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Von Blazenka Kostolna Die gebrochene Lebenslinie
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Vollendete Autobiographien: 176
 
Blazenka Kostolna
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Vorwort / 30.10.2019 um 14.07 Uhr
18.
Pavel und seine Welt / 30.10.2019 um 14.13 Uhr
19.
Das Erwachen / 30.10.2019 um 14.13 Uhr
20.
Die bewegte Welt / 30.10.2019 um 14.13 Uhr
22.
Anmerkungen / 30.10.2019 um 14.19 Uhr
24.
Copyright / 30.10.2019 um 14.21 Uhr
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Vorwort
1.
Sommernachtsäpfel
2.
Der Wille und das Wollen
3.
Grossvater Adam
4.
Grossmutter Eva
5.
Die Kirche bleibt
6.
Meine Mutter
7.
Mutter und ihre Geschwister
8.
Grossmutter Maria
9.
Mein Vater
10.
Vater und seine Geschwister
11.
Meine Brüder
12.
Namen sind Omen
13.
Mein Schulparadies
14.
Glaubensbekenntnisse
15.
Freundschaften
16.
Eingesperrt und entsperrt
17.
Kulturschock
18.
Pavel und seine Welt
19.
Das Erwachen
20.
Die bewegte Welt
21.
Die Nacht der Ohnmacht
22.
Anmerkungen
23.
Herzlichen Dank
24.
Copyright
Meinem geliebten Sohn Henrik und meinen wunderbaren Enkelkindern Jana und Milo
Vorwort
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  Vorwort
Gegen den Gedächtnisverlust

Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu gebrauchen. 

Sigmund Freud, Brief an Stefan Zweig, 1936
 


 
Wie jeder Mensch horte auch ich Geschichten im Keller. Massenhaft. Sie verhalten sich nicht immer still, klopfen an meine Tür und verlangen nach einem gebührenden Platz, wollen wieder Teil meines Lebens sein und fordern, dass ich mich zu ihnen bekenne und sie mit Namen benenne.

Mit zunehmendem Alter wird mir auch das Ausmass meiner Entscheidung und der damit verbundenen Schuld meinem Sohn sowie meinen Enkelkindern gegenüber zunehmend bewusst. Es klingt vielleicht altmodisch und theatralisch, wenn ich sage, «ich habe ihn seiner Familie beraubt», aber es ist auch eine Wahrheit. Die Entscheidung damals, das Land und die Familie zu verlassen, kam auf mich zu und nicht von mir aus. Ich hatte keine Ahnung, was es später für Auswirkungen haben würde. Im Moment ist es für meinen Sohn und seine Kinder noch nicht wichtig, aber aus eigener Erfahrung weiss ich, dass der Tag kommen wird, an dem die Neugier nach der Ursprungsfamilie erwacht und die Fragen von allein auftauchen. Woher komme ich? Wer bin ich und wer waren die, dessen Gene mich mitgeprägt haben? Und vielleicht bin ich dann nicht mehr da, um ihm dies zu beantworten. Wie auch meine Eltern nicht mehr da waren, als ich mich mit fast 50 auf die Suche nach der Vergangenheit und meinem Ursprung begab.

Das Gedächtnis ist eine seltsame Sache. Ein gebundenes Buch mit weissen Seiten, das mit Geheimtinte vollgeschrieben, mir jetzt Seite für Seite die Namen und die dazugehörige Geschichte offenbart. Am Anfang sind es nur Bilder, Gerüche und Geräusche. Die sinnliche Wahrnehmung aus der Kindheit begleitet mich mein Leben lang, aber es ist immer noch keine Geschichte. Und wenn ich Glück habe und beharrlich dranbleibe, dann kommen auch die Worte, die meine Familie auferstehen lassen, die Menschen, die nicht nur meine, sondern auch die Geschichte meines Sohnes und seiner Nachkommen mitgeschrieben und mitgeprägt haben. Ja, die Familiengeschichte, das bin ich mir und allen nach mir schuldig.

 Das einzige und das schwierigste dabei ist, alles ist an Erinnerungen an das gelebte Leben gebunden, aber was, wenn das Gefühl, nicht richtig gelebt zu haben, überwiegt? Was macht man dann? Lügt man und erfindet sich? Ich weiss es nicht...
 
Sommernachtsäpfel
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1.  Sommernachtsäpfel

... denn wenn von lang Vergangenem, nach dem Ableben der geliebten Wesen, nach der Vernichtung aller Dinge, nichts mehr Bestand hat, bleiben noch lange, zerbrechlich zwar, aber lebhafter, weit körperloser, beständiger, treuer auch, der Geruch und Geschmack übrig, erinnern sich, Seelen gleich, harrend und hoffend über den verbleibenden Ruinen, und tragen, in einem fast unfasslichen Tropfen, ohne einzubrechen, das gewaltige Gebäude der Erinnerung...


Marcel Proust: «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit»




Ich war nicht willkommen. Nicht in dieser Zeit, nicht von meiner Mutter. Sie will mich nicht, sie kann nichts dafür, denn meine Mutter will vieles nicht und bekommt es trotzdem, oder gerade darum. Sie will keine Bäuerin sein, nicht Kühe melken und Schweine füttern, nicht in der Küche stehen und Hausfrau spielen und vor allem nicht Jahr für Jahr Kinder gebären. Sie will mehr, sie will geliebt werden und schön sein, träumt von einem Leben als Modedesignerin mit eigenem Atelier, denn sie liebt das Schöne, Elegante, das Materielle, sie begehrt die feinen, hochqualitativen Stoffe, die sie mit der Hand zärtlich berührt, Streicheleinheiten, die sie als Liebkosung der Haut wahrnimmt. Sie ist ein visueller Mensch, hat das Auge und die Vorstellungskraft für Formen und Farben und sie liebt Bücher und Sauberkeit. Und vor allem liebt sie meinen Vater, und mein Vater liebt mich.
 
Nach der Geburt meines Bruders Branislav wird meine Mutter ungewollt sofort wieder schwanger, sie weigert sich, dies zu akzeptieren und probiert alles, um die Frucht, die in ihr wuchert, loszuwerden. Sie springt tagtäglich von 30 Meter hohen Scheunenbalken ins Heu, hebt schwere Sachen, obwohl sie so klein und zierlich ist, trinkt hausgemachte Abtreibungsmittel (Chinin, Rizinusöl, Tee aus dem Samen der Wilden Möhre, Essig, Brech- und Abführmittel wie z.B. hundertprozentige Kochsalzlösung), hockt heimlich in der Nacht stundenlang auf einem Topf mit kochendem Wasser und unterwirft sich allem, um mich loszuwerden. Doch im Hintergrund wacht mein Vater und ihre heimlichen und hilflosen Versuche haben keine Macht gegen meinen Willen und mein Wollen, am Leben zu bleiben. Wie ein Krebsgeschwür unter der Haut wachse ich verbissen und unbeirrt weiter. Keine Ahnung, durch welche geheimen Kräfte ich da getrieben und unterstützt werde. Vielleicht, weil es so etwas wie Schicksal gibt? Über das ein Gesetz des Universums herrscht? Und als Gott oder das Universum beschliesst, dass es für mich Zeit ist, das Licht der Welt zu erblicken, geht etwas schief. Irgendwer verirrt sich im Kalender und bucht die Geburtsstunde zu früh, zwischen Halblicht und Halbdunkelheit, zu einer Zeit, die man Gauklerstunde nennt, die Zeit der Auflösung und des Nichts, in der sich die Geister langsam verabschieden und der Tag sich noch weigert, in Erscheinung zu treten und die Menschheit, noch im tiefsten Schlaf versunken, in seinen Träumen dem Happy End nachrennt oder versucht, sich zu retten. Und in dieser Herrscherlosigkeit, in der es Worte wie Liebe, Wärme und Freundlichkeit nicht gibt, in dieser Zeitspanne zwischen Gedanken und noch nicht ausgesprochenem Satz werde ich geboren. 

Es geschieht an einem Dienstag, im Morgengrauen, draussen wütet ein Gewitter, der Regen ergiesst sich in Strömen, als meine schwangere Mutter, vom Klopfen der Baum Äste auf den Fensterscheiben begleitet, vom Heulen des Windes erwacht. Sie hat Angst und Respekt vor dieser Geräuschkulisse und als sie noch von weither die Unruhe der Schweine wahrnimmt, weiss sie, sie muss aufstehen, in den Stall gehen und nachschauen, was los ist, sie muss handeln, vielleicht die Schweine streicheln, ihnen Wasser oder Futter geben, oder sie mit ihrer Stimme besänftigen, damit wieder Ruhe eintritt. Sie, 24 Jahre alt und allein, hat einen dicken Bauch, ist langsam und bewegt sich in Zeitlupentempo, als wäre jede Bewegung mathematisch auf Sparsamkeit programmiert und zeitlich begrenzt. Sie schlüpft in überbergrosse Gummistiefel, schleppt sich schlafwandlerisch, fluchend durch den Raum. «Diese Schweine, schon wieder diese Schweine, um Gotteswillen, sie sollen ruhig sein, sonst wachen die Nachbarn auf und motzen und tratschen und überhaupt, es geht sie nichts an, dass ich keine richtige Bäuerin bin und auch nie sein werde, sogar die Schweine wissen es, also bitte, bitte seid doch still...».  

Die Mutter ist in dieser Nacht ganz auf sich selbst gestellt, die Zeit des Gebärens ist eigentlich noch nicht vorgesehen, der Vater irgendwo im Ausland mit dem Lastwagen voll tschechischen Biers unterwegs und ihre Eltern, die am Anfang des Dorfes wohnen, sind für sie keine Hilfe, sie verstehen weder ihre Panikattacken, noch ihre Abneigung gegen Tiere. Die Unruhe im Stall, multipliziert durch den Wind, ist kein gutes Schweine-Omen, eine Sau ist auch trächtig und alle anderen Schweine, solidarisch laut quietschend, melden die Bereitschaft zum Wurf. Mutter weiss, um sie zu beruhigen, genügen vorerst ein paar Äpfel und so eilt sie wieder ins Zimmer, in dem die verfaulten und gärenden Äpfel gelagert sind. Vom Stall zur Wohnung muss sie durch den gespenstisch wirkenden Obstgarten, gepeitscht vom Wind, der wütend wie ein gefallener Engel mit gebrochenen Flügeln um sich und auf sie einschlägt. Es ist kalt, die Luft feucht, die Erde schlüpfrig, nass, sie bleibt an den Stiefeln kleben und zieht eine Schlammspur wie einen Schatten ohne Ende hinter ihr her. Die Mutter will schnell fertig werden, blind tastend durch den Raum, rutscht sie in der Eile aus und fällt mit Gesicht und Bauch voran in den aufgestapelten Apfelberg hinein. Die Äpfel rollen in alle Richtungen, wie Billardkugeln nach einem Stoss, davon. Alles ist in Bewegung und in einer Dynamik, der Körper, der Wind, die Äpfel, die Angst und der Atem, der mich mitzieht und aus dem Mutterleib hinauswirft, weg von der Mutter, hinein in die Nacht, hinein in die duftend gelbgrünen Sommeräpfel, hinein in den von Fäulnis besetzten und vor Gewittergeräuschen heulenden Raum. Mein Geruchs-, Gehör- und Tastsinn sind von der ersten Sekunde an wach. Ich bin zwei Monate zu früh, was die Körperlichkeit betrifft unvollständig, somit ohne Überlebenschance. Das «Soll» meines Geburtskontos ist aber von Anfang an mit Gerüchen, Düften, Ausdünstungen und Geräuschen aufgeladen, mit all dem, in das ich in den ersten Sekunden meines Lebens hineinfiel. So liege ich unterentwickelt auf dem kalten Boden, zwischen Äpfeln und meiner Mutter. Nackt und blutig lechze ich nach Luft und Wärme, aber meine Mutter, selbst hilflos und geschockt, kann mich nicht in die Arme nehmen, kann mich nicht trösten, sie liegt erstarrt da, im Gehirn ein schwarzes Loch, das alles Wissen in sich verschluckt hat, sie weiss nicht, was zu tun ist. Dieser Gedächtnisverlust erschreckt sie mehr als der Sturz und die Geburt. Und so beginnen wir beide zu weinen, sie zuerst, ich weiss nicht ob aus Schmerz, Erleichterung oder Einsamkeit, derer sie gerade bewusst wird, ich schliesse mich ihr an, nicht aus Solidarität, sondern aus Notwendigkeit, lechze nach Atem und nach Luft, mein Weinen wird zum Schrei, der nicht aufhören will, ein ganzes Jahr nicht. Aus der Ferne hören wir zufriedenes Grunzen, auch die Sau hat geworfen, zwölf Junge...




(1) Erstes Bild von mir, 1950

Erstes Bild von mir, 1950

 

 

Der Wille und das Wollen
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2.  Der Wille und das Wollen
Als kleines Kind hatte ich etwas, das unterwegs irgendwo verloren gegangen ist, nämlich die bedingungslose Hingabe an die Welt. Ich war im Besitz einer Lebensenergie, die man Willen nennt, gestützt durch Begierde, Trieb, Neugier und Zwang zum Überleben. So glaubte ich, auch ich überlebe nur über das Willentliche und entwickle Bedingungen meiner Empfindsamkeit und Wachsamkeit. Das erste Jahr bin ich, wie alle ohne Ausnahme, nur ein «Sinnesorgan, das übt», ich sehe, höre, rieche und taste mich mit den kleinen Fingern an alles heran und teste meine Möglichkeitsgrenze.

 Meine Kinderwahrnehmungen sind fliessend, wie eine Geste oder Haltung, ich nehme alles auf, ohne zu werten. Ich unterscheide und sortiere nicht, die Welt ist eine Selbstverständlichkeit, in der sich meine moralische Grundlage, die auf Echtheit und Wahrheit beruht, bildet. Die Welt ist Gut und Böse in einem, sie hält sich im Gleichgewicht. Ich beobachte, stalke und mache alles nach. Auch das Sprechen lernen ist eine Nachahmung, welche bei mir durch Melodie und Tonalität bereichert wird, weil meine Mutter singt. Sie kann mich nicht umarmen, sie kann mich nicht küssen und meinen Kopf streicheln oder mir tröstende Worte sagen, das einzige, was sie mir geben kann, ist ihr Gesang. Für mich ist dieser Mutter-Gesang als Sprache bestimmend, durch die melodischen Worte verbinde ich die innere mit der äusseren Welt, um später, bei Bedarf, mir meine eigene zu kreieren. Unbegreiflich, dass ich unter dieser Bedingung selbst nicht singen kann und total unmusikalisch, dafür aber im Besitz von Hunderten von CDs bin. Rückblickend wird klar, der Eindruck von gestern bedingt den Selbstausdruck von heute. Alles Gelebte, Wahrgenommene und Gedachte wird für Eigenkreationen und Findungen genutzt, wie die Kleider meiner Mutter, die von ihr nur auf mich zugeschnitten sind.

