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Melanie Lehmann
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Nachgedanken / 18.03.2023 um 19.04 Uhr
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Ich beginne zu Leben / 18.03.2023 um 19.04 Uhr
10.
Ich beginne zu Leben / 20.03.2023 um 15.34 Uhr
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Mein Start ins eigene Leben / 20.03.2023 um 15.34 Uhr
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Vorwort
1.
Das bin ich
2.
So startet mein Leben
3.
Kindergartenjahre
4.
Kindergartenjahre
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
4.1.
Meine verpasste Jugend
5.
Mein Start ins eigene Leben
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
5.1.
Richtung Abgrund
6.
Mein Leben beginnt
6.1.
Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss
6.1.
Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss
6.1.
Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss
6.1.
Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss
6.1.
Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss
6.1.
Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss
6.1.
Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss
6.1.
Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss
6.2.
Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung
6.2.
Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung
6.2.
Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung
6.2.
Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung
6.2.
Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung
6.2.
Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung
6.3.
Mein drittes Ziel: Ein Job
6.3.
Mein drittes Ziel: Ein Job
6.3.
Mein drittes Ziel: Ein Job
7.
Die Begegnung mit André
8.
Ein neues Ziel: Auswandern
9.
Die Coronazeit
10.
Ich beginne zu Leben
11.
Nachgedanken
Vorwort
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  Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser

Ich freue mich, Ihnen meine Autobiografie vorstellen zu dürfen.

Vorab möchte ich Sie darauf hinweisen, dass dieses Buch sämtliche Erfahrungen im Detail beschreibt, welche ich durchlebt habe, somit triggern können, aber auch wie es mir viele Jahre später möglich wurde, mit den Erfahrungen zu leben. 

Die Namen in der Autobiografie sind geändert und entsprechen nicht den wahren Namen.

Dieses Buch soll allen Menschen in ähnlichen Situationen helfen, Auswege zu finden und ihr leben selbst wieder in die Hand zu nehmen.

Ich möchte Sie nun auf eine spannende Reise mitnehmen, wie ich zu mir selbst gefunden habe und heute ein glückliches Leben führen kann, trotz aller Hindernisse.
Willkommen in meiner Welt
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1.  Das bin ich

Willkommen in meiner Welt
Mein Name ist Melanie.
Ich bin verheiratet und lebe mit meinen Mann und meiner Teenager-Tochter zusammen. 
Ich führe ein gewöhnliches Leben.
Zumindest sieht das für Aussenstehende so aus.
 
Ich arbeite im BackOffice einer Bank und ich liebe meinen Job. 
Hier kann ich mich zurückziehen, wenn es notwendig wird.
Es kommt immer seltener vor, dass ich mich zurückziehen muss.

Mein Weg zur Arbeit führt mit der Bahn in die Grossstadt,
vorbei an kleinen Dörfern und Feldern, am See entlang.
Es sind einige Stationen, wo nach und nach mehr Menschen einsteigen.
Alle fahren zur Arbeit oder in die Schule. So wie ich.
Für mich ist dies alles andere als gewöhnlich, denn
viele Menschen, Hektik und Lautstärke, sind Dinge die mich unruhig machten.
Bahnfahren war zuletzt unmöglich. 

Mittlerweile ist es eine Stunde voller Entspannung. 
Ich sehe den Menschen zu. 
Ich empfinde Ruhe, Zufriedenheit, Glück.
Mein Ausblick aus dem Fenster erholt mich.
Die Lichter der Dörfer spiegeln sich, wenn es draussen noch dunkel ist. 
Die Berge erstrahlen weit im Hintergrund, wenn die Sonne zwischen ihnen aufgeht.
Sie scheint ganz leicht.
Rötlich. 
Es ist ein wunderschöner Anblick.

Jeden Morgen.

Die Landschaft ist wie gezeichnet und jede Jahreszeit hat etwas Besonderes.
Besonders schön ist der Herbst. 
Die vielen bunten Farben in den Wäldern, sie leuchten. 
Selbst bei Regen. 
Es ist wie in einer anderen Welt. 
Es ist ein Geschenk, welches wir uns selbst gegeben haben.
 
Ich fühle mich zum ersten Mal zuhause.
Kurz zuvor ...
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1.  Das bin ich

Kurz zuvor ...
Wir standen fest im Leben.
Wir hatten Jobs, Freunde und unser Haus.
Es fehlte an nichts und doch fiel mir das Leben schwer.

Meine früheren Begegnungen führten zu Phasen in denen fehlende Lebensfreude, ständige Müdigkeit und Reizbarkeit ein ständiger Begleiter waren.
Ich hatte solche Phasen irgendwie im Griff,
aber Panikattacken erschwerten mir mein Leben zusätzlich.
 
Was das bedeutet, ist nur schwer zu erklären.

Alltägliche Dinge wurden zu einer Herausforderung.
Freundschaften waren nur schwer zu schliessen und aufrecht zu erhalten.
Keine Partys, keine Clubs, kein gemütliches beisammen sein.  
Diese Situationen waren mit Angstzuständen verbunden, 
die ich so gut es ging vermeiden wollte. 

Auf der Arbeit hielt ich es verborgen.  
Leistung war das, was zählte. Für mich.
An der Seite der Leitung durfte ich an Terminen teilnehmen.

Meetings, die Hölle.

Erhöhter Puls, Schwindel, Übelkeit.
Ein Gefühl der Unwirklichkeit. Ein Tunnel.
Ein Gefühl, aus der Situation flüchten zu wollen. 
Die Gedanken in Dauerschleife, den Körper unter Kontrolle halten zu müssen.
Ein ständiger Blick auf die Uhr. Unruhe. Schwitzen. Erhöhter Puls, Schwindel.

Ich nahm Tabletten, starke Beruhigungsmittel, damit ich die Meetings überstehen konnte. 
Die wichtigsten Informationen nahm ich gerade so auf.
Das machte müde.

Pause.
 
Ich bekam Lob und Anerkennung.
Das wollte ich nicht aufgeben, also kämpfte ich weiter. 

Tag für Tag. 

Ich wollte ein normales Leben führen.
Das sind meine Eltern
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2.  So startet mein Leben

Das sind meine Eltern
Meine Mutter hatte es selbst nicht leicht. Vielleicht konnte sie deshalb nicht anders.
Mir fällt es schwer die richtigen Worte für sie zu finden.

Sie hatte früher keine Hobbys, war zurückhaltend und hatte kaum soziale Kontakte. 
Sie lebte, wie es ihr vorgeschrieben wurde.
Wir Kinder hörten oft, dass sie uns verlassen oder ins Krankenhaus gehen müsste,
wenn wir weiter streiten. Das brannte sich sehr in unsere Köpfe ein.
Das war sicher einer der Gründe, warum ich ihr nie gesagt habe, wie ich mich fühlte.

Ich lernte früh, dass ich mich selbst wehren musste.
Ich war ängstlich und wollte jedem Ärger aus dem Weg gehen. 
Ich war nie stark genug mich zu wehren und auf mich allein gestellt.  

Ich lernte von meiner Mutter die ersten Töne auf meinem Keyboard
aber das Notenlesen und Klavier spielen brachte ich mir selbst bei.
Ich liebe es zu spielen.

Musik drückt Emotionen aus.
Musik berührt.
Musik wurde mein ständiger Begleiter.
 
Mein Vater war das absolute Gegenteil.
Er war ein strenger, launischer Mensch.
Gefühle hatten keinen Platz oder wurden ins Lächerliche gezogen.
Er war Fernfahrer und beruflich viel unterwegs. 
Am Wochenende, konnten wir ihn in Kneipen antreffen. 
Wir waren als Kinder oft dort, zwischen all den besoffenen Männern.
Es war widerlich.

Zuneigung war mir fremd. 
Er schmiss mit Schuhen nach uns, wenn ihm etwas nicht passte. 
Zu seinem Alltag gehörte der Alkohol, genauso wie die Zigarette. 
War eine aus, war direkt die Nächste an. 
Den Aschenbecher lehrten wir Kinder und für Biernachschub sorgten wir auch. 

Trotz seiner Alkoholabhängigkeit und seiner Launen erinnere 
ich mich an schöne Zeiten.

Manchmal sass ich abends neben ihm und wir schauten zusammen Zirkus im Fernsehen. 
Ich lernte von ihm Canasta und Schach.
Manchmal, am Wochenende oder wenn ich Ferien hatte, 
durfte ich mit ihm im LKW mitfahren.

Schön, dass er mich gerne bei sich hatte.
 
Liebe Worte oder Umarmungen gab es zum Geburtstag. 
Das war mir unangenehm, denn den Rest des Jahres blieb es aus.
Es gab keine Wertschätzung, kein Lob. 

Weder von ihm, noch von meiner Mutter.
Der Umgang mit uns Kindern war kühl und lieblos.

Mein Vater mochte meine Schwester nicht. Zumindest glaube ich das.
Ohne jeglichen Zusammenhang beschimpfte er sie, wenn er getrunken hatte.

Er starb 2011, genau an ihrem Geburtstag.
Meine Schwester
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2.  So startet mein Leben

Meine Schwester
Meine grössere Schwester Madleen war ein Wunschkind, 
meine Mutter hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht.  
Ich mochte meine Schwester nicht, wir haben als Kinder ständig gestritten.

Wir waren froh, wenn wir uns nicht sehen mussten und hielten Abstand wo es ging. 

Manchmal sollte sie mich mit nach draussen nehmen, 
zu den anderen Kindern, mit denen sie spielte.
Sie waren meist unfair. 
Ich war unerwünscht und das zeigten sie mir auf ihre Weise.

Ich mochte nicht mit meiner Schwester zu ihren Freunden gehen.
Eigene Freunde fand ich kaum. 
Ich fühlte mich unsicher.

Madleen lernte ihren Mann bereits mit 14 kennen
und war ab diesem Zeitpunkt selten zuhause. 
Immerhin konnten wir uns nun nicht mehr streiten. 

Das Verhältnis zu ihr wurde besser, als wir erwachsen waren.
Meine Halbgeschwister
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2.  So startet mein Leben

Meine Halbgeschwister
Mein Vater hatte eine grosse Familie. Er war eines von sechs Kindern. 
Der Kontakt unter den Geschwistern war alles andere als gut. 
Bis heute ist es ein grosses Geheimnis, weshalb das so war.
Familie war für uns ein Fremdwort.

Wir haben nicht nur viele Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins, die wir nie sahen,
sondern auch mehrere Halbgeschwister.
Sie sind aus einer früheren Ehe meines Vaters.
Es hat sehr viele Jahre gedauert bis ich alle kennenlernte.

Anina ist meine älteste Schwester.
Ich habe sie über die Jahre immer mal wiedergesehen. 
Wir kannten uns ein wenig, ich habe sie aber nie als meine Schwester wahrgenommen. 
Wenn wir uns mal trafen, grüssten wir uns. 
Heute haben wir ein tolles Verhältnis und hören regelmässig voneinander.
Ich bin froh und dankbar, sie als Schwester zu haben.

Meine Schwester Heidi hatte einen schweren Start ins Leben.
Sie wurde als Baby vernachlässigt und mit ein paar Wochen abgegeben. 
Sie ist bei Pflegeeltern gross geworden.
Man sagt, sie wurde als Baby "verschenkt".
Die Geschichte wurde uns oft erzählt, dabei fast ins Lächerliche gezogen.
Sie wollte nie den Kontakt zu uns, was ich verstehen kann. 
Mittlerweile haben wir uns kennen gelernt, ich mag sie. 
Ich fand es ganz schlimm, die Geschichte aus ihrer Sicht zu hören.

Über meinen Bruder Theo kann ich nicht viel erzählen. 
Er wohnt in Kanada und hat uns erst vor einiger Zeit kennengelernt. 
Wir haben sehr selten Kontakt, aber durch ihn haben wir uns 
alle überhaupt erst kennen gelernt.

Und dann ist da noch André. 
Ich lernte ihn nach über 30 Jahren kennen.
Diese Begegnung war so besonders, dass diese Geschichte ein eigenes Kapitel erhält.
So lebten wir
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2.  So startet mein Leben

So lebten wir
Wir wohnten in einem Dorf, wo es recht viele Sozialwohnungen gab. 
Wir hatten eine dieser Wohnungen, am Dorfrand. 

Das Dorf war geteilt in einen Nord- und einen Südring.
Die Hauptstrasse führte mitten durch.
Der Nordring hatte einen schlechten Ruf. Hochhäuser mit vielen Wohneinheiten.
Ein sozialer Brennpunkt.
Ich war nicht gerne dort.

Kontakt zu anderen Familien mit Kindern bestand selten, daher war ich oft zuhause.
Ich teilte mir ein Zimmer mit meiner Schwester. Sie nervte mich.
Manchmal halfen wir uns aber auch gegenseitig.
Mittags, nach der Schule, versuchten wir zu kochen.
Wir waren oft allein und versuchten uns selbst zu versorgen.

Unsere Ernährung war einfach. Fertiggerichte aus der Dose, Milchreis oder Schokoladenpudding zum Mittag.
Verschiedenes Gemüse und deren Zubereitung lernte ich erst in der Schule kennen,
als ich Hauswirtschaft als Unterrichtsfach bekam.
Zum Frühstück gab es Toastbrot mit Nutella und Cola. 
Selbst der Snack für den Kindergarten 
bestand aus Milchschnitten und Trinkpäckchen. Vitaminarm und zuckerhaltig, ein ungünstiger Start in den Tag.

Sonntags wurde frisch gekocht. Kartoffeln und Fleisch mit Bohnensalat.
Meist haben wir Kinder auf das Essen aufgepasst, denn unser Vater war, 
wie jeden Sonntag, in der Kneipe und musste abgeholt werden. 
Er kam jeden Sonntag betrunken zum Essen. 
In seinem Bart blieben meist Essensreste hängen, 
da er es kaum schaffte ordentlich zu essen. 
Wenn er ganz schlecht gelaunt war, wurde er launisch und laut.
Grundlos. Unberechenbar.
Nach dem Essen schlief er seinen Rausch aus. 

Ein toller Sonntag.

Wenn der Tag dem Ende zuging, 
hörten wir unsere Gute-Nacht-Geschichten von der Kassette. 
Das Ritual zum Schlafen war daher zügig und lieblos.

Kein Kuscheln, kein Umarmen.
Licht aus, Tür zu.
1988 Meine ersten Kontakte
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3.  Kindergartenjahre

1988 Meine ersten Kontakte
Ich kann heute noch den holzigen Geruch wahrnehmen,
der im grossen Eingangsraum und in den einzelnen Gruppen war.
Ich mochte nicht alle Kinder, aber es war ok.
Ich spielte mit den Erzieherinnen und malte gerne für mich allein.
 
Meine Schwierigkeiten, mich gegen Kinder zu wehren begannen schon früh.
Das war in der Zeit nicht weiter schlimm, denn die Erzieherinnen schritten ein,
wenn es Probleme gab.
Hier war ich nicht allein und einen ersten kleinen besten Freund hatte ich auch, mit dem ich draussen toben, klettern und spielen konnte. Sogar zu seinen Geburtstagen war ich eingeladen.

Wir hatten eine unbeschwerte schöne Zeit. 




1990 Oma Ina stirbt
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3.  Kindergartenjahre

1990 Oma Ina stirbt
Meine Oma Ina war liebevoll. Mein Opa daneben nur anwesend. Ich erinnere mich kaum an ihn. Meine Oma spielte mit mir Mensch-Ärger-Dich-Nicht, wenn wir bei ihr waren.
Wir waren nicht oft bei ihr.
Zu Ostern hatte sie sich viel Mühe gegeben
und für uns auf dem Grundstück Eier und Schokohasen versteckt.
Sogar mein Cousin Ben war mit meiner Tante da.
Ich habe mich immer gefreut sie zu sehen. Ich hatte sie sehr gern.

Draussen war es kalt und der Tau von der Nacht, überall am Glänzen.
Ich liebte die kalte Jahreszeit.

Der Geruch, der aus dem Häuschen kam, 
war der Geruch nach verbranntem Holz aus dem Kamin. 
Ich rieche es heute noch gern und erinnere mich an diese Zeit zurück.

An dem Tag, als Oma gestorben ist, kam mein Vater von der Arbeit und ging direkt ins Wohnzimmer.
Ohne ein Wort. 
Wir wurden in unser Zimmer geschickt.
Keine Erklärung. Schweigen.
Oma starb viel zu früh.
Sie war meine einzige Oma.  

Danach ist der Kontakt zu meiner Tante abgebrochen
und ich sah sie und meinen Cousin für viele Jahre nicht mehr.
Sie fehlten mir.
Genau wie Oma.
1991 Meine Begegnung in Südtirol
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3.  Kindergartenjahre

1991 Meine Begegnung in Südtirol
Die Kindergartenzeit ging dem Ende zu.
Ich freute mich auf die Ferien und auf die Schule.
Im Sommer 1991 sollten Madleen und ich für drei Wochen nach Südtirol fahren.

Es war eine gemeinnützige Veranstaltung und es waren viele Kinder dabei.
Die Zimmer wurden von dem Personal vor Ort verteilt.

Es war ein schöner Ort und wir haben Wanderungen unternommen.
Die Ausflüge, die wir gemacht haben waren für mich die schönste Zeit.
Es war die Natur und die Ruhe, die Wege und die kleinen Dörfer.

Ich erinnere mich nur an wenige Momente,
die ich mit den Kindern dort spielte.

Es gab täglich Taschengeld, welches von den Eltern zuvor festgelegt wurde.
Wir konnten davon Eis oder in der Stadt das ein oder andere Souvenir kaufen.
Mein Taschengeld gab ich oft für Geschenke aus, die ich meiner Mutter dann mitbrachte.
Das tat ich auch zuhause, indem ich Blumen für sie kaufte.

Momente in denen ich hoffte,
dass ich dann Aufmerksamkeit bekommen würde, die mir sonst fehlte.
 
Das Zimmer teilte ich mit einem Jungen. 
Christian.
Christian hatte das Down-Syndrom.
Abends drückte er meinen Kopf gegen die Wand, weil er es einfach wollte. Ich verstand es nicht. Ich war zu klein. Ich wehrte mich nicht. War hilflos.

Ich sagte niemanden etwas davon.
Ich war es gewohnt, zu schweigen.

Ich war froh, wieder zuhause zu sein.
Step 1: Der Start
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3.  Kindergartenjahre

Step 1: Der Start
Mein Leben bestand nun aus meinen Eltern, die nur wenig Interesse an mir hatten.

Freunde gab es kaum.

Vertrauen in meine Eltern oder anderen Personen konnte ich im Kindesalter nicht herstellen.

Ich sollte mich alleine wehren, wenn es Probleme gab.

Liebevolle Worte oder Umarmungen waren nicht an der Tagesordnung. 

Das sollte meine Grundvoraussetzung für mein weiteres Leben sein.


Hatte ich eine Wahl mein Leben zu verändern? Hätte ich etwas anders machen können? 

Mit 7 Jahren ist man sehr von der Aussenwelt und der Zuneigung durch die nahe Umgebung abhängig. Fehlt Liebe, Zuneigung und Sicherheit, kann dies gravierende Folgen auf die weitere Entwicklung des Kindes haben.

Für mich gab es also noch keine Möglichkeit etwas zu verändern und musste zunächst mit meinem Schicksal leben.

Auszug: Emotionale Vernachlässigung
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3.  Kindergartenjahre

Auszug: Emotionale Vernachlässigung
Auszug aus Wikipedia

Psychische Vernachlässigung (auch emotionale Vernachlässigung) ist die lieblose und unpersönliche Betreuung eines Menschen [...].

Die Folgen von psychischer Vernachlässigung sind erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Bei Kindern kommt es teilweise zu Entwicklungsverzögerungen und Fehlentwicklungen (zum Beispiel eine Anpassungsstörung, eine Belastungsstörung oder eine Bindungsstörung).

Erwachsene Patienten [...] leiden beispielsweise unter Depressionen[...].

Emotionale Vernachlässigung und dauernde Missachtung kann zu psychischer Deprivation* [...] führen. Bei Kindern führt sie über die Schädigung des Grundvertrauens regelmäßig zu Beeinträchtigungen der emotionalen Intelligenz.


*Der Begriff Deprivation bezeichnet allgemein den Zustand der Entbehrung, des Entzuges, des Verlustes oder der Isolation von etwas Vertrautem sowie das Gefühl einer Benachteiligung.




1991 Mein erster Schultag
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4.  Schulzeit – Der Anfang.

1991 Mein erster Schultag
Ich freute mich auf die Schule.
Ich kannte schon ein paar Kinder aus dem Kindergarten
und mein kleiner bester Freund aus dem Kindergarten war auch in meiner Klasse.
Ich war ganz aufgeregt. Endlich durfte ich in die Schule.
Mein Opa war gekommen, um bei meiner Einschulung dabei zu sein.
Er hat mir meinen ersten Schulranzen geschenkt. Er war rosa. Ich liebte rosa. 
Wir haben viele Hefte und Stifte gekauft und ich hatte sie ganz ordentlich in meinen Ranzen geräumt.
Die dicken Buntstifte hatte ich am liebsten.

Als wir am Morgen in der Schule ankamen,
standen schon viele Kinder mit ihren Eltern am Eingang. 
Wir Kinder wurden auf die Klassen verteilt und gingen mit unseren Klassenlehrern
und Eltern zum Klassenraum. Wir hatten feste Plätze.
Unsere Namen standen auf den Schildern, die an die Plätze verteilt wurden.
Wir setzten uns, ein kleines Programm der Viertklässler wurde aufgeführt und
die Klassenlehrerin stellt sich vor.

Frau Rohring.

Sie kam mir riesig vor. Sie war schon etwas älter und
trug ihre blond gefärbten Haare bis zur Schulter.
Sie hatte blaue, eisige Augen und einen strengen, bitteren Gesichtsausdruck.
Sie lachte nicht. Ihre Stirnfalten waren in ihrem arroganten Blick zu sehen.
Ihr Gang und ihre Bewegungen waren zügig, hektisch.
Ihre Stimme laut und streng.

Anwesenheitskontrolle. 

Frau Rohring rief die Namen auf und die Kinder sollten auf ihre Eltern zeigen.
Ich war abgelenkt von ihrer herrischen Art und
von den vielen Eindrücken in diesem Raum.
Ich schaute mir die vielen Kinder und die Eltern an,
die vielen Kästen und Bücher die am Rand in den Regalen standen.
Die Wände waren ganz kahl, die Fenster auch.
Während ich mich umsah wurde ein Kind nach dem anderen aufgerufen.
Dann hörte ich meinen Namen.
Ich bestätigte, dass ich da bin, vergass aber auf meine Mutter zu zeigen.
Es war mir peinlich und die Eltern und Kinder kicherten. Halb so schlimm.

Die Eltern sollten anschliessend draussen warten
und wir hatten unsere erste Unterrichtsstunde.
Die erste Aufgabe war es, mit beiden Händen gleichzeitig
zwei grosse Kreise auf ein Blatt Papier zu malen.
Super, ich konnte gleich die neuen Buntstifte benutzen.
In mehreren Farben ging ich immer wieder über die Kreise.
Es machte Spass.
Nur noch den Namen drauf schreiben und abgeben.
Ich schrieb spiegelverkehrt, aber es war erkennbar.
Fertig.
Der erste Schultag war geschafft.
Wir gingen nach Hause, assen Kuchen und ich freute mich
auf die nächste Zeit in der Schule.
Schule, das schaff ich schon
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4.  Schulzeit – Der Anfang.

Schule, das schaff ich schon
In meiner Freizeit entdeckte ich für mich das Seilspringen und Volleyball spielen. 
Ich hatte nun sogar Freunde, die den Sport mit mir teilten. 
Wir waren gut, weil wir jeden Tag spielten. 
Es schien, als ob mein Leben normal laufen würde.

Meine Schwester ging in einen Fussballverein. 
Wir fuhren sie am Wochenende immer zum Training. 
Nachdem ich meine grosse Leidenschaft für das Volleyballspielen entdeckt hatte, 
wäre ich gerne in einen Verein gegangen. 
Ich wäre bestimmt gut geworden.

Abgelehnt.

Meine Leistungen im ersten und zweiten Schuljahr waren ganz gut.
Ich habe früh gelernt gut zu schreiben, mit der linken Hand. Fehlerfrei.
Ich habe gerne geschrieben.
Es wurde in der ersten Klasse versucht, dies um zu trainieren, aber ich blieb dabei. 
Ich denke, das gefiel Frau Rohring nicht.
 
Meine liebste Erinnerung ist die 100er Tafel mit allen Zahlen. 
Ich liebte Mathe von Beginn an, kannte das 1x1 in und auswendig 
und lernte immer gerne neu dazu. 
Mathe war mein liebstes Fach.

Ich hatte gute Chancen, später auf eine gute Schule gehen zu können.
An den Hausaufgaben scheiterte ich oft. Ich vergass sie, immer wieder.
Eine Kontrolle zuhause gab es nicht. Lernen mussten wir nie.

Wir waren auf uns allein gestellt.


Step 2: Frau Rohring und das Selbstbewusstsein
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4.  Schulzeit – Der Anfang.

Step 2: Frau Rohring und das Selbstbewusstsein
Nach einer Weile wurde Frau Rohring zorniger. Sie hatte Lieblingskinder 
und Kinder, die sie gar nicht mochte. Zu denen sollte ich dazu gehören.

Ich hatte Angst vor ihr. 
Sie tat alles um mich vor anderen Kindern zu blamieren.
Ich wäre am liebsten jeden Tag unsichtbar gewesen.
Ihr arroganter, überheblicher Blick ist mir noch heute in Erinnerung.
Ich glaube, sie hasste ihren Job und Kinder mochte sie auch nicht.
Ihr Ton war streng und kühl.
Schon damals hatte ich Angst Fehler zu machen.

Einen Tag rief sie mich nach vorne an die Tafel, um eine Aufgabe zu lösen.
Zum Glück war es Mathe. In Mathe fühlte ich mich sicherer, als in den anderen Fächern.
Sie wusste, dass ich ungern an die Tafel gehe.
Auf dem Weg nach vorne musterte sie mich von oben bis unten,
ich fühlte mich beobachtet und unwohl. Sie sah mich kritisch an.
Ich kam an der Tafel an und wusste die Lösung. Ich schrieb sie an.

"Geschafft", dachte ich. Die Lösung war richtig.

Zum Glück war es schnell vorbei und die Erleichterung war mir anzusehen.
Ich atmete auf und ging wieder an meinen Platz zurück. Es läutete zur Pause. 

Nach der Pause kamen wir zurück in den Unterricht und die Tafel war leer.
Frau Rohring rief mich erneut an die Tafel. Ich sah ihr an, welchen Spass sie daran hatte.
Ich sollte eine weitaus schwierigere Aufgabe lösen. Man könnte meinen, es hätte daran gelegen, dass sie die Kinder fördern möchte. 
So war sie nicht.
Nicht bei den Kindern, die sie nicht mochte.
Ich konnte die Aufgabe dieses Mal nicht lösen,
sie kommentierte es entsprechend und die Kinder kicherten.
Enttäuscht von mir selbst, habe ich mich an meinen Platz zurückgesetzt.

Ich hatte in meinem sichersten Fach versagt.

Ich traute mir nach und nach immer weniger zu,
das Selbstbewusstsein nahm jeden Tag mehr und mehr ab.
Ich wurde immer mehr eingeschüchtert und hatte Angst vor dieser Frau.
Hilfe von zuhause hatte ich nicht erwartet.

An einem Tag in der dritten Klasse war ich spät dran und es regnete.
Auf dem Weg zur Schule rutschte ich aus und meine Hose war nass und dreckig.
Meine Angst zu spät zu kommen und mit einer dreckigen Hose ausgelacht zu werden,
war so gross, dass ich beschloss den Tag nicht in die Schule zu gehen.
Meine Mutter ging morgens ausser Haus, daher blieb es unbemerkt.
Ich ging die folgenden Tage auch nicht hin.

Durchatmen.

Ich ging morgens aus dem Haus und versteckte mich in einem anderen Keller,
solange bis die Schule aus war.
Nach über einer Woche rief Frau Rohring bei uns zuhause an und erkundigte sich nach mir.
Es flog alles auf. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich furchtbare Angst vor dieser Frau habe, denn sie stellte mich oft vor der gesamten Klasse bloss. 
Sie blamierte mich.

Nachdem meine Mutter nun davon wusste, hatte ich gehofft, dass sich etwas ändern würde.
Frau Rohring wurde aber kein Fehlverhalten vorgeworfen.
Ich musste weiterhin in diese Klasse und es änderte sich nichts.

Und was war mit Frau Rohring? 
Sie gab mir so oft sie konnte zu verstehen, wie wertlos ich sei.

In dieser Zeit entwickelte ich bereits eine Störung des Selbstbewusstseins.
Ich traute mir kaum neue Dinge zu.
Es gab keine Bezugspersonen, die mich hätten stärken können.
Niemand, an den ich mich wenden konnte.

