jahren später brachte sie auch ein paar Blumen für ihn. Nochmals Danke.

2017 Ende Oktober Die Friedhofsverwaltung hatte das Grab des Primarlehrers weggeräumt und ihr Elternhaus stand leer und wartete auf den Abbruch. So war der Lauf der Zeit und es war gut so.

 

Wie war euer Lehrer bzw. eure Lehrerin?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie war euer Lehrer bzw. eure Lehrerin?
MML-Zusatzfragen: Wie war dein Verhältnis zum Lehrer bzw. zur Lehrerin? War der Lehrer bzw. die Lehrerin gerecht?
Lehrer waren Männer, wie konnte da nach Lehrerinnen gefragt werden? Richtig, im grossen Dorf mit der Kirche gab es eine Lehrerin. Sie unterrichtete jedes Jahr die neu eintretenden kleinen Erstklässler. Das wussten alle Leute und es hiess, das sei gut, aber es sei dann schon wichtig, dass für die Zweitklässler eine starke Hand zuständig werde. Zuhause machten und konnten Mama und Papa alles. Sie waren Bauer und Bäuerin, aber auswechseln, die Rollen tauschen? Nein, das war nicht möglich. 2017 war das anders: Eine Frau konnte einen Hof führen und Subventionen beziehen, wenn sie die erforderlichen Diplome hatte.
Mein Primarlehrer war super. "Er war super," bestätigt mein Mann, wenn wir auf dem Weg zum Grab meiner Eltern im Vorbeigehen vor seinem Grab kurz stehen blieben und auf dem Stein seinen Namen lasen . Er war gerecht, auch wenn der Dorfklatsch und der Vater das Gegenteil behaupteten. Er hat mich nicht gequält, er wollte, dass ich gut lernte, auch wenn das mühsam war.
Die Schule war schwierig gewesen. Dank dem Sechsklassensystem, dank dem alten, weisshaarigen Lehrer, dank der Feldarbeit, dank dem Kochen, dank meiner Hartnäckigkeit, dank Alfi hatte ich es geschafft. "Was geschieht mit Kindern wie mir," das hatte sie sich bereits zehn Jahre später gefragt.
Nach dem Bau des neuen Schulhauses wurden unsere Schule im mittleren Dorf und die Schule im Dorf oben am Hang zusammengelegt. Das Dreiklassensystem wurde eingeführt. Zwei junge Lehrer kamen und vieles wurde anders. Der alte Lehrer wurde pensioniert, und ich wechselte in die Sekundarschule. Erstaunlich, mein Vater und ich sind je sechs Jahre zum selben Lehrer in die selbe Schule gegangen. Der Vater ein Kind? Der Lehrer mit schwarzen Haaren? Das alte Schulhaus damals neu?
Meine Lesenden, stehen Sie bitte kurz auf und überlegen Sie, welche Erfahrungen machten Sie in der Primarschulzeit? Ich, die Schreibende, mache mir Sorgen, um Kinder mit all meinen Hindernissen.
 
Wie wurdet ihr unterrichtet?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie wurdet ihr unterrichtet?
MML-Zusatzfrage: Kannst du noch die Art beschreiben, wie der Lehrer / die Lehrerin unterrichtet hat?
Früher nur Frontalunterricht, nichts als Frontalunterricht!? hiess es. Ich war dabei gewesen, das stimmte nicht, selbst wenn alle Lehrer am Oberseminar dies behaupteten. Lief alles gut, begrüsste uns der Lehrer auf dem Pausenplatz per Handschlag. Den Tornister schön in die Reihe stellen und schnell, schnell spielen, das war unser Ziel. Ging es mühsam, bat er uns, frühzeitig zu kommen, denn er wollte vor Unterrichtsbeginn in Ruhe mit jedem Kind einzeln dessen Hausaufgaben am Pult besprechen und korrigieren, während die Gruppe sich draussen tummelte. Sein kräftiges Klatschen rief uns dann alle ins Zimmer. Fussbrett nach unten geklappt, Federschachtel auf dem Pult, Arme verschränkt. Der Lehrer begrüsste uns. Wir nickten zurück oder auch nicht. Ein grosses Kind sprach ein kurzes Gebet. Der Unterricht begann, das heisst, wir führten unsere Arbeit vom Vortag weiter.
Neuer Stoff wurde uns gruppenweise vermittelt, mal so mal anders. Der Lehrer gab das Thema und wartete. Meist hatten wir das erste und das letzte Wort. Der Lehrer warf Stichwörter ein, gab Denkanstösse oder stellte Fragen. Schliesslich machte er eine Zusammenfassung, doch dabei fehlten wichtige Punkte: "Was habe ich vergessen?" Unsere Aufgabe war zu ergänzen. Mit Handzeichen schaffte er immer wieder Ruhe und Ordnung. Grössere Schüler wurden gezielt und unauffällig aufgefordert nochmals zuzuhören, um Lücken in ihrem Wissen aufzufüllen. Ich, wahrscheinlich viele, hörten beim Unterricht der Grossen mit und meldeten sich gelegentlich sogar zu Wort. Singen, Vorlesen, allgemeine Informationen, Besprechen neuer Wandbilder u.a.m. selbstverständlich in Frontalunterricht.