Als ich dann später selbst Mutter bin, werde ich vom Gefühl «Ehrfurcht» überwältigt, wenn mein Sohn etwas völlig Selbstständiges vollbringen kann und nicht nur auf die Copy-Taste drückt, um das zu übernehmen, was er durch mich oder andere kennt...




Ich bin ein hässliches Kind, winzig klein und mager, dessen Haut ständigem Wandel unterworfen ist, aus Gelbsuchtgelb fiebert es sich ins Rot und schüttelt sich bis in das kalte Totenblau. Das Kind macht Angst, der Körper nicht berührbar, das Gemüt schreiend, beharrlich und das Wesen, am dünnen Faden hängend, asozial, ablehnend und fordernd. Nein, mich kann man nicht lieben, nicht diese gebündelte, heiss brennende Wut, die ich meiner Mutter und der Welt entgegenbringe. Keine Ahnung, ob es Trotz ist oder die Strafe für das «nicht willkommen sein». Mein Körper hat die Erde noch nicht erreicht, ist immunschwach, ein Paradies und Tummelplatz für Viren und Infektionen. So fiebere ich mich mehr als ein halbes Jahr durch Gelbsucht, Windpocken, Masern, Lungenentzündung, eigentlich durch fast alle Kinderkrankheiten, ausgenommen Kinderlähmung, dafür bekomme ich als Höhepunkt schwarze Pocken, die schon längst aus dem Kinderkrankheitsprogramm gestrichen sind, brennend, hungernd, unterernährt, die Mutter hat keine Milch, dafür aber heillose Angst vor mir und dem, was werden wird, falls ich überlebe. Ihre grösste Sorge ist, wenn die schwarzen Pocken verschwinden, werde ich ein vernarbtes Gesicht haben? Wird sich die faltige Grimasse des Schreiens je glätten können? Die schwarzen Pocken bedecken jeden Quadratzentimeter meines Körpers, es juckt überall, ich kratze und blute, ich bin das kleine Monster hinter den braunen Krusten, und mein aufgerissener Mund mit den paar Zähnen zerreisst bei allen in meiner Nähe ihr Herz und ihre Geduld. Als es vorbei ist, staunt die Mutter, dass ich von Narben wie durch ein Wunder verschont geblieben bin. Was sichtbar ist, sind zwei Vertiefungen auf der Haut, eine auf der Stirn, genau an der Stelle, an der sich die Inderinnen ihren roten Punkt hinmalen und wo das dritte Auge sitzen soll (das fand ich immer toll) und eine auf dem Rücken, wo die Wirbelsäule beginnt. Das wars, ich war dieses hässliche, fürchterlich schreiende, sich ständig im Fieber wälzende Kind, das nur sich selbst in einem brennenden Höllenrausch wahrnimmt. Ein Horror für eine junge Mutter auf dem Lande, die keine Ahnung hat, was zu tun ist und ich danke Gott, dass sie mich nicht aus Verzweiflung an die Wand geschmissen hat. Sie war nah dran, sagte sie mir später. Als ich diese Geschichte zum ersten Mal hörte, dachte ich, vielleicht wollte sie heimlich, dass ich sterbe. Aber schon dieser Gedanke erschreckte und schockierte mich zugleich: «Man denkt doch nicht so über die eigene Mutter!» Dieser Gedanke beeinflusst später wie ein Zensor mein Urteilsvermögen und Denken, dass ich mir jeden negativen Gedanken sofort verbiete, egal wie gemein sich meine Mitmenschen mir gegenüber verhalten. Es wird nicht nur ein Verbot, sondern ein Gebot.

Ich gehöre zur Nachkriegsgeneration, der Zweite Weltkrieg geht in Europa am 8. Mai 1945 zu Ende. I948 ergreift die kommunistische Partei die Macht, ein Jahr danach, am 4. Mai 1949, komme ich zur Welt. Meine Mutter, beseelt vom Gedanken der Veränderung, die im Anmarsch ist und eine neue Lebenshaltung und bessere Lebensqualität verspricht, gebiert mich schon durchtränkt vom kommunistischen Gedankengut, auf eine bessere Zukunft hoffend. Das Leben ist nicht einfach, es ist die Aufbauzeit der Städte, Wirtschaft, Bildung neuer Regierungen, Ideologien und Lebensformen. Europa ist ein Bienenhaus, in Bewegung, fleissig und voller Hoffnungen, aufgeteilt in die Guten und die Bösen, die Kommunisten und die Kapitalisten. Und der Bauer, egal in welchem Teil Europas er seine Viecher und Ländereien hat, misstraut weiterhin allem, und so wurstelt man auch mit mir rum, rät meiner hilflosen und fast wahnsinnigen Mutter davon ab, zum Arzt zu gehen, denn gemäss der überlieferten Weisheit liegt sowieso alles in Gotteshand, auch ob das Kind überlebt oder nicht. Als ich dann nach sechs Monaten nur paar Gramm mehr als bei der Geburt wiege und nur Haut und Knochen bin, wendet sich meine Mutter an ihre eigene Mutter. Sie hält mich im Arm und fragt: «Was soll ich mit dem Kind machen?», «Gar nichts, das Kind verreckt dir bis morgen sowieso», ist die Antwort. Sie nennen mich nur «das Kind»,denn für sie habe ich noch keinen Namen, weil keiner glaubt, dass ich überlebe.

Diese Worte aber, «es verreckt sowieso», aktivieren eine Wut im Mutterherz, die sie zum Handeln bewegt. Sie spannt die weisse Stute Selma des Nachbarn vor den Heuwagen und fährt mit mir in die Stadt zum neugebauten Krankenhaus. «Liebe Frau, wenn das Kind stirbt, ist es Ihre Schuld, sie hätten schon viel, viel früher kommen sollen», sagt der Arzt, als er mich sieht. Sie weiss, dass er Recht hat, sie weiss aber auch, dass dieses Wissen nichts rückgängig machen kann, sie denkt nichts, sie fühlt nichts, sie hat nicht einmal Vertrauen in das Unmögliche, auch sie glaubt, dass ich sterbe, denn jetzt kann nur ein Wunder helfen. Sie bleibt im Spital, zwei Tage lang wandert sie durch die langen Gänge, am Tag durch das Flüstern, in der Nacht durch die Stille. Sie beobachtet die Kranken und die Krankenschwestern, die geräuschlos auf dem Marmorboden wie schwerelos gleiten, guten Feen gleich, so schön unnahbar und sauber – und wichtig: sie verspürt ganz plötzlich eine tiefe Dankbarkeit, sie weiss nicht warum, aber sie hört mein Geschrei nicht mehr, sie kann ausruhen und sie betet und bittet um Erlösung, bereit, alles zu akzeptieren, mein Leben wie meinen Tod.

Vier Monate bleibe ich im Spital, weggesperrt, isoliert, in Quarantäne, weiterhin werden mir Körperwärme und Umarmungen entzogen und trotzdem will und kann ich nicht aufgeben und wehre mich mit allen Kräften gegen das Fieber, den Feind, der meinen Körper wie die brennende olympische Fackel jedoch nicht auszulöschen vermag. Ich entwickle Kräfte und Lebenswillen, weiss nicht, ob aus Trotz oder weil es noch nicht meine Zeit für den Abgang ist. Eines Tages findet mich die Krankenschwester sitzend im Bett. Ich lächle sie an. Mit elf Monaten holt mich Mutter dann endlich nach Hause, sie versucht mich zu mögen, da ist sie aber schon wieder schwanger und gebiert endlich das Kind, meinen jüngeren Bruder Dušan, dass sie fähig ist, bis zu ihrem Tod zu lieben. 

Das erste Foto von mir wird gemacht. Als Beweis, dass ich lebe. Ich sitze gerade auf einem weissen Schaffell, die Hände schützend vor dem Bauch, mein Blick irrt noch ängstlich durch den Raum auf der Suche nach meiner Mutter. Ich bin nicht verreckt, ich bin am Leben und habe aufgehört zu weinen!



(1) Mit Mutter und meinem Bruder Branislav, 1950

Mit Mutter und meinem Bruder Branislav, 1950

 

 




Grossvater Adam
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3.  Grossvater Adam

Zwei alte, sportlich gekleidete Herren in Wanderschuhen und mit Wanderstöcken, die im Zug mir vis-à-vis sitzen, führen dieses Gespräch: «Wo warst du? Ach, ich komme gerade vom Friedhof, die Eltern mussten in ein anderes Grab umziehen. Man hat sie ausgegraben und weil die Knochen so dreckig und seltsamerweise mit Muscheln übersät waren, habe ich sie mit Javelwasser gewaschen und geputzt. Jetzt sind sie makellos sauber und schneeweiss. Jetzt ist wieder alles gut und die andere Grabstelle ist auch schön». Der andere Herr nickt nur und nach einer Weile fragt er: «Hast du gehört, unser gemeinsamer Freund Hans hat sich erschossen?» «Ja, ja, ich weiss, aber was willst du, auch das Alter schützt vor Selbstmord nicht» …



Als Grossvater Adam, im Dorf Gazda genannt, obwohl sein Nachname Repa war, stirbt, weint nicht der Himmel, sondern nur das für den Leichenschmaus geschlachtete Schwein. Ich erinnere mich sehr gut an sein Begräbnis, das erste gesellschaftliche Ereignis in meinem Leben, das mich beeindruckt. Keine Ahnung, wie und warum Grossvater starb. Eines Tages liegt er in dem verbotenen Zimmer in einem Sarg, geschrumpft, wie eine Wachsfigur aus der Kirche und erstaunlicherweise ist alles Bedrohliche, das er als Erwachsener zur Schau getragen hatte, aus seinem Gesicht, das plötzlich seltsam versöhnlich wirkt, verschwunden. Sie haben Grossvater in einen schwarzen Anzug und ein weisses Hemd gesteckt, die angewachsenen Gummistiefel ausgezogen und durch richtige Schuhe ersetzt, wahrscheinlich alles aus dem verbotenen Schrank im verbotenen Zimmer geholt, in solchen Sachen sah ich ihn früher nie. Es könnte sein, dass es seine Hochzeitsausstattung war, in der er zweimal Frauen sagte «JA, für immer und ewig dein». Er ist gewaschen, gekämmt und die Fingernägel, hinter denen immer noch Erde in kleinen schwarzen Halbmonden leuchtet, sind geschnitten. Und das Seltsamste: Sie haben irgendwie ein Lächeln in das glattrasierte Gesicht hineingeliftet. Keine Ahnung, wie sie das geschafft haben, das Wort Lachen ist ein Fremdwort für ihn, er lächelt nie. So ist er nicht wiederzuerkennen, wie er da auf dem gehäkelten weissen Kissen liegt, die Hände zum Gebet gefaltet und uns angrinst. Einige Leute sind im Zimmer, wo er aufbewahrt liegt, andere wieder draussen auf dem Hof, die Sonne scheint gutmütig in das Tal, sie trinken und erzählen sich Geschichten aus seinem Leben, oder stehen einfach nur schweigend da und geniessen diese geschenkte Zeit des Nichtstuns. Auch wir Kinder versuchen zuerst ernst zu sein, wir ahnen, oder es ist uns eingeprügelt worden, dass so ein Begräbnis eine ernste Sache ist, doch ernst zu sein gelingt uns trotzdem nur für kurze Zeit. Irgendwie ist es lustig, diese Feier wegen des schweigend grinsenden Grossvaters, der die Menschen nicht mochte, sie nur verfluchte und vielleicht ist dieses Grinsen auch eine Art Fluch. Ich weiss nicht, ob ihm das recht gewesen wäre, diese vielen Leute, die Zeit hatten, sich in die Sonntagsgewänder zu schmeissen, um ihm die letzte Ehre, wie es sich gehört, zu erweisen und auf seine Kosten zu essen und sich zu betrinken. Die selbst geflochtenen Blumenkränze, das üppige Essen und der unentbehrliche Slivovic, der früher nie sichtbar war, dies alles steht nun wie Opfergaben auf den Tischen in der Scheune bereit. Nein, das wäre ihm sicher nicht Recht gewesen, der Vater meiner Mutter war kein Menschenfreund gewesen. Er hätte sie alle fluchend zum Teufel oder mindestens nach Hause zu ihren Weibern und Viechern geschickt. Wenn er es gekonnt hätte. Aber zum ersten Mal war er nicht Herr des Hauses.

Der Tod ist für die Kinder auf dem Lande nichts Besonderes, man lebt und stirbt, und basta. Das Leben, das ist die Frau, die Kinder und das Hab und Gut, die Arbeit. Sicher den, das werde Unheil für die ganze Familie bringen. Einen neuen Tod, eine Missgeburt, Seuche oder den Feuerteufel. Und so etwas ist Honig in meinen Ohren, was für eine Geschichte! Der Grossvater unter der Erde, der Mund voller Zähne und vielleicht, vielleicht kommt er in der Nacht wieder heraus, vielleicht wird er sich weigern, mit den Engeln in den Himmel zu gehen und sich lieber durch die Erde wühlen und dann mit diesen Zähnen nach uns schnappen und uns zu sich ziehen, damit er dort nicht alleine liegt und Grund hat, jemanden zu beschimpfen und zu bespucken. Vielleicht wird er merken, dass es ein Unterschied ist, ein Einzelgänger unter den Lebendigen und allein unter der Mutter Erde zu sein. Nein, er war wirklich nicht Herr des Hauses, nicht des Hauses über der Erde und nicht des Hauses unter der Erde...