An Elternsprechtagen fühlte ich mich noch unwohler. Madleen war dabei,
da oft die Termine hintereinandergelegt wurden.
Sie war gut in der Schule und hatte eine nette Lehrerin.
Lob und Anerkennung erntete sie jedes Mal.
 
Frau Rohring: " Melanie hat einfach keine Lust. Sie macht nie mit.
Ihre Leistungen lassen zu wünschen übrig."
 
Was sollte ich dazu sagen? Ich nickte immer zustimmend, eine andere Wahl hatte ich nicht.
Ich hatte meiner Mutter bereits gesagt, sie mag mich nicht. 
Madleen war währenddessen ganz stolz auf sich und ich sah es ihr an.

Meine Schwester, meine Mutter und Frau Rohring.
Eine Einheit.

1995 Schulwechsel, eine neue Chance
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

1995 Schulwechsel, eine neue Chance
Endlich hatte ich meinen letzten Schultag in der Grundschule.
Ich war froh. Ich hielt es dort nicht mehr aus.  Meine Leistungen hatten bereits abgenommen,
aber reichten für die Gesamtschule. Madleen ging auch auf diese Schule.
Ich hoffte, dass es dort besser werden würde. 
Mein erster Schultag dort war gut. Ich lernte alle Klassenkameraden kennen
und ich freute mich auf die Zeit.
Neue Lehrer, neue Freunde.

Eine neue Chance.

Jasmin wurde meine beste Freundin. Wir hatten die gleiche Leidenschaft: Musik.
Wir spielten zusammen in einer Mädchenband,
mit der wir sogar öffentliche Auftritte hatten. 

Jasmin ging mit mir jede Pause in den Band-Raum und ich erfand sogar eigene Musik.
Eigene Melodien, eigene Texte.
Einmal gab es sogar einen Auftritt mit der gesamten Band, wo mein Lied gespielt wurde.

Ich war so stolz auf mich. Damit war ich allerdings allein.
Eine Aufnahme gibt es nicht.

Meine Familie war nicht dabei.

Es war nicht verwunderlich, dass wir auch bei Liebeskummer auf uns allein gestellt waren.
Über Gefühle wurde sich lustig gemacht. Das war ziemlich demütigend.
Also sprachen wir zuhause nie darüber. 
 
An der Schule gab es einen Sozialpädagogen, Michael B..
Ich wurde auf ihn aufmerksam, weil er ein Programm für Kinder hatte, 
welches bei Lernschwierigkeiten helfen sollte. 
So lernte ich ihn kennen. Ich sprach mit ihm.
Über mich. Über zuhause.
Endlich gab es jemanden, an den ich mich wenden konnte.
Er hörte mir zu und es tat gut.
Das erste Schuljahr bin ich oft zu ihm gegangen.
Er war die erste Person, der ich vertraute.
Er versuchte mich aufzumuntern und fragte viel nach.
Ich fühlte mich verstanden und nicht mehr ganz allein.
Michael B. blieb bis zum Ende der siebten Klasse
und verliess dann die Schule.
1997 Gefühlschaos
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

1997 Gefühlschaos
Es war der 18.09.1997 als ich Alex kennen lernte.
Ein Tag, den ich nie vergessen werde. Er war meine erste grosse Liebe. 
Es hielt nicht lange, aber nachgeweint habe ich Jahre.
Ich habe das erste Mal erlebt, was es bedeutet richtig zu lieben und zu leiden.
Ich hatte meinen ersten grossen Liebeskummer, den ich kaum in den Griff bekam.
Ich war nicht in der Lage, meinen Schmerz zu kontrollieren. Tag für Tag quälte ich mich.  
Zuhause hätten sie gelacht.

Weiterhin trennte sich unsere Band und die Freundschaft mit Jasmin lebte sich auseinander.
Eine Krise. Neue Freundschaften haben sich nicht ergeben.
Ich wusste nicht viel mit mir anzufangen.

Da war ich froh, als ich Fanny zufällig traf.
Sie ging damals mit mir in den Kindergarten und wohnte auf dem Nordring. 
Wir verstanden uns auf Anhieb gut und sie nahm mich mit zum Jugendzentrum.
Ich lernte ihre Clique kennen. 

Ich fühlte mich sofort angenommen. 

Ich wollte nur dazu gehören.
Ich wollte einfach nur dazu gehören.
Step 3: Ich sterbe innerlich
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

Step 3: Ich sterbe innerlich
25. Oktober 1998 

Es ist schon Nachmittag und ich gehe, wie jeden Tag zum Jugendzentrum.

Seit einiger Zeit habe ich endlich Freunde. 
Fanny, Sida und die Jungs.
Mir wurde verboten, mich mit ihnen zu treffen. Sie haben alle einen Ruf als Schläger.
Wen sie nicht mögen, der wird zusammengeschlagen. Manchmal ohne Grund.
Ich weiss das, mir ist es egal.

Wir verbringen seit Wochen jeden Tag zusammen.
Ich gehöre zu einer Clique, vor denen viele Angst haben. Ich verstehe mich aber gut mit ihnen.
Sie geben mir das Gefühl in Ordnung und sicher zu sein, so wie ich bin.
Ich fühle mich verstanden. Ich spreche nicht viel, aber trotzdem darf ich bei ihnen sein.
Ich mag sie alle sehr gern.
Sida ist Fannys beste Freundin und wir sind oft zu dritt unterwegs.

Einen Tag war ich mit Sida allein unterwegs.
Fatal.
Sie hatte eine Idee. Sie sagte: "Lass uns bei Fannys Mama anrufen und uns als Jugendamt ausgeben. Wir erzählen, dass sie Mist gebaut hat. Anrufen musst du aber, weil ihre Mama meine Stimme sofort erkennt." Ich stimmte zu und dachte mir nichts dabei.
Es sollte ein Spass sein und ich wollte auch kein Spielverderber sein.
Ein schlechtes Gewissen hatte ich trotzdem. Ich hätte nicht ahnen können,
was das für Folgen haben wird.

Es ist heute ein paar Tage her, als wir dort angerufen haben.
Es ist bald 17 Uhr, da treffen wir uns.
Ich trage eine helle Jeans,eine Schlaghose, hellbraune Buffalos und eine graue, warme Bomberjacke. Buffalos trug nicht jeder.
Ich habe für die Buffalos mein Sparbuch leer geräumt,
um sie mir kaufen zu können. Gedurft habe ich das nicht. Ich wollte aber dazu gehören, also tat ich es dennoch.
Auf dem Weg zum Jugendzentrum schminke ich mich ein wenig,
obwohl mir auch das verboten wurde.

Verbote über Verbote.

Heute ist es kalt und regnerisch.
Manchmal weht ein lauer Wind und es riecht nach Herbst. Der Boden ist nass, überall liegt Laub.
Es wird bereits dunkel.
Die Strassenlaternen gehen an.

Ich höre schon von Weitem, wer beim Jugendzentrum steht. Es sind noch nicht alle da.
Der Weg über die Brücke, war mir früher schon unheimlich und auch heute ist es mir mulmig.
Es waren schon immer Cliquen dort. Ich mochte es nie dort her zu gehen.
Diese Clique gab es noch nicht so lange. Ich komme an und begrüsse alle.
Es scheint ein ganz normaler Tag zu sein. Wir unterhalten uns.

Wie jeden Tag.

Dann kommt ein Bus. Die Haltestelle ist direkt beim Jugendzentrum.
Einer der Jungs hat Sida und Fanny im Bus gesehen. Ich freue mich auf sie.
Einer von ihnen meinte, dass sie was getrunken hatten
und die ganze Nacht unterwegs waren. 
Die beiden kommen nicht allein.

Sie sind zu viert.

Amelia, ich hatte sie schonmal gesehen aber wirklich gekannt habe ich sie nicht.
Tomtom, sie war aus Köln, eine völlig Fremde. Sie war nie zuvor hier gewesen.
Wieso sind sie dabei? Die Vier kommen näher, begrüssen alle und Fanny sagt zu mir:

"Wir müssen reden."

Ich bekomme Angst. Mein Herz pocht. 

Jedes Mal, wenn sie das zu jemandem sagten, haben sie zugeschlagen.
Das haben sie öfter gemacht und ich habe es gesehen.
Ich blieb immer im Hintergrund und sah zu, wie sie Andere zusammenschlugen.
Ich fühle mich nicht gut.
Ich weiss, dass etwas nicht stimmt.
Wir gehen zusammen ein Stück, abseits dem Rest der Clique.
Sie können uns nicht mehr sehen. 

Es ist dunkel.
Kalt.
Ich bin allein.

Ich höre nur die Frage: "Was soll der Scheiss?" 

Es wird laut.

Fanny schreit. Im gleichen Moment schlägt sie das erste Mal zu.
Sie schubst mich nach hinten und schreit.

Sie schlägt zu, wieder und wieder.

Ich versuche mich zu erklären.
Sie schreit und schubst mich immer weiter nach hinten in die Gasse.
Sida ist dabei. Es war doch ihre Idee. Ich versuche es zu erklären.

Keine Chance.

Sie schlägt zu, immer und immer wieder.

Auch Sida schreit: " Was hast du den Jungs über mich erzählt?
Ich war mit einem Anderen unterwegs?" "Nein! Wieso sollte ich das tun?", antwortete ich.

Ich versuche mich zu wehren, aber es ist sinnlos.

Amelia und Tomtom werden auch laut, schlagen mit zu.
Ich kann nichts mehr verstehen, alles fühlt sich weit weg an.

Schreie, Schläge, Tritte. 

Alles ist durcheinander.
Ich versuche mich zu wehren, aber ich habe keine Chance.
Immer wieder Schläge ins Gesicht und Tritte in die Beine.

Ich fange an zu bluten.
Ich habe Angst.

Ich lasse es einfach über mich ergehen. Wehren kann ich mich nicht. Ich höre eine Stimme: " Es reicht! Sie blutet schon!" Jeder von ihnen schlägt ein letztes Mal zu.
Sie hören auf.

Endlich.

Stille.

Was ist nur passiert? Wieso?

Ich gehe einfach weg, gehe Richtung Strasse.

Schnell. Immer schneller.

Ich brauche Hilfe.

Kann mir jemand helfen? Ich blute und gehe weiter an der Hauptstrasse entlang zum nächstgelegenen Restaurant.
Ich öffne die Tür und gehe direkt auf die Theke zu.
Eine Bedienung steht direkt dahinter und ich bitte sie, die Polizei zu holen.

Blutend.

Ängstlich.

Ich weine. "Bitte. Holen Sie die Polizei!".
Sie vertröstet mich: "Geh doch erstmal ins Bad und wasch dein Gesicht."
Ich geh ins Bad und sage wieder und wieder: "Bitte holen Sie die Polizei!"

Weinend.

Ich muss die Blutung stoppen.
Warten die Vier draussen auf mich? 

Die Bedienung ist weg. Wo ist sie hin?

Es hat niemand angerufen. Die Polizei wird nicht kommen.
Ich muss hier weg, gehe aus dem Bad raus und
schaue vorsichtig ob sie noch da sind.
Ich habe solche Angst. Sie sind zurück zum Jugendzentrum, ich kann sie dort hören.
Ich muss nach Hause, aussen herum, damit sie mich nicht sehen.
Ich brauche Hilfe.

Die Spuren sind deutlich zu sehen.

Auf dem Weg nach Hause, in Gedanken. Keine Schmerzen. Angst.

Es regnet.

Ich bin fast da. Meine Gedanken werden leer.
Ich öffne die Tür und meine Mutter kommt mir entgegen.
Sie sieht mich an und fragt was passiert sei.
Als ich es ihr erkläre kommt aus dem Wohnzimmer Geschrei:
"Das war noch nicht genug. Selbst schuld, wenn sie dorthin geht."

Er hat mich nicht einmal gesehen.

"Geh doch erstmal ins Bad und wasch dein Gesicht.
Morgen sieht die Welt wieder anders aus!", sagt sie.

Nein. Nichts ist in Ordnung.
Ich wurde von Leuten zusammengeschlagen, die meine Freunde waren,
denen ich vertraut habe.

Ich bin hilflos.

Mit vier Personen sind sie auf mich drauf.  
Was ist nur mit euch los?
Ich gehe ins Bad und wasche wieder mein Gesicht. 

Morgen ist Montag und ich habe ein Praktikum beim Friseur. 
Mein Gesicht sieht schlimm aus.

Ich frage: "Muss ich morgen dahin? "
"Natürlich! Dein Lehrer kommt morgen zu Besuch und guckt wie das Praktikum läuft!", antwortet sie. Was werden nur die Kunden sagen, wenn die mich so sehen? 
Ich lasse mir ein heisses Bad ein.

Fühle mich leer.
Ohnmächtig.
Hilflos.
Tot.
Ich gehe schlafen.
Auszug: Posttraumatische Belastungsstörung
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

Auszug: Posttraumatische Belastungsstörung
Auszug aus Wikipedia:

[...] Der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gehen definitionsgemäß ein oder mehrere belastende Ereignisse von außergewöhnlichem Umfang oder katastrophalem Ausmaß (psychisches Trauma) voran. [...]

Die PTBS tritt in der Regel innerhalb eines halben Jahres nach dem traumatischen Ereignis auf und geht mit unterschiedlichen psychischen und psychosomatischen Symptomen einher. Häufig treten im Verlauf einer PTBS noch weitere Begleiterkrankungen [...] und -beschwerden auf [...]. Oftmals kommt es – neben den typischen PTBS-Grundsymptomen einer vegetativen Übererregbarkeit und des Wiedererlebens traumatischer Erinnerungen [...], sogenannten Flashbacks– auch zu einem Gefühl von „emotionaler Taubheit“ (Numbing) und der Hilflosigkeit und zu einer Erschütterung des Ich- und Weltverständnisses durch das traumatische Erleben.

Allgemeine Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung:

  • anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis oder wiederholtes, sich aufdrängendes Wiedererleben des Traumas, Flashbacks, Albträume, die mit dem traumatischen Erleben in Verbindung stehen (dabei können oft kleine Auslöser (Trigger) beispielsweise ins Bewusstsein einschießende Bilder, Wahrnehmungen, aufdringliche Gedanken oder Vorstellungen hervorrufen oder heftige Emotionen auf das traumatische Erlebnis wachrufen, als ob es in der Gegenwart geschehen würde, selbst, wenn sich manche Betroffenen nicht mehr bewusst daran erinnern können, was tatsächlich passiert ist)
  • Vermeidungsverhalten (Betroffene vermeiden [...] Umstände, die der Belastung ähneln [...]
  • körperliche Symptome einer vegetativen Übererregung und einer erhöhten psychischen Sensitivität:
    • Schlafstörungen
    • erhöhte Schreckhaftigkeit
    • Zittern
    • Ängste
    • Konzentrationsstörungen
  • emotionale Taubheit, Interessen- und Gefühlsverflachung oder -losigkeit, Entfremdungsgefühl gegenüber Mitmenschen, der Welt, dem eigenen Leben
  • emotionaler und sozialer Rückzug
  • Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins
Nach Abraham Maslow gehört das Bedürfnis nach Sicherheit zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Menschen ziehen eine sichere, berechenbare, kontrollierbare Umgebung einer Umgebung vor, die gefahrvoll, unkontrollierbar und wenig berechenbar ist.

Normalerweise lernt der Mensch im Laufe seiner Kindheit und Jugend, dass seine Bedürfnisse nach Sicherheit und Schutz vor Gefahren befriedigt werden - eine Ausnahme bilden hier Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt wurden (auch emotional). [...]

Nach einem Trauma scheint die Welt nun feindselig, unberechenbar und chaotisch. Die Überzeugung, dass die Welt verlässlich ist, geht verloren.

Das Auftreten von Symptomen ist variabel, beispielsweise können diese sowohl direkt nach Erleben des Traumas als auch mit einer Verzögerung von vielen Jahren oder Jahrzehnten auftreten.

Der Tag danach
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

Der Tag danach
26. Oktober 1998

Es ist Montag. Mein Wecker klingelt.
Was habe ich da nur geträumt. Müde stehe ich auf und gehe ins Bad.
Ich fühle mich schlapp. Ich sehe in den Spiegel.
Mein Auge angeschwollen. Blau. Ich sehe schlimm aus.

Es war kein Traum.

Ich muss mich fertig machen, ich muss zum Praktikum.
Ich ziehe mich an. Wieder und wieder schau ich in den Spiegel und sehe mein Gesicht.
Ich versuche es zu verdecken, aber die Schwellung ist zu gross.

Ich sehe schlimm aus.

Ich ziehe eine andere Jacke und andere Schuhe an, denn die von gestern sind voller Blut.
Ob ich es raus waschen kann? Was sollen nur die Leute von mir denken, die mich so sehen?
Ich verlasse das Haus und gehe Richtung Jugendzentrum zur Arbeit.

Die Gedanken sind leer.

Alles erscheint irreal. Unwirklich.

Auf halbem Weg ist der Friseur, wo ich mein Praktikum mache.
Ich klopfe an und sie öffnen mir die Tür. Sie fragen nicht.
Ich gehe hinein, hänge meine Jacke auf und koche Kaffee,

wie jeden Tag.

Als sei nichts passiert. Ich schalte den CD-Player an,

wie jeden Tag.

Es läuft immer die gleiche Musik. Es sind die Bravo Hits 27.
Leise läuft die Musik im Hintergrund.

Die Musik, sie stört.
Ich ertrage keine Musik.

Menschen, überall Menschen.
Ich ertrage sie nicht.

Ich schaue, ob etwas vorbereitet werden muss. Funktioniere. 
Die ersten Kunden kommen. Ich gehe ihnen entgegen und muss die Jacken abnehmen.
Ich fühle mich unwohl. Ich möchte niemanden anfassen, keine Jacke abnehmen.
Keine Umhänge umlegen und dabei lächeln.
Ich möchte niemanden sehen und nichts hören.
Der Abend wiederholt sich immer wieder in meinem Kopf.
Ich möchte nach Hause. Allein sein.

Da kommt mein Lehrer. In dem kleinen Wartebereich, direkt am Eingang, setzen wir uns.
Er fragt: "Was ist mit deinem Auge passiert?"
Ich erkläre es ihm.
In meinem Kopf läuft der Film.

Immer und immer wieder.

Ich kann ihm nicht zuhören.
Was fragt er mich? Ich kann ihm nicht folgen. Es ist uninteressant. Egal. Alles ist egal.
Ich antworte einfach, dass mein Praktikum gut läuft, ich aber gerne nach Hause möchte.
Mir geht es nicht gut. "Es ist ja nur noch die Woche!", antwortet er.
Er geht. Meine Gedanken drehen sich im Kreis.
Ich muss weitermachen.
Es ist schon Mittag und ich kann eine Stunde in die Pause. Ich gehe nach Hause.
Es wird keiner da sein.

Ich fühle mich leer.
Allein.
Hilflos.
Die Monate danach
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

Die Monate danach
Ich beendete mein Praktikum und ging wieder zur Schule.
An meinem leeren Gefühl änderte sich nichts.
Die Angst, sie blieb.
Ich versuchte eine Praktikumsmappe zu erstellen,
konnte mich aber nur an die erste Woche erinnern.
Ich hatte absolut keine Ahnung, was ich in der zweiten Woche gemacht habe.
 
Meine Leistungen nahmen stark ab. Ich konnte dem Unterricht nicht mehr folgen.
Mittlerweile hat sich die ganze Clique gegen mich gestellt.
Immer, wenn sie mich sahen riefen sie mir Worte hinterher,
die ich kaum wiedergeben mag. Täglich.

Ich hatte Angst.
Angst das Haus zu verlassen.

Ich bekam immer wieder Drohungen.
Der Tag kehrte immer wieder in meinem Kopf zurück.

Er wiederholte sich.
Immer wieder.

Wenn sie mich finden, würden sie mich wieder zusammenschlagen.
Niemand war da, weder meine Eltern, noch die Lehrer.
Ich beschränkte mich darauf, mit dem Bus zur Schule
und schnellstmöglich wieder zurück zu fahren.
Ich traf keine Freunde. Ging nicht mehr raus. Ich blieb in meinem Zimmer.
Dort war ich sicher. Aus Tagen wurden Wochen. Aus Wochen wurden Monate.
Mittlerweile habe ich mich von allen entfernt. Die Drohungen nahmen nicht ab.
Meine Leistungen wurden immer schlechter.
Nach mehreren Monaten voller Drohungen,
erhielt ich eine Sprachnachricht auf meine Mailbox.
Sonst hatten sie mir die Drohungen ausrichten lassen. Ich fing an zu weinen.
Das war das erste Mal, dass meine Mutter reagierte.
Sie sagte: "So das reicht. Wir machen eine Anzeige."

Endlich. Nach Monaten sollte endlich was passieren. Ich stimmte zu und wir fuhren zur Polizeistelle.
Wir mussten warten. Ein kahler Flur war es, in dem wir sassen. Die Wände weiss, nur ein paar Stühle im Flur. Keine Bilder.

Lieblos.

Leer.

So fühlte ich mich, aber ich hatte Hoffnung. Eine kleine Hoffnung, dass es endlich aufhört.
Als wir hereingerufen wurden, erzählte ich alles.
Ich erzählte von den Drohungen und der Körperverletzung vor Monaten.
Jedes kleine Detail konnte ich wiedergeben.
Als ich die Namen nannte, war der Polizeibeamte wenig erstaunt.
Das Strafregister der beiden war lang. Sehr lang.
Er gab uns wenig Hoffnung etwas zu erreichen,
da die anderen Taten bereits ausreichten um die Beiden zu bestrafen.
Meine Anzeige war überflüssig. 
Nachdem wir die Polizeistelle verlassen hatten, fuhren wir nach Hause.

Innerlich leer.

Der Film wiederholte sich,
immer und immer wieder.

Es wurde nicht besser. Ich ging weiterhin nicht raus.
Ich hatte Angst. Eine kleine Hoffnung blieb, dass meine Anzeige verhandelt wird.
Wochen später erhielt ich Post. Es war die Entscheidung.
Ich öffnete den Brief und las: "Die Anzeige wird fallen gelassen, da genug Straftaten für eine Verurteilung vorliegen."

Das wars. Mehr nicht?
Auszug: Depressionen
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

Auszug: Depressionen
* Auszug aus Wikipedia:

"Die Depression [...] ist eine psychische Störung bzw. Erkrankung. Typische Symptome einer Depression sind gedrückte Stimmung, Grübeln, das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und ein verminderter Antrieb. Häufig gehen Freude und Lustempfinden, Selbstwertgefühl, Leistungsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und das Interesse am Leben verloren. Lebensfreude und Lebensqualität sind dadurch oft beeinträchtigt."

Die Hauptsymptome sind:

  1. Gedrückte, depressive Stimmung: Die Depression ist charakterisiert durch Stimmungseinengung oder bei einer schweren Depression das „Gefühl der Gefühllosigkeit“ bzw. das Gefühl anhaltender innerer Leere.
  2. Interessensverlust und Freudlosigkeit: Verlust der Fähigkeit zu Freude oder Trauer; Verlust der affektiven Resonanz, das heißt, die Stimmung des Patienten ist durch Zuspruch nicht aufzuhellen
  3. Antriebsmangel und erhöhte Ermüdbarkeit: Ein weiteres typisches Symptom ist die Antriebshemmung. Bei einer schweren depressiven Episode können Betroffene in ihrem Antrieb so stark gehemmt sein, dass sie auch einfachste Tätigkeiten wie Körperpflege, Einkaufen oder Abwaschen nicht mehr verrichten können.

Die Zusatzsymptome sind:

  1. verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
  2. vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
  3. Schuldgefühle und Gefühle von Minderwertigkeit
  4. negative und pessimistische Zukunftsperspektiven (hoffnungslos): [...] das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der Hilflosigkeit oder tatsächliche Hilflosigkeit
  5. Suizidgedanken oder -handlungen: Schwer Betroffene empfinden oft eine völlige Sinnlosigkeit ihres Lebens. [...]
  6. Schlafstörungen
  7. verminderter Appetit
Step 4: Der erste Tag in der Stadt
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

Step 4: Der erste Tag in der Stadt
Ein Jahr ist schon vergangen und ich bewege mich nur vor meiner Haustüre.
Die Anzeige ist durch und hat nichts gebracht. Ich habe immer noch Angst raus zu gehen.
Angst der Clique zu begegnen, sie würden mich fertig machen.
Verbal.
Trotzdem war es schon ein Jahr her, dass ich woanders war,
als in der Schule oder zuhause. Das kann so nicht weitergehen.
 
Ich verabrede mich mit einer alten kurzweiligen Freundin aus Kindergartentagen. 
Ich habe sie lange nicht gesehen und würde mich vielleicht freuen sie zu treffen.
Freude, was ist das?

Sie schlägt vor, dass wir uns in der Stadt treffen.
Keine gute Idee, meine Angst ist sofort da. Egal.

Mein Kopfkino läuft wieder in Dauerschleife. Ich werde trotzdem fahren.
Es wird schon nichts passieren. Eine leichte Zuversicht stellt sich ein.
Ich steige in den Bus ein und fahre in die Stadt.

Ich fühle mich unwohl unter den Menschen. Schaue mich um. Ist jemand in diesem Bus von ihnen? Kenne ich irgendein Gesicht? Der Bus kommt mir überfüllt vor. Zum Glück ist der Weg nicht weit. Dennoch kommt es mir ewig vor.

Ich treffe am Bahnhof ein und warte ein paar Minuten, bis sie kommt.

Das habe ich ganz gut gemacht bis hierher. Ich war solange nicht mehr unterwegs.
Ich fühle mich nicht sicher. Schaue mich um. Scheint alles gut zu sein.


Es kommt ein Bus reingefahren. Vorne steigen Leute ein.
Ich habe sie nicht gesehen. Ich hätte sie sehen sollen.

Ich bekomme Angst.
Panische Angst.

Ich hoffe, sie sehen mich nicht. Das Herz pumpt.
Ich würde am liebsten weglaufen. Es lähmt mich, sie zu sehen. 
Zwei Jungs aus der alten Clique.
Sie gehen in den Bus nach hinten durch. 
Sie sitzen nun direkt am Fenster auf meiner Seite. Sie haben mich gesehen.
Das Fenster ist ein Spalt geöffnet.
Es ist über ein Jahr her und ihnen reichte es nicht.
Sie rufen schlimme Dinge aus dem Bus. Ich schäme mich.
Es sind viele andere Leute an dem Bahnsteig. Jeder kann es hören.
Sie rufen immer mehr. Sie bespucken mich aus dem geöffneten Fenster.

Ich komme mir völlig erniedrigt vor.

Es ist widerlich.
Sie lachen.

Der Bus fährt los. Ich stehe einfach nur da.
K
ann mich nicht bewegen. Alles fühlt sich weit weg an.
Ich bleibe stehen und weiss nicht, was ich tun soll.
Es ist so erniedrigend vor so vielen Menschen beschimpft und bespuckt zu werden.

Mein Körper ist angespannt.
Starr.


Ich will hier weg. Ich nehme den nächsten Bus nach Hause und sage das Treffen ab.
Meine Erinnerungen, meine Angst, meine Hilflosigkeit...es ist mehr denn je zu spüren.
Wäre ich nur einen Bus früher oder später gefahren,
wäre ich nicht auf die Beiden getroffen.

Es muss Schicksal sein. Ich muss es verdient haben. Ich fühle mich schuldig.
Die Zeit am Brunnen
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

Die Zeit am Brunnen
Trotz der Begegnung in der Stadt hatte ich Ende 1999 genug.
Ich wollte nicht mehr zuhause sitzen.
Mir ging es nicht gut.
Meine Gedanken waren jeden Tag gleich und ich hielt es nicht mehr aus.
Ich musste mich ablenken.

Ich war bereit raus zu gehen, aber nur die Wege wo mich keiner sehen konnte.
Nicht in die Stadt. Da war es zu gefährlich.
Die Wege, wo ich niemanden der alten Clique erwartete.
Ich bewegte mich trotzdem in höchster Vorsicht und immer mit der Sorge,
jemandem zu begegnen. Das Gefühl war furchtbar.
Dort wo ich gross geworden bin, konnte ich mich nur sehr eingeschränkt bewegen.
Daher ging ich nicht sehr weit.
Mina, eine Freundin aus der Grundschulzeit, wohnte auf dem Südring.
Ihr Opa wohnte in unserem Block, ganz unten. Wir trafen uns hin und wieder.
Der Weg führte nicht am Jugendzentrum vorbei und ich ging ihn nur, wenn es hell war.
Meist blieb ich nicht lange. Ich ging davon aus, dass sich in so kurzer Zeit niemand auf dem Weg versammeln konnte und fühlte mich dann sicher ihn wieder zurück zu gehen.

Auf dem Weg hatte ich meine alte Grundschulliebe getroffen.
Der Treffpunkt seines Freundeskreises war nicht weit von zuhause weg,
an einem Brunnen. 
Ein paar andere Leute von dort kannte ich noch von ganz früher.
Es war ein neuer Versuch.
Sie wären eine Art Halt für mich, wenn ich Probleme bekommen würde.
Sie hätten hinter mir stehen können. 