Stille Beschäftigung nach Zuweisung. Dazu gehörte auch die Vorbereitung auf die Sekundarschulprüfung. Freie Beschäftigungen für Kinder, die alles erledigt hatten, das waren Zeichnen, Bilderbücher anschauen, Lesen, Denksportaufgaben auf dem Tisch an der Rückwand lösen, den andern zuhören, einem andern Kind helfen. So ging das.
Im Freifach nach der Schule, an Regentagen zeigte er uns die neusten Bücher, die er in der Stadt gekauft oder ausgeliehen hatte. Es folgten lange Gespräche, dabei lernte ich leicht und schnell, was wir nicht können mussten. Er erzählte uns von früher und spekulierte über die Zukunft. Europa ging bis zum Ural. Auf dem alten Globus zeigte er uns den Weg, die Schifffahrt von Kolumbus über das Meer zu den Indianern. Er hatte auch ein Buch über den Körper des Menschen, darin waren die einzelnen Organe, die Blutbahnen, Herz und Hirn und das Gedärme abgebildet. Ist dieser Körper ein Mann oder eine Frau? Das war laut Lehrer unwichtig. Ich dachte an das tote Schwein. In seinem Körper drin sah alles sehr ähnlich aus. Nein, nein, das erwähnte ich nicht.
Erinnerst du dich an Bestrafungsmethoden in der Schule? Wie beeinflussten diese deine schulischen Leistungen?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Erinnerst du dich an Bestrafungsmethoden in der Schule? Wie beeinflussten diese deine schulischen Leistungen?
Bestrafungsmethoden? Für mich viele, viele Zusatzaufgaben. Strafaufgaben lachten die andern Kinder. Ich wusste, es waren Zusatzaufgaben für ein gescheites Mädchen, das nicht gut lernen konnte. Der Lehrer hatte mir dies erklärt. Er nahm mich in Schutz und ermunterte mich nickend auf. Die Leute im Dorfklatsch wunderten sich bloss und wechselten das Thema. "So viele Zusatzaufgaben sind eine Ehre, der Lehrer zeigt uns damit, dass er an dich glaubt," lautete die Erklärung der Eltern, und sie halfen mir immer liebevoll und geduldig. Häufig war mir alles zu viel.
Nun zur Straferei: Das ging zackig und abgestuft: Aufstehen, Arme verschränken, Arme hinter den Rücken, in die Ecke, vor die Türe, fort mit dir. Daheim Strafaufgaben schreiben, eine bis vier Seiten, diese ev. unterzeichnen lassen. Ein bisschen am Ohr ziehen. Tatzen waren aus der Mode gekommen. Pause ohne Ball, verkürzte Pause für alle, kein Vorlesen, kein Zeichnen. Die gelegentlichen Strafen nahm ich gleichgültig hin.
Die vielen Zusatzaufgaben für das gescheite Mädchen waren bitter, und gleichsam war ich dankbar dafür, so wie für die Besuche beim Zahnarzt. Zur Vorbereitung auf die Sekundarschulprüfung konnten die grossen Schüler auch Zusatzaufgaben bekommen und daheim machen. Mir war klar, ich wollte in die Sekundarschule. "Wenn du den Knopf auftust, sicher," sagten die  Eltern, und selbst der Lehrer stimmte dem zu.
Bestrafungsmethoden? ... Auau, so viele Fehler! ... Schade, kein gut! ... Ich konnte nicht singen und hätte doch so gerne gesungen. ... und ich konnte zu vieles nicht, um mit den andern leicht spielen zu können ... Verlacht zu werden? Es traf mich selten. Ich wäre gerne ein lustiges Kind gewesen. Die Bestrafungsmethoden beeinflussten meine schulischen Leistungen nicht, denn es war klar, ich wollte nur eins, in die Sekundarschule.