Die Frauen tratschen und trösten die trauernde Grossmutter, die Männer schweigen und saufen und eigentlich wäre es ein gewöhnliches, friedliches Begräbnis gewesen, wenn das Findelkind Matej (Palko), welches der Grossvater wie ein eigenes Kind mit Flüchen und Schlägen erzog, nicht übermütig geworden wäre. Er ist so um die 15, für uns Kinder fast erwachsen und ein Idol, weil er immer Gebote bricht und sich damit Prügel einhandelt, die er, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne eine einzige Träne zu vergiessen erträgt. Damals hat man keine Ahnung von hyperaktiven Kindern, volkstümlich sagte man: Sie haben Mrle (Würmer) im Arsch, oder Weizen im Kopf, den man nicht mahlen kann. Und so auch hier, zur unglücklichen Stunde, von den Mrlen in den Arsch gebissen, kommt er auf die Idee, einen Schweineritt zu veranstalten. Dem Schwein gefällt es natürlich nicht und es rächt sich ziemlich schnell, in dem es mit Matej auf dem Rücken direkt in die unbedeckte Jauchegrube springt. Matej wird sofort herausgeholt, das Schwein auch, aber tot. Da sie alle Bauern sind und den Gesetzen der Natur folgen, muss das Schwein selbstverständlich sofort geschlachtet werden, Begräbnis hin oder her, das ist das Wesen der Dinge und des Schweines. Grossvater kann warten, Zeit hat er jetzt sowieso genug. Im Handumdrehen verwandelt sich der Hof in einen Schlachthof, dem Pfarrer drückt man die Schnapsflasche in die Hand und schickt ihn zum Grossvater in das schöne, kühle Zimmer. Er soll das machen, was er kann, nämlich beten und das nicht nur für Grossvater, sondern für uns alle. Die Männer ziehen ihre Jacken aus und krempeln die Ärmel ihrer Hemden hoch. Die aus Holz geschnitzte Wanne, an die ich mich besonders gut erinnere, denn andere Badewannen kannte ich damals nicht, wird aus der Scheune geholt, die grossen Messer werden an der Schleifmaschine geschärft, heisses Wasser wird gekocht, das Schwein gewaschen und an den Scheunenbalken aufgehängt, in der Mitte aufgeschnitten, um das Blut fliessen zu lassen und erst dann wird die dicke Fetthaut wie ein Mantel ausgezogen, der Körper wie ein Buch aufgeklappt und die Innereien herausgeholt. Das noch warme Blut fliesst in die Wanne und wird in der Hitze schnell zu dunkelbrauner Gelatine. An den Balken mit dem Kopf nach unten hängend, hat das Schwein etwas Menschliches an sich, ist es die Haltung, wie eine auf den Kopf gestellte Kreuzigung, oder sind es die Gerüche, ich weiss es nicht. Sein Anblick berührt mich mehr als der tote Grossvater. Die Frauen entleeren die Darmeingeweide, spülen sie durch und bereiten sie für die spätere Blut- und Leberwurst vor. Es riecht nach Schweinekot, Schweiss und Blut. Der Reis und das Blut werden gekocht, gewürzt, Zwiebeln und Knoblauch beigefügt, die Därme gefüllt und wie Kleiderstücke an der Wäscheleine im Garten aufgehängt. Und dann entdeckte ich auf einem Tisch zwischen den Schnapsgläsern auf einer Käseplatte den Schweinekopf, der mich anschaut und mir zulächelt...

Die Apfelbäume sind am Explodieren, sie blühen gerade, der Garten ist weiss wie ein Hochzeitsschleier, die Bienchen fliegen berauscht herum, und die schon etwas besoffenen Zigeuner, die eigentlich erst am Friedhof spielen sollten, holen ihre Geigen und fiedeln lustige Lieder, die Erde und Luft tanzen lässt, ja, es ist wirklich ein Fest der Arbeit und der Sinne. Die Trauerbühne wechselt ihr Bühnenbild, jeder weiss auch angetrunken sofort, was zu tun ist, niemand ist überflüssig. Es war die erste und letzte Schlachterei, der ich beigewohnt habe. Ich bin vier Jahre alt. Meine Mutter verschwindet, sie kotzt und weint, und ich weiss nicht ob wegen des Grossvaters oder des Schweins. Später sagt sie, sie kann sich an dieses Schlachten der Tiere nie gewöhnen, schon beim Anblick eines ausgeweideten Tieres wird ihr schlecht. Die Luft süss, salzig und klebrig, die Frauen und Männer voll in ihre Arbeit vertieft, haben keine Zeit für uns Kinder, die enthemmt und begeistert herumtollen. Im schönen, verbotenen Zimmer mit dem riesigen Asparagus, der gerade rote kleine Kügelchen trägt, der grinsende Grossvater mit dem angetrunkenen Pfarrer, in der Scheune an den Balken aufgehängt und unverschämt nackt das Schwein, das Zigeuner-Orchester auf dem Miststock und die Männer mit roten Gesichtern und auch nackten, schweissgebadeten und blutverschmierten Oberkörpern, die behaarten Hände und die kichernden und weinenden Frauen, die heisse Sonne, dicke Fliegen, Katzen und der nach Jauche stinkende Matej, dem auch nicht in den Sinn kommt, sich im Fluss waschen zu gehen, es wird gekocht, gegessen, getrunken, gesungen, getanzt und gejohlt, die Nacht ist warm und die Herzen sind noch wärmer, das ist Kusturica pur. Ich weiss nicht, ob sie Grossvater die Zähne zum Schluss doch gezogen haben, ich denke eher nicht, wenn ich mir aus der Distanz die weitere Geschichte meiner Familie, oder nur die meine anschaue.

Gálovany*1), das Dorf meines Grossvaters, das waren wenige Bauernhöfe, eingebettet im Tal einer hügeligen Landschaft. Das Dorf war so klein und arm, dass es nicht einmal eine eigene Kirche besass. Die flache, nicht unbedingt fruchtbare Erde unten im Tal war so rar und sogar für einen Friedhof zu kostbar, so dass man ihm auf einem naheliegenden Hügel seinen Platz zugewiesen hatte. Der Weg der Toten zu ihrer Grabstätte war die letzte Hürde, die sie aber nicht mehr selbst überwinden mussten. So waren die Toten dem Himmel näher, sie hatten einen Logenplatz und das Privileg, das Lebendige im Tal zu überwachen. Auch in der Nacht, als das Schwein geschlachtet und der Sarg zugenagelt auf eine Holzkarre geladen wird, wird auch der Grossvater, nun hoch hinaus, wie ein König getragen. Den Männern, von Blut und Alkohol berauscht und benebelt, geht der Sarg auf dem steilen Weg einige Male verloren, rutscht wie ein Schlitten auf dem Schnee ins Tal hinab und sie lachen und schreien: «Hey, Gazda, zu spät, du kannst nicht mehr zurück!» Es ist nichts Ungewöhnliches, es passierte bei Begräbnissen ab und zu, da es aber dreimal geschieht, sind sich langsam alle einig: Gazda weigert sich, will ums Verrecken nicht unter die Erde und vielleicht lebt er noch. Als wir am nächsten Tag zum Grab gehen, um uns noch richtig zu verabschieden und die vergessenen Kränze auf das Grab zu legen, und der Sarg noch nicht mit der Erde zugeschüttet ist, da weinen sie beide, die Mutter und die Grossmutter, ermüdet und erleichtert, nicht wissend wovon.

Sonst kann ich mich an meinen Grossvater Adam nur schwach erinnern. Er war ein mürrischer und schweigsamer Mensch und er war nicht freundlich. Wenn man ihn morgens begrüsste und fragte: «Na, wie geht’s Gazda?»,antwortete er schroff: «Es geht dich einen Scheissdreck an, wie es mir geht». Grossvater kaut ständig Tabak und spuckt überall herum, auch in der Küche, sehr zum Leid meiner Mutter. Im Winter trug er eine braune Cordhose, im Sommer eine dunkelblaue Leinenhose mit Hosenträger, einen nie kaputtgehenden Hut, der auf seinem Kopf wie angewachsen sass und an Sonntagen hockte er auf dem Bänkli vor dem Haus mit einer Pfeife im Mund und kaute nicht. Er war zweimal verheiratet und zeugt 16 Kinder, von denen aber nur fünf überleben. Meine feine Mutter, die hilflose Tante Olga, die zurückgebliebene Tante Hanna, der Weiberheld Onkel Stefan und der kluge Onkel Vlado, den meine Grossmutter Eva noch im hohen Alter bekam.

Die Eltern meiner Mutter waren arme Bauern. Sie besassen ein wenig Land, einen Obstgarten, zwei Kühe, ein paar Schweine, ein Dutzend Hühner und ein Pferd, eine alte weissgraue Stute, die im Frühling vor den Pflug gespannt wurde. Sie nannten es ihr eigenes, war es aber nicht, sondern diejenige des Nachbarn. 1956, als das private Land überall konfisziert wurde und die grossen Kolchosen wie Pilze aus dem Boden schossen, da lebten meine Grosseltern schon nicht mehr, Gottseidank, sonst wäre Grossvater zum Mörder mutiert, er hätte sicher sein Hab und Gut mit der Heugabel verteidigt. Onkel Willi, das Schlitzohr, verkaufte vorzeitig und vorausahnend den Obstgarten und einige Äcker und verschwand mit dem Geld irgendwo in der Ostslowakei, ohne es den Geschwistern zu sagen, geschweige denn das Geld mit ihnen zu teilen. Seine Tat war das schwarze Geheimnis der Familie, die nie laut darüber sprach. Meine ersten wirklich intensiven Erinnerungen an die Kindheit sind mit diesem Obstgarten verbunden, an dessen Ende, wie ein vergessener Schnürsenkel, ein kleiner Bach fliesst. Im Haus, in dem wir wohnen und das nicht meinen Eltern gehört, gibt es ein leeres Zimmer, das bis unter die Decke mit gelben Sommeräpfeln gefüllt ist. Der Apfel hat seine Berühmtheit aus dem Paradies, ein einziger Apfel, der Evas Neugier weckt und sie zu ihrer ersten bewussten Handlung verführt und falls ihr Apfel so war, wie meiner aus der Kindheit, kein Wunder, dass sie ihn wollte. Ich sehe es vor mir, dieses leere Zimmer voller Äpfel, in einer Ecke des Zimmers in Form einer Pyramide bis zur Decke aufgetürmt. Die Luft drin ist gesättigt grün, duftet nach Blumen, Frucht, Heu, Sägemehl, Wind und Regen, es riecht aber auch nach Fäulnis, Feuchtigkeit, Baumrinde und Harz, man kann sie berühren, sich ein Stück abschneiden. Die Fenster bleiben immer geschlossen, imprägnieren die Luft und verstärken das Süsse, Frische, Intensive, welches zwischen Lust und Schmerz, Babys und mir, den dort Geborenen, hängengeblieben ist. Das vertraute Lindengrün, wie die Haut einer Erbsenprinzessin, der mehlige Geschmack eines Apfels auf der Zunge, als esse man Kinderbrei, aber auch der modrige Zerfall als Naturgesetz, das alles war mein Geburtserbe, für immer im Gedächtnis gespeichert. Und wie die Würmer, die herumkrochen, um zu sagen, es ist Zeit, kriecht es manchmal in meinem Kopf. Ich spüre diese schicksalhafte Verbindung zwischen Äpfeln und Grosseltern. Sie weist auf die Kurzlebigkeit und Vergänglichkeit des Lebens hin. Die Äpfel fallen und verfaulen, die Menschen sterben und zerfallen.

Hinter unserem Haus haben wir zwar auch einen Apfelbaum, der jedoch nur Winteräpfel mit einer rauen Haut trägt und die Zähne frieren liest. Mit Sommeräpfeln werden die Schweine gefüttert, die Winteräpfel sind für uns gedacht. Die Schweine lieben sie, genauso wie wir. Als Kinder wissen wir noch nicht, dass man mit dem Essen nicht spielt, was wir aber tun. Das Zimmer ist auch unser Spielzimmer, wir werfen uns auf und in diesen Apfelberg und die Äpfel kullern über und unter uns hinweg. Wir sind übermütig und herrlich eins mit uns selbst und mit diesem biblischen Geruch des Sommers bis auf die Knochen durchdrungen. Eine haptische Sehnsucht ist mir geblieben, die mich zwingt, in Gemüse- und Fruchtabteilungen nach ihnen zu greifen und daran zu riechen. Unser Haus ist hohl, kalt und unfreundlich, obwohl meine Mutter verzweifelt versucht, es wohnlich zu gestalten, was ihr jedoch nicht gelingt. Sie hasst es, sie hasst die Schweine, die im kleinen Garten in der Erde wühlen, ihre Blumenbeete zerstören, sie hasst das Plumpsklo und die im Winter gefrorene Wasserpumpe draussen. Sie hasst überhaupt alles, was mit dem Dorf verbunden ist. Die Armut ist nicht ihre Welt.

Grossmutter Eva
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4.  Grossmutter Eva

Ich weiss nicht, ob ein Bündnis zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein mir dieses Sicherheitsnetz beschert, das mir das Leben auf verschiedenen Ebenen erlaubt, ohne irgendwo sinnlos hängen zu bleiben. Die Welten, in denen ich lebe und die mich beleben, ich weiss nicht, wie sie entstanden sind, ob mein Gehirn sie ausgedacht hat, oder ob sie schon von Geburt an am Strang meiner Doppelhelix als Erbgut angebunden waren. Ich frage nicht, ob es die Gabe des Universums oder ein Gottesgeschenk an mich ist, da mir Bitten nicht gerade auf der Zunge liegt. Im Zaubermantel einer Fee balanciere ich zwischen drei mentalen Ebenen, der Bodenständigkeit der Erde, der Unberechenbarkeit des Mondes und Gezeiten und dem Universum der Endgültigkeit ohne Wiederkehr. Die drei Ebenen, die nur erweiterte Wohnräume der Seele sind; die Gaia, Herrscherin meiner Beine und Entscheidungen, für das «Jetzt» zuständig, der Mond, Herrscher des «Vergänglichen», der Flügel verleiht und dazwischen die schwarze Materie, der Nachthimmel, der mich all das fürchterlich Endgültige, das das Leben mit sich bringt, den «Tod», vergessen lässt. Die Erde, das ist Realität und Wirklichkeit, ein Ort, wo ich noch bin, der Mond, ein Ort der Märchen und Fantasie, aber auch Selbstlüge, «wie es sein könnte», der Ort aller meiner Frauen, die vor mir gegangen sind und denen ich bald folgen werde, bevor das Universum der Mitte mich verschlingt ...




Ich sehe sie vor mir, Grossmutter Eva, wie sie auf dem Miststock im Hof steht, die Beine breit auseinander, nicht einmal den Rock hochhebt und wie eine Kuh schifft, mich anlächelt und sich dabei mit mir unterhält, als wäre es die normalste Sache der Welt. Ich sehe, wie unter dem dunklen Rock warmer Dampf aufsteigt, als würde sie auf einem heissen Kochtopf oder auf einem brennenden Diamanten stehen. Und ich sehe meine Mutter, wie sie sich schämt und wie es Grossmutter scheissegal ist. Ihr gehört das Recht, eine Königin und eine Hexe zugleich zu sein. Als Kind tendierte ich eher zur Hexe, aber zu einer von den Guten. Sie trug nie Unterhosen, dafür aber eine Menge Röcke übereinander gestülpt. Ich nannte sie die Zwiebelgrossmutter und wünschte mir, einmal beim Zwiebelschälen dabei zu sein, denn irgendwie hatte ich den Verdacht, sie zieht die Röcke nie aus.
 