Somit kam ich erneut in eine Clique, die weitaus harmloser war als die Letzte. 
Recht schnell wurde klar, dass meine alte Grundschulliebe sich verliebt hatte.
Ich liess mich auf eine Beziehung mit ihm ein, obwohl ich nichts fühlen konnte.

Ich konnte weder vertrauen, noch lieben. Ich war gefühlskalt und mir selbst fremd.
Mein Alltag war von Ängsten und Albträumen begleitet. 
Ich war froh überhaupt geliebt zu werden.

Ich fing an zu trinken. Ging hin und wieder auf Partys, wo ich nicht eingeladen war.
Ich fühlte mich gut, wenn ich getrunken hatte.

Mir war alles egal.

Ich trank einfach immer weiter.
Ich dachte mir nichts dabei, denn ich fühlte nichts.
Nichts ausser Leere.
Ich bekam einen furchtbaren Ruf, kein Wunder.

Zu der Zeit am Brunnen gab es ebenfalls Begegnungen, die mich immer weiter an den Abgrund führten. Diese Begegnungen bestärkten mich in den Gedanken,
nichts wert zu sein.

Eine Zielscheibe.

Ich bekam regelmässig Flashbacks. Immer und immer wieder lief der gleiche Film.
Ich suchte dabei weiter nach Aufmerksamkeit, die ich nirgends fand.

Die anderen Leute um mich herum wurden mir immer mehr egal,
so wie ich ihnen egal wurde.

Ich war nichts ausser einer Hülle, die sich mit Menschen umgab,
um nicht ganz allein zu sein.
2000 Ich lerne Manuel kennen
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

2000 Ich lerne Manuel kennen
Wie ferngesteuert lief jeder Tag gleich ab.
Ich ging in die Schule, konnte mich nur mässig konzentrieren,
fuhr nach Hause und ab zum Brunnen. Körperlich anwesend, seelisch tot.

Das hielt ich eine Weile durch bis ich Ende November Manuel kennenlerne.
Mina war öfters mit bei der Clique und so hatten wir besseren Kontakt.
Wir beide besuchten Manuel und seine Freunde zuhause
und entfernten uns mehr und mehr von der Clique.
Manuel rauchte Gras, sowie seine Freunde auch.
Das war spannend und wir probierten es aus. 
Ich konnte das erste Mal meine Gedanken stoppen,
aber das Gefühl des Kontrollverlustes konnte ich nicht ertragen. 
Ich rauchte selten mit.
Manuel und seine besten Freunde aber waren abhängig von dem Zeug. 

Manuel fand mich gut und verliebte sich. Wenn wir bei ihm waren, nahm er mich oft in den Arm. Zuneigung auf eine besondere Art.
Es war schön und ich liess mich auf die nächste Beziehung ein. 
Ich merkte, dass diese Liebe anders ist, als die anderen.
Ich verbrachte meine Zeit nur noch bei ihm und gewöhnte mich daran zu lieben
und geliebt zu werden.
Es war ein grosser Schritt für mich, mich auf jemanden ernsthaft einzulassen.

Manuel war ein eher unscheinbarer Mensch, fiel nicht wirklich auf.
Meine Beziehung zu ihm hielt fast ein Jahr. Er war meine erste richtige Beziehung.
Leider war Manuel abhängig. Jeden Morgen brauchte er den nächsten Hut oder Joint.
Er rauchte jeden Tag und es wurde mit der Zeit immer mehr.
Als ich ihn kennenlernte, rauchte er nicht so viel, seine Freunde schon.
Wir haben oft Playstation gespielt oder sind zusammen mit seinem Motorrad gefahren.
Er war trotzdem ein toller Mensch. Irgendwann geriet sein Leben langsam ausser Kontrolle. Ich fing an, mir um ihn Sorgen zu machen. 
Ich überlegte wie ich ihm helfen könnte.

Seinen Eltern blieben die Schwierigkeiten nicht verborgen und so kam es,
dass sie ihn in eine Entzugsklinik einweisen wollten. 
Das war die Chance ihm zu helfen, also half ich den Eltern.
Zu der Zeit war ich nicht stolz darauf, da ich ihn hintergangen habe.
Ich habe es aber für ihn getan. Er machte den Entzug und ich besuchte ihn dort.
2001 Mein Abschluss der Gesamtschule
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

2001 Mein Abschluss der Gesamtschule
Es war soweit und ich hatte meinen Abschluss der 10. Klasse.
Ich glaube, der Tag sollte feierlich gewesen sein.
Ich hatte ein Kleid, welches mir nicht so recht gefiel.
Egal. Es war einfach egal. Uninteressant.

Es war schwarz.
Schwarz war meine Lieblingsfarbe.
Schwarz fällt nicht auf. 

Die Abschlussfeier war in der Aula der Schule. Kein Gefühl hatte ich zu dieser Zeit.
Ich war kalt, aber ich hatte Manuel. Ihm gegenüber hatte ich die einzigen positiven Gefühle. Es hatte sich langsam aufgebaut und ich fühlte mich Tag für Tag besser. 

Mein Abschluss war nicht besonders, zumindest nicht für mich.
Ich sah einfach nur, wie die Zeugnisse übergeben wurden.
Alle wurden herzlich in den Arm genommen. Ich konnte das nicht.
Ich konnte so eine Nähe nicht ertragen.
Als ich aufgerufen wurde, nahm ich mein Zeugnis.
Ich liess mich in den Arm nehmen, aber es war mir unangenehm. 

Es gibt nur ein Bild von dem Abschluss, aber nicht von der Feier.
Ich erinnere mich nicht einmal, ob wir zuhause überhaupt gefeiert haben.
Richtig anwesend war ich nicht.

Es ist komisch, mich an den Tag zu erinnern.
Abends sollte noch die Abschlussparty gefeiert werden.
Es würden alle da sein und ich auch.
In der Phase war es mir unangenehm unter so viele Menschen zu gehen.
Ich fühlte mich nicht wohl.
Zumal ich wusste, dass die alte Clique dort auftauchen konnte.
Ich brachte den Abend einfach schnell hinter mich.
Das sollte mein Abschluss gewesen sein.

Eine Erinnerung ohne jegliches Gefühl.

 
Step 5: Ein Versuch auf der Handelsschule
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4.1.  Schulzeit – Meine verpasste Jugend.

Step 5: Ein Versuch auf der Handelsschule
2001

Nach den Ferien begann ich die Handelsschule.
Ich wusste nicht, was ich sonst mit mir anfangen sollte.
Meine neue Klasse war ganz nett und ich zuversichtlich, das Richtige zu tun.
Die ersten Wochen vergingen und mir ging es jeden Tag ein wenig besser.
Ich verstand mich mit den Leuten gut.
Es stellte sich heraus, dass ich mit meinem Abschluss auf die höhere Handelsschule musste. Ich musste die Klasse wechseln, nach fast 6 Wochen.
Die Hürde würde ich auch noch schaffen. Mir ging es bereits besser.

Ich lernte die neue Klasse kennen und freundete mich sogar wieder mit jemandem an.
Es war schon lange her, dass ich mich anderen Menschen etwas mehr öffnete.
Es lief ganz gut und schien wieder bergauf zu gehen.

Ein Schritt vor und zehn zurück.

Was ich nicht wusste war, dass die Person in Kontakt mit Fanny war.
Ich erfuhr es zufällig als wir uns unterhielten. Plötzlich war alles wieder da.
In meinen Gedanken wiederholte sich der Tag schon wieder. Mein Vertrauen bröckelte.
Ich versuchte den Kontakt zu reduzieren und zog mich zurück.
Ich war schon so weit, aber das versetzte mich erneut zurück.
Ich hatte das Gefühl, kein Stück vorwärts gekommen zu sein.

Es kam irgendwann der Tag, an dem ich eine erneute Drohung bekam.
Sie wurde durch die Person übermittelt, mit der ich mich angefreundet hatte. 
Meine Angst ist zurück. Enttäuschung machte sich breit.
Es hiess, dass ich nach der Schule erwartet werde, von einer Person die ich nicht mal kannte. Sie würde nur mit mir reden wollen, weil ich schlecht über sie geredet hätte.

Déjà-vu

Ich fühlte mich wieder wie gelähmt. Alles von vorne. Das würde ich nicht durchstehen.
Ich hatte es längst nicht verarbeitet, was passiert war. Nur verdrängt.
Ich hatte keine andere Wahl, als sofort meine Sachen zu packen und zu gehen.
Ich verliess die Schule an dem Tag noch vor Schulschluss und ging nie wieder zurück.

Ich gab auf. 
Freunde, sind nichts für mich. 
Leben, ist nichts für mich.
Jeder Versuch aufzustehen, scheiterte.
2001 Ich lerne Sebastian kennen
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Richtung Abgrund.

2001 Ich lerne Sebastian kennen
Der Tag von 1998 wiederholte sich ununterbrochen in meinem Kopf.
Es war, als hätte es nie aufgehört.

Manuel betrog und verliess mich nach knapp einem Jahr Beziehung. 
Mein Halt, war die Clique vom Brunnen.

Den Kontakt hatte ich nie ganz unterbrochen und lernte dadurch Sebastian kennen.
Er war nett, machte Komplimente.
Wir fuhren oft gemeinsam mit seinem Auto durch die Strassen. Ohne Ziel.
Musik mochten wir beide gerne, also tauschten wir uns darüber aus.

Musik, das war meine Leidenschaft.
Mittlerweile konnte ich wieder Musik ertragen. Neue Musik. 

Es war schön, ein wenig Abstand zu dem ganzen Leben zu bekommen,
was ich bisher hatte. Es war entspannend. Ein wenig Ruhe kehrte ein.

Sebastian hatte eine kleine Tochter, auf die ich hin und wieder aufpasste.
Sie war gerade ein Jahr alt. So konnte er mit seiner damaligen Freundin ausgehen. 

Nach und nach verliebte er sich und gab mir zu verstehen, dass er sich trennen würde.
Ich vertraute ihm und hatte ihn gern. Er trennte sich auch ohne dass ich ihn gebeten hatte.  
Er zog in eine eigene Wohnung, die weiter von dem Dorf entfernt war.
Ich sah meine Chance, endlich daraus zu kommen.
Ich stürzte mich in die nächste Beziehung,
die mein Leben komplett an den Abgrund fahren sollte.

Wir waren oft bei ihm und ich war froh, endlich keine Angst mehr haben zu müssen.
Keine Angst mehr, den Leuten zu begegnen.
In dem Ort sind sie nicht. Nie.

Ich atmete auf. Endlich. 
Erleichterung.

Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, mir um meine Zukunft Gedanken zu machen, denn für mich zählte nur, dass ich so oft wie möglich bei ihm war.
Weg vom Nordring. Weg von der Clique.
Weg von Manuel, der mich betrogen hatte. 

Ich hatte Hoffnung, dass ich angekommen bin.
Sebastian gab mir das Gefühl, für ihn wichtig zu sein.

Es war ein neuer Versuch in ein neues Leben.

Während andere in meinem Alter eine Ausbildung hatten und arbeiten gingen,
am Wochenende in Clubs mit Freunden feierten und das Leben lebten,
versuchte ich einfach klar zu kommen. Ich versuchte aufzustehen.

Das versuchte ich immer wieder, soweit ich das konnte.
Die Enttäuschung liess nie lange auf sich warten. 
Zuletzt hatte ich einfach aufgegeben.
Ich wollte keine neuen Freunde mehr.
Die einzige Person, die ich hatte, war Sebastian.

Die erste Zeit war spannend. Ich war oft bei ihm, in seiner eigenen kleinen Wohnung. Eingerichtet war sie nur mit dem Nötigsten. Es machte mir nichts aus.
Ich war froh, dass ich das Dorf nur noch selten sehen musste.
Ich half ihm mit meinem Taschengeld aus, um Essen zu kaufen.
Er hatte oft den Kühlschrank leer und ich half ihm gerne.
Wir hatten das gleiche Hobby, den PC. Ich war ziemlich gut darin,
PCs zu reparieren und machte dies zu meiner Leidenschaft.
Zu der Zeit machte ich mir keine Gedanken, wie das Leben später laufen würde.

Sebastian war ein Mensch, der nicht unter einem bestimmten Lohn arbeiten gehen wollte. Gelernt hatte er nichts. Er lebte von Sozialhilfe und gelegentlichen Jobs,
die er schnell wieder hinschmiss. Er suchte nach dem schnellen Geld,
er baute den Kontakt zu jemandem auf, der Spielautomaten aufstellte.
2002 Mallorca
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Richtung Abgrund.

2002 Mallorca
Heute werden die Automaten das erste Mal geleert.
Ich erwarte nicht viel, aber würde mich freuen,

wenn es genug wäre für ihn, um diesen Monat über die Runden zu kommen.

Mein Handy klingelt. Er ruft an. Ich soll die Taschen packen,
wir würden gleich zum Flughafen fahren und spontan in den Urlaub fliegen.
Die Automaten hätten so viel eingenommen, dass er sich das leisten könnte.
Ich packe sofort unsere Rucksäcke und nehme nur die nötigsten Sachen mit.
Ich denke nicht nach. Ich bin bisher nie geflogen und bin so aufgeregt.
Da ist er schon. 
Wir fahren mit Bus und Bahn zum Flughafen
und entscheiden uns spontan für Mallorca. Sebastian regelt alles am Schalter und zahlt.
Ich habe keine Ahnung wie viel sie eingenommen haben mit den Automaten.
Ich vertraue ihm. Er würde sicher wissen, was er tut.

Unser Flieger geht heute hin und in 10 Tagen wieder zurück.
Das Hotel würden wir dann vor Ort suchen. 
Ich bin einverstanden. Wir fliegen nach Mallorca.
Es wird sicher ein Traum. (Wie naiv von mir)

Es geht in den Flieger und wir heben ab. Ein tolles Gefühl. 
Die Wolken, die Aussicht, es ist so schön. Ich geniesse es.

Nach einem kurzen Flug landen wir in Palma de Mallorca.
Ich bin neugierig und schaue mich überall um. So viele neue Eindrücke.

Wir nehmen unsere Rucksäcke und verlassen den Flughafen.

Es ist warm, eine schöne Luft.
Palmen, ich sehe zum ersten Mal Palmen.

Wir fahren mit dem Bus Richtung Stadt, es geht nach El Arenal.
Es ist schon Abend und überall sind bunte Lichter zu sehen, Musik kommt aus jeder Tür. 
Wir holen uns etwas zu trinken und lernen dabei jemanden kennen,
der uns ein günstiges Hotel empfiehlt.
Es ist nur ein paar Meter entfernt und hat einen kurzen Weg zum Strand,
daher nehmen wir es.

Wir buchen für die nächsten zwei Nächte mit Frühstück, für mehr reicht das Geld nicht. 

Das Geld reicht nicht? Wie, das Geld reicht nicht?

Ich bekomme Angst. Ich hatte keine Ahnung.
Ich schaue sofort nach, wieviel Geld ich dabei habe,
aber das wird nur für einen Tag reichen.
Was essen wir zum Mittag oder zum Abend, wenn kein Geld da ist?
Ich mache mir Sorgen. Wir haben aber keine andere Wahl, als eine Lösung zu finden.
Wir sind die nächsten 10 Tage auf dieser Insel, ohne Geld. 

Die zwei Tage sind schön. Wir frühstücken und schauen uns in El Arenal um,
gehen zum Strand und schwimmen ein wenig. Ich habe vom Frühstück kleine Marmeladenpäckchen mitgenommen, damit wir ein wenig zum Essen haben.
Ich mache mir keine Gedanken über die ablaufende Zeit im Hotel. 
Langsam geht sie aber dem Ende zu. 

Die zweite Nacht ist vorüber und wir müssen aus dem Hotel raus.
Ich kann es ganz gut aushalten nur zu frühstücken.
Ein letztes Mal nehme ich mir die kleinen Päckchen mit. Sicher ist sicher.   
Mit dem letzten Kleingeld kaufen wir uns mal hier ein Wasser, mal da ein Brötchen.
 
Wir müssen raus. Ich habe keine Lösung, wie wir an Geld kommen sollen.
Wir können weder zurück fliegen, noch ein Hotel bezahlen. Geld für Getränke oder Nahrung haben wir nicht. Ich habe keinen Kopf dafür verzweifelt zu sein.
Ich nehme die Situation einfach hin. Versuche das Beste daraus zu machen.

Wir sitzen am Strand und rauchen die letzte Zigarette.
Im Geldbeutel nur wenige Cent. Das reicht nicht mal für ein Brötchen.
Ich muss nachdenken.
Das Meer, es ist so schön, aber ich kann es nicht geniessen.
Meine Gedanken kreisen und ich denke und denke.
Wie komme ich nur aus dieser Lage raus?

Nach einiger Zeit habe ich eine Idee.
Wir könnten erzählen, dass unser Bargeld gestohlen wurde,
als wir im Wasser waren. Vielleicht wird uns die Airline dann helfen können.
Vielleicht bekommen wir einen Rückflug? Es ist ein Versuch wert.
Ich erzähle Sebastian meine Idee und er ist einverstanden.
Eine andere Wahl haben wir sowieso nicht.
In welche Lage hat er mich nur gebracht?

Für den Bus haben wir kein Geld, also laufen wir zum Flughafen.
Wir gehen am Strand entlang, vorbei an Ballermann 1 - 15.
Immerhin habe ich sie mal gesehen.
Es sind 12 Kilometer, ein Teil sogar über die Autobahn. 

Als wir nach einem langen Marsch am Flughafen ankommen,
teilt uns die Airline mit, dass wir eine Anzeige machen müssen.
Wir befolgen den Rat und gehen zur nächstgelegenen Polizeistation am Flughafen.
Anzeige gegen Unbekannt.  Ich fühle mich schlecht.
Wir müssen genau beschreiben, was passiert ist. 

Ich erkläre bei der Polizei: "Wir haben aus unserem Hotel ausgecheckt und gingen an den Strand. Wir wollten am Abend ein anderes Hotel suchen. Wir baten die Person neben uns, einen Blick auf die Sachen zu haben. Als wir aus dem Wasser zurückkamen, was unser gesamtes Geld weg und die Leute auch."

Ich hoffe es fliegt nicht auf.
Ich werde nervös.
Glaubt er mir?

Der Polizist fragt nach einer Beschreibung der Person.
Ich lüge und beschreibe eine Person, die mir in den Sinn kommt.
Ich habe Hunger und möchte nach Hause.
Der Polizist nimmt alles auf und gibt uns die Hoffnung,
dass wir vielleicht den Rückflug umbuchen können.
Wir müssen zunächst zur deutschen Botschaft und dort Papiere holen.
Dann müssen wir wieder zurück zum Flughafen und warten.
Die deutsche Botschaft befindet sich in Portopi,
ein Ort der mit dem Auto 10 Minuten entfernt ist.

Wir haben weder ein Auto, noch können wir mit dem Bus fahren,
daher machen wir uns auf den Weg. Zu Fuss. Die Botschaft ist 13 Kilometer entfernt.
Der Weg ist anstrengend, nicht weil es weit ist.
Es ist warm, wir haben nichts zu trinken und laufen durch die Mittagssonne.
Wir laufen zum Teil wieder den Strand entlang, vorbei an der Stadt Can Pastilla
bis hin nach Portopi. Palmen, überall Palmen. 
Ich geniesse, trotz unserer Lage, die Aussicht. 

Nach weiteren 3 Stunden kommen wir an. 
Gefunden.
Wir erzählen die gleiche Geschichte erneut. Sie glauben uns und wir erhalten Dokumente auf Spanisch, die ich nicht lesen kann.
Wir bekommen die Information, dass wir damit zum Flughafen müssen, 
um den Flug umzubuchen. Ich bin erleichtert. 
Es geht wieder zurück. Die nächsten 13 Kilometer. Langsam werde ich müde,
kann kaum noch laufen. Durchhalten. Wir haben es gleich geschafft.

Wir gehen zur Airline und geben ihnen das Dokument ab. Jetzt heisst es warten.
Die nächsten Flieger sind ausgebucht.
Wir dürfen am Flughafen warten, falls es spontan freie Plätze gibt.

Wir haben eh keine andere Wahl.
Kein Hotel, kein Geld. Nichts.

Wir fragen, ob wir etwas zum Trinken haben können, da wir sehr durstig sind.
Wir erhalten Gutscheine für die Flughafenkantine.
Dort essen nur die Piloten und das Personal der Airlines.
Es gibt dort Getränke und Mittagessen. Das ist mir unangenehm.
Wir werden auffallen dort. Dankend nehme ich die Gutscheine entgegen.

Nur mit unseren Rucksäcken bepackt suchen wir auf dem Gelände die Kantine
und gehen rein. Wir werden angeschaut. Gemustert. Von oben bis unten.
Das kommt mir bekannt vor. Ich fühle mich extrem unwohl.
Wir gehören hier nicht her, das sieht jeder.
Ich komme mir vor wie jemand von der Strasse. Mein Hunger ist gross.
Wir gehen trotzdem weiter und bekommen was zu trinken und zu essen.
Ich hatte seit Tagen nichts Warmes. Das tut gut. 

Nach dem Essen gehen wir zurück in die Halle und setzen uns in den Wartebereich.
Es ist mittlerweile Abend, Leute gehen ein und aus.
Jede Minute tönt ein Gong mit der Ansage des nächsten Fliegers.
Viele Leute gehen rein und raus.
Ich bin wirklich müde und versuche etwas zu schlafen. Es war ein anstrengender Tag.
Jede Minute dieser Gong.
Ich drehe mich hin und her. Es ist hart und ungemütlich. Ich kann nicht schlafen.
Mein Magen knurrt. Es ist bereits ein paar Stunden her, als ich das letzte Mal gegessen habe. Ich versuche es wieder und wieder. Drehe mich hin und her.
Jede Minute ein neuer Gong. Der nächste Flieger.
Irgendwann bin ich so müde, dass ich vor Erschöpfung einschlafe.

Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Wie spät ist es? Schon 5 Uhr am Morgen.
Ich gehe auf das Flughafen WC und putze mir die Zähne. Ich fühle mich dreckig.
Ich möchte nur nach Hause. Ich hoffe, dass es heute einen Rückflug für uns gibt.
Stunden vergehen.
Ich sehe nichts ausser Menschen, die rein und raus gehen.
Höre nichts ausser dem Gong. Ich bin genervt. Ich kann es nicht mehr hören.

Es ist wieder Mittag und wir dürfen erneut in die Kantine gehen,
wo wir angestarrt werden. Ich fühle mich ekelhaft.
Mein Hunger lässt mich erneut dort rein gehen. Das gleiche Spiel wie gestern.
Endlich essen. Nach dem wir fertig sind, wieder zurück in den Wartebereich.

Ich frage mal nach, ob es schon etwas Neues gibt.
Es sieht nicht gut aus. Keine freien Plätze.
Enttäuscht gehe ich zurück. Versuche wieder zu schlafen.
Ich bin so müde. Einfach nur noch müde.
Wir schnorren uns den Tag durch.

Es wird wieder Abend. Ein neuer Versuch zu schlafen. Ich verliere langsam die Hoffnung. Wann kann ich nach Hause? Ich werde über diese Gedanken einschlafen.
Es fällt mir heute leichter als gestern.
Man gewöhnt sich an die Umstände und nimmt sie so hin.
Das Hungergefühl nimmt ab und es macht mir nicht mehr viel aus.
Ich denke nur, wenn ich die nächsten Tage am Flughafen leben muss,
muss ich da irgendwie durch. 

Der dritte Tag am Flughafen.

Meine Nerven liegen blank. Ich kann den Gong nicht mehr hören
und will die Menschen nicht mehr sehen. Ich gehe wieder zum Schalter.
Ich bin vorbereitet wieder eine Absage für heute zu bekommen. Ich frage trotzdem nach.
Sie tippt wie verrückt auf die Tasten, klickt hin und her, tippt und tippt.
Das macht mich verrückt. Viele Menschen, der Gong, das Tippen. 
Ich warte immer ungeduldiger und dann teilt sie mir mit,
dass es wieder keinen Rückflug gibt. Keinen Rückflug nach Köln.
Mir kommen fast die Tränen. "Gibt es keine andere Möglichkeit?"
Sie tippt erneut, klickt wieder hin und her. 
Sie bittet mich um ein wenig Geduld. Tippen, tippen, klicken hier, klicken da, der Gong. Ich werde noch wahnsinnig.

Treffer.

Sie haben einen Flug nach Düsseldorf, wo gerade zwei Personen storniert haben. Sie fragt mich, ob dieser Flug in Ordnung wäre.
Ich hole tief Luft und bestätige, dass wir den sehr gerne nehmen möchten.
Ich möchte nach Hause.
Hauptsache weg. Ich finde schon einen Weg von Düsseldorf nach Hause.
Ich bin erleichtert. Sie buchen um. Wir fliegen heute nach Düsseldorf.
Der Flug wird am Abend gehen, so dass wir heute ein letztes Mal 
in die Kantine essen gehen. Ich musste nur noch ein paar Stunden durchhalten.
Dann bin ich weg. Weg von dem Flughafen, weg von Menschen.
Ich muss den Flughafen nie mehr sehen. Ich möchte so etwas nie wieder erleben müssen. Meine Idee hat funktioniert. Ein schlechtes Gewissen habe ich trotzdem.
Ich hatte aber keine andere Wahl.

Erleichterung.

Es ist Abend und gleich geht es los.
Ich überlege bereits wie wir von Düsseldorf nach Hause kommen.
Wir sitzen im Flieger und ich bin erschöpft. Ich schaue ein letzten Mal aus dem Fenster, fliegen ist schön, es wirkt alles so friedlich von oben, so ruhig.

Ich schaue mir das Dokument an, welches wir von der Botschaft erhalten haben.
Wir werden mit einer Bahn weiterfahren müssen.
Erst nach Köln und dann mit der Regionalbahn weiter.
Die letzten Meter müssen wir mit dem Bus fahren. 
Ich schaue mir den Fahrplan an und stelle fest,
dass wir kurz nach Mitternacht in Köln ankommen.
Die letzte Bahn, die uns weiter nach Hause bringen würde, wäre dann bereits abgefahren.

Gut, das Problem lösen wir irgendwie, wenn wir in Köln sind.
Was ist mit Tickets für die Bahn? Kein Geld, keine Tickets. Ich denke nach.
Wir könnten einfach das Risiko eingehen erwischt zu werden. Ich brauche eine Idee.
Ich könnte einfach unsere Situation erklären? Könnte erklären, dass das Dokument bestätigt, dass wir bis nach Hause fahren dürfen? 
Das könnte eine Idee sein, für den Notfall.

Wir landen und gehen direkt zur Bahnstation.
Die Bahn steht schon bereit und wir steigen ein.
Endlich. Es kehrt ein wenig Ruhe ein.

Es kommt keine Kontrolle und so haben wir den Weg bis nach Köln geschafft. 
Wir stehen mit unseren Rucksäcken am Hauptbahnhof. Wir sind dreckig.
Ich fühle mich unwohl. Wir können doch nicht die ganze Nacht am Bahnhof bleiben.

Es ist kalt. 

Ich sehe jemanden vom Bahnhofspersonal und frage,
ob es eine Möglichkeit gibt irgendwo zu warten, wo es etwas wärmer ist.
Er erklärt mir, dass es für solche Fälle eine Bahnhofsmission gibt. Sie ist an Gleis 1.
Ich weiss nicht, was eine Bahnhofsmission ist, aber wir gehen hin.
Ich brauche einfach nur einen warmen Platz zum Schlafen.

Gleis 1. Ich sehe eine Tür mit der Aufschrift "Bahnhofsmission" und klopfe.
Uns wird die Tür geöffnet und ich erzähle kurz, dass wir bis morgen früh auf unsere Bahn warten müssen und einen wärmeren Platz suchen.
Sie bitten uns rein. Freundlich.

Ich schaue mich um. Es ist ein kleiner Raum,
wo schon einige Leute mit Isomatten auf dem Boden liegen.
Hier sind überwiegend Obdachlose oder stark alkoholisierte Menschen,
die ihren Rausch ausschlafen. Es riecht unangenehm.

Sie geben uns Isomatten und wir bekommen einen Platz zum Schlafen.
Ich fühle mich unsicher. Es sind nur Männer hier. Ich bin die einzige Frau.
Ich komme mir ekelhaft und dreckig vor.
Ich bin aber zu müde, um mir lange Gedanken darüber zu machen.
Wir haben einen warmen Platz und eine Matte zum Schlafen.
Ich bin dankbar und lege mich hin.

Die Tür geht in der Nacht immer wieder auf. Es kommen neue Leute herein und andere gehen wieder heraus. Wo bin ich nur gelandet? Es wird Zeit, dass Morgen wird.
Meine Kräfte sind am Ende.
 