Nun zwei Erinnerungsfetzen: Tatzen gab es, wie schon erwähnt, nur noch in Einzelfällen. Ich ahnte es jeweils und betete ich leise: "Bitte nicht, bitte nicht." Mit den Hände vor den Augen legte ich den Kopf aufs Pult. Dann ich eilte hinaus und liess die Türe offenstehen. Ich musste dringend auf die Toilette und lenkte damit den Zorn des Lehrers auf mich. Er folgte mir und befahl: "Nicht spülen!" So konnte er feststellen, dass ich Durchfall hatte. Ich spürte, die Situation war ihm unangenehm. Er schwieg, und er erkundigte sich nach meinem Befinden. Ich wollte nicht heim. Der Unterricht ging ruhig weiter. Zusätzlich gab es ein böses Gerücht. Ich hatte es aufgeschnappt, als andere Kinder darüber sprachen. Ich wagte mit niemandem darüber zu sprechen: Es soll Väter und auch Mütter gegeben haben, die verlangten, dass ihre Kinder die Unterhose herunterzogen und sich mit einem Ledergürtel den Hintern verhauen liessen. Gehorchten die Kinder nicht, wurden sie am Arm gepackt und die Eltern schlugen wild auf sie ein. Grössi hatte auch einmal so etwas erzählt.
Meine Lesenden, an welche Bestrafungsmethoden erinnern Sie sich?
Welche Fächer wurden unterrichtet? Welches war dein Lieblingsfach?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Welche Fächer wurden unterrichtet? Welches war dein Lieblingsfach?
Wir lernten viel, und ich wollte viel lernen. Welche Fächer? Kam Schulbesuch, sei es der Inspektor oder irgend ein durch das Volk gewählter Mann, so ging der Lehrer immer zum Pult und konsultierte die grosse Tabelle an der Pultdeckelunterseite. Das war unser Stundenplan, den wir nicht kannten, denn wir wurden nach Themen unterrichtet. Da die Mehrzahl der Schüler die Sekundarschulprüfung bestanden und in der Sekundarschule mithalten konnten, galt unsere Schule als gut. So lernten wir weiter nach Themen. Der Lehrer las die NZZ und informierte uns immer wieder kurz. Zu kurz, war meine Meinung. Das Freifach "Plaudern mit dem Lehrer" und die Vorlesestunde, das waren meine Lieblingsfächer. Ich ging gerne, sehr gerne in die Schule.
Langsam, langsam lernte ich später, über meine Primarschule zu staunen.
Hat dich die Schule zum Lesen angeregt? Welches waren damals deine Lieblingsbücher? Hast du die Schulbibliothek genutzt?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Hat dich die Schule zum Lesen angeregt? Welches waren damals deine Lieblingsbücher? Hast du die Schulbibliothek genutzt?
MML-Zusatzfrage: Wie ging es da zu und her?
Alle Leute, die ich kannte oder mit denen ich irgendwie ins Gespräch und auf das Thema LESEN kam, fanden lesen wichtig, sehr wichtig. Aber eben, ich hatte da ein Problem. Natürlich und selbstverständlich war alles Wissen in den Büchern zwischen den Buchstaben versteckt, alles konnte dort gefunden und nachgelesen werden. Trotz meiner Neugier und viel Einsatz blieb ich schwach. Bücher mit vielen Bildern hatten es mir angetan.
In unserer Schule gab es sogar zwei Bibliotheken : Die Standbibliothek mit kleinen leichten Sachen auf dem Wandbrett links und im Wandkasten rechts, grosse schwierige Bücher, auch ein Atlas, zwei Wörterbücher, eine Gedichtsammlung und sonst noch allerhand. Diese Bücher konnten wir zur Zwischenbeschäftigung holen. Dann die Ausleihbibliothek, eine Holzkiste voller Kinderbücher, die im Herbst gebracht und im Laufe des Winters gewechselt wurde. Von diesen Büchern durften wir jede Woche eines ausleihen und heimnehmen. Die Kraft, so ein Buch wirklich zu lesen, fehlte mir meist. Es gab viele Hindernisse. Geheizt war nur die Stube, nur die Lampe über dem Stubentisch gab hell genug, um die kleinen Buchstaben schaft sehen zu können. Sass ich dann bequem am Stubentisch über mein Buch geneigt, so hatte Mama einen kleinen, dringenden Wunsch: "Hol bitte eine Flasche Essig im Keller." Sass ich wieder kam Grössi: "Bitte fädle mir zwei Nadeln ein, du siehst besser als ich." Sass ich wieder, war Zeit um den Tisch für das Nachtessen zu decken. 
Alle, viele, vielleicht auch nur einige schwärmten von der Familie Pfäffling. Wer hatte es tatsächlich ganz gelesen? Wer weiss, ob es ihnen nicht bei ihrem letzten Besuch die kinderlose Tante aus der Stadt erzählt hatte. Ich war entschlossen, es ganz zu lesen. Ich stellte mich krank und las den ganzen Tag. Diese Leserei strengte mich an und machte mich so müde, dass die Mutter mir das Nachtessen ans Bett brachte. Sie glaubte, dass ich krank und informierte den Lehrer? Unter welcher Krankheit litt ich? Ich war stolz auf mein Lesen, Seite um Seite. Erst als ich auch die letzten Wörter gelesen hatte, stand ich auf und ging wieder in die Schule. Der Ruf war weit besser als das Buch! Solche Ruhephasen habe ich in guter Erinnerung, und ich gewährte mir jeden Winter zwei. Deshalb begann ich als eher schwächlich und anfällig zu gelten.