Die Grossmutter war die zweite Frau meines Grossvaters und starb mit 52 an Gallensteinen, zwei Jahre nach Grossvater. Sie weigerte sich, ins Spital zu gehen und «sich wie Vieh aufschneiden zu lassen, nein, sicher nein», pflegte sie zu sagen. Und wenn sie schon verrecken sollte, dann lieber so, wie Gott es für sie bestimmt hatte. Auch sie war, wie Grossvater, eine eigenwillige und resolute Person, vor der ich mehr Respekt als vor ihm hatte, sie glaubte nämlich an Gott und dieser Glaube jagte mir Ehrfurcht ein. Gott war für sie kein abstraktes Wort, sondern eine Wirklichkeit, in der sie lebte. Gott war die Gabe und die Gnade, er sass auf ihrer Zunge, in ihrem Kopf, steuerte jede Bewegung, er lag bei ihr im Bett und sass am Tisch beim Abendessen, mit ihm haderte sie nicht über ihr Leben, denn dieses Bündnis mit Gott war eine klar definierte Beziehung mit Rechten und Pflichten. Er war die Erklärung für alles, was sie bekam und was sie verlor. Erklärung und Zuversicht, dass es so sein muss, wie es ist, es gab nichts zu klagen. Sie betete lieber zu Gott und vertraute auf seine Entscheidung. Es war sein Wille, ob sie am Leben bleibt oder stirbt. Er wollte nicht. Sie starb sehr früh, sinnlos, eigentlich durch indirekten Suizid, verursacht von den vielen Gallensteinen, aus welchen man später eine schöne Halskette machen konnte. Die Mutter bewahrt sie wie eine Reliquie in ihrer Nachttischschublade, wie ich später die Milchzähne meines Sohnes. In Erinnerung sind diese Gallensteine in meiner kleinen Hand sehr gross, lebendig und unheimlich, weil sie der Beweis einer missglückten «Entscheidung Gottes» sind. Grossvater Adam, bekannt im Dorf als «Gotteslästerer», dem das Wort Krankheit fremd war, stirbt zwei Jahre vor ihr, ohne Vorankündigung, einfach so, an der Gesundheit sollte es nicht liegen. Vielleicht hatte er einfach genug vom Leben, von Gott und der gottesfürchtigen Eva und sagte sich: «So, es reicht!» und ging...
 
Das Haus, welches Eva und Adam bewohnten, war aus Lehm, bescheiden, klein, die Wände mit weissem Mörtel, die Fensterläden im Hellblau des Meeres gestrichen, im Sommer blühten auf den Fenstersimsen wie verrückt rote Geranien, obwohl dieses Haus mit seiner mediterranen Aura die Siesta nicht kannte. Ihr Leben spielte sich meistens in der kleinen, dunklen, aber gemütlichen Küche ab. Links neben der Küche eine Schlafkammer, die ich nie betreten durfte, neben ihr die Speisekammer, wo sie Weizen, Kartoffeln, Bohnen, Sauerkraut, Mehl, Schmalz, Fleisch, Milch, geräucherte Wurst und Speck, Eier, Zucker, Salz und all die feinen Sachen aufbewahrten. Auf der rechten Seite der Küche, das berühmte, schöne, aber verbotene Zimmer, ungewöhnlich sauber und ordentlich, meistens aber verschlossen. Dieses Zimmer, ein Antiquitäten-Brockenhaus, vollgestopft mit stabilen Möbeln: Kleiderschrank, Kosmetiktisch, an dem ein ovaler Spiegel angeschraubt war, in den die Grossmutter nie schaute. Sie hielt ihn für Teufelswerk, aus Aberglauben traute sie sich aber nicht, ihn wegzuschmeissen, denn wie man weiss, bringen zerbrochene Spiegel sieben Jahre Unglück. In der Mitte des Zimmers stand ein runder, massiver Tisch mit Stühlen für sechs Personen, und ein pompöser venezianischer Kronleuchter hängte über dem Ganzen, der nie leuchtete, weil das Haus noch nicht an die Elektrizität angeschlossen war. Dieser Kronleuchter gehörte zu den Geheimnissen, wie auch die Staffelei, auf der ein riesiger Asparagus wie ein lebendiges Wesen thronte. Die Staffelei war ein Rätsel, niemand wollte mir sagen, wem sie gehörte und wie sie überhaupt den Weg in dieses Zimmer gefunden hatte. Auf dem Doppelbett dicke Daunendecken und Kissen, seltsamerweise nicht mit irgendetwas bedeckt, sondern als wären sie für jemanden zum Schlafen bereit, und über dem Bett ein nicht wegzudenkendes Bild von Jesus, mit langem, goldenem Haar, auf den Knien, betend. Alle Tische, Stühle und Kommoden wurden von weissen, gehäkelten Spitzendecken bedeckt. Auf dem Sofa sass eine wunderschöne Puppe, ihr Gesicht mit aufgemalten, grossen, blauen Augen und langen Wimpern, sowie knallrotem sinnlichen Mund war aus Porzelan, sowie auch die Hände und Füsse, der übrige Körper war aber aus hellbraunem, hässlichem Stoffe genäht und mit Flachsstroh ausgestopft. Diese Puppe trug das schönste rosa Kleid, ihr Rock war kreisrund auf dem Sofa ausgebreitet und wenn man ihn anhob, sah man mit Spitzen bestickte weisse Satin-Unterhosen. Diese Unterhosen faszinierten mich, denn Grossmutter hatte nie eine getragen und ich als Kind sowieso nicht, bevor ich in die Schule kam. Diese Puppe, die Grossvater irgendwann auf einem Jahrmarkt schoss, hatte etwas Lebendiges an sich, manchmal beobachtete ich sie durch das Fenster und sie schaute zurück, mit dem gleichgültig kalten blauen Blick, wie mich meine Mutter manchmal anschaute. Nur ihr Lächeln war anders, es war das Süsseste, was ich bis dahin sah. Ausserdem kann ich mich nicht erinnern, dass überhaupt jemand ausser ihr auf dem Sofa sass. Sie war die Prinzessin, das war ihr Platz, das war ihr Zimmer, ich durfte sie nie berühren, geschweige denn in die Arme nehmen. Auf der Kommode hinter dem Sofa stand zwischen den vielen ausgestellten Fotos eine vergoldete Gondel aus Venedig, die mir damals auch so wunderschön erschienen war. Beide, die Puppe und die Gondel waren typischer Kitsch, nur was wusste ich damals, was Kitsch und was Kunst ist. Nichts. Im Sommer war dieses Zimmer angenehm kühl, als würde es sich für etwas oder jemanden vorbereiten, der noch kommen sollte und manchmal glaubte ich, dieser jemand wäre ich. Der Boden aus Holz, mit einer dicken Schicht Bienenwachs poliert, glänzte und knisterte. Das Erstaunliche in diesem kalten Zimmer war dieser grüne Asparagus, der nie kaputtging, im Gegenteil, er gedieh, wuchs, dehnte sich von Jahr zu Jahr aus und im Sommer schmückte er sich mit kleinen roten Kügelchen. Ich wusste nie, waren es Blumen, Früchte oder sogar echte Perlen? Keine Ahnung, seitdem habe ich nie so einen gesehen, obwohl ich selbst später immer wieder probierte, einen zu züchten.
 
Wenn ich so zurückdenke, erscheint mir das Zimmer in meiner Erinnerung zu klein, weil zu viele Möbel so hineingewürgt waren, dass man zwei Zimmer damit hätte ausstatten können. Alles, was da ist, ist unbenutzt und unberührt wie eine Jungfrau. Aber Jungfrauen leben im Wasser und Wasser fliesst und verändert, den Menschen, das Land, und so bleibt auch dieses Zimmer gefüllt mit unsichtbarem Wasser, davon nicht verschont und von Zeit zu Zeit transformiert es sich auch radikal, in dem es von allem entleert wird, und in der Leere wohnlich wird. Es geschah immer im Winter, die schöne und behütete Stube wurde ausgeräumt, um einem grossem Webstuhl Platz zu machen, der den ganzen Raum, die Höhe und die Breite, für sich beanspruchte. Da stand es plötzlich, dieses wuchtige Zaubergestell, keine Ahnung aus welchem Versteck sie es herausgeholt hatten, diese phänomenal komplizierte Holzkonstruktion mit unmöglichen Fadenverbindungen, so dass nur die Eingeweihten wussten, wie die Faden aufzuziehen waren, wohin sie führten und wozu sie nützlich waren. Dieses Zimmer wurde im Winter das unbestrittene Königreich der Grossmutter und der grosse Webstuhl ihr Machtinstrument. Dort sass sie den ganzen Winter und wob. Wie die Weberinnen im Märchen wob sie meterlange Leinenbahnen, aus denen später alles fürs Schlafzimmer hergestellt oder Kleider daraus genäht wurden. Sie wob meine Hochzeitsmitgift, sie hatte die Hoffnungsfaden meines zukünftigen Ehelebens in der Hand, denn in ihren Augen war ich schon eine Braut.
 
Jahre später, als ich in die Schule ging und sie schon lange tot war, hat meine Mutter diese Leinenbahnen bei sonnigem Wetter auf der grünen Wiese vor dem Haus ausgebreitet, damit die Sonne sie bleicht. Keine Chemie, es war die Sonne, die fähig war, die grauen Leinenbahnen ins Schneeweisse zu verwandeln und zu erweichen! Diese Stoffbahnen mussten feucht gehalten werden und weil es meine zukünftige Aussteuer war, fiel natürlich mir die Aufgabe zu, sie den Sommer lang zu begiessen und aufzupassen, dass Hühner, Enten oder Gänse nicht darauf kackten. Mir kam es manchmal vor, als müsste ich zum Stoff Sorge tragen, damit er weiterlebt, sich ernährt, mit mir pubertiert, sich transformiert, entwickelt und wächst und wenn ich alles gut mache, bescherte mir mein Schicksal eines Tages den Prinzen, der mir alles, was ich möchte, zu Füssen legt. Nicht unbedingt, was ich brauchte. Kein Problem für ein achtjähriges Kind mit blühender Fantasie. Alles war eins und alles lebte. Die Bäume sprachen, die Steine atmeten, der Fluss weinte und die Welt war noch in Ordnung. So liege ich gerne neben diesen grau-weissen Bahnen und lese und lese und da ich mich oft im Buch verliere und aufzupassen vergesse, sind die Leinentücher natürlich vollgeschissen und es gibt Prügel. Ich verstehe zwar nicht warum, es ist schliesslich meine Aussteuer, und es ist meine Sache, wie ich sie hüte. Im richtigen Leben aber bekam ich diese von Grossmutter gewebte Stoffe nie, ich vergass sogar, dass es so etwas gab, nur später vernahm ich, dass mein jüngerer Bruder Dušan mich beerbte. Klar, irgendwann unterschrieb ich eine Verzichtserklärung auf mein Erbe, damit nicht alles dem Staat verfällt. Das erzählt mir einmal vorwurfsvoll mein älterer Bruder und es ist schon komisch, als ich das Wort Aussteuer höre, was ist das? Hatte ich überhaupt so etwas? So schnell geht vieles vergessen. Dieses fast mittelalterliche Brauch zeigt mir, wie schnell mich der Fortschritt absorbiert und das sogenannte sorgenfreie moderne Leben zur Selbstverständlichkeit wird.
 
Zurück zum Webstuhl. Natürlich hatte die Grossmutter die Leinenfäden zum Weben schon vorher, nach 6000-jähriger Tradition, selber aus Flachs hergestellt. Sie hat ihn gesät, gemäht, geröstet, gewaschen und getrocknet, bis er zu Stroh geworden ist. Dieses Stroh wird durchgeklopft, gebrochen, dann geschwungen, gehechelt (gekämmt), zu Zöpfen gedreht und zum Schluss zu feinen Faden gesponnen. Wenn ich das jetzt schreibe, kommt es mir vor, als komme ich selbst aus dieser weitreichenden Vergangenheit her. Die Grossmutter webt nicht nur endlose Leinenbahnen, sondern auch dunkelblaue, mit weissen Blumen gesprenkelte Stoffe für Röcke, Schürzen und Bettwäsche und aus alten Stoffstreifen, die wir in zentimeterbreiten Längsstreifen von Hand abreissen, entstehen wunderschöne, farbenfrohe Laufteppiche. Es scheint mir, dass die Frauen von Mutters Seite mit Gestaltung und Kreativität gesegnet sind und dies als Berufung annehmen, obwohl sie nebenbei in tausend anderen Berufen rotieren. «Der erste Computer war ein Webstuhl», erklärte gestern im Fernsehen ein Informatiker, und ich dachte, wer weiss heute noch überhaupt, was ein Webstuhl ist und wie man ihn bedient? Und das analog! Meine Grossmutter wüsste es...
 
Jedes zweite Jahr sind die Winterabende aber anders, da verschwindet der Webstuhl, das Zimmer wird entleert und nur mit kleinen Holzbänken ausgestattet, die im Kreis aufgestellt werden. Es kommt etwas anderes zum Zug, eine neue Arbeit, nämlich das Gänsefeder rupfen, das als gesellschaftlicher Event ausschliesslich von Frauen und für Frauen einen festen Platz und seine Berechtigung im Dorfleben hat und so etwas wie ein mündliches Annual der Jahres-Rückschau des Dorfes ist. Es ist ein offiziell erlaubtes Treffen der Klatschtanten aus dem Dorf zur ihrer Artusia Tafelrunde. Das ist das alte Medium der heutigen Gala oder Bunte. Und wenn draussen der erste Schnee fällt und es immer schneller dunkel wird, kommen sie, die Frauen, mit Säcken voll ungerupfter Gänsefedern und im Kopf und auf der Zunge Klatsch- und Horrorgeschichten, den ganzen Sommer gesammelt und gehütet, die nur darauf warten, in der Runde ausgesprochen zu werden. Ein weiches Licht der Petroleumlampen überflutet den Raum und die Atmosphäre der Gemeinschaft und Arbeit bekommt etwas sehr Heimeliges, sie ist weich und leicht, wie die am Boden liegenden Federn. Das Wetter in der Gegend meines Dorfes ist rau, grob und nicht gerade freundlich, oft stürmt das Unwetter, Regen oder Schnee peitschen auf die Fensterscheiben, und umso mehr es draussen wütet, desto gemütlicher wird es drinnen. Das ist die Zeit der Frauen, das ist die Zeit des Erzählens, egal, ob es um erlaubte oder verbotene Liebesgeschichten, Geburten oder Tod geht, oder es nur ganz einfach Tratsch und Klatschgeschichten des Dorfes sind. Die Gänse, aber auch die nicht anwesenden Frauen werden gerupft, das gehört einfach dazu. Es wird erzählt, geflüstert und gekichert. Später, wenn alle sogenannte Wirklichkeitsthemen durchgekaut sind, stehen Science-Fiction und Horror-Geschichten auf dem Programm, die über unheimliche Begegnungen, wundersame Heilungen, Morde, Vergewaltigungen, oder Bestrafungen durch die höhere Macht, von Zaubereien, Verwünschungen und Magie erzählen. Und wenn mit der Zeit auch diese Geschichten ausgegangen sind, werden wunderschöne Klage- und Liebeslieder gesungen. Mit der Zeit ist das Zimmer überfüllt und vollgestopft mit Geheimnissen der Liebe und des Lebens, zuvor und danach. Bis zum Frühling kleben die Worte an der Decke und den Wänden, die amorphen Felder bleiben wie Spinnenfäden das ganze Jahr hindurch hängen und warten darauf, im übernächsten Winter wieder aufgegriffen und von mir, jetzt etwas älter, endlich verstanden zu werden. Das verbotene Zimmer, das ist das Zimmer der erwachsenen Frauen, der Hexen, Feen, Engel und des Teufels, der Liebenden und Leidenden, der Verzauberten und Verfluchten, der Lebenden und der Toten und, für mich als kleines Kind mittendrin, ganz einfach etwas Grossartiges, fast so etwas wie ein Buch.
 