5 Uhr morgens. Wir werden geweckt. Unnötig.
Ich habe die ganze Nacht kaum ein Auge zu gemacht. Die Bahn kommt gleich.
Wir packen unsere Tasche zusammen, rollen die Isomatten ein.
Wir geben sie ab und ich bedanke mich für den Schlafplatz.

Wir gehen.
Was für eine Nacht.

Da kommt endlich der Zug nach Hause. 
Wir steigen ein. Eine grosse Erleichterung macht sich breit.
Jetzt ist es nicht mehr weit.

Mir fallen die Augen zu, aber ein bisschen muss ich noch durchhalten.
Nach einigen Stationen kommt tatsächlich ein Kontrolleur. Ich werde nervös.
Er kommt näher und bittet uns die Fahrtickets zu zeigen.
Ich erkläre ihm, wie geplant, was es mit dem Dokument auf sich hat. 
Er schaut es sich an, nickt und geht weiter. 
Wir dürfen weiterfahren. Wir dürfen wirklich weiterfahren.
Ich habe keine Kraft, mich darüber zu freuen.
Es ist 6 Uhr am Morgen und in einer knappen Stunde würden wir wieder zuhause sein.
Ich versuche mich ein wenig auszuruhen. Einschlafen darf ich auf keinen Fall. 

Wir sind da.

Wenn uns der Bus jetzt nicht mitnimmt, könnte uns sicher jemand abholen
oder in letzter Not könnten wir zu Fuss nach Hause laufen.
Wir steigen in den Bus ein und ich erkläre dem Fahrer das Gleiche wie dem Kontrolleur aus der Bahn. Er winkt uns durch. Wir dürfen rein.
Nur noch ein paar Haltestellen, aus dem Bus raus und ein kleiner Fussweg nach Hause. 

Schlafen.
Einfach nur schlafen.
2002 Mein 18. Geburtstag und mein Auszug
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Richtung Abgrund.

2002 Mein 18. Geburtstag und mein Auszug
Nachdem ich mich von Mallorca etwas erholt hatte, vergingen ein paar Wochen bis zu meinem 18. Geburtstag.

Es war einer der schlimmsten Geburtstage.
Mit 18 wird doch gefeiert, mit Freunden und Verwandten.
Eine grosse Party, wo alle kommen. Luftballons und Kuchen, Kerzen und Geschenke.
Menschen, die sich mit einem freuen und anstossen.

Bei mir war niemand, absolut niemand.
Es hat sich niemand gemeldet, es gab nicht einmal Geschenke. Ich habe aber auch nichts erwartet. Ich packte morgens früh meine Sachen und zog aus. Das plante ich bereits länger. 
Ich habe mich gefreut auszuziehen.
Der Ort, an dem ich gelebt habe, war für mich die Hölle.
Meine Schwester bekam ein Auto zum 18ten Geburtstag und
hatte Unterstützung bei ihrem Führerschein.
Ich hatte einfach nichts.
Ich fühlte mich furchtbar und gleichzeitig erleichtert, endlich von dort weg zu gehen.

Es war eine riesige Last abgefallen. 
Der Vermieter von Sebastian hatte bereits den Mietvertrag angepasst
und liess mich eine Bürgschaft unterschreiben.
Das war eine Voraussetzung, um dort mit einziehen zu dürfen.
Ich hatte weder eine Ahnung was genau eine Bürgschaft ist, noch dass es bereits Rückstände gab, die ich genau in dem Moment der Unterschrift mit übernommen hatte.

Happy Birthday, Melanie.


2002 Mein Leben mit Sebastian, es geht bergab
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Richtung Abgrund.

2002 Mein Leben mit Sebastian, es geht bergab
Ich hatte weder einen Job, noch Geld, noch eine Idee was ich machen könnte.
Ich wusste nichts mit meinem Leben anzufangen.
Ich war aber endlich in einer neuen Umgebung. Das war für mich das Wichtigste.

Abstand.

Wir wohnten zusammen in einer 1-Zimmer Wohnung.
Der grösste Raum war der Schlaf- Wohnraum.
Wir hatten einen direkten Zugang nach draussen, da die Wohnung im Erdgeschoss lag.
Die Balkontür führte direkt auf den Parkplatz hinaus,
weshalb wir oft die Rollos unten hatten.
So konnte nicht jeder direkt in die Wohnung reinschauen, wir aber auch nicht raus.
Es war dunkel. Kaum Tageslicht.

Neben dem Schlaf-Wohnraum gab es eine Küche, in der man sich gerade einmal drehen konnte und ein Badezimmer mit Dusche.
Kochen war in der Küche kaum möglich. Der Kühlschrank war immer leer.
Das Geschirr spülte ich hin und wieder in der Dusche,
da nur dort genug Platz dafür war.  
Dann gab es einen Abstellraum, ohne Fenster aber mit einem kleinen Gästebett.
Das war unsere erste gemeinsame Wohnung.

Sebastian bezog damals Sozialhilfe. Ich konnte sie nicht beantragen,
sie hätten sich an meine Eltern gewandt. Das wollte ich nicht. Sie hätten mich eh nicht unterstützen können.
Daher haben wir mit einer Sozialhilfe zu zweit gelebt. Das funktionierte natürlich nicht.
Der Kühlschrank war ab Mitte des Monats immer leer.
Wir hatten nichts. Es war weniger wie nichts. Wir hungerten regelmässig.
Das Geld reichte nicht einmal für eine Packung Nudeln oder Milch.
Ich kam aber irgendwie damit klar. Alles war besser, als wieder zurück zu gehen.
Ich wollte nie wieder zurück.

Wir machten nicht viel. Wir sassen meist am PC, klickten uns quer durch das Internet, zockten Egoshooter und hielten uns in Chats auf.
Den Anschluss konnten wir nicht wirklich zahlen und bauten so die nächsten Schulden auf.
Uns blieb nichts, ausser dem Internet.
Ich verlor nach und nach den Bezug zum realen Leben.
Ich fand das gut, denn das reale Leben hatte bisher nicht viel für mich.
Im Internet war ich anonym. Niemand kannte mich und ich konnte sein, wer ich wollte.

Musik. Ich liebte Musik. 

Ich suchte alles an Musik, was mich an gute Zeiten erinnerte.
Das war die Musik der 80er und ein Teil der 90er. Einige Titel kannte ich noch.

Ich begann mich intensiv mit Programmen zu beschäftigen,
wo ich mir die Musik laden konnte. Spotify, so etwas gab es nicht.
Ich lernte die Szene intensiver kennen und eignete mir Wissen über das Hacken an. 
Es war spannend und ziemlich zeitintensiv.
Ich lernte, mich auf andere PCs zu schalten und zog die dort vorhandene Musik.
So hatte ich nicht nur die, an die ich mich erinnerte,
sondern auch die, die ich bereits vergessen hatte.

Meine Sammlung füllte sich, sie war das Wichtigste für mich.
Die Musik war mein Leben. Meine Erinnerung an gute Zeiten, die es nicht besonders oft gab.

Die Tageszeiten wurden egal und wir hatten irgendwann das Zeitgefühl verloren.
Es war nicht wichtig.
Ich zog mich dadurch immer mehr aus dem sozialen Leben zurück.
Ich ging immer seltener raus. 
Die Menschen dort draussen wurden mir zunehmend unangenehmer. 
Da wir kaum Geld hatten um einkaufen zu gehen, wurde es zur Seltenheit.
 
Wir machten die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht.
Ich ging nur noch abends raus, wenn ich unbedingt musste.
Getränke holten wir am nächsten Kiosk, der nicht weit weg war.
Der Inhaber kannte uns schon, daher konnten wir später bezahlen,
wenn die Sozialhilfe wieder ausgezahlt wurde.

Es wurde Alltag, am PC zu hängen. Es wurde zunehmend zur Sucht.
Es war unordentlich und dreckig in der Wohnung,
denn ans Aufräumen hatte keiner von uns beiden gedacht.
Es war unwichtig. Nebensächlich. 

Sebastians Tochter kam alle 2 Wochen bei uns zu Besuch und blieb über Nacht.
Wir hatten weder Platz, noch konnten wir ihr essen oder zu trinken geben.
Sie hatte aber immer Verpflegung mit dabei, daher war das das kleinere Problem.
Sebastian kümmerte sich nicht, wenn sie da war.
Ich war überfordert, weil ich von Kindern keine Ahnung hatte.
Sowieso hatte ich ganz andere Sorgen. Ich wollte sie nicht da haben.
Das war kein Ort, wo ein Kind hingehört.

Ich sagte nie, dass es mich stört und versuchte wie immer,
das Beste aus der Situation zu machen.
Wir konnten nichts mit ihr unternehmen, denn dazu fehlte das Geld.
Wir schliefen meist lange, weil wir bis in die Nacht am PC gesessen haben.
Sebastians Tochter war dagegen früh wach.
Sie hätte gewickelt werden müssen, aber er blieb liegen.
Ich versuchte, so gut ich konnte, mich um sie zu kümmern.
Das fiel mir schwer, war kaum in der Lage.

Das erste Jahr verging und ich merkte nicht was mit mir passierte.
Step 6: Mein Weg in die Sozialphobie
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Richtung Abgrund.

Step 6: Mein Weg in die Sozialphobie
2003

Die Probleme begannen, als Sebastian nur noch den PC im Kopf hatte.
Ich wollte nicht mehr alle 2 Wochen auf seine Tochter aufpassen.
Nach und nach zeigte er sich desinteressiert. Er war in seiner eigenen Welt.
Wenn ich schlafen wollte, fiel es mir schwer.
Durch den Schlaf - Wohnraum den wir hatten,
hörte ich das Klicken der Maus und es störte mich.
Ich hatte ihn gebeten, den PC auszuschalten.
Es störte ihn aber nicht, stattdessen hiess es, ich solle ruhig sein und schlafen.
Einfach meinen Mund halten.
Er wollte seine Ruhe haben, wenn er im Internet ist.
Abwertend. Wertlos. Völlig egal. Ich störte ihn, in dem ich anwesend war.
Ich ging in den Abstellraum, zum Schlafen.

Dort gab es ein kleines Gästebett, aber kein Fenster.
Immerhin konnte ich die Tür schliessen. Ich weinte.
Er zeigte mir auf seine Art, dass ich nichts wert war.
Jeden Tag nahm ich es hin. Ich wehrte mich nicht, kämpfte nicht.
Ich fühlte mich, als gehörte ich nirgendwo hin.
Ich blieb aber dort, weil ich nicht zurück wollte.
 
Das war erst der Anfang. Je mehr Zeit verging, desto unberechenbarer wurde er.
Solche Situationen häuften sich bis zu dem Tag,
an dem er das erste Mal handgreiflich wurde und mich beinahe geschlagen hätte.
Wir haben uns gestritten und ich ging in einen kleinen Eingangsflur.
Er hatte mich ausgesperrt und lies mich nicht mehr rein.
Seine Tochter war am Schlafen.
Ich bat ihn mich rein zu lassen, klopfte bis er die Tür öffnete.

Er hatte einen solchen Zorn in seinen Augen und hielt mich am Pullover fest.
Mit wütendem Blick schrie er mich an und hielt schon die Faust oben.
Ich fing an zu weinen und bat ihn mich los zu lassen. Das tat er dann auch.
Bitterlich weinte ich, weil ich mich hilflos fühlte. Schon wieder.

Ich lief ins Bad und schloss mich dort ein. Ich war innerlich zerrissen.
Ich weinte so sehr und sank in mich zusammen. Es störte ihn nicht.
Ich weinte solange bis ich müde wurde und schlief auf dem Badezimmerboden ein.
Er kam nicht. Er kam nie.

Es entwickelte sich ein Schmerz, den ich mit weinen nicht mehr unter Kontrolle bekam.
Ich fühlte mich komplett hilflos. So wie damals, diesmal war es schlimmer.
Ich wollte diesen Schmerz nicht mehr ertragen müssen
und griff das erste Mal zu einem anderen Mittel. 

Während ich oft völlig zerstört am Boden lag und meine Tränen kaum unter Kontrolle bekam, hatte ich meine Fingernägel immer fester in meinen Arm gedrückt.
Das beruhigte mich, reichte mir aber irgendwann nicht mehr.
Ich nahm einen spitzeren Gegenstand, mit dem ich meinen Arm verletzte.
Es war ein befreiendes Gefühl einen körperlichen Schmerz zu haben,
statt dem seelischen Schmerz.
Ich konnte endlich aufhören zu weinen.
Ich fing an, meinen seelischen Schmerz zu verdrängen.

Ich verletzte mich von da an öfters und mein Weinen wurde weniger.
Ich war innerlich völlig kaputt, aber dass es so schlimm war, hat mir keiner angesehen.
Ich hatte eine Möglichkeit gefunden, mich selbst zu beruhigen 
um innerlich nicht völlig zu zerreissen.
 
Das machte die Situation aber nicht besser. Für mich war sie aussichtslos.
Mit der Zeit wurde es immer leerer in mir. Gefühle spielten für mich keine Rolle mehr.
Die Art, wie Sven mit mir umging machte mich kalt.
Ich fühlte nichts mehr ausser Schmerz, Enttäuschung und Angst.
Nichts anderes hatte mehr Platz.
Es gab niemanden, der mir zu der Zeit hätte helfen können. 
Ich vertraute niemanden und erzählte auf Nachfrage, dass alles in Ordnung sei.
Zu dieser Zeit entschloss ich mich bereits, nie wieder zu vertrauen. Nie mehr.
Das führte nur zu Schmerz und Enttäuschung und davon hatte ich genug.

Ich lebte in dieser Situation über zwei Jahre, hatte keine Kraft daran etwas zu ändern.
Mit jedem weiteren Tag, nahm mein seelischer Schmerz ab. Ich fühlte immer weniger.
Nach einer Weile fühlte ich den Schmerz und die Enttäuschung nicht mehr.
Es blieb aber die Angst.
Mein Leben war in einer Sackgasse. Kein Ausweg.

Wenn ich tagsüber raus ging, fühlte ich mich beobachtet.
Beobachtet von den anderen Menschen.
Ich fühlte mich unsicher, als hätte ich etwas Merkwürdiges an mir.
Ich hatte das Gefühl merkwürdig zu gehen, es würde auffallen.
Es war eine enorme Anspannung im ganzen Körper, wenn ich raus ging.
So wie damals, am Bahnhof, als sie mich so gedemütigt hatten.
Ich wollte nicht mehr raus.

Sprechen mit fremden Menschen viel mir schwer. Ich wollte nicht sprechen, das war mir unangenehm. Ich hatte das Gefühl, komisch zu sprechen. Ich war in allem unsicher, was ich tat. Das machte müde. Ich vermied es, so gut ich konnte, unter Menschen zu gehen.
Neue Leute kennenlernen war für mich mit Stress verbunden.
Es gehörte manchmal dazu, dass wir Leute kennen lernten, durch das Hobby. 
Ich strengte mich an normal zu wirken, hielt mich aber lieber im Hintergrund. 
Ich war köperlich anwesend.
Auszug: Sozialphobie
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Richtung Abgrund.

Auszug: Sozialphobie
Auszug aus Wikipedia:

"Soziale Phobien gehören innerhalb der Angststörungen zur Gruppe der Phobien. Das zentrale Merkmal sind ausgeprägte Ängste, in sozialen Situationen im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und sich peinlich oder beschämend zu verhalten."

"Menschen mit sozialer Phobie meiden gesellschaftliche Zusammenkünfte, da sie fürchten, Erwartungen anderer nicht zu erfüllen und auf Ablehnung stoßen zu können. Sie fürchten, dass ihnen ihre Nervosität oder Angst angesehen werden könnte, was ihre Angst oftmals noch weiter verstärkt. Begleitet wird die Angst oft von körperlichen Symptomen wie Erröten , ZitternHerzrasen, Schwitzen, Atemnot, Verkrampfung, Sprechhemmung und häufigen Versprechern, Schwindelgefühlen, Harndrang, Beklemmungsgefühlen in der Brust, Kopf- und Magenschmerzen, Durchfall, Übelkeit (Würgereiz) oder Panik [...] .

Um all das zu vermeiden, gehen Menschen mit sozialen Ängsten Situationen, in denen sie der Bewertung durch andere ausgesetzt sind, oft von vornherein aus dem Weg. Dies kann ein berufliches und privates Weiterkommen sehr erschweren und mitunter zu vollkommener sozialer Isolation führen. Die Störung kann über einen langen Zeitraum anhalten, zudem erkranken viele Betroffene noch zusätzlich an einer Depression oder werden abhängig von Alkohol, Beruhigungsmitteln oder anderen Drogen oder Medikamenten, welche die Symptome überdecken oder verdrängen können.

Soziale Phobien beginnen meist in Kindheit und Pubertät. [...]

2003 Meine ersten Versuche aus der Sozialphobie
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Richtung Abgrund.

2003 Meine ersten Versuche aus der Sozialphobie
Ich verkroch mich über mehrere Monate und ging wieder nicht raus.
Nur das Nötigste wurde erledigt, wenn möglich, nachts.
Immer wenn ich rausging, wurde mir komisch. Ich schwitzte selbst wenn es kalt war.
Mein Puls ständig erhöht und diese unglaubliche Unsicherheit sich zu bewegen.
Ich achtete dabei auf jeden Schritt, den ich tat.
Jedes Wort, welches ich sprach, hatte ich mir zuvor genau überlegt.
Ich handelte nur, wie es von mir erwartet wurde, aber nicht wie ich handeln wollte.
Ich war wie eine Marionette der sozialen Gesellschaft. Absolut künstlich.

Ich hatte mich selbst völlig verloren. Ich wusste nicht mehr, wer ich überhaupt war.

Ich wusste aber, dass ich so nicht weiterleben wollte.

Ich fing an, mich mit meinen Ängsten auseinander zu setzen, um mir selbst zu helfen.
Ich versuchte herauszufinden, wer ich eigentlich bin.
Ich informierte mich, was mit mir los war und versuchte durch Foren, Chats und Bücher zu verstehen, warum es mir so ging. Erstmals suchte ich mir auf diese Art Hilfe.
Durch das Lesen und Verstehen ging es mir ein Stück besser
und ich begann nach und nach öfters raus zu gehen.
Ich begann mit dem Einkaufen. Ich übte so oft ich konnte, einkaufen zu gehen.
Dennoch war mir dabei unwohl. Die langen Schlangen an den Kassen, ungeduldige Menschen hinter mir, wenn ich den Einkauf nicht schnell genug aufs Band legte.

Die Angst vor den Menschen würde mich noch lange begleiten. 

Es ergab sich nach einer Weile die Gelegenheit,
aus der Wohnung auszuziehen und eine etwas grössere Wohnung zu bekommen.
Wir hatten nun ein Schlafzimmer getrennt vom Wohnzimmer.
Die Wohnung war komplett möbliert, die Möbel für uns kostenlos.
Eine vollständige Küche, mit Herd, Schränken und grossem Kühlschrank war nun vorhanden. Die Wohnung lag in der 4. Etage und war hell. 
Keine Rollos, die zugemacht werden mussten. Tageslicht. 
 
Ein Tapetenwechsel in eine hellere Wohnung würde uns sicher gut tun.
Ich hatte wieder Hoffnung, dass er sich vielleicht ändern könnte.

Wir stellten unsere PCs in getrennte Räume, so hatte jeder seinen Freiraum.
Ich konnte endlich Luft holen. Die Gegend war schön zum Spazieren und das tat ich auch. Das Einkaufen lohnte sich, denn es war in der neuen Küche möglich zu kochen.
Ich war geübt die günstigsten Sachen zu kaufen und
damit fast einen Monat auszukommen. 

Es ging langsam bergauf. 

Nebenbei las ich weiterhin über die Sozialphobie und nach Möglichkeiten,
weiter daraus zu kommen. Ich war nach wie vor innerlich total kalt und interessierte mich nicht für andere Menschen. Das war egal.

Ich startete einen kleinen vergeblichen Versuch eine Therapie zu beginnen.
Ich suchte eine Therapeutin auf, die mir nichts anderes als Medikamente verschrieb.
Ich fragte, bei jedem Termin, wann wir beginnen würden.
Sie vertröstete mich weiterhin mit Medikamenten und ich gab erneut auf. 

Das sollte mein Schicksal sein.
Endstation.
2004 Mein Absprung
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Das Blatt wendet sich.

2004 Mein Absprung
Durch meine Präsenz in Chats und Foren lernte ich jemanden kennen,
mit dem ich durch das Internet eine Art Vertrauen aufgebaut habe. Daniel.
Er wohnte nicht in der Nähe, sondern kam aus Köln.
Wenn ich mit ihm schrieb, ging es mir gut.
Er wusste von Beginn an, dass ich nicht "normal" bin. Das redete ich mir ja auch erfolgreich ein die letzten Jahre.
Er war ein herzensguter Mensch. Witzig. Er brachte mich zum Lachen.
Ich erinnerte mich nicht, wann ich das letzte Mal gelacht habe. Er tat mir gut.
Ich wusste nicht genau, was es war, aber ich wollte es herausfinden.
Ich entschloss mich, Sebastian endlich zu verlassen.

Das fiel mir schwer.
Er war mein Anker, als er mich aus dem Dorf rausholte, wo ich die Hölle durchlebt habe.
Ich wollte ihn nicht verletzen, obwohl er mich 2 1/2 Jahre verletzte.
Ich entschied mich zunächst für ein paar Tage zu meiner Schwester zu gehen.
Sie hatte mir ihre Hilfe angeboten.
Ich packte all meine Anziehsachen, in der Hoffnung,
dass ich den Absprung schaffen würde. Völlig erleichtert stieg ich in ihr Auto.
Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, als ich in ihr Auto stieg. Sie sagte: „Na endlich“ und machte mir damit deutlich, dass sie wusste, dass es mir bei ihm nicht gut ging und froh über meine Entscheidung war.

Damit stand meine Entscheidung fest. Zurück ginge ich nicht mehr.
Ich liess mir das erste Mal helfen. Ich denke, das war der Zeitpunkt
wo mein Verhältnis zu meiner Schwester besser wurde.
Ich war ihr so dankbar, als sie mich dort abholte.

Ich merkte, dass der Abstand zu Sebastian gut tut und schrieb nebenbei mit Daniel.
Bei meiner Schwester konnte ich nicht lange bleiben. Nicht, weil sie es nicht wollte.
Mir war dabei nicht wohl. Unser Verhältnis war nie wirklich gut und
ich wollte nicht auf ihre Hilfe angewiesen sein.
Eine schwere Entscheidung war es für mich, wieder zurück zu ziehen.
Ich ging in das alte Dorf, zurück in mein altes Zimmer.
Es war die einzige Lösung, die nur vorübergehend sein sollte.
Es war in diesem Moment, die bessere Lösung als wieder zu Sebastian zurück zu gehen.

Ausserdem hatte ich Daniel.

Ich hatte durch ihn eine neue Hoffnung, einen neuen Sinn für mein Leben gefunden. 
Ich hatte mich aus dem tiefsten Punkt meiner Phobie selbst rausgeholt
und war bereit ihn zu treffen. Ich hatte gekämpft, um es für mich möglich zu machen.

Ich traf mich mit ihm und stürzte mich in die nächste Beziehung.
Er tat mir gut und ich war froh ihn zu haben.
Ich suchte mir einen Job, damit ich endlich Geld verdienen konnte.
Der Weg in die Grossstadt war schwer zu bezahlen mit dem Kindergeld,
welches ich erhielt. 

Ich stellte mich bei einer Leihfirma vor und bekam recht schnell einen Job.
Ich durfte in der Industrie anfangen an Maschinen zu arbeiten.
Es war ein gutes Unternehmen, mit einem guten Ruf, wo ich anfangen durfte.
Ich machte jede Arbeit, die sie mir zuteilten und war froh,
endlich auf eigenen Beinen stehen zu können.
Keine Arbeit war mir zu anstrengend oder zu dreckig.
Daniel hatte schnell den Plan mit mir zusammen zu ziehen, was wir umsetzten.
Ich zog wieder in die Stadt, wo ich zuvor mit Sebastian gewohnt hatte
und war das alte Dorf wieder los. Meine neue Arbeit war zu Fuss erreichbar.
Einen Führerschein hatte ich nicht. Ich war zufrieden.

Daniel hatte das Glück ebenfalls dort einen Job zu bekommen, wo ich arbeitete.
Das machte vieles einfacher. Dennoch hatte ich die Schulden von der Zeit mit Sebastian mitgenommen. Ich versuchte immer ein wenig abzubezahlen, aber es viel mir schwer.
Ich hatte endlich Geld und konnte anfangen zu leben.
Daniel und ich richteten uns eine neue Wohnung ein und haben beide verdient.
Uns ging es gut.

Die Arbeit lenkte mich ab. Ich arbeitete durch, mehrere Wochen am Stück, ohne Pause. Eine Schicht folgte der Nächsten. Feiertage, Wochenenden, kein freier Tag.
Das tat mir gut.

Meine Vergangenheit ruhte aber weiterhin in meinem Kopf.

Die Vergangenheit mit Sebastian hatte mir ordentlich zugesetzt.
Ich kam einfach nie zur Ruhe oder konnte mich von den Schlägen erholen,
die mich immer wieder zurückwarfen.

Daniel und ich verstanden uns gut. Ich glaube, er liebte mich wirklich sehr.
Ich konnte es nie so zurückgeben, da ich nicht in der Lage war, richtig zu lieben.

Wir arbeiteten in dem gleichen Unternehmen
und er liess sich sogar auf die gleiche Schicht einteilen,
damit wir zusammen zur Arbeit und zurück gehen konnten.
Er wurde immer anhänglicher und ich konnte das nicht. Ich bekam kaum Luft zum Atmen.
Seine Liebe erdrückte mich. Ich hätte mir selbst gewünscht, dass es anders gewesen wäre.
Ich zog mich ein wenig mehr zurück und versuchte aber weiterhin ihm,
soweit es mir möglich war, etwas zurück zu geben.

Mit meinem Auszug, dem neuen Job und Daniel konnte es 
endlich ein Stück bergauf gehen.

Ich hatte in der Zwischenzeit neue Kollegen kennengelernt, was ich zuvor abgelehnt hatte.
Ich hatte grosse Fortschritte gemacht. 
Ich verbrachte gerne Zeit mit ihnen. Ich wollte das für mich geniessen können.

Ich war unfair, weil ich Daniel oft nach Hause schickte und
mit den Kollegen noch etwas unternahm.
Ich brauchte öfter eine Pause von ihm, mir war das alles zu eng. 
Ich wollte die Beziehung eigentlich nicht mehr, das sagte ich ihm auch. Wir kämpften aber. Ich wollte ihm nicht weh tun. Er war wirklich ein lieber Mensch.
Ich war ihm so dankbar und er tat mir so leid, dass ich es trotzdem weiterhin versuchte.
Er hatte es nicht verdient, so von mir behandelt zu werden.
Ich blieb bei ihm.
2005 Eine Begegnung des Schicksals
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Das Blatt wendet sich.

2005 Eine Begegnung des Schicksals
Oktober

Heute nach Feierabend habe ich mich mit meinen Kollegen zum Oktoberfest verabredet.
Ich mag solche Veranstaltung nicht, aber meiner Kollegin zuliebe komme ich mit.
Sie findet unseren Vorarbeiter Fred ganz nett und er ist Single.
Er wird heute Abend auch da sein. Ich gehe nach der Arbeit erst gar nicht nach Hause, sondern direkt mit ihr zusammen zu dem Fest. Wir kommen an und gehen rein.

Es ist recht voll. Ganz wohl fühle ich mich nicht, aber ich hatte es ihr versprochen. Wir gehen zur Theke durch und bestellen erstmal was zu trinken. 
Auf dem Weg, etwas am Rand, sehen wir Fred.
Wir gehen zu ihm und er ist nicht alleine.
Er stellt uns Jonny vor. Unscheinbar steht er etwas im Hintergrund. Er sieht gut aus.
Wir unterhalten uns etwas, finden das Fest aber nicht so gut.
Deshalb fahren wir in eine kleine Bar. Wir waren schon öfters dort und es ist ganz nett.
Wir treffen auf ein paar Leute, die wir kannten und sassen in einer grösseren Runde.
 
Quer über den Tisch werde ich von Jonny nach einem Kaugummi gefragt.
Das war das Erste, was er heute sagte. 
Ich verneine und kaue fleissig mein Eigenes weiter.
Seine Antwort: "Dann gib mir deins."
Er steht auf, geht um den Tisch herum,
berührt mich kurz an den Schultern, streicht drüber und setzt sich neben mich.
Er macht mich nervös. 