Welches sind deine Erinnerungen an Schulferien, Ferienlager, Schulreisen?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Welches sind deine Erinnerungen an Schulferien, Ferienlager, Schulreisen?
Schulferien, Zeit um das Rauschen der Bäume, das Summen der Bienen und das Pfeifen der Vögel zu hören. Zeit um tief durchzuatmen und gemeinsam zur Feldarbeit aufzubrechen. Zeit, um den Wind spüren, um gemütlich zuarbeiten und zu plaudern, dazu Znüni und Zvieri auf dem Feld - das waren Ferien. Keine Hausaufgaben. Sogenannt freiwillig versuchte ich jeden Tag eine Viertelstunde zu lesen und oft schrieb ich eine Seite ab.
Da ich jährlich zweimal oder dreimal ein paar Tage ungestört lesen  und mich ausruhte wollte, galt ich als schwächlich. Selber nannte ich es "schwänzen" (=  dem Unterricht unerlauter Weise fernbleiben).  Nur ich benutzte das Wort Schwänzen für meine Lesepausen, die ich machen musste und die ich hie und da brauchte, um viele, viele Seiten ohne Unterbrechung zu lesen und um lange, ganz lange schlafen zu können. Deshalb beantragte der Lehrer für mich beim Schularzt eine dreiwöchige Ferienkolonie. Mir graute. Werden die mich behalten? Ich dachte an Alfi und Netti. Alle meinten, das tue mir gut. "Du wirst wieder heimkommen, du musst wieder heimkommen, du fehlst bei der Arbeit, wir brauchen eine Köchin," beschwichtigte mich die Mutter. "Wenn die glauben, dass sie dich behalten können, so werden sie mich kennen lernen. Ich komme mit dem Kreidler und hole dich," waren die Worte des Vater.
Sauber angezogen und im Köfferchen der Patin von jedem Kleidungsstück drei, zum Wechseln für jede Woche und etwas Sauberes für die Rückreise. Eine Bekannte hatte uns zusätzliche Kleider von ihrer Tochter gegeben. Reserve zu haben, schien uns gut. Der Vater stellte mein Köfferchen am Sonntag-Abend auf dem Bahnhof ein. Gut gestärkt marschierte ich am Montag-Morgen mit meinem kleinen, braunen Umhängetäschchen zum Bahnhof, wo ich andere Kinder mit ihren Eltern traf. Im Täschchen steckten alles Sachen, die nicht nötig oder sogar verboten waren, mitzubingen. Kein Problem für mich, ich war gewohnt mit Geheimnissen umzugehen, und ich verstand mich auf Notlügen: Zwei Franken in kleinen Münzen, drei Pflästerli, etwas Dörrobst und getrocknetes Brot. Man wusste ja nie!
Diese Ferienkolonie, eine neue Erfahrung: 30 Kinder in einem Schlafsaal, das Köfferchen unter dem Bett. Im Freien eine lange Leitung mit einem kleinen Löchlein für jedes Kind, ca. 50 Zentimeter Abstand. Alle bereit? Ja! Achtung: Wasserhahn auf und Waschen. Ich fand diese Wascherei neckisch und gut. Nach dem Mittagessen, die Ruhepause auf dem Bett mit Vorlesen, das liebte ich. Jeden Tag bei allem Wetter einen Spaziergang, basteln, singen, spielen, leider war ich in all diesen Disziplinen wenig bewandert. Lasst uns das zur Seite schieben und nach drei Wochen die ersehnte Rückreise antreten.
Drei Schulreisen während der Primarschule, jedes zweite Jahr eine, toll: In der ersten Klasse: Zoo verbunden mit einer Schifffahrt, in der dritten: Rheinfall und Munot, in der fünften: Bürgenstock. Total drei Zugreisen inkl. Kaffee complet und viel zu lange Wanderungen über Land. Ein Stadtspaziergang, das wär es gewesen. Die Mutter kaufte uns immer ein grosses Büchsli Fleischkäse (= Fleischkonserve). Neben reichlich Geld für zwei Bürli (= gekaufte Brötchen) gab sie uns eine Plastikflasche mit Limonade aus Wasser und zwei Beutelchen zum Nachfüllen mit, schön süss und kräftig. Alles toll. Ah, das Fliegen nicht vergessen. Nicht an Details kleben bleiben. Meine Lesenden, wie waren Ihre Schulreisen? Gingen Sie mit der ganzen Familie in die Ferien?
Wie waren die zehn Wochen Ferien verteilt?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Wie waren die zehn Wochen Ferien verteilt?