Für Männer und Kinder sind diese Treffen tabu. Nur ich, ich bin das einzige Kind, vielleicht privilegiert, weil dies das Haus meiner Grossmutter ist, aber ganz sicher, weil sich meine Mutter fürchtet, in der Nacht allein nach Hause zu gehen. Und überhaupt kommt ihr nie in den Sinn, dass ich zuhören könnte, so süchtig wie sie selbst danach ist. Irrtum, ich giere nach diesen Geschichten, die ich zwar nicht immer verstehe, aber aus der Stimme und der Tonalität der Erzählerin spüre ich, dass hier so etwas wie ein weiblicher Lehrgang für mein Weg als zukünftige Frau stattfindet, den ich in der Schule nie absolvieren werde. Ich liege unter der Holzbank, auf der Mutter sitzt und absorbiere die aufregende Angst, mit der sich der Raum abwechselnd füllt, wenn zum Beispiel Vergewaltigungsgeschichten an der Reihe sind. Sicher, was verstehe ich schon, diese Dichte aus Wörtern, mit Liebeskummer und Schmerz angefüllte Geschichten. Nichts. Unbewusst spüre ich aber, dass alles, was in der Geheimsprache der Frauen codiert ist, auf mich wartet. Für irgendwann, wenn ich gross bin. Ich bin ein kluges und neugieriges Mädchen und sauge alles ungefiltert in mich hinein. Das Leben erscheint mir nach jedem solchen Winter als etwas Verbotenes, Geheimnisvolles, Verdorbenes, Unheimliches und unbeschreiblich Magisches. Ich war sicher, eines Tages würde ich das Leben nach diesem Muster selbst erleben. Vielleicht scheiterten darum alle meine Beziehungen, weil ich sie nicht nur als eine Geschichte, sondern als Roman leben wollte, der all dies beinhaltete.



(1) Hochzeitsbild meiner Eltern, 1947

Hochzeitsbild meiner Eltern, 1947

 

Die Kirche bleibt
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5.  Die Kirche bleibt
Als ich heute auf den Bus warte, treten zwei Menschen auf mich zu, ein junger Mann, um die zwanzig, und eine Frau, so um die vierzig, und fragen mich, ob sie «für mich beten» können. Ich bin etwas perplex und sage leichtsinnig, warum nicht, beten schadet nicht. Ob ich irgendwelche Schmerzen habe? Oh ja, sage ich, mein Hühnerauge auf dem linken Fuss tut mir so weh. Ja, das ist gut, wir werden für Sie beten, damit der Schmerz aufhört und das Hühnerauge verschwindet, antworten beide zugleich begeistert. Die Frau geht tatsächlich vor mir auf die Knie, legt ihre Hand auf meinen Fuss, da, wo mein Hühnerauge sitzt und betet: «Hühnerauge, im Namen Jesu, verschwinde, geh weg und lass die Frau schmerzfrei sein! Amen». Ich bin gottesfroh, dass keiner von meinen Bekannten weit und breit zu sehen ist, die Situation ist zu peinlich und grotesk. Aber ob man es mir glaubt oder nicht, der Schmerz ist verschwunden! Die Frau ruft «Halleluja!» und ehrlich gesagt, ich jauchze innerlich auch ...




Meine Grossmutter Eva, eine leidenschaftliche Kirchgängerin, nahm mich oft mit auf ihren Fussmarsch ins Nachbardorf Paludza, wo sich die einzige Kirche der Umgebung befand. Ich zog gerne mit, denn dieser Gang zur Kirche war ein Ding der Erwachsenen und das genoss ich. Es waren besondere Sonntagsprogramme, die sich immer nach dem gleichen Ritual abspielten. Ich wurde gewaschen, in saubere Kleider gesteckt, bekam Schuhe und weisse Socken, und wurde jeweils von der Mutter belehrt, wie ich mich benehmen sollte, nämlich anständig und ruhig, übersetzt: «schweigend» sollte ich sein. 

Die Mutter kam nie mit, nur an Begräbnissen und Taufen war sie dabei, obwohl die Kirche eigenartig und einzigartig war, für mich ein Paradies und Ort meiner ersten Kunstausbildung in Architektur, Malerei, Musik und Poesie. Das alte, dunkle Holz roch so gut, so eigen und wenn die Orgel zuerst ganz tief ausgeatmet und dann im Takt zu atmen begonnen hatte und ihre schweren Töne in den Raum geschleudert wurden und Stimmen und Gesang an sich geheftet hatte, dann fing das alte Holz zu vibrieren an und der Heilige Geist erwachte, senkte sich über unsere Häupter und machte uns so schwer erdig und ernst. Die vielen Kerzen, der Weihrauch, das echoartige Murmeln und die Grossmutter, die alle Lieder und Gebete auswendig konnte und sang und genau die Regie beherrschte, wann und was sie dem Pfarrer antworten sollte, obwohl sie Analphabetin war und nie in einem Buch las. Das war fantastisch, unheimlich schön und so aufregend verboten, wie der ganze Gang zur Kirche.

Es war die Zeit des Umbruchs und der modernen Ideologie, der Kommunismus hatte sich aufgerichtet und Laufen gelernt und beanspruchte daher die ganze Aufmerksamkeit, vor allem die des Geistes, für den bedingungslosen Gehorsam. Auf einmal wurde Gott seiner Existenz beraubt und die Kirche, sein Wirkungsraum, verboten. Für meine Generation war es kein Verlust, dachte ich damals, aber erklärt es denen, die nichts ausser Gott und Kirche haben. Sie folgen ihrer Struktur, gehen unbeirrt weiter dem nach, was sie schon ihr Leben lang taten und es kümmert sie einen Scheissdreck, was verboten ist und was nicht. Manche taten es heimlich, und manche ganz offen und so ging ich mit Grossmutter offen-heimlich hin, die Eltern trauten sich nicht und meiner Grossmutter war der Kommunismus furzegal und ich, ich liebte es.

Nach vielen Jahren, als ich meine Tante Hanna fragte: «Wie habt Ihr das Leben überhaupt ertragen und es geschafft, ohne Männer, ohne Ausbildung und anständigen Job die Kinder allein grosszuziehen und überhaupt das Leben zu meistern?», bekam ich zur Antwort: «Mit Gott, Blazenka, mit Gott. Sie haben uns alles weggenommen, aber Gott, den konnten sie uns nicht wegnehmen, der war in unseren Köpfen und Herzen hineingeboren» ...

Meine Kirche ist eine Artikulárkirche*2), die grösste ihrer Art in ganz Europa und als Rarität unter Denkmalschutz gestellt. Das Interessante sind die vom Boden bis an die Decke bemalten Holztafeln: Die Chören sind mit biblischen Gemälden, die Geländer der polygonalen Holzkanzel mit Bildern der Evangelisten geziert. Die biblischen Geschichten wechseln sich mit Bildern von Tieren und Blumen ab, ein Zeugnis der Volkstümlichkeit ihres Ursprungs. Die Gemälde sind im Ausdruck einfach, aber voll ausserordentlich lebendiger Farbigkeit. Etwas ungewöhnlich für eine protestantische Kirche, die auf Einfachheit beruht. Die Dörfer in Liptov sind meistens protestantische Glaubensgemeinschaften und die später gebauten Kirchen sind schlicht, mit weissem Kalk gestrichene Räume und das Einzige an Innenausstattung ist ein Holzkreuz, manchmal mit, manchmal ohne Jesus. Sonst nichts.

Als ich vor ein paar Jahren diese Kirche besuchte, schlicht berührt staunte ich natürlich über diese fast geschwätzige Bilderflut aus Protz, Gold und Farbigkeit und im ersten Moment erschien mir als Vergleich ein von Kopf bis Fuss bunt tätowierter Körper, bei dessen Betrachtung ich nicht wusste, verdient er Bewunderung oder entsetzt mich seine Masslosigkeit? Als Kind war dieser bebilderte Raum für mich natürlich ein Bilderbuch mit vielen Geschichten und viel interessanter als ein Märchenbuch. Der Kirchturm wurde erst später dazu gebaut, auf den ich als Kind oft heraufgeklettert bin, um zuoberst, im höchsten Stock am Boden liegend, in die Glocken wie unter Frauenröcke zu schauen und den Tönen zu lauschen. Die drei Glocken im Turm tragen die Namen der christlichen Symbolik: Liebe, Glaube und Hoffnung, sie sollen uns bei dem Klimbim an christliche Werte oder Eigenschaften des Guten erinnern. Der Glockenturm ist ein Entdeckungsraum, ich langweile mich dort nie, denn er hat viel mehr zu bieten und das nicht nur für Augen und Ohr, ich kann dort ungestört meinen fantastischen Reisen im Kopf folgen. Ich glaube, dies war meine erste Begegnung mit der Kunst, die ich wahrnahm und die mich inspirierte.

In den 80er Jahren, als der Grössenwahn ausbrach und der grösste Stausee «Liptovská Mara»*3) in der Slowakei gebaut wurde, verschwindet das Dörfchen Paludza, wie viele andere Dörfer unter Wasser im überflutetem Tal. Die Kirche aber, weil sie ebenso speziell und ein Teil der Kulturgeschichte ist, wird gerettet und in einem anderen Dorf aufgebaut. Sie wird Stück für Stück zerlegt und wieder zusammengefügt, nur mit dem Unterschied, dass jetzt auch Metallnägel benutzt werden. Dazu gibt es eine wunderbare Geschichte, die nur wenigen bekannt ist. Vor dem Krieg wurden die Namen vieler Dörfer mit dem Prädikat «Heilig» versehen (übersetzt Svätý) z.B. Heiliger Nikolaus (Svätý Mikuláš), Heiliges Kreuz (Svätý Kríz), Heilige Mara und so weiter. Als die Kommunisten an die Macht kamen, war eine ihrer ersten Handlungen, das Wort «Svätý» durch «Liptovský» (das bezeichnet das Zugehörigkeitsgebiet Liptov) zu ersetzen und «Heilig» als «nicht existent» zu erklären. Schnell verschwindet das Wort aus allen Dorf- und Stadtbezeichnungen, Hinweistafeln, Landkarten und Schulbüchern, aber nicht aus dem Gedächtnis der Bevölkerung. Diese Kirche also, die sich mit dem Prädikat «Kulturgut» schmückt, darf nicht verschwinden und als es um den Wiederaufbau geht, braucht man sehr, sehr viel Geld, das nicht vorhanden ist. Man sucht nach Sponsoren und siehe da, man findet auch welche in Amerika, emigrierte Slowaken, die es zum Reichtum gebracht haben und bereit sind, Geld zu spenden, unter einer Bedingung, dass das Dorf, wo die Kirche wiederaufgebaut wird, den Namenszusatz «Svätý» offziell wieder tragen darf. Und siehe da, wenn es um Geld geht, geschehen Wunder, auch unter kommunistischen Regimen. Das Dorf wird heiliggesprochen und darf sich wie schon vor hundert Jahren «Svätý Kríz» nennen. Die feierliche Einweihung der rekonstruierten Kirche fand am 22. August 1982 unter Teilnahme von fast 10’000 Menschen – Mitgliedern der Gemeinde und Gästen statt.

Als ich den Ort, wo die Kirche heute steht, besuche, staune ich, wie unbestechlich meine Erinnerung ist. Ich vermisse etwas, nur weiss ich nicht, was. Die Kirche steht vor mir wie früher, renoviert, restauriert, von der Strasse sichtbar und erreichbar. Die Wiese, auf der sie steht, ist gross, aber die Kirche erscheint mir irgendwie nackt, verloren und am falschen Ort zu sein. Ich vermisse die heimelige Intimität, die aus der Vertrautheit kommt und beruhigt. Und auf einmal weiss ich, es sind die Bäume, die anders sind, früher standen um die Kirche herum grosse Linden und dementsprechend war nicht nur die Erscheinung, sondern auch die Luft anders durchtränkt wie jetzt, wo ich nur Nadelbäume erblicke und mit Zeder und Harz gefüllte Luft einatme. Optisch fehlt mir auch der alte, niedrige und verrottete Zaun und der kleine Bach, der unbekümmert seine Melodie plätschert und blubbert und von weit her auf sich aufmerksam macht und mitteilt, dass wir am Ziel sind. Was ich im Frühling vermisse, sind die weissen Schneeglöckchen, violette Hyazinthen und gelben Narzissen, im Sommer die weissen und violetten Fliederbäume und die Bienen, die Spatzen und die schwarze Krähen, die im Glockenturm ihre Nester bauen. Und wie im Kino erscheinen mir Bilder, wie von der Strasse, die wir jeden Sonntag zu Fuss in Schuhen oder barfuss gingen, ich sehe den Garten und die Bäume, die Lichter, die durch die Blätter schimmern, ihre Schatten werfen und tausend Grün kreieren und höre das Rauschen des Wassers und was weiss ich, was so auftaucht, so hörbar, wie in der Kirche das gesprochene Wort und so sichtbar, wie die Bilder an den Wänden, die das Wort bestätigen.

Im Sommer riecht der Flieder unverschämt sinnlich, schon von weitem, die Gänse oder Enten kreuzen unseren Weg, die Wiesen protzen mit ihrer Blumenpracht, die Spiele zwischen Licht und Schatten, die farbigen Schmetterlinge und das Vogelgezwitscher, mein Gott, was da alles da war und wir mittendrin, integriert, unwiderruflich, klar, selbstverständlich. Die Kirche als Bestandteil der Natur und des Lebens, als wäre sie nicht von Hand geschaffen, sondern durch Gottes Wollen mit Lindenbäumen und Sträuchern gemeinsam aus der Erde gewachsen, um uns zu bestätigen. Meine Hand in Grossmutters Hand, ich in der einen, Gott in der anderen. Sie trug nur dunkle Kleider, aus grobem Leinen und ein Kopftuch, so gebunden, wie moslemische Frauen heutzutage. Sie war klein, aber ihre Hände, das waren die Hände einer Bäuerin, kräftig, porös, gross, sie rochen nach Erde und Äpfeln. Wie ihr Herz. Zu früh gealtert, abgerackert und geschunden durch die Armut und das harte Leben. Aber nicht verbittert. Warum auch, sie hatte Gott. Und der wusste, warum sie dieses Leben führen musste. Der Glaube an Gott als Grundstein für den Lebenswillen, sie stellte ihn nie in Frage, und sie stellte auch keine Fragen an ihn. Die Gebete genügten, um das Leben zu ertragen.