"Ich bin schon lange Single. Ich sehe einfach zu gut aus. Die Frauen denken, ich wäre vergeben. Sie denken ich bin arrogant, weil ich so rüberkomme. Aber so bin ich nicht."
Er erzählt mir, dass seine Ex sich getrennt hat und er tut mir leid. Ich will ihn nicht wegstossen und höre weiter zu. Er hat schon einige Bier hinter sich und kann kaum geradeaus gucken. Er wiederholt sich. Er sieht wirklich gut aus, aber das werde ich ihm nicht sagen. Ich werde mich desinteressiert zeigen. Sowieso bin ich vergeben.
Den ganzen Abend weicht er mir nicht von der Seite.
Er wiederholt sich.
Er erzählt mir immer wieder, wie schade er es findet,
dass die Frauen nur auf sein Äusseres achten. 

Langsam wird die Bar zu voll und wir entscheiden uns,
zu viert in eine kleinere Kneipe zu gehen.
Der Pegel hatte sich schon ordentlich erhöht bei ihm.
Ich finde ihn interessant. Ich habe niemals jemanden wie ihn getroffen.
In der Kneipe sitzen wir uns gegenüber. Irgendwie fesselt mich sein Blick.

Er fragt mich nach meiner Nummer, aber ich gebe sie ihm nicht.
Er schaut mich die ganze Zeit an, weicht keine Sekunde seinen Blick von mir ab.
Ich tue das Gleiche. Wir sind völlig in unseren Blicken vertieft.
Ich vergesse mittlerweile, dass wir nicht alleine sind.
Er unterstellt mir, dass ich ihn eh nicht vergessen kann, wenn er geht.
Ich würde es sicher bereuen, meine Nummer nicht gegeben zu haben.
Ich verneine.
Er bietet mir an, mir seine Nummer zu geben.
Auch das verneine ich.
Ich werde ihn nicht gewinnen lassen. Er hatte mich bereits durchschaut.
Wir waren noch nicht lange in der Kneipe und hatten gerade unsere Getränke bekommen. Es ist eine besondere Begegnung.
Er gibt auf, schmeisst uns 20 Euro hin und geht. Wow was für ein Arsch.
Er geht. Einfach so. Ich kann es nicht glauben.
Wir bleiben ein paar Minuten sitzen, trinken leer und fahren nach Hause.

Daniel schläft schon, als ich nach Hause komme und ich liege noch lange wach.
Er hat Recht. Ich kann ihn nicht vergessen.
Ich rieche sein Parfüm an meinen Haaren. Ich schlafe über diesen Geruch ein und träume. Diese Begegnung, sie war anders wie andere bisher. 

Es ist der nächste Tag und ich habe Spätschicht.
Den ganzen Morgen kann ich an nichts anderes denken als an diesen Abend.
Ich rieche an meinen Haaren und sehe seinen Blick, seine Augen.
Die Art wie er mit mir gesprochen hatte. Ich muss seine Nummer haben. Egal wie.
Heute ist Fred auf meiner Schicht. Er hat sicher seine Nummer.

Mein erster Weg, als ich auf der Arbeit ankomme, ist Richtung Fred. 
Ich frage ihn und bettele ihn regelrecht an. Ich bekomme seine Nummer.
Ich schreibe ihm sofort: " Du hattest Recht. Ich kann dich nicht vergessen."

Ab diesem Tag sollte sich mein Leben komplett verändern.
Ich komme langsam auf die Beine
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Das Blatt wendet sich.

Ich komme langsam auf die Beine
Ich hatte noch nie jemanden getroffen, bei dem ich mir von Beginn an sicher war.
Ich wusste, dass er es ist.

Ich sah Jonny jeden Tag. Wir fuhren stundenlang mit seinem Auto durch Orte,
die ich bis dahin nicht kannte. Er zeigte mir, wie schön die Welt sein kann.
Ich hatte nach unglaublich langer Zeit das Gefühl, verliebt zu sein.
Jede noch so kleine Umarmung, jeder Blick, war so besonders.
Es war das schönste Gefühl.

Ich trennte mich nur kurze Zeit später von Daniel und
zog in eine eigene kleine Wohnung.

Eine eigene Wohnung, nur für mich.

Ich hatte ein Wohnzimmer, ein Bad und eine Küche. Mein Wohnzimmer war gleichzeitig ein Schlafzimmer.
Meine Matratze lag gleich hinter dem Sofa, welches ich günstig bekommen habe.
Ich habe fast alles in der alten Wohnung gelassen, die ich mit Daniel hatte.
Ich wollte es ihm nicht schwerer machen, als es eh schon war.
Ich fühlte mich wohl. Kaufte sogar ein wenig Deko. 
Jonny kam jeden Tag. Manchmal sogar früh morgens vor der Frühschicht.
Keinen einzigen Tag waren wir getrennt.
Ich lernte seine Freunde und seine Eltern kennen.
Meine Schwierigkeiten mit fremden Leuten schienen ein wenig durch.
Ich versteckte es so gut ich konnte.

Ich versuchte mein Leben geordnet zu bekommen.
Allein zu wohnen war ungewohnt, aber schön.
Ich konnte mich selbst sortieren.

Ein paar Wochen vergingen und wir verstanden uns blind.
Er schlug mir vor, meinen Führerschein zu machen.
Wir waren oft unterwegs und ich trank selten Alkohol.
Das brauchte ich längst nicht mehr.
Ich hätte immer fahren können. 
Ich konnte mir den Führerschein nicht leisten, daher bat er mir seine Unterstützung an.
Ich war überwältigt. Er bot mir eine Chance,
die ich nie zuvor hatte und mir nie erträumt hatte.
Ich würde ihm jeden Cent zurückzahlen und nahm daher das Angebot dankend an.

Ich hatte Schulden, viele Schulden. Es würde mir unangenehm und peinlich sein, wenn er das rausfindet. Ich versuchte, schnellstmöglich die Schulden los zu werden. Es gelang mir zum Teil mit Vergleichen und Ratenzahlungen. Ich musste nur anfangen mich wirklich darum zu kümmern.
Ein grosser Batzen waren Mietschulden. Die Mietschulden von Sebastian. 
Sebastian hatte bereits einen Job und prahlte gerne, wie viel er doch verdienen würde.
Wusste der ehemalige Vermieter das?
Ich war mit dem alten Vermieter immer wieder in Kontakt,
so dass ich ihm mitteilen konnte, wenn es Veränderungen gab.
Somit hatte sich der grosse Batzen von allein erledigt.
Ich schaffte es schuldenfrei zu werden, bevor wir uns entschieden zusammenzuziehen.
Was für ein tolles Gefühl.

Es dauerte nicht lange und ich hatte meinen Führerschein bestanden.
Ich durfte sogar sein Auto fahren. Er hatte mir so viel Vertrauen entgegengebracht.
Es standen nun mehr Möglichkeiten für mich offen, einen Job zu bekommen.
Über die Leihfirma konnte ich bisher nur in meiner direkten Umgebung arbeiten,
weil die Busverbindungen recht schlecht waren.
Jetzt konnte ich woanders eingesetzt werden. 
Jonny und ich arbeiteten eine Weile in der gleichen Gegend,
so dass wir gemeinsam fahren konnten.
Durch seinen damaligen Chef erhielt ich sogar die Chance auf eine Ausbildung.
Der Chef kannte jemanden mit einem PC-Laden. Sie hatten noch niemanden für eine Ausbildung in diesem Jahr gehabt und wollten mich gerne kennenlernen.
Ich hatte unglaubliches Glück. Ich konnte PCs reparieren und lernte unglaublich gern dazu.
Das war meine Chance.
Der Beginn der Ausbildung sollte im August 2006 sein.

Konnte es noch besser laufen?
2006 Wir sind schwanger
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Das Blatt wendet sich.

2006 Wir sind schwanger
Meine Ausbildung hatte im August begonnen und es machte mir Spass.
Es war toll mit den PCs zu arbeiten und das Wissen anwenden zu können,
welches ich mir bis dahin selbst erarbeitet hatte.
Ich lernte schnell neue Dinge und zeigte meinem Chef, was ich kann.
Er war begeistert. Ich fing an, mir neue Dinge zuzutrauen.
Die Berufsschule hatte begonnen und meine Mitschüler waren wirklich nett. 

Nach nur wenigen Tagen nach Ausbildungsstart fühlte ich mich nicht gut.
Ich war müde und mir war ständig übel.

Ich hatte schon eine Vorahnung und machte einen Test.
Schwanger.

Wir kannten uns nicht mal ein Jahr und ich war schwanger.
Ich schrieb ihm sofort.
Wir hatten es nicht geplant, aber wir freuten uns.

Wir entschieden uns zusammen zu ziehen.
So oder so verbrachten wir jede freie Minute miteinander.

Wir wurden schnell fündig und richteten uns eine grosse Wohnung ein.
Geld war nie ein Thema. Wir teilten alles.
Für ihn war es in Ordnung, dass ich nicht so viel hatte.
Wir würden gemeinsam leben und könnten es zusammen ausgeben.
Für ihn eine Selbstverständlichkeit.
Es war mehr, als ich mir je erträumt hatte.
Er war zufrieden, ich war zufrieden und wir waren schwanger.

Der Termin würde Ende April sein und
die Ausbildung konnte ich unter den Umständen nicht weiterführen.
Ein kleiner Rückschlag, aber es gab noch die Zeit nach der Geburt.

Die nächsten Wochen waren unwirklich. Es zog wie ein Film an mir vorbei.
Ich war weiterhin der Mensch, der eine schwierige Vergangenheit hatte.
Das konnte ich nicht abstellen.
Ich hatte immer wieder depressive Phasen, aber Jonny war da. Er war immer da.
Ich machte mir Sorgen, ob ich in der Lage wäre, ein Kind gross zu ziehen.
Meine Vergangenheit liesse sich nicht auslöschen.
Ich war ein Mensch, der von der Vergangenheit geprägt war.
Liebe, das kannte ich nur von Jonny und solange fühlte ich das noch nicht.

Chaos in meinem Kopf.  
2006 Der Antrag
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Das Blatt wendet sich.

2006 Der Antrag
Es war Heiligabend 2006. Wir hatten schon über das Heiraten gesprochen,
aber ich hatte nicht geahnt, dass es wirklich passieren würde.

Wir hatten unser erstes Weihnachten in unserer gemeinsamen Wohnung.
Ich war schon runder und es war bereits gut zu erkennen, dass ich schwanger war.
Die ersten Bewegungen hatte ich bereits gespürt, es war ein merkwürdiges Gefühl. 

Es war kaum zu glauben, was wir in der kurzen Zeit schon erreicht hatten.
Wir würden noch viel mehr erreichen. Zusammen.

Er machte mir einen Antrag. Ich konnte mein Glück kaum fassen.

Bei den Weihnachtsessen bei unseren Familien,
liessen wir die Bombe platzen.

Beide waren nicht sonderlich begeistert, aber das machte uns nichts aus.
Wir hatten uns und das war das Einzige was zählte.

Es war nur eine kleine Begegnung, ein kurzer Moment, der mein gesamtes Leben änderte.
2007 Wir heiraten und Kiana kommt zur Welt
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Das Blatt wendet sich.

2007 Wir heiraten und Kiana kommt zur Welt
Nur kurze Zeit nach dem Antrag machten wir uns an die Planung.
Recht schnell bekamen wir schon für den Februar 2007 einen Termin. 
Es brauchte keine grosse Feier, keine Kirche.
Ich mochte nicht im Mittelpunkt stehen, er auch nicht.
Wir waren froh, als wir die Hochzeit aufgrund der Schwangerschaft klein halten konnten.

Es war zwei Monate vor der Entbindung und ich sah furchtbar aus.
Ich hatte sehr viel zugenommen und kam kaum in meine Schuhe.
Ein Hochzeitskleid fand ich nicht,
daher nahm ich einfach irgendwas um halbwegs festlich auszusehen.

Ich machte mir nicht viel daraus und Jonny auch nicht.
Wir waren gleicher Meinung, dass es nur ein Tag von vielen ist.
Ein Stück Papier, welches wir unterschreiben. 

Die Familie kam und wir heirateten in kleinem Kreis.

Die Hochzeit feierten wir abends mit ein paar Freunden
und es entstand die schönste Videoaufnahme der Welt.
Eine Liebeserklärung an mich und an seine noch ungeborene Tochter.

Ich hatte alles was ich mir je gewünscht hatte, eine Familie.

Meine eigene Familie. 

Nur zwei Monate später war es soweit. Kiara kam zur Welt.
Die Geburt war schwierig und Kiara musste am Ende per Kaiserschnitt geholt werden.
Jonny konnte nicht dabei sein, weil es eine Vollnarkose war.
Ich hatte die Geburt meiner Tochter nicht miterlebt.
Ich konnte nicht sehen, wie er sie das erste Mal im Arm hatte.

Als ich aus der Narkose langsam wach wurde, hörte ich sie. Ich hörte sie ganz leise.
Als eine Krankenschwester reinkam und sah, dass ich langsam bei bewusst sein war,
legte sie sie mir in den Arm.
Ich sah sie an und konnte nicht glauben, dass das meine Tochter ist.
Ich sollte nun eine Mutter sein. Mein erster Gedanke war, dass sie wie Jonny aussieht.
Ich sah sie einfach nur an und schlief mit ihr im Arm wieder ein.

Die nächsten Tage im Krankenhaus blieb sie über Nacht bei den Krankenschwestern,
da ich aufgrund der OP-Narbe nicht in der Lage war, sie selbst aus der Wiege zu nehmen.

So konnte ich langsam lernen, wie ich mit ihr umgehen musste.
Ich hatte doch Sorge etwas falsch zu machen.
Sie war so klein und ich so unsicher.
 
Die nächsten Monate
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Das Blatt wendet sich.

Die nächsten Monate
Sie hatte so ein Glück. Unsere Tochter hatte tolle Grosseltern,
die sich rührend um sie kümmerten und sie liebten. 

Meine Mutter zeigte sich von einer anderen Seite.
Sie kümmerte sich um ihre Enkelin, holte sie oft ab, spielte mit ihr, ging mit ihr spazieren.
Ich lernte sie von einer anderen Seite kennen und doch fragte ich mich,
warum sie bei uns nicht so war.
Mein Vater hatte sie sehr gern und freute sich, wenn sie zu Besuch kam.

Auch meine Schwiegereltern kümmerten sich toll um die Kleine.
Sie holten sie gerne über Nacht und wir konnten unser Leben
ausserhalb vom Elternsein weiterleben. 

Wir machten uns ganz gut als Eltern, waren ein perfekt eingespieltes Team
und verstanden uns nach wie vor gut.
Ich hatte mit Jonny einen Menschen gefunden, der mich so liebte wie ich bin.
Selbst in meinen schlimmsten Phasen unterstützte er mich und war da.
Er hörte mir zu, kannte meine ganze Vergangenheit.

Das erste Jahr war vorbeigezogen, so schnell. Ich bekam es gar nicht richtig mit.
Ich wollte alles richtig machen, bloss keine Fehler.
Das war mein einziges Ziel. Unsere Tochter wurde so schnell gross.

Als ich merkte, dass es gut funktionierte ging ich wieder arbeiten.
Gelegenheitsjobs. Zumindest stundenweise. Ich brauchte das.
Ich konnte nicht mehr zuhause sitzen. 

So lebten wir die nächsten Monate und es ging uns gut.






2009 Ein grosser Verlust
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5.1.  Mein Start ins eigene Leben – Das Blatt wendet sich.

2009 Ein grosser Verlust
Im Oktober 2008 erhielten wir die schreckliche Nachricht,
dass Jonnys Mama an Krebs erkrankt ist.

Ein Schock. Unheilbar.

Sie hatten ein Haus und in der obersten Etage hatte Jonny früher seine Wohnung.

Wir entschieden uns zu ihnen zu ziehen, damit sie möglichst viel Zeit
mit Jonny und ihrer Enkelin verbringen konnte.

Ich erlebte in den folgenden Wochen mit, wie sich der Krebs entwickelte.
Mit jedem Tag und jeder Chemotherapie ging es ihr schlechter.
Sie nahm immer mehr ab und hatte Tag für Tag mehr Schmerzen.
Der Schwiegerpapa gab die Hoffnung nicht auf, er kämpfte wo es möglich war.
Wir versuchten zu unterstützen, so gut wir konnten.
Wir suchten nach Heilungsmöglichkeiten, wir versuchten alles.
Es war schlimm zu sehen, wie der Krebs fortschritt.
Alle Therapien und Medikamente halfen nicht. Wir alle waren machtlos.

Nachdem der Krebs weit fortgeschritten war, musste sie sich einer OP unterziehen.
Wir besuchten sie am Tag davor. 
Es war mir unheimlich. Wir unterhielten uns über alles Mögliche, aber etwas war anders.
Sie sah Jonny an, aber irgendwie doch nicht. Es war, als würde sie durch ihn durchsehen.
Sie unterhielt sich normal und irgendwie doch nicht.
Vielleicht ahnte sie, was passieren würde. 

An dem Tag darauf erhielten wir die Nachricht, dass die OP zunächst gut verlaufen war.
Ihr Zustand verschlechterte sich aber nach und nach.
Kurze Zeit später erhielt Jonny den Anruf, dass er abgeholt werden würde,
weil er ins Krankenhaus kommen müsste.
Sie würden warten, bis es vorbei ist. 
Jonny fuhr mit seinem Bruder und dessen Frau gemeinsam ins Krankenhaus,
ich blieb mit unserer Tochter zurück.

Ich wollte ihn in dieser Situation nicht allein lassen
und bat meine Mutter auf ihre Enkelin aufzupassen.
Sie kam sofort und ich fuhr ins Krankenhaus.

Ich wusste nicht, was mich erwarten würde und ich hatte Angst davor.
Trotzdem betrat ich das Zimmer, weil ich für Jonny da sein wollte.
Als ich die Tür öffnete schaute ich vorsichtig rein.
Ich betrat den Raum und sah sie dort liegen.
Ich nahm Jonny in den Arm und blieb an seiner Seite.
Sie lag dort. Die Familie um sie herum.
Manchmal anwesend und dann ganz weit weg.
Niemals hatte ich ein so grosses Leid oder jemanden sterben gesehen.
Sie hielten ihre Hand.
Ich setzte mich an einen kleinen Tisch und bekam furchtbare Angst.
Mein Puls, er war unglaublich hoch.
Ich liess mir nichts anmerken, denn es gab Wichtigeres.
Ihre Atmung wurde immer flacher. Uns allen war klar,
was in den nächsten Stunden passieren würde und ich hatte Angst. Alle hatten Angst.
Wir schauten nur noch auf ihre Atmung, die immer flacher wurde.
Und dann, blieb sie aus.
Es war soweit.

Stille.

Ich spürte zum ersten Mal dieses unendliche Leid, einen Menschen zu verlieren.
Ich litt mit ihnen.
Sie weinten, aber zusammen. Niemand war allein.

Eine Einheit, in einem so schweren Moment.
Das erste Mal, dass ich so ein Gefühl erlebte.
2009 Ich entscheide mich für die Abendschule
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6.1.  Mein Leben beginnt – Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss.

2009 Ich entscheide mich für die Abendschule
Wir wohnten weiterhin bei dem Schwiegerpapa im Haus
und versuchten ihn zu unterstützen, wo es möglich war.
Das Zusammenwohnen gestaltete sich manchmal etwas schwierig,
aber wir machten das Beste draus.
Es war eine schwere Zeit und wir standen es gemeinsam durch.
Es schweisste Jonny und mich mehr denn je zusammen.

Jonny hatte in mir etwas gesehen, was ich nie sah.
Er wusste, dass aus mir etwas werden konnte.
Nicht nur er, sondern auch unsere Tochter war meine Motivation 
mehr aus meinem Leben zu machen.
Ich wollte ihnen ein gutes Leben bieten und es meiner Familie
und allen anderen beweisen.

Ich entschied mich, mein Abitur zu machen. 

In der Nähe gab es eine Abendschule und es sollte 3 1/2 Jahre dauern.
Jonny war einverstanden und stand zu meiner Entscheidung.
Er stand immer hinter jeder Entscheidung, die ich getroffen hatte.
Ich hatte keine Ahnung, ob ich das schaffen würde, denn ich kannte bis zu dem Tag niemanden aus meiner Familie, der Abitur gemacht hat.
Ich wollte keine Fehler machen und um jeden Preis bestehen.
Für Jonny, unsere Tochter und für mich.
Es gab einige in meinem Umkreis die meinten, ich würde es nicht schaffen.
Ausser Jonny hatte keiner an mich geglaubt.
Er unterstützte mich und gab mir den nötigen Schub um dran zu bleiben.
Ich habe gelernt und gelernt, weil ich allen beweisen wollte, dass ich es kann.
An der Abendschule habe ich zum ersten Mal erlebt,
was es bedeutet, wenn es jemand schätzt was ich tue. 

Ich gab in jedem Fach mein Bestes und mein Zeugnis war bombastisch.
Ein Semester nach dem anderen verging und ich merkte, dass es funktionierte.
Später wechselte unser Mathelehrer und unser neuer Lehrer hielt sehr viel von mir.
Ich wollte ihm zeigen, wie gut ich bin und dass er sich in mir nicht täuscht.
Mathe war mein leistungsstärkstes Fach überhaupt. Schon immer gewesen.
Ich erinnerte mich, was ich schon immer gut konnte.
Er förderte mich und brachte mich zum Teil an meine Grenzen,
die ich aber immer wieder überschritten hatte.
Ich lernte mein Talent kennen und wollte es weiter ausbauen.
Wenn ich das Abitur wirklich schaffen sollte, würde ich Mathe studieren.
Das hatte ich mir fest vorgenommen.

Neben dem Unterricht gab ich Nachhilfe. Es gab mir viel, wenn ich anderen Menschen helfen konnte. Ich versuchte ihnen zu zeigen, wie ich die Zahlen und Formeln sehe.
Vielleicht würde ich Lehrerin werden? Hauptfach Mathematik?
Ich setzte mich zum ersten Mal damit auseinander, was ich werden wollte.
2011 Der Tag, an dem mein Vater starb
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6.1.  Mein Leben beginnt – Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss.

2011 Der Tag, an dem mein Vater starb
Ein langer Leidensweg.

Mein Vater bekam nach einigen Jahren des starken Rauchens COPD.
Diese Krankheit zerstört nach und nach das Lungengewebe und ist bisher unheilbar.
Als er diese Diagnose erhielt, war die Krankheit gerade so fortgeschritten als hätte er Asthma. Er bekam Asthma Spray und konnte sich gut fortbewegen.
Im Laufe der Zeit, wurde es schlimmer. Atemaussetzer in der Nacht machten eine Sauerstoffmaske nötig. Tagsüber konnte er sich nach und nach immer weniger bewegen, denn jede Bewegung war anstrengend und die Atmung erschwert.
Daher benötigte er zusätzlich tagsüber den Sauerstoff aus der Maschine.
Arbeiten war nicht mehr möglich. Raus gehen konnte er kaum.
Die meiste Zeit hielt er sich zuhause auf und Besuch kam selten.
Er wurde immer launischer und unerträglicher. Irgendwann kam die Zeit als er aufgab.
Es waren schon einige Jahre vergangen, die er mit dieser Krankheit lebte.

Es kam der Tag, an dem das erste Mal die Lunge zusammenfiel.
Das muss ein furchtbarer Moment für ihn gewesen sein.
Der Klinik gelang es damals, die Lunge nochmal aufzubauen und
er entschied, dass dies nicht nochmal passieren sollte.
Kein Aufbau der Lunge mehr. Das war sein eigenes Todesurteil.

Ein paar Wochen später war es soweit.
Mein letztes Schuljahr zum Abitur würde bald starten. Bisher hatte er nicht einmal etwas dazu gesagt. Kein Lob, keine Anerkennung. Ich war es aber gewohnt und erwartete nichts.

Es ist der 27. August 2011

Mein Handy klingelt. Meine Mutter: " Die Lunge ist wieder zusammengefallen. Er ist auf der Intensivstation und die Maschinen sollen abgestellt werden."
Meine Schwester weiss bereits Bescheid und holt mich ab.
Wir fahren zusammen hin, um die Entscheidung mit zu treffen.

Ich komme rein. Die Maschinen laufen. Es piept. Er liegt dort. 
Die Geräte beatmen ihn und versorgen ihn mit dem nötigen Sauerstoff.
Die Maske, die er auf hat, ist ein gewohntes Bild, aber die ganzen Schläuche und Maschinen drum herum nicht.
Er ist schon so mit Morphium vollgepumpt, dass er kaum realisiert was passiert.

Meine Mutter, meine Schwester und ich stehen an seinem Bett.
Es ist anders wie bei der Schwiegermutter. Ich fühle fast nichts. Keine Angst.
Er wird kurz wach und er erkennt Madleen.
Meine Mutter erwähnt zwar, dass ich auch da bin, aber er bekommt dies kaum mit.
Wir sind alle einverstanden die Maschinen abzustellen und verlassen den Raum.
Er wird auf eine normale Station verlegt.

Merkwürdig ihn ohne Sauerstoffgerät zu sehen. Die Atmung ist flach aber er kann atmen. Das verstehe ich nicht. Es wird mir erklärt.
Ich verstehe trotzdem nicht, wie das möglich ist.

Jetzt heisst es warten.
Er wird ab und zu wach, aber wirklich da ist er nicht. 
Er will Fernsehen. Skispringen. Sein Ernst? Das ist sein Unterbewusstsein, sagen sie. 
Ich weiche ihm trotzdem nicht von der Seite. Ich fühle nichts.
Es wird langsam spät und meine Schwester und ich entscheiden uns,
nach Hause zu fahren. Meine Mutter soll anrufen, wenn es vorbei ist.

Es ist der 28. August 2011
Es ist kurz nach Mitternacht und mein Handy klingelt.
Ich erschrecke mich, weil ich weiss was mich erwartet. Ich gehe ran.
Sie sagt: " Es ist vorbei." Ich ziehe mich an und fahre hin. Alles fühlt sich leer an.
Ich habe keine Emotion. Ich fahre hin, weil es so sein muss.
Wir gehen ein letztes Mal auf das Zimmer.
Eine Kerze steht auf dem Nachttisch, angezündet.
Die Augen geschlossen, kein Fernseher, keine Maschine, nichts.

Stille.

Er sieht so friedlich aus. Anders. Er wirkt fremd. Es berührt mich nicht. Wir bleiben einen Moment und verlassen das letzte Mal das Zimmer.

Wir schweigen.

Es ist besser so. Er hat gelitten. Jahrelang. Aber wir auch.
Wir fahren meine Mutter nach Hause und von dort aus fahre ich allein weiter.
Ich weine. Ich weine nicht aus Trauer, ich ärgere mich.
Ich ärgere mich, dass er nicht einmal sagen konnte "ich habe dich lieb"
oder "ich bin stolz auf dich".  Ich habe mein Abitur fast geschafft.
Jetzt ist er weg und ich hörte nicht einmal von ihm,
dass er mich lieb hat.

Ich fahre nach Hause.
Selbsthilfegruppe
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6.1.  Mein Leben beginnt – Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss.

Selbsthilfegruppe
Die Tage in der Abendschule wurden immer länger. Es zog sich.
Unsere Tochter wurde schnell grösser und brauchte viel Aufmerksamkeit.
Ich sah Jonny nur selten, weil er von der Arbeit nach Hause kam,
wenn ich in die Schule ging. Es war eine schwere Zeit,
wo wir uns ein wenig voneinander entfernten.
Wir bewältigten diese Krise und es schweisste uns noch mehr zusammen.

Als die Abschlussprüfungen näherkamen, zweifelte ich. Ich hatte Angst zu versagen.
Ich hatte Phasen in denen es mir nicht gut ging. Ich weinte viel und fühlte mich nicht gut.
Es waren depressive Phasen die immer wieder kamen. Ich hatte sie nicht mehr unter Kontrolle.
 
Ich hatte in einer Zeitung gelesen, dass in der Nähe der Schule eine Selbsthilfegruppe für depressive Menschen gegründet werden würde. Das könnte eine weitere Chance für mich sein, das alles unter Kontrolle zu bekommen. Die Medikamente von der Ärztin damals, die hatte ich mir immer wieder verschreiben lassen. Es half ein wenig. Antidepressiva.
Damit ging es teilweise besser, aber ich wollte nicht für immer
auf Medikamente angewiesen sein.

Ich schaute mir diese Gruppe an. Nervosität war mein Begleiter.
Ich beobachtete erst von Weitem, wer dort rein ging.
Ich wartete und zweifelte.
Immer mehr Leute gingen dort rein.
Ich dann auch.

An dem Gründungsabend waren so viele Menschen, dass sie gleich zwei Gruppen daraus machen mussten, da sonst der Platz nicht reichen würde. Das hatte ich nicht erwartet.
Ich war froh endlich unter Menschen zu sein, denen es ähnlich ging wie mir.
Ich war nicht mehr damit allein. Jonny war zwar an meiner Seite,
aber verstehen konnte er die Zustände nicht. Die Gruppe traf sich jede Woche und ich war froh auch von anderen ihre Erlebnisse zu hören.

Die Gruppe half mir, den Stress für die Prüfungen unter Kontrolle zu bringen
und sie zu bestehen.