Sie waren an der Arbeit der Bauern und den Festen der Kirche ausgerichtet, sie schiene in Stein gemeisselt zu sein: 2 Wochen Osterferien, anschliessend Schuleintritt oder Klassenwechsel, nach dem Motto alles neu macht der Mai, 1 Woche Heuferien, je nach Wetter, tageweise zu beziehen, 3 Wochen Sommerferien, 2 Wochen Herbstferien, 2 Wochen Weihnachtsferien.
Was nicht möglich schien, geschah. Ich war in der dritten Klasse, da hiess es: "Die Heuferien sind abgeschafft!" Unglaublich, doch typisch: Männer in Büros, die nicht wussten, was schmutzige Hände und verschwitzte Kleider sind, hatten nach dem Zweiten Weltkrieg die Heuferien abgeschafft. Es hiess, die Bauern könnten auf die Mithilfe der Kinder verzichten, denn neuerdings gäbe es viele Maschinen, welche die Handarbeit ersetzen würden. Dafür wurden die Sommerferien nach der Art der Städte auf vier Wochen verlängert. "Dass so etwas möglich ist," die alten Leute waren empört und schimpften.
Das war nicht alles. Unsere Gemeinde wollte modern sein. Ich war in der fünften Klasse. Da wurden die Weihnachtsferien um eine Woche verkürzt und Sportferien zur Ertüchtigung der Jugend eingeführt. Was das wieder war? Die Oberstufe verreiste ins Skilager, unterstützt vom Vorunterricht. Dort konnte man Skier, ja die ganze Ausrüstung mieten, und die Gemeinde erhielt einen Beitrag. "Dass so etwas möglich war. Ob so etwas nötig war," der Dorfklatsch hatte ein neues Thema.
Besitzt du heute noch Unterrichtsmedien, wie Lesebücher, Schreibhefte usw. aus dieser Zeit?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Besitzt du heute noch Unterrichtsmedien, wie Lesebücher, Schreibhefte usw. aus dieser Zeit?
MML-Zusatzfragen: Was geht dir durch den Kopf bzw. welche Erinnerungen kommen hoch, wenn du sie betrachtest?
Irgendwo im Estrich in einer der vielen seit Jahren nicht mehr geöffneten Schachteln, da wäre sicher noch einiges zu finden oder auch nicht, denn bei jedem Umzug ging einiges verloren. Das macht nichts, denn in der grossen Stadt am See soll es eine Bibliothek geben, in der zwei Exemplare aller Schulbücher aufbewahrt werden. Das stimmt und klappt, falls man tatsächlich hingeht. Ich war in den 80er Jahren mit meinen beiden vorschulpflichtigen Kindern und zwei halbwüchsigen Pflegekindern dort. Tipptopp. In der Auslage, zur freien Bedienung viele Bilderbüchlein für die Kleinen und ein verführerisches Angebot an Lesematerial für Jugendliche.
Ich meldete meinen Wunschan, und ehe ich mich versah, stand die Bibliothekarin wieder vor mir und reichte mir das Lesebuch des Kantons Zürich aus den 50er Jahren für die zweite Klasse: "Wenn Sie das Gedicht gefunden haben, das Sie suchen, mache ich Ihnen gerne eine Photokopie." Ich schlug das Buch auf Seite 112 auf - die Seitenzahl war mir spontan eingefallen - und da stand das Gedicht und da stand auch die Bibliothekarin mit der Photokopie wieder: "Sie können sich gerne noch in unserer Freihand-Auslage umsehen." Ich ging mit den Kindern kurz in den schönen Park, zum gedeckten Sitzplatz, wo wir Hefeschnecken assen und Tee tranken. Es war kalt, und wir verbrachten die verbleibende Zeit in der Bibliothek. (Einschübchen: Die Pflegekinder buken immer wieder Hefeschnecken. Halbwarm assen wir reichlich davon und froren die verbleibenden einzeln für solche Ausflüge ein.)
Wie waren deine Schulleistungen? Wie dein Verhältnis zu Hausaufgaben? Half dir jemand?
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Wie waren deine Schulleistungen? Wie dein Verhältnis zu Hausaufgaben? Half dir jemand?
Meine Schulleistungen: Noten zwischen 3,5 und 5. Die Hausaufgaben wollte ich gut machen und machte sie gut. Ein freier Moment, schnell, schnell damit anfangen, ich hatte ja hohe Ziele. Auf meine Eltern war Verlass. Die Hausaufgaben begleiteten die tägliche Arbeit, überall. Mit "Was habt ihr gelernt?" begann die Repetiton des Schulstoffes. Drei Kinder erzählten zum Spass in schriftdeutsch von den Freuden und Leiden ihres Schulalltags und stritten sich im Dialekt, um das "Wer, was, wie, warum?" "Ich weiss ein Ding, hat sieben Häut und beisst alle Leut", ein Rätsel zum Wechseln des Themas, und der Vater wollte noch die Vierer-Reihe hören. Die kleine Schwester wollte wieder Schriftdeutsch sprechen, und so ging es Hochdeutsch weiter. Meist vergnügt. Gerne sammelte ich Wörter. Die ganze Familie überlegte, und während dem Abendessen schrieb ich unsere Funde auf die Schiefertafel, mindestens zwanzig mussten es sein. Wie das ging?