Meine Mutter
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6.  Meine Mutter
Die Farbe meiner Mutter ist Rot, sie liebt diese Farbe, aber nur an mir. Dementsprechend war alles, was ich bis dahin trug, rot, rot, rot. Sicher wusste sie nicht, was die Farbe bedeutet, aber ihre Intuition war wahrscheinlich richtig. Rot für Blut, Feuer, und Aktivität, dies alles stärkte meine Abwehrkräfte und meinen Körper. Später im Leben zog ich mir in Stresssituationen intuitiv immer rote Unterwäsche an. Als ich mit 15 nach Bratislava gehe und im Internat wohne, fange ich an, mir selbst Kleider zu nähen. Die Farben, vor allem das Rot meiner Mutter, sind für mich Tabu, ich hülle mich in Schwarz, die unbedingteste Farbe, sie wird die meine. Schwarz, das sein Erscheinen und seine Spannung aus den geheimen, tiefen Quellen der Mysterien schöpft, schweigt. Für mich ist Schwarz nicht die Farbe der Endgültigkeit oder Trauer, im Gegenteil, sie ist die Farbe der Unendlichkeit und Ewigkeit und Transparenz, weil sie die Quelle aller Farben ist, die in ihr vereint sind. Auch später in der Schweiz meide ich weiterhin rot, ich kann es, ich will es nicht tragen und frage nicht warum. Rebellion? Unbewusste Ablehnung? Egal.

Für mich ist Rot die lauteste Farbe, die aufdringlich ist und förmlich nach Aufmerksamkeit schreit. Schau mich an, da bin ich! Sie ist bipolar, aggressiv und warm, ist Liebe und Verletzung zugleich. Vor allem aber ist Rot für mich die Symbolfarbe für meine Mutter. Als sie einige Jahre später stirbt, kaufe ich mir meinen ersten und bis heute einzigen Pullover in Rot, den ich dann fast zehn Jahre lang trage. Nicht das obligatorische Schwarz, sondern dieses Rot, welches ihr sicher gefallen hätte, ein ganz spezielles Rot wird zur Trauerfarbe für meine Mutter, aber auch zum Symbol meiner Versöhnung mit ihr.

 

Meine feine Mutter, schrieb ich am Anfang. Meine Mutter war klein, dünn, feingliedrig und ihre Haut transparent wie Pauspapier. Ihre ganze Erscheinung, sogar die Körperhaltung hatte etwas Klassisches, Aristokratisches an sich. Schon als Kind spürte ich, dass sie nicht hierher ins Dorf und nicht zu mir gehörte, dass sie am falschen Ort, im falschem Körper und in der falschen Geschichte war, dem harten Landleben nicht gewachsen, nicht als Bäuerin und nicht als Mutter. Sie war für mich unberührbar, denn ich berührte sie selten, sie mich fast nie, nur wenn sie musste. Ihre Art, sich unsichtbar zu machen, sich zurückzuhalten, machte sie unnahbar und mir und meinem älteren Bruder fremd. Diese angeborene Fähigkeit zur Unaufdringlichkeit, die nicht mit Scheu vergleichbar war, definierte sie als zerbrechliches Wesen, welches allein nicht überleben konnte. Sie las viel und gerne und sie hatte eine göttliche Stimme. Begnadet und glücklich, wenn sie sang, da fand eine Verwandlung statt, sie mutierte zu einer von diesen transzendenten Schönheiten aus den Filmzeitschriften, die sie abonniert hatte und wurde selber zum Mythos, wenigstens für mich. Was für ein Glück, eine singende Mutter zu haben, die sich nicht aufregt, nie schimpft, nur singt und wartet, bis alles vorüber ist, bis der Vater kommt! Sie hatte eine hohe und breite Stirn, ein knochiges, mageres Gesicht, mit einem zu langen Kinn, und genau so eine Adlernase wie Onkel Vlado, nur was bei ihm schön und männlich war, wirkte bei ihr anders, fremd und auffällig, vielleicht auch darum, weil ihre Haut so transparent und angespannt war, oder weil sie selbst oft über ihre Nase sprach. Sie verteidigte diese Nase, nur Intellektuelle und Dichter hätten eine solche. Sie hatte wunderschöne, intensive, hellblaue Augen, die Augenform à la Marlene Dietrich, umrandet von dünnen Augenbrauen und dazwischen wunderbaren, grossen Flächen zum Schminken, die ich in meiner Physiognomie nicht habe. Ihre Lippen waren schmal und wenn sie nicht lachte, wirkten sie streng, nicht verbissen, wie es bei mir manchmal aussieht, nur einfach streng und traurig.
 
Aus meiner Kinderzeit gibt es nur eine Familienfotografie, die nach Grossvaters Begräbnis von einem wandernden Fotografen aufgenommen wurde. Wir als Familie, Vater, Mutter, meine zwei Brüder und ich. Aufgestellt vor einer im Hintergrund aufgespannten Decke, im rechten Eck sah man noch den Kopf der Person, die die Decke hielt (ich habe ihn wegretouchiert), die Eltern sitzen auf einer Bank, ihre Körper ganz gerade, die Mutter elegant, im selbstgenähten, schwarzen Kostüm und weisser Bluse, das Haar streng nach hinten gekämmt, zu einem Knoten gebunden, versucht verlegen zu lächeln. Der Vater neben ihr, auch er im Sonntagsanzug und weissen Hemd, irgendwie cool ohne Krawatte und mit ernsthafter Miene, man erkennt es an den drei tief eingegrabenen Stirnfalten. Wir Kinder schauen mürrisch und verneinend in die Kamera, wahrscheinlich gab es zuvor einen riesigen Krach, gerade wegen des vermissten, glücklichen Lachens. Ich, an Vaters Knie angelehnt, mit beiden Händen von ihm gehalten, meine Brüder links und rechts neben der Mutter, die sie symbolisch mit beiden Armen hält. Kein fröhliches Bild. Ich trage ein dunkelblaues Matrosenkleid und eine weisse Masche im Haar, mein Mund zum Weinen verkrümmt, die Manchesterhosen meines jüngeren Bruders sind schön hellblau, wie seine Augen und der ältere Bruder links schaut irgendwie allwissend in die Kamera. Es gibt noch ein zweites Bild, mit der Vaterfamilie, an einem Frühlingstag im Garten vor dem Haus. Mutters Haar ist offen, sie ist an Vater angelehnt, wieder in weisser Bluse und dunklem Rock, Vater ganz lässig, auch im weissen Hemd, lächelt, ich, am Boden, zwischen den Brüdern und männlichen Cousins sitzend.
 
Meine Mutter hat hier noch schönes, dunkles Haar, welches mit der Zeit durch Krankheiten immer dünner wird. Ihre Haut ist schneeweiss, im Gesicht so hauchdünn und angespannt, man sieht die feinen Blutgefässe buchstäblich pulsieren und oft habe ich Angst, dass ihr die Haut platzt und sie aus dem Gesicht bluten wird. Sie hat noch etwas Spezielles, was sie auszeichnet, einen goldenen Stockzahn auf der rechten Seite, auf den sie richtig stolz ist. Ich finde es mehr als peinlich, wenn sie lacht und verstehe nicht, wieso sie ihn zu Schau stellt, es ist einfach nicht schön. Für sie aber ist dieser Goldzahn eine symbolische Manifestation gegen die Armut. «Alle sollen sehen, dass ich mir einen goldenen Zahn leisten kann». Ich sah es bei keiner anderen Frau und heute wundere ich mich, dass mich damals niemand wegen dieses Spezifikums meiner Mutter angesprochen oder ausgelacht hat. Ich bin sicher, meine Mutter litt sehr unter der Armut, in der sie aufgewachsen war, sie beklagte sich nie, obwohl sie von einem ganz anderen Leben, vom eigenen schönen und sauberen Heim träumte. Sie ist von Sauberkeit besessen, nicht nur jener der Wohnung, sondern auch des Körpers. Sie sagt mir immer: «Egal wie arm du bist, wenn du sauber und ordentlich bist, geflickte, aber saubere Kleider trägst, ist alles halb so schlimm. Wenn du dich danach richtest, gibt es keine Scham und keine Schande». Sie benutzt oft das Wort «arm», als wäre es eine ansteckende Krankheit oder eine Ungerechtigkeit, was folgerichtig auch an mir haften bleibt. Die Armut empfindet sie als Schande, als Kainsmal, einen Zustand ewiger Beschämung und Beschränkung in materieller wie auch in geistig-intellektueller Hinsicht, was sie nie akzeptierte, sich damit nie innerlich versöhnen wollte und nicht konnte.
 
Zu meiner Erziehung gehörte wie ein Mantra dieser ewige Satz, den ich mir zu Herzen nehmen sollte: «Lerne, sei gescheit und werde Ärztin, oder mindestens Krankenschwester, die die Möglichkeit hat, einen Arzt zu heiraten». Sie vergisst dabei, dass auch ich, wie sie, kein Blut sehen kann und in Ohnmacht falle, trotz meinem Faible für Krankenhäuser. Ausserdem hat sie ein ausgeprägtes Qualitätsbewusstsein. Sie bevorzugt Materialien, die eine hohe Lebenserwartung haben. Als gelernte Schneiderin träumt sie vom eigenen Modeatelier, einer «Bernina» Nähmaschine, feinen Stoffen und Modezeitschriften wie Vogue oder Burda aus dem Ausland. Manchmal denke ich, sie hätte erst jetzt geboren werden sollen, diese Zeit wäre sicher ihre Zeit.
 
Als wir dann endlich aus dem Dorf in die Stadt wegziehen, findet sie zuerst Arbeit in einer Ledergerberfabrik, ihr Arbeitsplatz stinkt bestialisch und sie ist die ganze Zeit einer unerträglichen Feuchtigkeit ausgesetzt. Ich weiss nicht, wie und warum sie das aushielt, vielleicht war es der Traum, den sie eines Tages verwirklichen wollte, wohl aber auch die Notwendigkeit zu überleben. Für das Leben auf dem Lande war sie zu fein, sie konnte nicht einmal Kühe melken, für die Arbeit im Spital war sie ungeeignet, sie konnte kein Blut sehen, obwohl sie in Kriegszeiten als Krankenschwester gearbeitet hatte und in einer Lederfabrik Gürtel und Taschen zu nähen, das war wie eine Strafe oder Prüfung für ihr Wagnis zu träumen. Sie wurde krank, die Diagnose schwere Tuberkulose (TBC), die ihr, aber auch das Leben der ganzen Familie, beeinflusste, sie konsumierte tagtäglich bis zu 80 verschiedene Medikamente und verbrachte, so glaube ich, zwei Jahre im Spital, aus dem sie manchmal nach Hause flüchtete, durch die Löcher im Spitalzaun. Als es ihr besser ging und wir sogar endlich unsere Eigentumswohnung in der Stadt beziehen konnten, wurde sie als Verkäuferin in einem Stoffladen angestellt. Dort, endlich am richtigen Ort, der sauber, trocken und gut von zuhause erreichbar war, für sie eine Basisoase von allem, was sie sich wünschte. Sie liebte die Stoffe, die Knöpfe und die Spitzen, die sie verkaufte, vor allem schätzte sie die trockene Luft, die Ordnung und die Gespräche mit den Kundinnen. Seit ich mich erinnern kann, nähte sie für mich alle Kleider. Alle in Rot, Babyrot, königliches Rot, Frauenrot, Kirschrot, Blutrot und was weiss ich was für Rot. Sie war fest überzeugt, dass für mich nur diese Farbe in Frage komme. So wurde mein Körper bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr in Rot gehüllt, in allen möglichen Farbnuancen, von hell bis dunkel, von Samt, Seide, Leinen bis zu Tüll. Doch Rot als Farbe war für mich nur im Farbton des sowjetischen Pionier-Tuchs akzeptabel, das aus reiner Seide war und in diesem ganz speziellen Rot, intensiv, leuchtend. Aber eben, rot waren meine Röcke, Blusen, Kleider und Hosen und manchmal auch die Schuhe, falls sie welche fand. Der einzige Vorteil: Sie waren modern, fast provokativ und so war ich, was Mode betrifft, immer in Topform, heute kann man sagen, dank ihr war ich eine Trendsetterin. Wie ich bereits bemerkte, hatte meine Mutter eine wunderschöne Stimme und ich liebte es, wenn sie sang, dann war so etwas wie Glück in ihrem Gesicht. Den ganzen Tag hörte sie Radio und sang mit. Jede Melodie, jedes Lied wiederholte sie wie ein Echo, nur viel, viel schöner. Ich sang inbrünstig mit und alle meinten, ich hätte das Talent meiner Mutter geerbt, was natürlich ein Irrtum war. Ich bin total unmusikalisch und singe herrlich falsch. Meine Mutter, mit ihrer wunderbaren Stimme, milderte ihren Schmerz, ihre Enttäuschung und all die unangenehmen Dinge des Lebens, die sie begleiteten, sie annullierte sie und behielt so ihr inneres Gleichgewicht.

Mir fehlt leider diese Fähigkeit. Aber als dreijähriges Kind, das alles kann, da ihm die ganze Welt zu Füssen liegt, plappere ich überall: «Wenn ich gross bin, werde ich im Radio singen und eine grosse Künstlerin werden». Für mich eine beschlossene Sache, vor allem die «Künstlerin». Irgendwie hat sich dieses Wort in meinem Bewusstsein wie eine Matrix eingebrannt und mich mein Leben lang begleitet. Dieses Wort, das war mein Geheimnis, eine Quelle, aus der ich schöpfen und mich so retten konnte, in das ich flüchten konnte, wenn das Leben mich schlug und der Schmerz unerträglich geworden war. Irgendwie bin ich doch Künstlerin geworden, nur nicht die singende, sondern die sprechende. Meine Kunst ist verborgen in den Wortkreationen, die Bilder erzeugen und die Bilder, die schweigend Geschichten erzählen. Das sind die Sprachen, die ich kann, aber auch die, die ich nicht kann. Diese ständige Ambivalenz zwischen Sprachlosigkeit und Geschwätzigkeit, die mich als Künstlerin definiert. Ich bin nicht Künstlerin geworden, ich war immer eine, flüstert mir manchmal eine Stimme zu, wenn der Glaube an einen selbst ins Unendliche fällt und fällt.
 