Es gibt so viele Menschen da draussen, denen es ähnlich geht.
2012 Ich bestehe mein Abitur
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6.1.  Mein Leben beginnt – Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss.

2012 Ich bestehe mein Abitur
Meine Prüfungen waren alle durch und ich war nicht sicher,
ob ich es wirklich geschafft hatte.
In einigen Fächern war ich sicher, in anderen dagegen weniger.
Vielleicht hätten die schlechteren Fächer Auswirkungen auf mein Bestehen gehabt.

An dem Tag als ich das Ergebnis bekam, fuhr ich allein hin. Jonny war arbeiten.
Ich war unglaublich aufgeregt, denn ich hatte so viel gelernt und hab alles gegeben.
Ich wollte auf keinen Fall scheitern.
Von einer grossen Klasse aus 30 Schülern blieben wir am Ende mit 5 Leuten übrig.
Wir 5 hatten durchgehalten. Ich gehörte dazu. Allein das, war ein grosser Schritt.
Ein grosses Ziel.
Es war ein weiter Weg mit vielen Höhen und Tiefen,
aber ich hatte es bis dahin geschafft und musste nur noch mein Ergebnis abholen. 
Als ich dort ankam, waren meine Mitschüler schon da.
Wir wurden zusammen reingerufen und uns wurde mitgeteilt, ob wir bestanden hatten oder nicht.
Meine Hoffnung und Anspannung waren enorm.
Dann hörte ich meinen Namen und ich fragte, ob es ich es geschafft habe.

Die Antwort: "Bei der Leistung, die Sie gebracht haben, haben Sie natürlich bestanden!". 

Das war es. Ich hatte es wirklich geschafft und platzte innerlich vor Glück.
Ich hatte mein Ziel erreicht. Ich habe bewiesen, dass ich es kann.
Ich war unglaublich stolz auf mich. Das erste Mal in meinem Leben. Es fühlte sich toll an.
Ich ging in mein Auto zurück und fuhr los.
Ich weinte vor Glück und konnte kaum fassen, was ich erreicht hatte.

An dem folgenden Wochenende feierte ich meinen Geburtstag
und das Abitur gleich mit dazu.

Niemand konnte nachempfinden, was es für mich bedeutete,
dass ich dieses Ziel erreicht hatte. Es war unglaublich.


2013 Mein Studium an der Fernuni
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6.1.  Mein Leben beginnt – Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss.

2013 Mein Studium an der Fernuni
Nachdem ich mein Abitur bestanden hatte,
habe ich mich tatsächlich in einer Universität eingeschrieben.
Ich war zuversichtlich, dass ich das auch schaffen könnte. Ich war gut.
Ich versuchte über eine Fernuniversität zu studieren
und setzte mich jeden Tag intensiv an das Skript.
Kontakte hatte ich virtuell schliessen können,
so dass wir manche Aufgaben zusammen besprechen konnten. Es lief gut.
Die erste Prüfung, bei der gewöhnlich bis zu 80 % durchfallen, bestand ich mit Bravour.
Ich hätte es sicher schaffen können.

Zu der Zeit entwickelte sich eine Freundschaft zu Ina und Martin.
Sie waren in unserem Alter und hatten zwei kleine Kinder.
Sie unternahmen in ihrer Freizeit viel und das beeindruckte uns. Wir waren uns sehr ähnlich. Wir verbrachten viel Zeit miteinander und ich liess das Studium immer mehr liegen.
Ich merkte, dass das Studium zu viel Zeit benötigen würde um endlich Geld zu verdienen. Ich fing an, mich nach Ausbildungsstellen umzusehen. Es war nur so eine Idee.

Mathe war meine Leidenschaft und das wollte ich nicht aufgeben.
Jonny hatte aber bereits lange zurückgesteckt und es musste langsam vorwärts gehen.
Mein Studium würde zu lange dauern und ich wusste nicht einmal
was ich damit anfangen wollte.


2013 Ich erlebe meine erste Panikattacke
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6.1.  Mein Leben beginnt – Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss.

2013 Ich erlebe meine erste Panikattacke
Als wir Ina und Martin kennenlernten, dachte ich
es könnte eine tolle Freundschaft werden. Zu Beginn war es das,
aber Ina war von ihrer Persönlichkeit Sida sehr ähnlich.
Sie erinnerte mich an sie, unbewusst. Ich versuchte trotzdem eine Freundschaft aufzubauen und keine Fehler zu machen. Das war schwierig. 

Wir haben einige Momente gehabt, die unfair meiner Tochter gegenüber waren,
aber das wollte sie nie sehen.
Das machte eine Freundschaft wirklich schwer.
Sie tat nicht nur meiner Tochter unrecht, sondern versteifte sich in manche Theorien,
die Jonny schlecht dastehen lassen würden. Ich war nicht stark genug,
mich dagegen zu stellen und wir liessen die "Freundschaft" daher zunächst so laufen.
Ich zog mich aber mehr und mehr zurück. Niemals würde ich mich gegen Jonny stellen. 
Meine Ängste kamen allmählich zurück. Mein Zustand verschlechterte sich.
Ich ahnte nicht, was der Kontakt für eine Auswirkung haben würde.

Meine erste Panikattacke

Wir gingen zu viert in einem Club feiern und es sollte eigentlich ein schöner Abend werden. Ina und Martin hatten sich zwischenzeitlich mit jemandem gestritten,
der schon sehr lange zu meinem Bekanntenkreis gehörte und mit dem ich nie Ärger hatte.
Er kannte mich schon sehr lange, aber eine richtige Freundschaft war es nie.
Ich war meist nur anwesend, wenn wir unterwegs waren. Trotzdem mochte ich ihn.

Ina hatte die Eigenschaft, Menschen beeinflussen zu können und so redete sie uns ein,
dass der Bekannte ein schlechter Mensch sei. Wir liessen uns Dinge erzählen,
die nicht der Wahrheit entsprachen. Wir glaubten ihr, was ein grosser Fehler war.
Es dauerte Wochen, bis sie uns an diesem Punkt hatte.

An dem Abend, als wir feiern gingen, tauchte der Bekannte dort auf.
Als er reinkam versuchte er, sich mit uns zu unterhalten.
Ich wollte keinen Ärger, daher wechselten wir nur ein paar Worte
und zogen uns dann wieder zurück.
Er provozierte Martin aber immer mehr und die beiden gerieten aneinander.
Als Jonny dazwischen ging und Martin verteidigte, wurde es ernst.
Ich konnte es nicht ertragen, dass Jonny so ein Ärger mit ihm hatte und ging dazwischen. Sie hätten sich beinahe geschlagen und schrien sich an.

Ich stand mittendrin.
Flashback. Flashback. Flashback.
 
Diese Situation ist unerträglich.
Lautes Geschrei, Gewalt, Schläge.
Das musste ich verhindern.

Ich konnte die Beiden soweit beruhigen, dass Jonny zurück an unseren Platz ging
und der Bekannte den Club verliess.
Es wurde ruhiger und es hätte alles in Ordnung sein sollen. 

Das war es nicht. 

1998, ich hatte es lange verdrängt. 
Die lauten Schreie. Schläge. Tritte. 

Ich zitterte plötzlich am ganzen Körper. Mein Puls wurde schneller. Mir wurde komisch.
Ich fühlte mich, als wäre ich nicht richtig da. Die Musik wurde dumpf in meinem Kopf. Alles irreal. 
Was war das? Ich fühlte mich nicht gut, mir wurde übel.
Ich ging raus, um ein wenig Luft zu holen. 
Ich atmete durch, aber der Puls erholte sich nicht. Ich zitterte weiter.
Ich fühlte mich ganz weit weg.

Ich war nicht mehr in der Lage, den Abend weiter in dem Club zu verbringen. 

Ich musste nach Hause.

Dass dies meine erste Panikattacke war, bemerkte ich erst Wochen später.
Auszug: Panikattacken
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6.1.  Mein Leben beginnt – Mein erstes Ziel: Ein guter Abschluss.

Auszug: Panikattacken

Auszug aus Wikipedia:

Als Panikattacke wird das einzelne plötzliche und in der Regel nur einige Minuten anhaltende Auftreten einer körperlichen und psychischen Alarmreaktion ohne objektiven äußeren Anlass bezeichnet. Oft ist den Betroffenen nicht klar, dass ihre Symptome Ausdruck einer Panikreaktion sind. Die damit verbundenen körperlichen Reaktionen werden oft als (lebens-)bedrohlich erlebt, was die Angst und Panik weiter steigert.

Seltener können sich Panikattacken über einen längeren Zeitraum (bis zu mehreren Stunden) mit abgeschwächten Symptomen erstrecken. Vereinzelt stehen auch nur die psychischen Symptome (Angstgedanken, Derealisation und Depersonalisation) im Vordergrund, während körperliche Symptome kaum bemerkt werden. Beiden Gruppen gemeinsam ist, dass die Symptome oft nicht als Auswirkung einer Panik erkannt werden.

Typische Symptome:

  • Atemnot, Engegefühl in Brust und Kehle
  • Hyperventilation (als Folge Kribbelgefühle in Gesicht und Händen, Muskelkrämpfe)
  • Herzrasen
  • Schweißausbrüche
  • Zittern, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen
  • Angstgedanken („Das ist ein Herzinfarkt“, „Jetzt sterbe ich gleich“, „Ich werde verrückt“)
  • Depersonalisationsgefühle („Neben sich stehen“, „Nicht mehr ich selber sein“)
  • Derealisationsgefühle (Umgebung wird als fremd, unwirklich wahrgenommen)
  • Angst davor, Haus oder Wohnung zu verlassen, da etwas passieren könnte

Ursachen:

Ausgelöst – und aufrechterhalten – werden die Panikattacken oft von automatisierten emotionalen und gedanklichen Fehlinterpretationen körperlicher Wahrnehmungen, was auch unter dem Begriff Panik-Teufelskreis beschrieben wird. Betroffene achten oft vermehrt auf die Symptome und warten regelrecht darauf, dass sie wieder auftreten. Wiederkehrende Panikattacken können die Lebensführung schwer beeinträchtigen und werden als Panikstörung diagnostiziert.

Panikattacken treten oft auch in Zusammenhang mit anderen psychischen Störungen wie [...] Angststörungen, depressiven Störungen oder der posttraumatischen Belastungsstörung auf und lassen sich in der Regel im Rahmen einer Psychotherapie gut behandeln. Zur Behandlung von akuten Panikattacken werden in schweren Fällen kurzzeitig Benzodiazepine eingesetzt. Da diese aber ein großes Suchtpotenzial bergen, sind sie nicht für längerfristigen Einsatz geeignet. [...]

2014 Meine Ausbildung
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6.2.  Mein Leben beginnt – Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung.

2014 Meine Ausbildung
Ich wollte nie Bankkauffrau werden. Das hatte ich immer ausgeschlossen.

Als ich nach Ausbildungsstellen schaute, fand ich einen interessanten Test.
Mir ging es nicht um eine Stelle, aber den Test wollte ich ausprobieren.
Ich wollte wissen, ob ich eine Chance hätte.

In diesem Test ging es um eine Art IQ-Test, der von einer Bank durchgeführt wurde.
Sie waren auf der Suche nach Auszubildenden.
Meine Unterlagen hatte ich ergänzt, damit ich überhaupt teilnehmen konnte.

Ich erhielt das Ergebnis, dass ich recht gut abgeschnitten hatte.
Sie würden sich nach Auswertung der Unterlagen per Post melden.

Ich dachte mir nichts dabei und studierte weiter.

Ein paar Tage später erhielt ich Post. Ich hatte den Test längst vergessen
und mir keine weiteren Gedanken gemacht. Plötzlich hatte ich eine Einladung.

Die Bank, bei der ich mich aufgrund eines Tests beworben hatte,
wollte mich kennenlernen und einen ausführlicheren Test durchführen. 
Ich war überrascht, sah es aber als Chance und sagte zu.
Ich setzte mich mit dem Beruf der Bankkauffrau auseinander
und bereitete mich ein wenig auf ein Gespräch vor.
Mein Kleiderschrank wäre alles andere als banktauglich,
mit Menschen konnte ich nicht gut sprechen
und überhaupt passte eine Bankausbildung nicht zu mir.

Jonny war zuversichtlicher und machte mir Mut. Es wäre immerhin eine Ausbildung. 
Ich erwartete nicht viel von dem Tag, als ich zur Bank ging und mich vorstellte.
Den Test absolvierte ich erneut und war die Beste von allen Bewerbern.
Das Gespräch mit dem Personalchef war da schon schwieriger.

Ich war kaum nervös, denn ich hatte nichts zu verlieren.
Ich erwartete nicht wirklich, dass sie mich nehmen würden.
Ich gab mich daher von einer ruhigen, ehrlichen Seite. Meine Antworten waren kurz.
Das gefiel ihm nicht besonders, denn er machte mich darauf aufmerksam,
dass ich schon etwas mehr erzählen müsste, damit er es bewerten kann.
Ich hatte nicht viel zu sagen, denn es war überhaupt verwunderlich,
dass ich überhaupt dort sass.

Nach dem Gespräch ging ich zu den anderen Bewerbern zurück
und wartete nur noch auf die Absage, damit ich nach Hause gehen konnte. 

Es kam anders, als ich dachte.

Ich verliess die Bank mit einem Ausbildungsvertrag.
2014 Wir kaufen ein Haus
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6.2.  Mein Leben beginnt – Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung.

2014 Wir kaufen ein Haus
Kurz bevor meine Ausbildung startete, ergab sich die Chance ein Haus zu kaufen.
Wir hatten bereits seit 4 Jahren gesucht, aber so richtig gefiel uns keines.
Wir hatten schon aufgegeben und nicht mehr weitergesucht.

Wir wohnten immer noch bei dem Schwiegervater, was zunehmend schwieriger wurde.
An einem Tag eskalierte es und ich wollte dort weg.
Dieser Tag brachte uns dazu, ein Haus anzuschauen,
was von aussen unscheinbar wirkte. 
Wir wussten von dem Verkauf durch unseren Freundeskreis, was es uns leichter machte.
Als wir das Haus zur Besichtigung betraten, wussten wir, dass es das sein würde. 

Wir entschieden uns, es zu kaufen.

Ich hatte bereits mehr erreicht, als ich mir je erträumt hatte.

Mein Leben ging steil bergauf.
2015 Die Panikattacken kommen öfter
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6.2.  Mein Leben beginnt – Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung.

2015 Die Panikattacken kommen öfter
Meine Ausbildung lief das erste Jahr gut und auch die Schule meisterte ich.
Neben dem Haushalt, Familie und Arbeit war das Lernen schon um einiges schwieriger,
aber ich gab mein Bestes. Der Beruf machte mir wider Erwarten Spass und die Kollegen waren toll. Meine Noten in der Schule konnten sich sehen lassen
und auch sonst lief alles wie von selbst.

Durch die Klassenfahrt, die mit der Berufsschule durchgeführt wurde,
lernte ich die Berge kennen. Ich war nie zuvor im Winter in den Bergen.
Ich lernte Skifahren.
Ich traute mir erstmals zu, etwas ganz Neues auszuprobieren. Ungewiss, ob ich es kann.
Ich war mit mir fremden Menschen eine Woche auf Klassenfahrt.
Eine neue Hürde hatte ich überwunden. 

Da ich deutlich über dem Altersdurchschnitt lag und recht unsportlich war,
kam ich nicht gut hinterher. Trotzdem war ich fasziniert von den Bergen und dem Schnee.
Ich liebte es dort oben zu sitzen und nach draussen zu schauen.
Ich blieb den Anderen zuliebe oben, damit sie nicht auf mich warten mussten.
Es war trotzdem eine tolle Zeit, denn ich war nicht die Einzige, die oben blieb.

Das zweite Lehrjahr wurde zunehmend schwieriger und die langen Tage machten mir recht schnell zu schaffen. Ich wurde immer müder. Nachgeben wollte ich nicht.
In der Schule wurde ich im Unterricht immer unruhiger.
Mein Puls erhöhte sich nun regelmässig, wenn es im Klassenraum ruhig wurde.
Mir wurde schwindelig und übel. Ich fühlte mich wieder weit weg. Nicht anwesend.
Den Zustand kannte ich bereits, Angst hatte ich trotzdem. Ich konnte dem Unterricht nicht folgen, konzentrierte mich nur auf meinen Körper und hatte eine enorme Anspannung.
Manchmal waren die Panikzustände kaum zu ertragen. Manchmal hielt ich durch, manchmal verliess ich den Unterricht. 
Mir ging es nun zunehmend schlechter. Ich fühlte mich schlapp und
war kaum in der Lage morgens aufzustehen, um zur Arbeit zu gehen.
Es machte müde jeden Tag zu kämpfen.

Es war an der Zeit, dass meine Vergangenheit mich mit voller Wucht einholen sollte.

Ich musste mich hin und wieder krankschreiben lassen um "Luft zu holen".
Ich wusste, dass ich die Ausbildung nicht schaffen würde.
Körperlich wurde es immer schlimmer. Die Panikzustände kamen mittlerweile täglich
und ich liess mir erstmals Medikamente gegen diese Zustände verschreiben.
Immer öfter benötigte ich eine Krankschreibung, da ich an meine Grenze kam. 
Ich brauchte eine Lösung, um die Ausbildung zu schaffen.

Es waren noch 1 1/2 Jahre, die vor mir lagen.
Ich informierte mich über Möglichkeiten und sprach den Personalchef auf eine Teilzeitausbildung an. Ich erklärte ihm, dass es mit der Familie schwierig wäre,
die Ausbildung zu schaffen. Ich erzählte nie von meinen Panikzuständen
und den depressiven Episoden, die immer häufiger kamen. 

Er gab mir die Möglichkeit, meine Ausbildung mit einer reduzierten Stundenanzahl zu absolvieren, mein Gehalt blieb.  Die einzige Bedingung war,
dass ich keinen Rückstand haben durfte, was die Lerninhalte betraf.
Mein Chef gab mir eine Möglichkeit, die ich nicht erwartet hatte. 
Es war keine Selbstverständlichkeit. Ich war erleichtert, zuversichtlich und unendlich dankbar für diese Möglichkeit.

Die Schule besuchte ich normal und von der Absprache wussten nur die Filialleiter,
wo ich eingesetzt wurde.

Weniger Stunden zu arbeiten half mir beim "Durchatmen".
Ich brauchte Zeit, ich musste mich ausruhen von den Panikattacken. 

Ich lernte schnell und zeigte in jeder Filiale, was ich kann. Meine Bewertungen waren überdurchschnittlich, denn ich wollte dem Personalchef beweisen,
dass er keine falsche Entscheidung getroffen hatte.
2016 Ich beginne eine Therapie
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6.2.  Mein Leben beginnt – Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung.

2016 Ich beginne eine Therapie
Die nächsten Monate waren dennoch schwierig. Die Praxisteile waren einfacher als der schulische Teil. In der Bank konnte ich mich beweisen und ging sogar offen auf unsere Kunden zu. Es machte mir Spass. Ich war oft müde und musste mich durchbeissen.
Ich zeigte in keiner Filiale Schwäche.

Die letzte Filiale in der ich arbeitete, war die Beste.
Das Team war klein und ich verstand mich gut mit ihnen.
Es war umso schlimmer für mich,
dass ich in der Pause regelmässig Schwierigkeiten bekam.
Ich war nicht in der Lage mit ihnen gemeinsam im Pausenraum zu sitzen,
ohne die nächste Attacke zu bekommen.
Entsprechend unruhig und hastig habe ich gegessen, um auf den Balkon
zum Rauchen zu gehen. Das war unhöflich, aber ich hatte keine Wahl.
Es wurde mit jedem Tag schlimmer.

Die Zeit in der Schule wurde in den letzten Wochen der Ausbildung unerträglich.
Jede Stunde neu, versuchte ich meinen Körper unter Kontrolle zu bringen, vergeblich.
Die letzten Prüfungen konnte ich nur unter starken Beruhigungsmitteln schreiben.
Ich kämpfte und kämpfte.

Ich bekam die Attacken nicht in den Griff.

Ich brauchte dringend Hilfe.

Es war an der Zeit, einen neuen Versuch für eine Therapie zu starten.

Einen Termin bei einer Therapeutin zu bekommen, grenzte an ein Wunder.
Bisher hatte ich nicht die Stärke gehabt aufgrund meiner Depressionen
eine Therapie zu suchen. Die Panikattacken waren eine ganz andere Ebene.
Die Depressionen waren durchzustehen, manchmal schwer raus zu kommen, aber es ging. 
Die Panikattacken brachten mein Leben durcheinander und hinderten mich,
weiter zu machen. Sie hielten mich davon ab zu arbeiten, zu lernen, einfach zu leben.
Sie machten mich handlungsunfähig.
Während einer Attacke war die Welt irreal, der Puls im ganzen Körper zu spüren. 

Ich musste dringend was ändern und suchte in der gesamten Umgebung.
Ich kann nicht zählen, wie viele ich anrief. Die meisten vergaben nicht mal mehr Termine, weil sie so überlaufen waren. Bei anderen gab es Termine frühestens in einem Jahr.

Ich brauchte aber sofort Hilfe. 

Eine letzte Telefonnummer, danach würde ich aufgeben.
Es läutete und der Anrufbeantworter ging an.
Ich sprach wieder auf ein Band und erhielt kurze Zeit später einen Rückruf.
Die Praxis selbst hatte keine Termine, aber sie hörten von einer neuen Ärztin,
die in den nächsten zwei Wochen eine Praxis eröffnen würde.
Ich erhielt ihre Telefonnummer und bekam einen Termin.

War es Glück? Schicksal? Es war ein Versuch.

Ich ging über Wochen hin und sie versuchte mit mir zu arbeiten.
Ich dachte über vieles nach und lernte einige Dinge,
die ich anwenden konnte, aber meine Attacken blieben.

Die Therapie half nicht.
Die Abschlussprüfung
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6.2.  Mein Leben beginnt – Mein zweites Ziel: Eine Ausbildung.

Die Abschlussprüfung
Es war soweit.

Ich hatte lange gekämpft und hatte es bis zur Abschlussprüfung geschafft.

Die Zeit in der Berufsschule gab mir viel.
Es gab einige Situationen, die mich überforderten.
Es gab Momente, in denen mein Lehrer mich lobte,
weil meine Leistungen gut waren.
Ich konnte dieses Lob nicht annehmen.

In einem einzelnen Gespräch erklärte ich ihm,
in den letzten Wochen vor Ende, was mit mir los war.
Er gab mir mit auf den Weg, dass ich stolz auf mich sein kann.
Ich sollte nicht an mir zweifeln, weil ich gut bin, wie ich bin.
Das war eine Situation, die mich masslos überforderte.
Ich hielt meine Tränen zurück und verliess den Raum.

Durchatmen.

Die schriftliche Prüfung war aufgrund meiner Panik nur mit Medikamenten zu bewältigen, aber die mündliche stand bevor.

Ich habe mich lange auf diesen Tag vorbereiten müssen.
Meine einzige Sorge war, bloss keine Panik zu bekommen.
Ich würde versagen, die Prüfung nicht bestehen. Das durfte nicht passieren.

Ich ging mittlerweile ohne Medikamente nicht mehr aus dem Haus.
Ich hatte für jede mögliche Situation etwas dabei.

Der Tag der mündlichen Prüfung kam.

Ich zitterte bereits morgens und hatte Angst, nicht zu bestehen.
Mir ging es nicht gut, aber ich musste dadurch.
Ich fuhr zur Prüfung und traf bereits einen Schulkollegen,
der gleichzeitig seine Prüfung ablegen würde. Er war nervös. Normal.

Meine Panik bahnte sich bereits an.
Es musste ohne Medikamente gehen, sonst hätte ich mich nicht konzentrieren können.
Ich musste versuchen, die Situation mit einer Panikattacke zu meistern.
Das war sicher.
Als ich aufgerufen wurde, ging es los. 

Der Puls fühlte sich enorm hoch an, mir wurde komisch.
Wie durch einen Tunnel folgte ich dem Mitarbeiter in einen separaten Raum.
Ich bekam meine Aufgabe und konnte mir Notizen machen,
bevor es vor die Prüfer gehen sollte.
Mindestens vier Leute sollten dort sitzen und mich beobachten.
Das war für mich unmöglich.  

In dem Raum sass ich allein und konnte versuchen mich zu beruhigen,
für Notizen hatte den Kopf nicht frei.
Ich konnte mir keine Gedanken machen, was für die Prüfung wichtig sein könnte.
Ich musste meinen Körper unter Kontrolle bringen.
Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.

Nach einigen gefühlten unendlichen Minuten riefen sie mich auf und ich ging rein.
Obwohl die Prüfer nah sassen, kamen sie mir weit weg vor.
Ich hörte sie ganz dumpf sprechen. Mein Puls nach wie vor erhöht. Schwindel.
Ich liess mir nichts anmerken und brachte die Prüfung irgendwie hinter mich.
Dann verliess ich den Raum und sie berieten sich. Ich hoffte einfach nur zu bestehen. 

Mein Glück war, dass mein Berufsschullehrer mit im Prüfungsausschuss sass.
Er kannte mich und meine Leistungen aus der Schule.
Er wusste wozu ich in der Lage war.

Er hatte ein gutes Wort eingelegt, so dass ich ganz knapp bestand.
Ich hatte es geschafft, mit seiner Hilfe.

Ich war nun gelernte Bankkauffrau.
2017 Meine erste Arbeitsstelle nach der Ausbildung
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6.3.  Mein Leben beginnt – Mein drittes Ziel: Ein Job.

2017 Meine erste Arbeitsstelle nach der Ausbildung
Nachdem ich die Ausbildung geschafft hatte, war es unklar wie es weitergeht. 
Meine Bewertungen waren gut. 
Damit sollte mir ein Job sicher sein, aber es kam anders.

War es Schicksal?

In diesem Abschlussjahr gab es nur Übernahmen, die nicht zu vermeiden waren.
Dies betraf nur die Jugendauszubildendenvertretung,
zu der ich aufgrund meines Alters schon nicht gehörte. 
Ich erhielt Unterstützung verschiedenster Filialleiter und dem Personalchef.. 
Während sie für mich um eine Stelle kämpften, suchte ich bereits weiter.

Ich fand eine Stelle in Köln im BackOffice und bewarb mich
mit dem guten Arbeitszeugnis der Bank. 
Es hatte einen so grossen Eindruck hinterlassen, dass sie mich einluden.
Solche Termine waren alles andere als einfach,
da ich wieder und wieder versuchen musste, meine Panikstörung zu unterdrücken.
 
Ich konnte mir gut vorstellen im BackOffice zu arbeiten.
Kein Kunden- oder Termindruck,
keine Messung der Leistung anhand von Vertragsabschlüssen.
Damit konnte ich mich gut anfreunden,
da es in meiner Natur lag, eher im Hintergrund zu sein.

Den Weg nach Köln würde ich schon schaffen, es war nicht direkt im Zentrum. 
Es war trotzdem ein weiter Weg, den ich jeden Morgen fahren müsste.
Stau wäre an der Tagesordnung. Kein Problem.

Als ich zum Vorstellungsgespräch ging, war ich sehr positiv überrascht.
Ich hatte dieses Mal nur eine halbe Dosis meiner starken Beruhigungsmittel,
damit ich dem Gespräch folgen konnte. Es lief gut.
Auf Anhieb gaben sie mir ein Gefühl von Wertschätzung, das beeindruckte mich.
Sie zeigten mir den zukünftigen Arbeitsplatz und die anderen Kollegen
und ich fühlte mich sofort wohl. 

Sie waren so überzeugt von mir, dass sie mir die Stelle sofort anboten.
Ich sagte nach kurzer Überlegung zu.
Die Details würden sie mir per Email zusenden und den Vertrag per Post.

Ich war erleichtert. Die Ausbildung war zu Ende und einen neuen Job hatte ich sicher.

Es ging immer weiter bergauf. Beruflich.

Ein paar Tage später fuhren wir das erste Mal in den Skiurlaub nach Österreich.
Ich wollte unbedingt nochmal in die Berge.
Jonny und unsere Tochter freuten sich riesig auf diesen Urlaub.

Ich überprüfte jeden Tag meine Emails und konnte es kaum abwarten,
die Informationen zu bekommen.
An einem Abend, als wir von der Piste zurückkamen,
erhielt ich dann die Details für den neuen Job.

Ich bin völlig durchgedreht. Die Arbeit der letzten Jahre hatte sich mehr als gelohnt.
Es war der Wahnsinn und ich konnte es nicht glauben, wie weit wir gekommen waren.

Ich würde im Februar einen neuen Job im BackOffice einer Bank beginnen.
Im Zahlungsverkehr. Ich liebe Zahlen und neue Systeme.
2018 Wir eröffnen ein Tattoo-Studio
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6.3.  Mein Leben beginnt – Mein drittes Ziel: Ein Job.