Blume, Blut, Brot, Banane, Butter, Bild,.. ich hab's: Wörter mit B
Zucker, Wecker, Steckdose, Rücken.....ah, Wörter mit ck
Moos, Moor, .......oh, es war schwierig, Wörter mit zwei "oo" zu finden.
Harte Zeiten kamen, wenn es regnete oder kalt war, und die Zeit zum Spielen in der Stube begonnen hätte. Sie schüttelte den Kopf, düstere Wolken am Himmel. Ja, es war ärgerlich, denn der Lehrer nutzte diese Zeiten, um seine Schüler und Schülerinnen hoch zu trainieren. Er machte jeden Morgen ein kurzes Diktat und korrigierte es in der Mittagszeit. Fünf, vier oder auch nur drei Minuten vor Schulschluss verteile er uns die Hefte. Wer keine Fehler hatte, durfte den Tornister packen und gehen. All die andern durften bleiben und Verbesserungen machen. Der Lehrer sass am Pult und korrigierte diese laufend mit jedem Kind einzeln. Sein Bleistift glitt über die Zeilen. Er hielt an, ou  ou, da musste ein Fehler sein! So ist es richtig, gut. Der Lehrer war freundlich und geduldig. "Heute liess er euch wieder Tröpfchen um Tröpfchen springen. Er muss viele Fehler gefunden haben," da wir neben dem Schulhaus wohnten, lag der Pausenplatz in Grossmutters Blickfeld. Zum Schämen war es, ich war das letzte Tröpfchen. Ich stampfte über den Platz und schimpfte: " Alle Mühe umsonst. Ich will null Fehler! Ich will null Fehler!" Zum Nachdoppeln liess mich die Mutter die Kartoffeln für die Frühstücksrösti schälen. Sie schaute mich ernst an, und ich schaute zurück. Und dann machte mir die liebe Mama eine Freude, sie schaltete den Radio trotzdem ein. Ich durfte das Echo der Zeit hören und Kartoffeln schälen. Danke Mama, kein Echo der Zeit, das wäre eine Strafe gewesen. Ich wollte wissen. Ich verstand mehr, als man mir zutraute. All die schwierigen Namen! Ich hatte viel Mit-Angst bei Unruhen und Schiessereien, denn oft verlangten die afrikanischen Staaten die Unabhängigkeit gewaltsam. Ich dachte an Alfi, ich wollte hören, was in Afrika los war.
Noch strenger waren die Erntezeiten und die Tage, wenn Mama krank war. Müde, müde, vor lauter Mithilfe, plumpte ich in diesen harten Zeiten ungewaschen ins Bett. Papa weckte mich früh, denn "Morgenstund hatte Gold im Mund". Alles ging nun schnell und leicht. Die Mutter wirkte in der Küche, ich sass auf der Holzzaine und brachte meine Pflichtlektüre, die Zwangslektüre hinter mich. War sie krank, setzte ich mich zum Lesen auf den Bettrand und wirkte nachher in der Küche. Ich schaffte es.
Wie reagierten deine Eltern auf Zeugnisse?
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Wie reagierten deine Eltern auf Zeugnisse?
Die Zeugnisse waren kein grosses Thema. Wir besprachen sie gemeinsam. Für unsere Anstrengungen überraschte uns die Mutter mit einer Lieblingsspeise - und - nach neuer Mode Art, bekamen wir einen Batzen fürs Kässeli.
Was tatst du nach der Schule?
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Was tatst du nach der Schule?
Kleider wechseln und ab an die Feldarbeit, meistens eine schöne Abwechslung nach der Schule. ... Lasst uns gemeinsam eine Runde fliegen und nur das Schöne erinnern! Wie schön rauschte der Wind? Welch schöne Blumen blühten am Wegrand!
Welche Freunde hattest du aus der Schulklasse oder aus dem Schulhaus?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Welche Freunde hattest du aus der Schulklasse oder aus dem Schulhaus?
MML-Zusatzfragen: Was habt ihr gemeinsam unternommen? Hast du noch Kontakt?
Die Kindergruppe, streunende Kinder?