Die Mutter lebte praktisch allein mit uns Kindern, der Vater glänzte durch Abwesenheit. Als Lastwagenchauffeur fuhr er mit Pilsner-Bier durch ganz Europa. Eigentlich war er Schreiner-Geselle und hatte vor, eine eigene Schreinerei zu eröffnen. Auch er war ein Träumer. Das einzige aber, was er je geschreinert hat, ist das Schlafzimmer meiner Eltern. Aus Mahagoniholz betonte Mutter immer stolz. Und ich, die Vaterstochter, die in der Werkstatt herumschleicht und beobachtet, wie gearbeitet wird, klaut eines Tages aus der Werkstatt, im Alter von zwei Jahren, Hammer und Nägel und vernagelt zum Entsetzen meiner Mutter ihren schönen, gerade fertiggestellten Toilettentisch. Meiner Mutter Willenskraft zehrt aus ihrer grosser Sehnsucht, sie war die ewig wartende in ihrem Traumland. Dass sie für das Leben als Bäuerin nicht geschaffen, das merke sogar ich als kleines Kind. Sie verträgt keine Sonne, ihr Körper ist schlank und federleicht, sie hat nie Gewichtsprobleme, dafür ist sie ihr Leben lang krank. Sie erzählt mir, dass die Schwiegermutter, aber auch die eigene Mutter sie verachten, weil sie unfähig ist, Kühe zu melken. Es widert sie einfach an, sie kann die Kuheuter nicht in die Hand nehmen und sie empfindet es als pervers, den Kühen die Milch zu stehlen. Sie spiele die feine Dame, die meine, sie sei etwas Besseres, giftlet die Schwiegermutter.

Damals ist der Kommunismus auf dem Vormarsch und frisst jeden Bauernhof und jeden auch noch so kleinen Privatbesitz auf. Es ist die grosse Zeit der Verstaatlichung und Gründung von Kolchosen und landwirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaften. Diejenigen, welche Land besitzen, werden zum freiwilligen Verzicht gezwungen, die, welche nichts haben, sind engagierte Befürworter. Ab einer gewissen Zeit gibt es nur noch Gemeinschaft, keine Privatisierung, kein eigenes Geschäft, das etwas anderes als Gleichheit verfolgt. Es ist also nicht so, dass die Träume meiner Eltern an der eigenen Unfähigkeit und ihrem schwachen Willen zerbrechen, es ist die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft und ein regulärer und anerkannter Zwang, der sie ihrer eigenen Begabung und Talente beraubt und ihnen eine ganz andere Zukunft diktatorisch aufzwängt. Schon der Name «die Diktatur des Proletariats» hält, was er verspricht. Es ist Diktatur und was für eine. Entmündigung non plus ultra.
 


(1) Meine Mutter Bozenka, geboren 1925

Meine Mutter Bozenka, geboren 1925

 



 

 


 


 

 

 

 

 

 

Mutter und ihre Geschwister
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7.  Mutter und ihre Geschwister

Ich weiss, dass meine Erinnerungen lückenhaft sind und ich staune fortwährend, mit welcher Präzision, Klarheit und Intensität eine verschieden gebündelte Vergangenheit zum Vorschein kommt. Weil ich zu viel fantasiere, habe ich kein gutes Gedächtnis und kein Lexikon im Kopf von Sprüchen und Weisheiten, die mir auf den Weg mitgegeben wurden, Sätze, die mich und meinen Charakter geprägt haben, die man in Büchern lesen oder aus Gesprächen heraushören kann. Ich habe nichts, was ich jemandem als Leitgedanken aus meinem Leben vermitteln und vererben kann. Als Jugendliche hat mich meine Familie nicht besonders interessiert, eigentlich überhaupt nicht. Erst viel später, als ich merke, dass ich ein Manko an Erinnerung habe, wird mir bewusst, was es ist. 30 Jahre ohne Familienanhang, ohne Geschichte, Gesicht, Sprache, ohne geistige Verbundenheit und Zusammenhalt und vor allem ohne Liebe. Das erschreckt, glaube mir, denn da tritt einiges in Erscheinung: Eine Bitterkeit und Unverdauflichkeit bemächtigt sich der Seele, die Einsamkeit schreit sich körperlich und bewusst heraus und du wirst dir selbst von Sekunde zu Sekunde fremder und unbekannter. Du weisst nicht, woher du kommst, wer vor dir schon den gleichen Weg gegangen ist, du weisst nicht, wem du dein Aussehen, deine Begabung, deinen Charakter, deine Art des Denkens und deine Sehweise verdankst. Und niemand ist da, dem du Fragen stellen oder den du schuldig sprechen kannst, inzwischen sind alle tot und du hast keine Ahnung, wer noch am Leben ist, der deine Fragezeichen auflösen könnte. Was mir selbst bleibt, ist wirklich nur das, was ich selbst irgendwann aufgenommen habe und so bin ich nun auf die Gnade meiner Erinnerung angewiesen, sonst kann ich mir mein Gedächtnis und seine Funktionalität nicht erklären. Denn auch das Gedächtnis reagiert nicht nur auf Reizüberflutung, sondern führt ein Eigenleben, erwacht aus dem Nichts, wann immer es will und erzählt mir, was es will. Und für dieses aus dem Nichts Auftauchende bin ich dankbar. Ich weiss nie, welche Geschichte und Szenarien sich mir gerade offenbaren, welche echt und welche ausgedacht sind, aber alle haben einen Sinn, denn sie klären und manchmal rücken sie etwas in Ordnung ...





Der älteste Bruder meiner Mutter ist Onkel Štefan. Ein eitler, junger Mann und bekannter Dorf-Frauenheld. Sein zu wildes, lockiges Haar lässt er sich von seiner Schwestern bügeln und dann wieder einwickeln, er färbt es mit schwarzer Schuhcreme, bis es glänzt wie sauber poliertes Ebenholz, jede Haarlocke sitzt dann am richtigen Platz und er riecht dazu so verdammt fremdartig gut. Für «Kölnisch Wasser» hätte er, glaube ich, auch die Grossmutter verkauft, er liebt Parfum und überhaupt alle Düfte, die den Stallgeruch niederwalzen und weil er eine leicht kriminelle Energie besitzt, bestiehlt er die sonst so arme Familie und verkauft alles Mögliche, um seinen modischen Spleen zu finanzieren. Man könnte sagen, er ist ein Dressman, perfekt und modisch gekleidet und wie ein Gott duftend.

Und nein, auch er ist wirklich nicht zum Bauern geboren und später, nach der Verstaatlichung der Ländereien, ist es auch nicht wichtig. Eigentlich erscheint er mir heute wie eine Figur aus einem Modeheft, zu Barbie passend, und weil ich nie mit Puppen spielte, kann ich somit keine emotionale Puppen-Bindung, wie Mädchen es tun, zu ihm aufbauen, aber auch er selbst nicht zu mir, weil ihn die Kinder einfach nicht interessieren, sondern nur hindern, und ausserdem glaube ich im Nachhinein, auch die ganze Familie und Verwandtschaft interessierte ihn nicht, als schämte er sich ihrer. Onkel Štefan studiert Elektrotechnik, verschwindet irgendwo in der Ostslowakei, gründet eine Familie und meldet sich nie.
 
Als Ältester musste er natürlich auf die kleinen Geschwister aufpassen, vor allem auf die jüngste Schwester Hanna, ein Störfaktor für seine nächtlichen, heimlichen Liebesabenteuer. So kocht er, damit sie sicher einschlafen wird, aus den Mohnköpfen Tee für sie. Sie schläft natürlich wunderbar ein, bleibt aber ihr Leben lang in ihrer Entwicklung zurück. Sie ist die Hanna, die Zurückgebliebene, Hanna, die Dumme. Sie ist aber die Einzige, die Grossmutters Kunst des Webens beherrscht und weiterverfolgt. Ihre Leinenstoffe sind weicher, fröhlicher und farbiger. Sie heiratet, gebiert vier Töchter, nur nicht den so sehnlichst gewünschten Sohn, was ihren Mann, ein grosser, fettleibiger und schnell aufbrausender Macho, gar nicht begeistert, denn ein richtiger Mann bekommt richtige Söhne. Er ist ein Säufer, trinkt leidenschaftlich und masslos gern und genauso schlägt er sie. Irgendwann fährt er besoffen mit dem Motorrad in einen Strassengraben und verstirbt auf der Stelle. Tante Hanna erzieht ihre Töchter alleine und es geht ihr gut. Sie ist auch die Einzige, der ich nach dreissig Jahren begegne. Aus der einfältigen und zurückgebliebenen Tante Hanna ist eine wunderschöne, weisshaarige siebzigjährige Frau mit einem sanften, zufriedenen und erleuchteten Lächeln geworden. Ihr Anblick berührt mich sehr, die rapide Ähnlichkeit mit meiner Mutter ist nicht zu übersehen, so hätte sie sicher ausgesehen, wenn sie noch am Leben wäre. Tante Hanna ist nicht gesprächig, sie begegnet mir sehr scheu und zurückhaltend, aber wenn sie etwas sagt, klingt es nicht dumm, sondern sehr weise. Ihre Töchter erzählen mit Belustigung, dass sie einen Verehrer, einen reichen, aus dem Ausland zurückgekehrten Emigranten habe, der sein restliches Leben wieder zu Hause verbringen wolle und ihr einen Heiratsantrag gemacht hat. Sie habe aber dankend abgelehnt.
 
Über die zweite Schwester meiner Mutter, Tante Olga, weiss ich noch weniger, obwohl sie später in der gleichen Stadt wohnt wie wir und ich ziemlich regen Kontakt mit meinen Cousinen und Cousins pflege. Sie ist eine sehr magere und zu früh gealterte Frau, die ihren Mann, auch ein Alkoholiker, schnell verliert und Witwe wird. Meine lieben Tanten mit ihren Männern, mit dem Alkohol als Verheissung, werden schnell selbständig, ihrer schwersten Last entledigt führen ihr Leben weiterhin ziemlich glücklich und erziehen ihre Kinder im Alleingang. Auch Tante Olga bekommt drei Söhne und eine Tochter. Zuerst wohnen sie am Rand der Stadt, in einem Zigeunerghetto, später bekommen sie eine Wohnung im ersten gebauten Hochhaus in der Stadt. Es gibt einen grossen Bauboom in den Sechzigern, Hochhäuser aus normierten Beton-Elementen werden gebaut und wie die Pilze nach dem Regen schiessen plötzlich ganze Städte aus dem Boden, Beweise des Fortschritts und des sozialen Aufstiegs. Tante Olga bezieht mit den Kindern eine Wohnung im zwölften Stock, die mir sehr gut gefällt, ja ich glaube, ich bin sogar neidisch. Sie haben Lift, Zentralheizung und Balkon mit schönem Ausblick auf die Stadt, ein separates WC, Bad und Küche. Als Musterbeispiel für eine zufriedene, moderne Hausfrau: eingebaute Schränke, ein elektrischer Herd und einen Backofen und, nicht zu vergessen, ein Kühlschrank und ein Parkettboden, was damals die ersehnte sozialistische Wohnkultur repräsentiert. Heute sind die Häuser in desolatem Zustand, sie zerfallen, sind unbewohnbar, werden zwar noch von Zigeunern besetzt, die dortbleiben, bis die letzten Holzstücke des Parkettbodens verbrannt und die letzten Glasfenster zerschlagen sind. Wenn man in der Slowakei Richtung Hohe Tatra fährt, erblickt man oft auf einer Strassenseite die verlassenen Satellitenstädte der Vergangenheit, die dem Zerfall überlassen sind und auf der anderen Strassenseite die neuen, urbanen Siedlungen der Zukunft, die im gleichen Stil und derselben Monströsität, gebaut wurden.

Onkel Vlado, der jüngste Bruder meiner Mutter, war meine grosse Liebe. Schon als Kleinkind bin ich vernarrt in Onkel Vlado, der ein wunderschöner Mann ist. Er versinnbildlicht und verinnerlicht für mich den idealsten Menschen auf dieser Erde, und obwohl ich, seit ich sprechen, denken und bewusst wahrnehmen kann, noch keine Ahnung habe, nach welchen Kriterien Schönheit bestimmt und bewertet wird, bei ihm bin ich mir sicher. Er hat dieses typisch ausgeprägte, slawische, breite Knochengesicht, dunkles, dichtes, längeres und nach hinten gekämmtes Haar, ist gross, schlank und hat eine grosse Adlernase, gebogen und geschwungen, wie ein gemeisseltes Gedicht. Und er liebt mich, lächelt mich an, spielt und spricht mit mir, als wäre ich schon gross. In meinen Augen bestimmte er den Massstab der männlichen Schönheit, die für mich bis heute Gültigkeit hat. Er und mein Vater. Onkel Vlado studiert auf der Militärakademie in der Sowjetunion und wenn er nach Hause kommt, trägt er seine Militäruniform, die beeindruckt und das nicht nur mich. Er sieht einfach fantastisch und begehrenswert aus, wie ein Wesen aus einer anderen geistigen Welt. Er ist nicht nur schön, er ist sehr klug. Zu meinem Entsetzen heiratet Onkel Vlado eine zehn Jahre ältere Tschechin namens Valika. Da sind alle, nicht nur die Familie, wirklich erstaunt und irritiert: doch nicht eine Tschechin und noch dazu so alt! Zudem verkörpert sie nicht unbedingt das slowakische weibliche Schönheitsideal, sie ist gross, schlank wie ein Brett und lächelt fast nie.

Damals in der Tschechoslowakischen Republik versucht man die Bevölkerung, Tschechen und Slowaken, miteinander zu vermischen. Die jungen Slowaken absolvieren ihren zweijährigen Militärdienst in Tschechien und die Tschechen den ihren wiederum in der Slowakei. Aber diese Mini-Globalisierung und Völkervermischung funktioniert seltsamerweise nie so richtig. Onkel Vlado, der politisch korrekt zum ehrlichen und überzeugten Kommunisten auf der Militärakademie erzogen wird, ist der einzige aus unserer Familie und überhaupt aus dem Dorf, den ich kenne, der eine Tschechin heiratet. Und wie ich schon sagte, sie ist nicht einmal hübsch und auch nicht unbedingt freundlich oder herzlich zu uns, sie duldet uns, wie wir sie dulden und sie hat keinen Bock auf den Rest der Familie. Das verstehe ich wiederum nicht. Die Ehe der beiden funktioniert aber wunderbar. Sie bekommen zwei Söhne und manchmal, wenn ich sie besuchen darf, staune ich über Onkel Vlado als Vater, der jeden Abend vor dem Schlafengehen den Kindern das Märli von den sieben Geisslein und dem bösen Wolf erzählt. Und wie er das tut! Das ist grosses Theater, mit Versteckspiel und Dramaturgie auf höchster Ebene. Onkel Vlado macht eine steile Militärkarriere, er ist in Kuba bei Fidel Castro und später in Ägypten als Ausbildner für das Militärkader tätig.