2018 Wir eröffnen ein Tattoo-Studio
Die ersten Wochen und Monate waren spannend.
Ich arbeitete mich schnell in meine Aufgaben ein und war gut in dem was ich tat.
Die permanente Wertschätzung der Vorgesetzten brachte mich auf Hochtouren
und ich wurde immer besser. Wieder einmal wollte ich beweisen,
was ich kann und dass sie sich richtig entschieden hatten.
Die erste Gehaltserhöhung liess nicht lange auf sich warten.

Nachdem ich mich in jegliche Systeme sicher eingearbeitet hatte,
suchte ich die Herausforderung.
Ich bekam die Gelegenheit an der Seite meiner Gruppenleitung mitzuwirken.
Das bedeutete, Meetings, Ideen einbringen, Systeme testen und dokumentieren.
Dadurch lernte ich die Abläufe und die Systeme intensiver kennen und hatte Lösungen für das ein oder andere Problem gefunden.

Es hätte nicht besser laufen können.

Zumindest beruflich.

Gesundheitlich hatte ich weiterhin die gleichen Probleme.
Ich konnte an den Meetings nicht ohne meine Beruhigungsmittel teilnehmen.
Jeder Termin, der anstand löste Panik in mir aus.
Das unwirkliche Gefühl, der Schwindel, der hohe Puls.
Eine ständige Sorge die Kontrolle zu verlieren, begleitete mich.

Ich war so weit gekommen und gab nicht auf.
Ich kämpfte Tag für Tag, damit ich weiter machen konnte.
Ich überstand jeden Termin, aber je mehr es wurden,
umso mehr häuften sich die Attacken.

Das machte müde.

In der Zwischenzeit hatte sich für Jonny eine Gelegenheit ergeben,
seinen Traum zu erfüllen.
Er wollte Tätowierer werden und ich tat alles um ihn zu unterstützen.
Er hatte die letzten Jahre viel zurückgesteckt
und konnte sich nicht weiterentwickeln,
weil er mich unterstützte. Jetzt war er an der Reihe.
Meine mittlerweile vorhandene Energie neue Dinge anzupacken,
legte ich in sein Projekt. 
Er besuchte einen Kurs und war richtig gut in dem, was er tat.

Wir eröffneten kurze Zeit später ein Tattoo - Studio.

Die Planung hatte ich mit Herzblut übernommen, es ging wahnsinnig schnell.
Er führte das Studio neben seinem anderen Job, er liebte es zu tätowieren.
Das Studio lief gut und wir hatten alles, was wir je erreichen wollten.

Und doch, fehlte immer etwas.
September 2018 Ich lerne André kennen
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7.  Die Begegnung mit André

September 2018 Ich lerne André kennen
Mein Halbbruder Theo aus Kanada ist in der Nähe
und möchte uns kennenlernen. Ich habe wenig Interesse daran. Familie ist nichts für mich. Ich hatte meine eigene kleine Familie aufgebaut und fand mich seit einigen Jahren damit ab, wie es war. Ich habe von Theo nie etwas gehört oder ihn je gesehen.
Madleen ist neugierig, möchte aber nicht allein hingehen.
Auf ihre Bitte hin, sage ich zu 
und wir verabreden uns an einem neutralen Ort.
Ich bin skeptisch.
Mit meiner Mutter zusammen fahren wir zum Treffpunkt.
Sie kannte ihn bereits, weil er zu Besuch da war, kurz nach dem unser Vater gestorben ist.

Da kommt er. Er wirkt unscheinbar. Die Begrüssung ist recht kühl.
Ich bin unsicher und halte mich zurück.
Er hat für jeden von uns ein kleines Geschenk dabei,
was ich sehr aufmerksam finde. 

Wir bestellen Frühstück.
Ich bleibe vorsichtig und bin weiterhin misstrauisch.
Meine Schwester unterhält sich ganz gut mit ihm, meine Mutter auch.
Ich schaue ihn an und versuche eine Ähnlichkeit zu sehen. Ich beobachte ihn.

Er wirkt fremd. Ich suche nach einem Anhaltspunkt,
ein paar Gesichtszüge vielleicht oder die Art, wie er spricht.
Nein, irgendwie kann ich keine Verbindung zu ihm sehen.
 

Nach dem Frühstück gehen wir eine kleine Runde spazieren.
Wir wechseln ein paar Worte, aber die Unterhaltung ist eher oberflächlich.
Die Runde wird gleich zu Ende sein und dann können wir nach Hause fahren.
Ein Versuch war es Wert. Er ist nett.

Er fragt, ob wir noch ein wenig bleiben,

weil er Bilder mitgebracht hat. Das finde ich toll.
Vielleicht finde ich doch etwas, Hobbys vielleicht.
Irgendwas, was wir gemeinsam haben. Er zeigt uns wo und wie er lebt.
Der Ort ist wirklich schön. Seine Familie sieht nett aus. Er backt Torten.
Backen ist gar nicht meins.

Es war ein netter Tag und wir werden uns am Donnerstag nochmal treffen.
Dort werden alle Geschwister sein. Madleen, Anina, Theo und André. André, dann lerne ich ihn auch noch kennen. Es wird sicher ähnlich sein, wie heute.
Ich habe keine grossen Erwartungen, was für mich ok ist.
 
Es ist der 27. September 2018

Es ist Donnerstag. Ich bin auf dem Weg nach Hause und ein bisschen nervös,
weil wir uns gleich alle treffen werden. Es ist nicht so mein Tag und ich werde bestimmt nicht lange bleiben. An solchen Tagen gehe ich nicht gerne unter Menschen,
sondern ziehe mich lieber zurück. Ich werde trotzdem kurz hinfahren.
 
Ich gehe nicht gerne allein in Lokale rein und habe gebeten, dass wir uns draussen treffen.
Anina, Madleen und Theo sind schon da, als ich komme.

Ich begrüsse alle und wir warten auf André.

Ich bin unsicher, weil es seltsam ist.
Ich habe die letzten Jahre
erfolgreich meine Familie verdrängt.
Sowieso liess ich niemanden an mich, da meine Angst vor Enttäuschung eingebrannt war.
Familie war als Thema erledigt und ich hatte dazu kein Gefühl.
Geschwisterliebe war mir völlig fremd.

 
Wir haben so viele Halbgeschwister und alle nie richtig kennen gelernt.
Ich schaue in die Runde.

Madleen und Anina kennen sich gut, sie haben sich schon öfters getroffen.
Sie unterhalten sich. 
Theo, er wird bald wieder zurück fliegen.
Er steht ein wenig abseits und schaut, wie ich, in die Runde.
Wir werden uns sicher nicht mehr hören, wenn der Abend vorbei ist. 

Ich sage nicht viel. 

Da kommt er. André. Mein grosser Bruder.
Ich habe ihn nie kennen lernen wollen. Er hatte sicher genauso wenig Interesse.
Es war nie ein Thema. Schon von Weitem sehe ich eine Ähnlichkeit.

Dann ist er da und reicht mir seine Hand: " Ich bin André. Freut mich dich endlich kennen zu lernen." 

Wie beschreibe ich etwas Unbeschreibliches?

Ich schaue in seine Augen und sehe mich.
Er hat die gleichen Augen wie ich, wie Papa.
Ein komisches Gefühl, ich bin unsicher. 
Ich fühle etwas, was ich nicht kenne.

Wir gehen zusammen rein und setzen uns.
André sitzt mir direkt gegenüber und schaut mich an. 
Er schaut mich an, beobachtet mich, wie ich Theo beobachtet habe.

Ob er das Gleiche sieht wie ich?

Ich bin neugierig und wir kommen ins Gespräch.
Ich bleibe zurückhaltend, weiss nicht so richtig was ich sagen soll.

Schnell finden wir eine Gemeinsamkeit. Die Berge, der Schnee. 
Ich liebe die Berge. Es ist schön, sich mit ihm zu unterhalten.

Es geht an dem Abend ganz gut, aber nach einer Stunde wird mir langsam unwohl.
Eine kleine Panikattacke bahnt sich an.
Es liegt nicht an ihm. Es ist die Umgebung.
Zu viele Menschen, zu ungewohnt diese Situation.
Ich kann mein Gefühl nicht beschreiben. Ich werde lieber gehen.

Wir gehen zusammen raus und verabschieden uns.

André: "Es war wirklich schön dich kennen zu lernen. Vielleicht bis bald."

Ich fahre nach Hause und bin in Gedanken. Was war das für eine Begegnung?
Er geht mir den ganzen Abend nicht aus dem Kopf. 

Es war so besonders ihn zu treffen.
 
Ich bekomme eine Nachricht:
André: "Schön, dass ich dich heute kennen gelernt habe,
hab mich sehr gefreut hoffe wir sehen uns mal öfter."

Ich bin verwirrt. Kann mein Gefühl nicht einsortieren. Ich freue mich über die Nachricht.

Ich antworte: "Ich habe mich auch gefreut. Es wäre schön, wenn wir uns mal wiedersehen."

Der folgende Samstag

Wir frühstücken und mein Handy klingelt. Eine neue Nachricht. André.
Mir ging sowieso schon der Abend nicht aus dem Kopf.
Wir haben einander so viele Fragen und lernen uns kennen.
Er interessiert sich sehr für mich und mein Leben,
so wie ich mich für ihn und sein Leben interessiere.
Wir schreiben bis zum Mittag durch. Es ist so spannend und aufregend.
Er ist so lieb zu mir.
Ich habe so unendlich viele Fragen.
Am Abend schreiben wir weiter. Ich freue mich schon.

Am Abend erhalte ich die schönsten Nachrichten, die ich je erhalten habe.

André: " Ich bin so froh, dass ich alle meine Schwestern jetzt zusammen habe
und ich gebe euch alle nicht mehr auf.
Auf dich muss ich besonders aufpassen, weil du die Kleinste bist." 

André: " Eins sage ich dir noch, ich bin so stolz,
dass ich eine kleine hübsche Schwester habe, das ist ein ganz tolles Gefühl."
André: " Ich habe dich wahnsinnig lieb."

Ich fühle mich nicht gut. Diese Nachricht überfordert mich.
Ein Kribbeln im gesamten Körper, das kenne ich nicht.
Wieso schreibt er das? Ich damit nicht umgehen. Es löst Chaos in mir aus.

Ich muss durchatmen. Das ist das erste Mal in meinem Leben,
dass ich solche Worte von jemandem aus meiner Familie höre.
Ich weiss nicht, damit umzugehen. Ich denke nach. 

Ich kann nicht klar denken. Die Nachricht überfordert mich so sehr.
Familie, die mich liebt und mir solche Worte entgegenbringt, habe ich nie gehabt.
Ich fand mich seit Jahren damit ab, von der Familie ungeliebt zu sein.
Mein Herz war völlig verschlossen. Was würde passieren, wenn...

Bisher war ich allein, auf mich gestellt. Plötzlich ist er da. 
Er sagt mir, dass er mich lieb hat und stolz auf mich ist.
Ich habe mir so etwas immer gewünscht. Er tut es. Einfach so.

André, keine Ahnung wie ich damit umgehen soll.
Ich bin überfordert.
Ich werde trotzdem schreiben, liebe Worte.
Er kann nicht wissen, was mit mir los ist.
Ich kann mein Handy nicht beiseitelegen,
weil ich Angst habe etwas zu verpassen.
Ich habe Angst, dass er weg ist, nicht mehr antwortet.

Wie soll ich mit dieser Situation umgehen?

Es ist alles neu für mich und ich habe ihn gern.
Er ist mein Bruder, ein Teil von Familie, den ich mir sehnlichst gewünscht habe.
Ein totales Durcheinander.

Es ist Sonntag

Heute treffen wir uns allein.

Ich habe Angst.
Grosse Angst.
Angst vor einer Enttäuschung.

Wir werden spazieren gehen. Alleine.
Wir haben uns so viel zu erzählen, wie wir aufgewachsen sind und was wir erlebt haben, wie unser Leben ist. Ich bin unglaublich aufgeregt.
Ich freue mich sehr, ihn wieder zu sehen.
Ohne meine Medikamente kann ich aber nicht los. Ich kann es einfach nicht.
 
Meine Gedanken kreisen.
Was, wenn er mich doch nicht mag?
Was, wenn wir uns nichts mehr zu erzählen haben?

Schweigen wäre das Schlimmste, was passieren könnte.
Ich entwickle eine kleine Hoffnung. Hoffnung auf ein Teil Familie,
der mir immer gefehlt hat.
Ich mache kein Geheimnis daraus und schreibe ihm, dass es schwierig für mich ist,
ich mich unsicher fühle.
So ist er vorbereitet.

Er beruhigt mich im gleichen Moment und gibt mir die Sicherheit,
dass alles in Ordnung ist. Wir würden nur spazieren gehen.
Ich nehme trotzdem etwas zur Beruhigung und fahre los.

Ich fühle mich nicht gut und hoffe, dass es gleich vergeht.
Noch könnte ich zurück und es einfach sein lassen. Dann wäre alles wie bisher.
Wir könnten ab und zu mal schreiben. So, wie bei allen anderen auch.
So, wie ich es immer mache. Er würde nicht näher als jetzt an mich herankommen.

Das wäre der sicherste Weg für mich. Meine Gedanken überschlagen sich.

Was wäre, wenn ich ihm vertraue, ihn in mein Herz lasse?

Ich kann nicht sagen, was passiert, nach so vielen Jahren der Verdrängung und Enttäuschung. Was ist, wenn ich das nicht schaffe? Es gäbe kein zurück.
Ich weiss, was bei mir verborgen ist. Es schlummert, seit vielen Jahren.
Ich muss mich entscheiden.

Ich
 komme an und er freut sich, genau wie am Donnerstag. Es ist schön, das zu sehen.
Er umarmt mich und ich lasse es zu.

Es ist ein neues Gefühl.
Es ist eine Nähe, die ich nie hatte.
Es fühlt sich schön an.
Der Moment, ich würde ihn am liebsten anhalten.

Es ist ein Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit, Familie.

Unbeschreiblich.

Ich bin hin und her gerissen. Meine Hoffnung wird grösser, als die Angst.

Wir gehen zum See und unterhalten uns. Wir reden und reden. Stundenlang.
Ich weiss nicht, wie viele Runden wir bereits gelaufen sind.
Er erzählt mir, wie er aufgewachsen ist und wie es früher war.
Ich bin schockiert und traurig darüber, dass er so leben musste.
Er hatte aber Glück. Er ist bei einer anderen tollen Familie gross geworden.
Ich fühle mit ihm. Ich fühlte nie mit jemandem mit. Er bringt alles durcheinander.

Ich könnte den ganzen Tag zuhören.
Ich erzähle ihm, wer ich bin, was mir passiert ist, wie meine Familie ist.
Ich erzähle ihm, dass ich niemandem vertraue und Angst habe ihm zu vertrauen.

Das ist der Moment, in dem sich alles ändern wird.
Ein Moment, wo ich mich entscheiden muss.

Er macht mir klar, dass er ab jetzt für mich da sein wird und ich keine Angst haben muss. Es fällt mir schwer, aber ich habe eine Verbindung mit ihm,
die ich mir nicht erklären kann. Ich beginne ihm zu vertrauen. 

Es vergehen Wochen, die wir zusammen schreiben. Jeden Tag.
Morgens beim Aufwachen, abends vor dem Schlafengehen.
Es ist toll. Ich liebe es so sehr einen grossen Bruder zu haben.
Wir telefonieren und sehen uns regelmässig und ich geniesse es jedes Mal,
wenn er mich in den Arm nimmt. Auch wenn es nur kurz ist.
Manchmal tut es uns beiden sehr weh,
dass wir uns erst so spät kennen gelernt haben.
Ich hätte ihn so sehr gebraucht.

Ich weine oft in dieser Zeit, weil ich ihn vermisse.
Ich vermisse es, dass ich ihn nicht hatte.
Ich vermisse es, nicht dabei gewesen zu sein, was er erlebt hat.
Ich vermisse einfach alles.
Mir kann niemand diese Zeit zurückgeben.
Es tut mir so weh, aber wenn ich mit ihm schreibe oder ihn höre, ist es gut.

Die ganze Situation überfordert mich. Es überfordert mich, dass er für mich da ist.
Es überfordert mich, dass ich ihn 34 Jahre nicht hatte.
Es überfordert mich, dass ich ihn gern habe und es zulasse ihm zu vertrauen.
Ich fühle mich aber auch vollständig. Was für ein Chaos.
Ich kann nicht mehr zurück.

In vielen Situationen hätte er für mich da sein können.
Er hätte mir helfen können, als niemand da war. Ich wäre so gerne mit ihm aufgewachsen. Ich bin unglaublich froh, dass er nun da ist.
Wir haben eine tolle Zeit und wir beschliessen bald zusammen in den Urlaub fahren,
zu meinem Geburtstag.

Ich lasse es zu, zu lieben. Bedingungslos.
Der erste gemeinsame Urlaub
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7.  Die Begegnung mit André

Der erste gemeinsame Urlaub
Heute Nacht geht es los

Ich bin nervös, durcheinander.
Ich fahre nicht gerne aus meiner gewohnten Umgebung weg.
Ich habe Angst. Ich bin es gewöhnt, dass Jonny dabei ist.
Er kann mir helfen, wenn ich Panik bekomme.
André kennt es nicht. Was ist, wenn mein Körper versagt?
Was, wenn ich auf der Skipiste eine Attacke habe und zurück muss?
Was, wenn er mich vielleicht dann doch nicht mehr mag?

Wir werden ein paar Tage zusammen verbringen.
Ich habe grosse Sorge, dass es danach anders wird.
Wir brauchen diese Zeit aber zusammen.
Wir können reden und uns besser kennen lernen.
Zusammen Skifahren und gemeinsam Essen gehen. 
Das ist eine grosse Herausforderung für mich.
Ich freue mich auf die gemeinsame Zeit.

Ich habe mich zur Sicherheit gut mit Medikamenten eingedeckt. Ich hoffe es reicht aus.
Es ist nach wie vor für mich eine grosse seelische Belastung, wie es ist.
Meine Angst enttäuscht zu werden ist enorm.
Ich versuche es auszublenden, da meine Freude im Moment grösser ist, ihn zu haben.

Es ist Nacht und mein Handy klingelt. Er ist da. 

Ich zittere, weil ich angespannt bin.
Ich ziehe mich an, hole meine Sachen und wir fahren los.
Ich bin wahnsinnig aufgeregt.
Es ist gut, dass noch Nacht ist. Ich kann ein wenig im Auto schlafen.
Wir werden ein paar Stunden fahren, bis wir da sind. Es geht ins Stubaital.

Hin und wieder werde ich wach. Ich beobachte ihn. Ich bin so glücklich.
Ich habe so ein Glück nie empfunden. Ich fahre mit meinem Bruder in den Urlaub.
Es wird hoffentlich schön. Die Angst bleibt.

Wird danach alles anders?

Wir sind da. Die Berge, wie sie im Hintergrund leuchten. Schnee.
Ich liebe die Berge. Wir checken ins Hotel ein und dann geht es schon auf die Piste.
Ich bin ein blutiger Anfänger und meine Kondition ist nicht die Beste.
Ich hoffe es ist ok für ihn. Er müsste nicht warten.
Es ist mir unangenehm, dass ich so langsam bin.
Er ist aber sehr verständnisvoll und das beruhigt mich sehr.
Es ist ein schöner Tag.  
Wir verstehen uns prima und ich habe keinen Zweifel mehr daran, dass alles gut wird.
Ich vertraue ihm vollständig.
Er ist ein besonderer Mensch.

Ein paar Tage haben wir Zeit, bevor es zurück geht.

Mein Geburtstag

Dieser Geburtstag war mein erster, der besonders war.
Meine Geburtstage waren immer traurig. Die Besuche bei mir waren meistens Pflichtbesuche. In einem Jahr war sogar keiner da. Niemand.
Nicht eine einzige Person. Ich sass vor meinem Kuchen und weinte.
Das war einer der schlimmsten Geburtstage.
Ab diesem Tag wollte ich nicht mehr feiern.

In diesem Jahr war alles anders.
Ich brauchte keine Geschenke, keine Party, keine Besuche.
Alles was ich mir gewünscht hatte, war Zeit. Zeit mit André.

An meinem Geburtstag sind wir zurückgefahren und wir hatten eine schöne Zeit.
Die Stunden der Rückfahrt waren für mich besonders, so wie der ganze Urlaub.
Ich freute mich auf zuhause. Ich hatte Jonny und unsere Tochter ein paar Tage nicht gesehen.
Das war ungewohnt. Sie warteten schon auf mich.
Sie hatten mir einen gedeckten Tisch, Kuchen und Geschenke bereit gestellt.
Es war so schön.
André kam noch mit rein, bevor er zu seiner Familie nach Hause fuhr.

Wir sassen noch einen Moment zusammen am Tisch.
Das war mein grösstes Glück.
Ich schaute in die Runde und konnte es geniessen, nicht mehr allein zu sein.
Dieser Geburtstag war der schönste in meinem Leben.
Ich würde alles geben, dass dies so bleibt.
Ich war zuversichtlich und vertraute darauf,
dass ich ab jetzt meine Familie vollständig habe.

André ist ein toller Mensch. Ich schätze sehr, wie hilfsbereit er ist.
Er hat eine tolle Familie und unterstützt sie, wo er kann.
Er tut alles für sie.

In den nächsten Wochen sollte sich mein Glück wenden, da ich nicht sah, was bereits lange vor mir da war.
Januar 2019 Die Entscheidung
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8.  Ein neues Ziel: Auswandern

Januar 2019 Die Entscheidung
Wir hatten vor einigen Jahren schon mit dem Gedanken gespielt, auszuwandern.
Nach meiner Ausbildung bekam ich aber einen guten Job und wir lebten gut.
Es fehlte uns an nichts und wir schoben diesen Gedanken auf.
 
Das Leben in der Umgebung, wo wir wohnten, änderte sich zunehmend.
Ich hatte Angst, allein auf die Strasse zu gehen.
Angst meine Tochter allein raus zu lassen, in der Sorge,
dass ihr etwas passieren könnte. Die Kriminalität stieg.
Die Menschen wurden immer unfreundlicher.  
Jeder war sich selbst der Nächste. Eine Ellenbogengesellschaft.

Eine Begegnung im Dezember brachte den Gedanken erneut auf.
Jonny wollte nicht mehr warten. Eine Entscheidung musste her. 

Wir kannten bereits mehrere Personen aus dem näheren Umfeld, die ausgewandert waren.
Wir hörten, wie zufrieden sie sind. Ein sorgenloses Leben, das hätte ich auch gern.

Wir besuchten eine Familie und schauten uns das Land zum ersten Mal an.
Ganz überzeugt war ich noch nicht, aber Jonny wollte den Schritt wagen.
Ich würde mit ihm überall hingehen. Es konnte nur besser werden.

Ich stimmte zu.
Meine grösste Hoffnung: Vielleicht komme ich dort zur Ruhe.
Vielleicht heilt es meine Phasen und Zustände, die ich so wenig ertragen konnte. 

Was hatten wir schon zu verlieren? Jobs waren ersetzbar.
Das Haus machte enorm viel Arbeit und der Garten war für mich kaum zu bewältigen.
Immer wieder neue Ziele, die wir uns setzten. Wir kamen nie richtig an.

Aber ich hatte André zu verlieren.
 
Ich war hin und her gerissen. 
Eine unsichere Zeit sollte es werden.
Ich wusste aber, dass wir es schaffen würden,
wenn wir hart genug daran arbeiten.

Somit stand es fest.
Wir werden das Land verlassen.

Wir erzählten es unseren Freunden und der Familie.
Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich.
Von ungläubig über schockiert bis hin zu uninteressant. 

Es war eine grosse Aufgabe, die uns bevorstand. 

Als ich es André erzählte, nahm es ihn sehr mit.
Wir telefonierten oft und ich beruhigte ihn,
in dem ich ihm versprach regelmässig zu kommen.
Er gab mir jeden Tag das Gefühl, dass er mich sehr vermissen würde.  
In der Planung würden wir berücksichtigen, dass ich möglichst oft zu ihm kann.
Ich würde mein Wort halten.
Ich wollte ihn nicht verlieren und würde alles tun, damit er glücklich ist. 
Die Planung
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8.  Ein neues Ziel: Auswandern

Die Planung
Ich holte mir alles an Informationen, was wir brauchten.
Wenn wir in ein fremdes Land gehen, durfte nichts schief gehen.
Wir schauten uns das Land genau an.

Welche Orte würden in Frage kommen? Wie sind die Menschen?
Welche Bräuche gibt es in dem Land? Es gab viel zu entdecken.

Wir druckten uns eine grosse Karte aus und fingen an, Bereiche zu markieren.
Die fremdsprachigen Gebiete fielen als erstes raus, da wir keine Fremdsprache gut konnten.
Wir informierten uns, in welchem Gebiet Jonny eine gute Aussicht auf einen Job hat.
Er wird als erstes versuchen einen Job zu finden.
Wir suchten nach einem zentralen Gebiet von Banken. Die meisten Banken haben ihren Zahlungsverkehr in der Grossstadt, so dass diese für mich günstig zu erreichen sein sollte.
Dort könnte ich später suchen.

Der für mich wichtigste Punkt war aber, möglichst eine gute Verbindung zum Flughafen zu haben, damit der Weg nicht weit ist.
Ich hatte geplant, alle zwei Wochen oder wenigstens
einmal im Monat zu Besuch zu kommen.

Ich wusste, wie sehr ich André vermissen würde.
Ich habe es ihm versprochen und würde es auch halten.
Regelmässig hinzufliegen wäre ohne Probleme möglich.

Nach dem wir uns festgelegt hatten in der Nähe eines Sees zu suchen,
wurden wir relativ schnell fündig.
Die ersten Bewerbungen von Jonny gingen raus.

Die Suche hatte schnell ein Ende
und er erhielt seinen ersten Arbeitsvertrag für den 01. Juni.
Das ging schnell. Wow, wir würden wirklich auswandern.
Richtig real war es nicht. Ich plante und plante, mehrere Szenarien,
falls eines schief laufen würde. Für alles einen Plan B.
Für das Haus hatten wir mindestens genauso schnell einen Käufer
und mussten überlegen, wie wir alles abwickeln.

Das Haus, ein Glück, dass wir es hatten.
Somit war unser Startkapital gesichert.

Ich konnte mich noch nicht richtig lösen. 
Ich wollte es weit nach hinten hinaus zögern.
Ich kündigte zunächst für Dezember, da ich keinen neuen Job hatte.
Ich suchte aber bereits parallel und bin dann auf "die Anzeige" gestossen.

In einer Stadt suchten sie jemanden für den Zahlungsverkehr.
Ich hatte alle Voraussetzungen, die sie wollten.
Es war die gleiche Stelle, die ich in Köln hatte, in dem Bereich, wo ich so gut war.
Ich bewarb mich.
Es wäre ein Jackpot, diesen Job zu bekommen. 

Sie suchten bereits für den August. Das war deutlich früher als ich wollte.
Ich liebte meinen Job in Köln und die Kollegen würde ich sehr vermissen.
Wir hatten uns aber entschieden. Für eine sicherere Umgebung.
Ich musste mich lösen.

Ich erhielt die Zusage und war überglücklich. Für einen Moment.

Alles lief reibungslos.
Der Kontakt bricht ab
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8.  Ein neues Ziel: Auswandern – Mein grösster Verlust.

Der Kontakt bricht ab
Während wir gut mit der Planung voran kamen, bekam ich ein ungutes Gefühl.

André schrieb weniger. Arbeit und Stress, das konnte ich nachvollziehen.
Solche Nachrichten kamen aber immer öfter.
Online. Offline. Online. Offline.
Keine neue Nachricht.

Sehen konnten wir uns immer weniger, da er am Wochenende immer öfter Besuch bekam. Der Kontakt wurde Stück für Stück weniger.
Das konnte ich nicht.
Nach so vielen Jahren war er endlich da und das sollte nun vorbei sein?
Ich fing an mir Sorgen zu machen.
Sollte sich meine Angst doch bestätigen?
Hatte er bereits genug von mir?

Hoffnungsvoll wartete ich abends auf die letzte Nachricht vor dem Schlafengehen,
die wir uns die letzten Monate geschrieben hatten.
Nichts.
Angst machte sich breit, das Herz pumpte.
Die ersten Tränen liefen, weil ich es ahnte.
Ich ahnte was passieren würde und wollte es nicht.
Jede Nachricht, die ich von da an weniger erhielt,
war wie tausend Nadeln mitten ins Herz. Er hatte keine Zeit mehr für mich.
Ich fühlte mich unwichtig.

Die nächsten Wochen wurden schwer. Sehr schwer. 

Ich machte kein Geheimnis daraus, wie sehr ich ihn brauchte.
Ich flehte ihn an, den Kontakt zu halten, mich nicht allein zu lassen.
Kurze Antworten. Vertröstungen. 
Tag für Tag zerbrach ich immer mehr.

Wo war der André, der mich so gern hatte?
Wo war der grosser Bruder, der er für mich sein wollte?