Die grimmigste Kälte war vorbei, der Sonnenhang vom Schlitteln ausgeapert, in der Schule die Schachtel mit den gefundenen Handschuhen bald voll. Dann, plötzlich der Moment fürs "Auf und Davon". Die Kindergruppe jagte dem Wald zu. Ein Geschrei und Gejohle: "Holz sammeln, Holz sammeln fürs Fasnachtsfeuer," ich war voll dabei, ich durfte dabei sein.
Durch das Dorf ziehen oder mit den Halbwüchsigen "Räuber und Poli" spielen, durfte ich nicht. All die Streifzüge zu den reifenden Kirschen ohne mich, absolut verboten. "Auf und davon!" Wohin? Von Seiten der alten Leute hiess es: "Das interessiert die moderen Mütter wenig, Hauptsache die Rasselbande ist am Abend müde und schläft ruhig. Verschwinden ohne zu fragen, das gehörte sich nicht, meine Eltern hätten sich Sorgen gemacht, das wollte ich nicht. Geschlagen (= ergeben, entmutigt) und wehmütig schaute ich den andern so manches Mal nach.
Einmal nach einer Holzsammeltour war ich mit den andern durchgebrannt. Ein Fehlschlag, denn alle hatten Hunger und Durst aus dem Wald mitgebracht und verschwanden in den Häusern. Die Mutter lachte und erklärte: "Merke dir, wenn du zur Essenszeit nicht da bist, verschwindest du mit leerem Magen im Bett." Hunger musste sehr schlimm sein, davon hatten Grossvater und Grossmutter oft erzählt. Richtige Freundinnen hatte ich kaum, meine beiden Gespänchen wohnten im kleinen Dorf unten im Tal, sie kamen zusammen und gingen zusammen, sie lachten, plauderten, schnatterten, stritten, weinten und prügelten sich. Wie Zwillinge, eine stand für die andere ein. So etwas vermisste ich.
Ab der dritten Klasse besuchte meine Cousine aus dem Dorf oben am Berg mit uns die Nähschule. Sie setzte sich neben mich. Ich spürte, sie hatte den Auftrag ein Auge auf mich zu werfen. Das hatte ich nicht nötig, doch es stand fest, sie konnte alles besser. Sie fuhr gut Velo und besuchte die Flötenstunde. Sie konnte "Gilberte de Courgenay" singen, denn ihre Mutter stammte aus Bümplitz, und im Töchterchor Bümplitz hatte diese Mutter das Lied von der schönen Gilberte solo gesungen. Gemäss Dorfklatsch gab es eine Ortschaft wie Bümplitz gar nicht. Der Klatsch hatte immer Recht, durchs Weitersagen wurden Vermutungen zu Wahrheiten. Der Vater hatte Bümplitz auf der Karte gefunden, ganz klein. Die Karte sei alt, Bümplitz gäbe es nicht mehr, ich wurde zum Gespött, weil ich dem Vater mit dem Meisterdiplom geglaubt hatte.
Nach dem Tod des Grossvaters fühlte ich mich sehr allein. Häufig schämte ich mich ein wenig, denn ich spürte wohl, dass ich nicht mithalten konnte. Nichts fiel mir in den Schoss und doch. Ich blieb dran, ich hielt nicht an, ich marschierte weiter.
Viele Jahre später? Alle waren sehr beschäftigt, sie wollten mehr und sie hatten schon mehr als genug andere Kontakte. Mein Angebot war nicht gefragt. Gott sei Dank, dachte ich später. Amerika und Afrika warteten.
Warst du schon an einem Klassentreffen? Wie hat das auf dich gewirkt?
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Warst du schon an einem Klassentreffen? Wie hat das auf dich gewirkt?
2017 Zwei Mal war sie dabei, denn diese Kassentreffen waren mit Dorfrundgängen kombiniert, was  sie interessierte. Das Ziel des dritten Treffens war die Besichtung eines Renaturierungsprojektes, für dessen Umsetzung 100 Millionen nicht gereicht haben sollen. Sie kannte das Gebiet. Viel Arbeit und gute Arbeit war geleistet worden! Man war verpflichtet, davon begeistert zu sein, aber sie war es nicht, so blieb sie daheim. "Gerade Flüsse, drainierte Sümpfe machen den gefährlichen Mücken den Garaus," ein Zitat ihrer Grossmutter. Mücken machten ihr Angst. Ergänzend zum Thema Ungeziefer und Renaturierung eine Notiz aus der lokalen Zeitung "Schaffhauser Nachrichten" vom 23. Dezember 2015: Dank dem Einsatz des Biozides mit dem Namen Bacillus thuringeinsis israelensis (BTI) kam es nicht zu einer Mückenplage."