Ich versuchte den Kontakt aufrecht zu erhalten.
Er machte es mir schwer. Immer mehr Ausreden.
Viel Arbeit. Besuch. Eingeschlafen.
Jeden Tag weniger und weniger Kontakt.
Ich verstand es nicht.
Er hatte es mir versprochen, mich nie mehr allein zu lassen. 
Er wollte auf mich aufpassen.
Ich brauchte ihn. Ich brauchte ihn so sehr.
Ich wusste nicht mehr, was ich hätte tun können. 
Es tat so weh. Ich war verzweifelt.

Ich weinte jeden Abend. Jede Nacht begleiteten mich Alpträume. Verlustängste.
Ich hätte es wissen müssen. Es war meine Schuld.
Ich wusste, dass ich das nicht kann.
Vertrauen. Lieben.
Das war nichts für mich.

Dieser Schmerz den ich die nächsten Monate erlebte,
war mit nichts zu vergleichen was ich je erlebt habe.
Ich verlor mich selbst und versuchte gleichzeitig ein neues Leben aufzubauen.
Stark zu sein.
Meine Gedanken drehten sich immer um die gleiche Frage.
Ich hielt es kaum aus. Diese quälenden Gedanken für ihn nichts mehr Wert zu sein. Unwichtig zu sein. Meine Hoffnung blieb.
Ich hoffte jeden Tag, dass es sich ändert.

Böse sein konnte ich ihm nicht. Niemals.
Konnte er wissen, wie sehr er mich tatsächlich verletzte?
Er hatte meine Rückschläge nicht miterlebt.
Er wusste nicht, wie sehr ich in meinem Leben bis hierher gekämpft habe.  
Erzählen ist nicht erleben. Er ist ein guter Mensch.
Es war meine Schuld.

Ich wollte nur eine vollständige Familie.
2019 Wir ziehen um
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8.  Ein neues Ziel: Auswandern – Mein grösster Verlust.

2019 Wir ziehen um
Ein paar Wochen war ich noch in Deutschland
und ich sah ihn immer seltener.
Ich konnte ihn nicht loslassen. Ich wollte ihn nicht loslassen.
Er gab mir meine Vollständigkeit, meine Familie.
Ich wollte ein Teil seiner Familie sein. Es wurde immer schwieriger.

Ende Mai war unser Haus verkauft und wir räumten es aus.
Es war komisch. Kartons überall.
An unserem letzten Tag im Haus, ging unsere Tochter morgens zur Schule.
Wir bereiteten sie darauf vor, dass das Haus am Mittag leer sein würde. 
Der Transporter kam sehr früh morgens
und die Helfer trugen all unser Hab und Gut in den LKW.
Sie waren schnell und der LKW bis zum Rand gefüllt.
In knapp zwei Stunden passte das ganze Haus in einen Wagen.
Nichts vergessen. Die Räume alle leer.

Der LKW fuhr los. 

Wir gingen zurück ins Haus, durch jeden Raum.
Eine schöne Zeit hatten wir hier gehabt. Eine noch schönere Zeit stand uns bevor.
Eine knappe Stunde später kam sie von der Schule zurück und hatte die Gelegenheit,
das Haus ein letztes Mal zu sehen.
Die neuen Besitzer kamen und wir übergaben das Haus.
Ein zufriedenes Gefühl stellte sich ein.

Wir gingen in unsere Autos und fuhren los.
Ein kleines Tränchen vergossen wir schon,
denn es war unser zuhause die letzten Jahre.

Erinnerungen bleiben.

Nun waren wir unterwegs. Unser ganzes Leben in einem LKW,
der morgen zu unserer neuen Wohnung kommen sollte.
Wir, unterwegs in die neue Heimat.
Eine lange Autofahrt stand uns bevor.
Am späten Abend kamen wir an und sahen zum ersten Mal unser neues Zuhause.

Es war alles leer, wie das Haus. In unserer neuen Wohnung war lediglich eine Matratze, auf der wir in dieser Nacht schlafen konnten. Alles war fremd und unsere Tochter weinte.
Sie wollte nach Hause. Zum ersten Mal bekam ich Zweifel, ob alles so richtig war.
Wir versuchten sie zu beruhigen und schliefen darüber ein.

Am nächsten Morgen durfte sie die neue Schule besuchen
und die Kinder kennen lernen.
Es war toll, als sie herzlich von den Kindern empfangen wurde.
Ein Lichtblick.

Wir brachten sie früh morgens hin und warteten anschliessend auf den LKW.
Er kam früher als geplant. Perfekt. Eine Sorge weniger.
Wir halfen beim Ausladen und stellten unsere Möbel an ihre neuen Plätze.
Bis zum Mittag waren wir mit dem Ausladen fertig und konnten sie von der Schule wieder abholen.

Ihre Erleichterung war deutlich zu spüren, als sie ihre Sachen sah.
Sie konnte sich ihr Zimmer einrichten, wie sie es haben wollte. Das machte ihr Spass.
Wir beide blieben bis zum Wochenende und mussten dann wieder zurück nach Deutschland. Unsere Tochter hatte Schule bis zum Schuljahresende und ich noch die Arbeit in Köln.

Jonny startete allein in unser neues Leben. 

Die nächsten Wochen verbrachten wir zwei allein in Deutschland.
Solange waren wir noch nie von Jonny getrennt. Sie vermisste ihn und ich auch.
Ich verbrachte die Zeit damit, Freunde und Familie zu besuchen.
So oft, wie in der Zeit, hatte ich manche seit Jahren nicht gesehen.
2019 Eine schlimme Phase der Depression beginnt
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8.  Ein neues Ziel: Auswandern – Mein grösster Verlust.

2019 Eine schlimme Phase der Depression beginnt
Wenige Wochen später verabschiedeten wir uns aus Deutschland. Der Abschied fiel mir nicht schwer. Zumindest nicht bei allen. Mein letzter Besuch vor der Abreise war bei André. 
Ich fühlte bei der letzten Umarmung wie sehr ich ihn vermissen werde.

Ich ging ins Auto und fuhr los. Traurig. Allein. Durcheinander.
Ich war voller Vorfreude auf das neue Leben. Meine grösste Hoffnung war, dass meine Panik besser wird. Eine neue Umgebung, so war meine Idee, hätte das Richtige sein können.

August 2019

Ein schönes Land, wo wir wohnen. Wir haben einen See und die Berge.
Jonny hat einen Job und ich beginne Mitte August. Die Menschen sind alle so freundlich und hilfsbereit. Ich habe abends keine Angst auf die Strasse zu gehen.
Meine Tochter kann sich frei bewegen. Es ist schön. Befreiend. Wir sind viel draussen.
Gehen spazieren. Schauen uns die Gegend an. Es ist alles so schön.
Noch bin ich abgelenkt, weil es viel zu entdecken gibt.
Mein Job beginnt bald und ich freue mich darauf.

Meine Arbeitskollegen sind toll. Hilfsbereit und freundlich.
Ich hätte nie erwartet, dass wir so gut ankommen werden in diesem Land.
Mein Blick geht immer noch jeden Morgen auf mein Handy.
Hat André sich vielleicht gemeldet?
Ich versuche den Kontakt zu halten. 
Jedes Mal, wenn ich nur ein wenig zur Ruhe komme, schmerzt es.
Ich schaue auf mein Handy, immer wieder.
Ich habe jeden Tag Hoffnung, dass er sich meldet.
Ich bin jeden Tag in Gedanken und kann manchmal selbst auf der Arbeit
die Tränen nicht zurückhalten, aber ich muss.

Ich funktioniere einfach, aber anwesend bin ich nicht.
Den Neustart kann ich trotz des schönen Landes nicht geniessen.
Fehlt mir doch einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.


Tag ein, Tag aus gehe ich zur Bahn, schaue auf mein Handy, warte, hoffe. Ich steige ein. Schaue raus. Es ist schön draussen, ich liebe es hier. Ich möchte es ihm so gerne zeigen.
Er meldet sich nicht. Er hatte versprochen zu kommen. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Es ist furchtbar und wird jeden Tag schlimmer. Trotzdem funktioniere ich weiter.
Ich mache meine Arbeit. Stehe am Bahngleis. Bin ich so ein schlechter Mensch?
So uninteressant? Was mache ich überhaupt noch hier? Ich fühle mich ungeliebt.
Überflüssig. Die Bahn fährt ein. Ein kleiner Gedanke. Ein schlimmer Gedanke.

Was wäre, wenn?

Ich falle in eine tiefe Depression, schmerzhaft, innerlich zerrissen und
das Gefühl von absoluter Hoffnungslosigkeit.
Ich kann nicht mehr. Dieser Schmerz, so allein gelassen zu werden.
Ignoriert zu werden.
Es treibt mich in den Wahnsinn. 
Die Bahn hält und ich steige ein. Ein weiterer Tag geschafft.
Ein Stück aufwärts
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8.  Ein neues Ziel: Auswandern – Mein grösster Verlust.

Ein Stück aufwärts
Jonny versuchte, mich zu beruhigen wo er konnte. Er war für mich da. Immer.
Je länger der Abschied aber zurück lag, um so unverständlicher wurde es. Nachvollziehbar.
Er gab sein Bestes, um mir zu helfen.

Dabei hätte es längst aufhören sollen zu schmerzen.
Was soll ich sagen? Wie kann ich es erklären?

Der Verlust war der schlimmste meines Lebens.
Ein Verlust, der für mich nicht zu verkraften war.
Ich versteckte mich zunehmend, um zu weinen.
Wollte nicht mehr, dass er mich weinen sieht. Immer wieder.
Abends wartete ich, bis er eingeschlafen war. Immer mit dem Blick auf das Handy.
Ob er schon online war? Wie es ihm wohl geht?
Warum fragt er nicht, wie es mir geht?
Meine Gedanken quälten mich. Tränen liefen.

Ich war froh, als ich Ben schreiben konnte. Mein Cousin. 
Ich hatte in den letzten Wochen in Deutschland wieder Kontakt zu ihm aufgenommen.
Nachdem ich kennen gelernt hatte, was Familie bedeutet,
auch wenn es schmerzhaft war, suchte ich diesen Kontakt wieder.
Wir trafen uns öfters und schrieben seitdem jeden Tag.

Es war, wie in Kindertagen.

Es gab viele Tage, an denen ich am liebsten aufgegeben hätte.
Tage, an denen er für mich erreichbar war.
Genau in den Momenten, als es kritisch wurde.

Ich war erneut an dem Punkt, mich selbst verletzen zu wollen.
Ich wollte den Schmerz kontrollierbar machen, eine Lösung war das nicht.
Das wusste ich. Ich wollte nicht zurückfallen. Ich war schon so weit gekommen.

Also schrieb ich ihm. Ich schrieb ihm all meine Gedanken.
Sie waren heftig, aber er hielt sie aus.
Es beruhigte mich zu wissen, dass er mir zuhörte, Verständnis zeigte. 

Er holte mich Stück für Stück ins Leben zurück. Es dauerte Monate.

Neben Jonny verdanke ich ihm, dass es mir heute besser geht.
Vor der Coronazeit
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9.  Die Coronazeit

Vor der Coronazeit
Wir haben uns gut eingelebt. Es ist, wie wir uns das vorgestellt haben.

Es gibt immer wieder Momente, die mich zurückversetzen.
Ich vermisse André, aber es muss weiter gehen.
Ich kämpfe weiter, dass es aufhört weh zu tun.
Der Kontakt bleibt gering. Es scheint besser zu sein.

Vielleicht.

Ich wünsche mir so sehr, dass es anders ist.
Selten schreiben wir, aber es tut weh.

Es gibt bereits andere Fortschritte, die ich hier machen konnte.
Das macht es erträglicher.

Die letzten Monate in dem neuen Land haben mir geholfen.
Meine Panik, sie verschwindet mehr und mehr.
Es ist so ruhig und friedlich hier. Die Natur beruhigt.
Die Menschen auch. Sie sind zufrieden. Positiv.
Ich bin viel an der frischen Luft, gehe wandern, mache Sport.
Es tut gut. Es ist befreiend.

Ich kann mit Kollegen ausgehen, ohne Medikamente nehmen zu müssen.
Das ist der grösste Fortschritt. Ich fühle mich langsam lebendig. Normal.

Die depressiven Phasen kommen hin und wieder,
aber ein Spaziergang in die Berge oder durch die Wälder erholen mich.
Ich fahre alleine Bahn, geniesse den Spaziergang durch die grosse Stadt.
Vor wenigen Monaten wäre das nicht möglich gewesen.

Ich finde allmählich meine innere Ruhe.
Unsere neue Heimat heilt mich. Stück für Stück.
In die alte Umgebung zurück, möchte ich nicht mehr.
Denn dort, kommt alles wieder hervor.

Ich schätze sehr, was wir erreicht haben, gemeinsam. 
Es war ein weiter Weg, aber mit den richtigen Menschen an meiner Seite,
habe ich es geschafft.

Ich konnte endlich aufstehen und stehen bleiben.

Diese Art, wie wir leben, gibt mir die nötige Freiheit.
Corona beginnt
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9.  Die Coronazeit

Corona beginnt
Mit Corona änderte sich plötzlich einiges.
Läden mussten schliessen, Kontakte durften nur auf ein Minimum reduziert werden und auf der Arbeit mussten wir neue Ideen schaffen, um den Alltag bewältigen zu können.
Es kam zu einer Teilung unseres Teams.
Ein Teil musste im Büro auf verschiedene Etagen verteilt werden,
ein anderer Teil ging ins HomeOffice.

Ich durfte ins HomeOffice. Der erste Tag war ziemlich aufregend, da ich noch nie von zuhause aus gearbeitet habe. Obwohl es mir ja bereits besser ging, war dies wie Urlaub für mich, obwohl ich mich durchgehend beschäftigen konnte.

Ich wurde in der Zeit oft gefragt, ob jemand mit mir tauschen soll, damit ich wieder unter Menschen komme, sie hatten sich Sorgen gemacht, dass mir die Decke auf den Kopf fallen könnte. Sie konnten nicht wissen, dass es für mich normal war allein auf länger Zeit zuhause zu sein.

Absolute Gewohnheit. Ruhe. Erholung.

Nach drei Monaten der Ruhe durfte ich wieder zurück ins Büro. Die Bahnen waren leer, die Menschen gingen sich aus dem Weg.

Mit meiner Vergangenheit und meiner Geschichte war das wie ein Geschenk für mich.

Obwohl Corona viel Leid verursachte, tat es doch den Menschen gut, die sich in einer ähnlichen Lage wie meiner befanden. Es zeigte den Menschen, dass alltägliche kleine Dinge wichtiger sind, als all der Luxus und die Geschwindigkeit in der wir bisher gelebt haben.

Auch mich hat Corona erwischt. Nicht einmal, nicht zweimal.

Ich bin dankbar für diese Zeit, so schlimm sich das anhören mag. Es hat die Menschen wieder mehr zusammengeführt, nachdem man sie voneinander entfernt hatte. Es hat die Gesundheit wieder mehr in den Vordergrund gerückt, statt krank zu arbeiten. Es hat gezeigt, wie wichtig der Mensch in der Wirtschaft ist, nicht die neueste Technik. Nicht nur.
Der Weg Richtung Burnout
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9.  Die Coronazeit

Der Weg Richtung Burnout
Nachdem wir die schlimmste Coronaphase überstanden haben, ergaben sich neue Möglichkeiten. Durch unsere Arbeitsteilung auf der Arbeit, die neuen Ideen, durfte ich mehr und mehr zeigen, was ich kann.

Meine Vorgesetzten haben so sehr auf mich vertraut, dass sie mir anboten, die Leitung zu übernehmen. Was ich? Als Leitung? Das bedeutet Meetings, Personalgespräche, Konflikte, Verantwortung. Grosse Verantwortung. Ich fühlte mich nicht bereit. Ich fühlte mich aber bestärkt. Das war ein grosses Geschenk mir soviel Verantwortung zuzutrauen. Ich lehnte zunächst ab.

Dennoch beteiligte ich mich an den Gesprächen zur Neuorganisation unseres Teams und zeigte immer weiter, was ich kann. Ich konnte nicht aufhören. Ich plante gern, brachte gern neue Ideen ein. Es wurde mir Mut zugesprochen und das Vertrauen in mich, dass ich es schaffen könnte, war gross. Sie boten mir immer wieder die Leitung an, bis ich auf Probe zustimmte.

Es war eine grosse Chance für mich. Doch, wie würde das funktionieren? Wie soll ich kritische Gespräche führen? Wie soll ich auf Konflikte eingehen? Wie kann ich jemandem sagen, was er zutun hat? Ich wollte, dass keiner sich schlecht fühlt oder ungern zur Arbeit geht. Ich wollte es allen recht machen. Meinen Mitarbeitern. Meinen Vorgesetzten. Dem anderen Team, welches mit einem Teil der Aufgaben ein eigenes Team wurde unter anderer Leitung.

Das ist nicht meine Natur. Meine Natur ist Rückzug, wenn es schwer wird.
Verstecken. Ruhig sein. Nicht auffallen. Auf in den nächsten Kampf.

Jetzt war ich eine Führungsperson. Wie sich das schon anhört. Ich war dankbar für die Möglichkeit. Sehr dankbar. Ich wollte beweisen, dass ich auch das schaffen kann.
Versagen war für mich keine Option, also stürtze ich mich in die Arbeit. Jeden Tag.

Und so geht Burnout

Phase 1 (Anfangsphase):

Ich war voller Energie. Ich blieb normal im Tagesgeschäft wie zuvor und kümmerte mich nebenbei noch um Projekte, Personalangelegenheiten und die neue Struktur, welche in unserem Team eingeführt werden musste. Ich machte Überstunden, die ich nicht mehr eingetragen habe, damit es nicht noch mehr werden. Ich war längst über dem Limit. Ich hatte Sorge, der anfallenden Arbeit nicht gerecht werden zu können. Es war viel. Sehr viel. Ich wollte aber dennoch beweisen, dass ich es kann. Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Meine neue Lebensphilosophie. Ich arbeitete gern und viel. Total übermotiviert. Am Abend vollkommen ausgelaugt, müde und gestresst.

Phase 2 (Reduziertes Engagement):

Der Stress auf der Arbeit und der Stress zuhause (es gab ja noch meine Tochter, die mittlerweile ihr Teenageralter erreicht hatte) wurde schlimmer. Ich war gereizt. Ich distanzierte mich wieder mehr, versuchte damit den Stress auszugleichen. Ich ging früh am Morgen zur Arbeit und kam spät am Abend zurück. Müde. Ausgelaugt. Gestresst.
Für meine Familie hatte ich keine Kraft mehr. Ich fing an mich nicht mehr wohl zu fühlen. Die Arbeit machte mir immer weniger Spass.

Phase 3 (Emotionale Reaktionen):

Langsam kam wieder diese Leere zurück. Meine Ängste wurden wieder stärker.
Meetings. Verantwortung. Stress. Überstunden. Unzufriedenheit. Keine gute Mischung.
Mir fiel es morgens schwer aufzustehen, um zur Arbeit zu fahren. Ich wusste jeden Tag es würde wieder zu Problemen kommen, der Stress war vorprogrammiert. Meine Laune war am Morgen schon im Keller und ich hatte keine Chance sie zu verbessern.

Phase 4 (Abbau):

Ich hatte schon einige Monate die Leitung und machte es nach aussen gut. Mein Team bestärkte mich und mein Vorgesetzter auch. Sie sagten, dass ich es gut mache. Aber es fühlte sich anders an. Ich gab mir jeden Tag mehr und mehr Aufgaben, versuchte in Perfektion das Tagesgeschäft zu strukturieren, wollte alle Anfragen sofort beantworten. Alle Mitarbeiter sollten zufrieden sein. Ich merkte, dass meine Konzentration abnahm. Regelmässige Pausen gehörten längst der Vergangenheit an. Meine Ideen wurden weniger und weniger, die Aufgaben hingegen immer mehr. Entscheidungen waren nur noch schwer zu treffen.

Phase 5 (Verflachung):

Ich verlor nach und nach das Interesse und fing an mich nach anderen Stellen umzusehen. Meinem Vorgesetzten teilte ich mit, dass ich die Leitung nicht mehr machen möchte. Wir einigten uns aber, dass ich es noch ein paar Wochen versuche und wenn es wirklich nichts für mich sein sollte, würden wir eine Lösung finden. Ich kämpfte weiter, aber ich merkte auch wie es egal wurde. Mein Leben bestand nur noch aus Arbeit und Schlaf. Ängsten und Stress. Ich merkte wie mein Körper zunehmend schwächer wurde.

Phase 6 (Psychosomatische Reaktionen):

Ich fühlte mich mehr und mehr krank, müde, erschöpft. Ich ging dennoch weiter arbeiten. Bis zu dem Tag, an dem mich Corona völlig umgehauen hat. Knock Out. Endlich.
Mich hat lange keine Krankheit mehr so umgehauen, wie diese. Der Körper hatte sich nun das geholt, was er bereits lange vorher gefordert hatte. Ruhe. Erholung.

Ich hatte grosse Mühe damit, dass ich nicht zur Arbeit gehen konnte. Wie es wohl läuft? Was die Projekte machen? Musste ich irgendwas organisieren? Ich hatte keine Kraft mir wirklich ernsthafte Gedanken darüber machen zu können, aber die Gedanken waren dennoch da. Während das Fieber in die Höhe schoss, dachte ich über die Arbeit nach. Das konnte nicht richtig sein. Mit jedem Tag, den ich nicht mit arbeiten verbrachte, wurde es langsam besser. Die Gedanken beruhigten sich, aber meine Krankheit blieb zunächst und schloss mich liegend in meine vier Wände. Aufstehen war nur mit grosser Mühe möglich. Ich schlief fast eine Woche, damit sich mein Körper erholen konnte. Erst in der zweiten Woche kam ich allmählich zu kräften. Als sich die zweite Woche dem Ende zuneigte konnte ich wieder aufrecht sitzen, hatte keine Lust mehr zu schlafen oder zu liegen. Ich war an einem Punkt angekommen, an dem ich merkte, dass es so nicht weiter gehen konnte.
Die 7 Burnout Phasen
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9.  Die Coronazeit

Die 7 Burnout Phasen
6 von 7 Burnout Phasen habe ich durchlaufen. Eine letzte Phase fehlte.

Phase 7 (Verzweifelung):

Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit macht sich breit. Man ist kaum noch in der Lage zu arbeiten oder für sich zu Sorgen. Es kann in dieser Phase zu Selbstmordabsichten kommen. Die letzte Phase ist mit Phase 6 zugleich die Schlimmste. Sowohl psychosomatische (körperliche) Reaktionen als auch das Gefühl der Hoffnungs- und Hilflosigkeit sind starke Symptome eines Burnouts.

Erkennst du dich bereits in den vorherigen 6 Phasen wieder, solltest du die Notbremse ziehen. Burnout ist schwerwiegend und sollte unbedingt erkannt und behandelt werden.
Die letzten Tage in der Burnout - Phase
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10.  Ich beginne zu Leben

Die letzten Tage in der Burnout - Phase
Glück gehabt.
Es war Dienstag. Ich erholte mich mehr und mehr, aber richtig fit war ich noch nicht.
Mir war langweilig und ich zappte ein wenig im Internet. Ich sah etwas, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Werbung. Es war Werbung von einem Event, welches am Freitag beginnen und am Sonntag enden sollte. Ganze drei Tage sollte es gehen und es war kostenlos und online. Thema: "Dein Leben auf ein nächstes Level heben." Kostenlos und online ist auch “nicht fit“ möglich. Vielleicht konnte mir dieses Event bei einer Entscheidung helfen? Vielleicht würde mir danach klar werden, ob und wie ich die Leitung noch machen will? Oder wie ich richtig "leite"?

"Kann nicht schaden", dachte ich und meldete mich einfach an. Ich bestellte mir das zugehörige Material nach Hause und war gespannt auf Freitag.

Zufall, Schicksal?
Next Level - Das Event
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10.  Ich beginne zu Leben

Next Level - Das Event
Anfang April 2022

Es war endlich so weit. Der Freitag war da, mir ging es gesundheitlich endlich besser und das Onlineevent konnte starten.

Der Freitag war eine Vorbereitung auf den Samstag, der bereits um 09:00 Uhr starten sollte.
Wir beschäftigten uns mit der Frage, weshalb wir mitmachen, was wir selbst in unserem Leben am meisten verändern wollen oder welche Bereiche des Lebens für uns nicht richtig rund laufen. Gut, das war nicht schwer. Meine Gesundheit und meine Arbeit waren für mich aktueller denn je. Ich war neugierig, was wir mit diesen Informationen am Samstag machen werden.

Es ist Samstag kurz vor 9 und ich schalte mich in den Videoraum, wo das Event gleich starten wird. Viele sind mit ihren Kameras zugeschaltet und wir können uns gegenseitig sehen. Es sind sehr viele Menschen, die an diesem Event teilnehmen.

Es geht los. Musik. Energiegeladene Menschen. Es wird erstmal getanzt. Um 9 Uhr morgens. Ok, ich mach einfach mal mit. Hüpfen, springen, Arme hoch, links, rechts, oben, unten. Ein wenig Bewegung, nach fast zwei Wochen liegen tut das gut. Es werden immer wieder die Kameras von verschiedenen Leuten eingeblendet und ich bin auch dabei. Ist irgendwie komisch, aber macht auch Spass. Fühlt sich ein wenig wie eine Einheit an.

Nach der Tanzeinlage kommt der Moderator, er heisst Damian. Er wirkt arrogant. Typisches Schubladendenken. Ich hatte bereits ein wenig über ihn gelesen. Seine Vergangenheit hat ihn ebenfalls gezeichnet und nun steht er dort. Er fängt an zu reden. Er hat eine sehr angenehme, ruhige und klare Stimme. Mit einer sehr verständnisvollen Stimme sagte er: "Du bist genug."

Pause.

Autsch, das trifft mitten ins Herz. Mir laufen sofort die Tränen. Das hab ich nicht erwartet.

Er ergänzt: " Jeder ist es wert, geliebt zu werden, auch du!" Okay, das ist echt zuviel.

Ich verstehe. Ich verstehe mit einem Mal, dass ich es die letzten Monate auf die Spitze getrieben habe. Ich habe mir selbst nicht genügt. Ich wollte immer mehr und mehr, aber es wäre egal gewesen, wie viel Anerkennung ich von aussen bekommen hätte. Ich war mir selbst nie genug.

Diese Worte treffen mich tief und er hat meine volle Aufmerksamkeit.

Dieser Samstag und der folgende Sonntag haben alles verändert. Es war sehr tränenreich, es berührte. So vielen Menschen geht es ähnlich wie mir und Damian spricht direkt in die Herzen. Ich durfte an den zwei Tagen intensiv lernen, dass ich mir mein ganzen Leben lang eingeredet habe, nicht gut genug zu sein. Ich habe mir eingeredet, dass es mir nie gelingen wird gesund zu sein. Ich habe mir eingeredet auf ewig Angst zu haben, zu scheitern, aber nicht scheitern zu dürfen. Ich habe mir eingeredet nicht liebenswert zu sein.

Ich habe die letzten Jahre, seit 1998, mein Leben darauf ausgerichtet vorsichtig zu sein, nicht zu vertrauen und meine Umgebung immer nach Gefahren zu scannen. Ich habe dafür einen grossen Preis gezahlt. Mir war es dadurch zu keiner Zeit möglich glücklich, dankbar und zufrieden zu sein. Obwohl es mir an Dankbarkeit für die erreichten Dinge und das Vertrauen anderer in mich nie gefehlt hat. Aber es fehlte mir an Dankbarkeit für mich selbst.

Ich habe an dem Wochenende gelernt, dass ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss. Ich habe gelernt, mir selbst zu genügen und nicht mehr kämpfen zu müssen.

Das war der Start in ein absolut neues Leben. Ein neues Leben raus aus der Depression, raus aus den Angstzuständen und raus aus dem Stress.
Meine letzten Worte
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11.  Nachgedanken

Meine letzten Worte
Meine Karten wurden neu gemischt.

Ich bin zufrieden und empfinde Glück, wenn in an mein Leben denke.
Das Blatt kann sich mit jeder neuen Begegnung wenden. Zufällig.

Mein Leben war nicht leicht bis hierher und
einige Hürden werde ich sicher noch nehmen müssen.

Aus jeder Erfahrung habe ich gelernt.
Einige haben mich unendlich leiden lassen.
Andere haben dazu geführt, dass ich heute da bin, wo ich bin.
In einem der schönsten Länder der Welt.

Ich bin stärker geworden, mit jedem Schritt, den ich weiter gegangen bin.

Mein Name ist Melanie Lehmann und ich bin Coach für Resilienz und Stressbewältigung und unterstütze andere Menschen dabei, ihre Resilienz zu stärken und Angst- und Stresszustände zu überwinden.

Setze immer neue Ziele. Sie sind erreichbar.
Und manchmal kommt Hilfe, wo sie nicht erwartet wird.

Es ist Schicksal, wer dir begegnet.
UNSERE FÖRDERER
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