"Am 12. Mai 2017 haben wir die nächste Klassenzusammenkunft," erzählte sie ihrem Unternehmensberater zum Projekt im Kongo, und dieser wurde nicht müde, mir seinen Wahlspruchzu zu zitieren: "Tue Gutes und rede darüber!" Deshalb hatte sie mit dem Organisations-Team der Klassenzusammenkunft Kontakt aufgenommen. Sie durfte ihr Projekt vorstellen: "Kurz, keine Lichtbilder, höchstens, allerhöchstens zehn Minuten." Zwischen Suppe und Hauptgang hatte sie das Wort ergriffen . Drei Minuten genügten ihr. Mutig verteilte sie anschliessend sogar Visitenkärtchen mit der Web-Adresse des Vereins (www.bauerndoerfer-im-kongo.ch) . Das Interesse hielt sich in Grenzen. Zwei verlangten einen Einzahlungschein und viele rieten mir: "Lass doch, das bringt nichts. Es gibt genug arme Leute bei uns."  Trotzdem, es war ein gutes Erlebnis.
Wie war das nun mit den Vorbereitungen auf die Sekundarschulprüfung?
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Wie war das nun mit den Vorbereitungen auf die Sekundarschulprüfung?
Mit viel Freurde habe ich mich dahinter gemacht. Januar 1956, ich war in der fünften Klasse, und die Sechstklässler begannen mit ihrer Prüfungsvorbereitung. Die Blätter der Prüfungen der Vorjahre lagen auf dem Tisch, und der Lehrer verteilte sie den Prüfungskandidaten mit ermutigenden Worten. Mein Wunsch und Ziel: Ich will auch! Es traf sich gut. Alle hatten den Lückentext fertig von der Wandtafel abgeschrieben. Beim Verabschieden packte ich die Möglichkeit am Schopf und anerbot mich, die Tafel zu putzen. Dem Lehrer war das recht, und ich schaute die Prüfungsblätter an. "Mach vorwärts, ich will noch fort. Du kannst die Blätter morgen wieder anschauen," ich hatte es geschafft, ich durfte. Ein guter Anfang! Und so und ähnlich ging es weiter. Bereits in der fünften Klasse kämpfte ich mich durch einige der alten Prüfungen.
Ab Januar 1957 waren wöchentlich ein Rechnungs- und ein Sprachprüfungblatt für mich ein liebes Muss. Die Sekundarschulprüfung blieb mir eine Herausforderung. Allen war klar: "Sie gehört in die Sekundarschule und nicht in die Siebente-und-Achte." Man sollte es zwar nicht zugeben und schon gar nicht sagen: "Ich war stolz auf meine Anstrenungen." Mein neues Ziel: Eine gute Note. Schliesslich hatte ich alle vorhandenen Prüfungsblätter gelöst. Zwischendurch kam der Lehrer auf mich zu: "Hier noch etwas Spezielles. Ein Kollege aus der Stadt, aus einem Schulhaus mit gutem Ruf hat mir dieses Blatt gegeben. Wir sind uns uneins, er behauptete meine Schüler könnten das nicht. Probieren wir es." Es war eine Gymi-Prüfung. Glücklich machte ich mich dahinter. Das Resultat durfte gezeigt werden.
Ich bestand die Sekundarschul-Prüfung. Zwei Mädchen aus dem grossen Dorf mit unserer Kirche waren besser. Die Mutter unserer entfernten Verwandten, die Gilberte de Courgenay singen konnte, war der Überzeugung, es sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, denn ihre Tochter sei besser als ich! Ja, wir waren nun Sekundarschüler und Sekundarschülerinnen, und das Spiel begann von vorn.
Meine Lesenden, es hat mir Freude gemacht, diesen Text zu schreiben. Ich danke Ihnen für das Lesen und bedanke mich bei allen, die mich unterstützt haben. Abschliessend bleibt mir nur, Ihnen gute Wünsche zu schickten. Bitte, tragen Sie sich Sorg. 
 
Nachwort, wie geht es weiter?
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7.2.  Primarschulzeit – Primarschule Mittelstufe.

Nachwort, wie geht es weiter?
2017 Ende November: Voll Freude und Dankbarkeit hatte sie den ersten Teil abgeschlossen. Im Haushalt wartete viel Aufgeschobenes auf seine Erledigung. Zusätzlich  plante sie als nächstes den Versand eines Spendenaufrufes für ihr Projekt, den Jahresabschluss der Buchhaltung, die Jahresversamlung und die zehnte Reise in die Demokratische Republik Kongo. Natürlich, die Webseite durfte nicht fehlen: www.bauerndoerfer-im-Kongo.ch . Im Frühling, nach der Reise, wenn der Gemüsegarten wieder bepflanzt war, wollte sie ihre Schreibarbeit im meet my life Programm weiterführen.
Und was passierte mit diesem Text, dem Stoss von rund 250 Seiten, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag? Ja, den schob sie in eine Warteschlaufe und erst nach ihrer Kongoreise konnte er seine Reise ins Unbekannte beginnen. Noch plante sie eine Veröffentlichung in Buchform.
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