Mein Bruder erzählt mir, dass die ganze Familie nach meiner Emigration ein Schweige-Dokument unterzeichnen und schwören musste, mir nie etwas über Onkel Vlado zu verraten. Was er macht, wo er sich aufhält, und dass Onkel Vlado sich von mir offiziell losgesagt hat. Das tut verdammt weh, als ich es viele Jahre später erfahre. Nicht nur mein Vater, sondern auch mein geliebter Onkel. Auch wird mir zum ersten Mal bewusst, welche Auswirkungen meine Flucht auf meine Familie hat, als wäre ich ein Verbrecher und Verräter, dessen man sich schämen muss und zweitens, dass mich Onkel Vlado einfach so tatsächlich fallen lässt. Ich weiss, dass er irgendwo in Tschechien im Brno lebt, ich habe versucht, ihn anhand seiner Adresse zu finden. Ich schrieb ihn an, eine Antwort kam aber nie zurück. Nur zu gerne wäre ich ihm und meinen zwei Cousins begegnet. Was ist aus seinen Söhnen geworden, sind sie auch so schön und gescheit wie er? Keine Ahnung. Ich denke oft an ihn, vor allem, wenn ich meine Ohrläppchen berühre. Onkel Vlado ist der, der sie mit einer brennenden Nadel durchsticht, damit ich endlich goldene Ohrringe tragen kann. Diese Ohrringe haben natürlich ihre eigene Geschichte, wie jede noch so kleine Winzigkeit meiner Erinnerung. Meine Mutter kauft sie für die Tochter ihrer besten Freundin, die meine Patentante ist, weil sie annimmt, sie würde automatisch auch zur Patin ernannt. Die beste Freundin aber ernennt eine andere zur Patin, und das verletzt meine Mutter so sehr, dass sie beschliesst, mir die Ohrringe zu geben. Ich freue mich natürlich sehr und hoffe wie sie auf ein Wunder, denn in der ersten Klasse stellt man fest, dass ich überhaupt nicht gut sehen kann und so muss ich in der verpönten ersten Reihe sitzen. Nicht nur das, ich bekomme eine hässliche rosa Brille, als wäre es eine Bestrafung. An den winterlichen weiblichen Artusrunden höre ich eine Frau zu meiner Mutter sagen, sie solle mir doch goldene Ohrringe ins Ohr stechen, die bringen die Sehkraft wieder zurück. Aber wer hat damals schon Geld für solche Luxusgüter, auch wenn sie heilend sind und ausserdem, die Freundschaft hat Priorität. Nun, da sind sie plötzlich mein, die verschmähten, überflüssigen Ohrringe. Die kleinen roten Steine glitzern wie kostbarste Blutstropfen auf meiner Haut und es geschieht wirklich dieses seltsame Wunder. Nach einem Jahr muss ich die Brille nicht mehr tragen. Meine Sehkraft kommt zurück, aber meine Mutter spricht noch viele Jahre nicht mehr mit der Freundin.
 
 
Grossmutter Maria
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8.  Grossmutter Maria

Schon als Kind nahm ich mit Verwunderung wahr, dass man draussen nicht alles erzählen darf, wie man wirklich lebt, geschweige denn, wie und was man denkt. Es gab die grosse gute Welt, die alles versprach, und es gab die kleine private, zurückgebliebene Welt, die schweigend am Mangel zerbrach. Wie eine gläserne Murmel rollt die kleine Welt in die grosse, die beiden stossen ständig aufeinander, berühren sich, werden aber nie Freunde. Sie belügen und betrügen sich friedlich, weil sie den Weg einer intelligenten gegenseitigen Akzeptanz gehen. Ausserdem gibt es nicht nur zwei Wirklichkeitswelten, sondern auch zwei Universen, eine mit Gott, die andere ohne. Und dazwischen das unausgesprochene Schweigegelübde. Um zu überleben.




Hinter sieben Flüssen, sieben Bergen, bei sieben Zwergen lebt die Familie meines Vaters. Als Kind verstehe ich durch diesen Märchensatz die Entfernung des Ortes meines Vaters. Sicher, es sind nicht sieben Berge, vielleicht sieben Hügel, die hinter dem Friedhof liegen. Zu Fuss circa in zwei Stunden erreichbar. Einmal im Jahr, an einem schönen Sommertag, machen wir diesen Ausflug. An den Grossvater kann ich mich überhaupt nicht erinnern, obwohl ich ein Foto von ihm habe, dafür aber an die Grossmutter, ja, ich sehe sie im Bett liegend, oder hinter dem Tisch sitzend und in der Bibel lesend. Bilder, die im Gedächtnis geblieben sind wie Fotografien.

Diese andere Grossmutter ist nicht eingerockt wie die Zwiebel-Grossmutter, sie zeichnet eine andere Besonderheit aus. Sie schläft wie die Prinzessin auf der Erbse, nämlich auf mindestens neun Bettdecken. Sie ist meine Erbsen-Grossmutter. Sie ist dünn, wie ein Strich in der Landschaft, dünn und federleicht und ich fürchte die herbstlichen Winde, die sie mitnehmen könnten. Sie ist das Gegenteil von Grossmutter Eva, deren Körperbau windsicher und weiblicher ist. Ich schlafe natürlich nie auf der Erbse, eher unter ihr, wo ich manchmal unter diesen vielen Bettdecken verloren gehe. Ich weiss nicht, warum sie die so gesammelt hat, vielleicht waren sie auch ihre Hochzeitsmitgift an mich und an die anderen, nicht geborenen Enkelkinder. Damals dachte man mehr an die Zukunftsgeneration als an sich selbst. Der Geruch meiner Erbsen-Grossmutter ist archaisch, sie riecht nicht nach Arbeit, nicht nach Landleben, sondern nach etwas, das man nicht beschreiben kann, als wäre sie schon längst mit ihrem Körper in einer anderen Welt. Sie riecht nach Ausdünstungen und Ausscheidungen, sie riecht nach Grossmuttergeruch, sie riecht nach «alt».Und ausserdem lebt sie auch gefährlich. Sie ist unerschrocken gläubig, bibelgewandt, sie weiht mich in verschiedene geheimnisvolle Leben der Märtyrer ein, die für ihr Glaubensbekenntnis, genau wie Partisanen der Glaubensfreiheit, gestorben sind. Sie kennt die Bibel auswendig. Einer dieser Märtyrer ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, es ist der heilige Sebastian, sie schenkt mir von ihm sogar ein Bild, einen farbigen Steindruck, auf dem der Körper eines bildhübschen jungen Mannes, von Pfeilen durchbohrt, abgebildet ist, der sich trotzdem elegant um den Baumstamm windet und mit verzerrter Ekstase des Todes im Gesicht zum Himmel schaut, wo aber niemand, nicht einmal ein Engel zu sehen ist, der ihn trösten kann. Dieses Bild hängt in meiner gespeicherten Bildergalerie im Kopf weiter, diese blutigen Pfeile, die friedliche Landschaft, der nackte Oberkörper und die Einsamkeit seiner Schönheit, der er ausgeliefert ist. Meine Erbsen-Grossmutter ist eine Quelle solch verbotener Erzählungen, wie überhaupt alle Erwachsenen, die mit mir sprechen und mich ernst nehmen. Ich liebe es. Und sie lehrt mich heimlich das Grundgebet «Vater unser» und die «Zehn Gebote» und ich bete einige Zeit mit ihr, oder auch ohne sie, heimlich, inbrünstig und komme mir dadurch selbst besonders und als Märtyrerin vor. Bis wir, anlässlich einer Naturkatastrophe, von Dreck, Schlamm und Wasser wie arme Kirchenmäuse aus unserer Kellerwohnung in der Stadt hinausgeschwemmt werden. Da höre ich mit dem Beten auf. Woran ich mich noch erinnern kann, sind einige Kirchenbesuche, so in der Mitte der sechziger Jahre, die ich mit Grossmutter heimlich mache. Nicht politisch erzogenen Menschen kannst du ihre Bräuche nicht wegnehmen, sie tricksen die Regierung durch heimliche Taufen, Kommunionen und Hochzeiten aus, sie verlassen die Kirche nie, die ihr zweites Zuhause ist. So schieben sich die Gläubigen von Dorf zu Dorf, wir ins Nachbardorf, das Nachbardorf zu uns.

Die Familie meines Vaters ist nicht so durch Armut gezeichnet wie die meiner Mutter, im Gegenteil. Sie besitzt viel Land, hat Pferde, Kühe, Hühner und anderes Vieh, nur Schweine hat sie nicht, dafür schon einige landwirtschaftliche Maschinen, mit denen sie das grosse Land bearbeitet. Nicht nur der Hof, sondern auch die Scheune ist riesig, ein deutliches Zeichen des Habens. Das Haus, aus dunklem Holz gebaut, zweistöckig, mit einem schön geschnitzten Holzbalkon rundherum, ab Frühling mit roten Geranien behängt, liebe ich auf Anhieb und ich stelle mir vor, es sei ein Schloss. Die vielen kleinen Fenster, hinter denen sich Zimmer verbergen und natürlich das spezielle, schöne, abgeschlossene Zimmer, das nur an Weinachten, Ostern, oder an Begräbnissen geöffnet ist, ist auch da. Die vielen kleinen Kammern bekomme ich nicht zu Gesicht, oder meine Erinnerung reicht nicht so weit, ich kann mich auch nicht an das Zimmer erinnern, in dem ich, wenn ich Glück habe, übernachten darf. Aber die Speisekammer, ja, dort gibt es was zu sehen. Prächtige Holzschränke gefüllt mit weissem und dunklem Mehl, an der Decke hängen Girlanden von Zwiebeln und Knoblauch, Schinken, Speck und Wurst, getrocknete Gewürze wie Salbei, Thymian, Pfefferminz. Es gibt Regale mit Essiggurken und Konfitüren und es riecht nach Milch, Butter, Käse und Brot, es riecht nach satt sein und nach nicht rechnen und verzichten müssen.

Das Leben spielt sich auch hier in der Küche ab, wo es alles gibt, was man braucht. Das Bett, der Kachelofen, der Esstisch und wichtig, eine Wasserpumpe, nicht draussen, sondern drinnen. Was für ein Luxus und Fortschritt! Das Plumpsklo ist natürlich auch draussen, auf dem Hügel gebaut, ich mache dort die Tür nie zu, weil sich mir ein wunderbarer Ausblick auf den Hof bietet. Die Küche, das Königreich meiner Grossmutter Maria, an die erinnere ich mich sehr gut, sie ist wie eine Gebärmutter, warm, heimelig und voller Überraschungen. Die Küche ist wie ein Tanzsaal gross, meistens in Dunkelheit versunken, hat nur vier kleine Fenster, durch die das Licht, wie in diesen heiligen Bildern, die in Grossmutters Bibel stecken, hindurchdringt und die wie eine Inszenierung auf einer Theaterbühne mich für sich voll einnehmen. Die Küchentür gegenüber ist immer offen, und ab Mittag wird sie wie mit einem Spottlicht aus Sonnenstrahlen grell beleuchtet, welches sich während des Tages verändert und immer tiefer und tiefer in den Bauch der Küche eindringt. Und wenn jemand eintreten will, erscheint er im Gegenlicht wie ein Scherenschnitt und ich rätsle, wer da wohl gerade zu uns kommt. Oben auf dem Kachelofen liegen Schafsfelle und mein innigster Wunsch ist, einmal dort schlafen zu dürfen, doch ich darf nicht, denn ich könnte auf die Herdplatte hinunterfallen, wie das einige Male bei Cousins bereits geschehen ist. Dafür sitze ich im Winter auf der Steinbank des Kachelofens und wärmt mir wie der Grossmutter, auch meinen Rücken. Das ist toll, die Wärme, die aus der Wand kommt. Unter den kleinen Fenstern ist eine lange, künstlerisch verzierte Sitzbank und dort, hinter einem massiven Holztisch, an dem sicher bis zu zwölf Personen Platz nehmen können, sitzt wie verloren die winzige Figur meiner Grossmutter, wenn sie in ihrer Bibel liest, dem einzigen Buch in diesem Haushalt.

Wie ich schon oben erwähnte, ist Grossmutter Maria sehr klein, sie hat ein fürchterlich schmales, durch tausend Fältchen gekennzeichnetes runzliges Gesicht, das ich immer gerne berühren will, mich aber nicht traue. Sie hat keine Zähne mehr, ihre schmalen Lippen verschwinden direkt in der Mundhöhle, sie sehen aus wie eine Falle. Und sie trägt eine Brille. Ihr Haar ist streng nach hinten gekämmt und mit einem schwarzen Tuch bedeckt, das ganz anders um den Kopf gebunden ist als das Kopftuch meiner Grossmutter Eva. Grossmutter Maria ist bibelfest und kann lesen. Mit ihr gehe ich zwar nie in die Kirche, dafür liest sie mir sonderbare und fantastische Wundergeschichten aus dem Buch vor. Ihretwegen will ich fromm sein, ich lerne das Vaterunser auswendig und einige Zeit bete ich inbrünstig vor dem Einschlafen «anjelicku môj stráznicku, opatruj moju dušicku, ako vo dne tak aj v noci, bud’ nám vzdycky na pomoci». Dieses Gebet ist das das einzige, das ich heute noch kann und jetzt auch meinen Enkelkindern vor dem Schlafen vorbete.

Grossmutter Maria bekommt viele Enkelsöhne und nur zwei Enkeltöchter, ich bin die zweite. Die erste, Lubica, kommt mit einem Herzfehler zur Welt, sie wird mit grosser Vorsicht und viel Liebe behütet und man spricht über sie wie über eine, die bald sterben wird. Flüsternd. Keine Ahnung warum, aber Grossmutter Maria schenkt ihre Zuneigung nur mir. Mindestens lässt sie mich das glauben. Ich weiss nicht, ist es meine Gesundheit, Geschwätzigkeit oder meine Neugier, oder werde ich einfach belogen? Sie kocht für mich den besten Kartoffelstock, den sie mit einer grossen Holzkelle auf den Teller anrichtet, in der Mitte ein Loch hineindrückt und dieses Loch, das wie ein Krater aussieht, mit heisser Butter füllt. Dazu trinke ich Sauermilch. Ich liebe dieses Gericht mit verschwenderisch viel Butter, mit der die Grossmutter meine Mutter fertigmacht. «Sie will mir nur zeigen, dass sie es vermag und ich nicht», ärgert sich meine Mutter immer und ich verstehe nicht wieso, wenn sie Überfluss an Butter hat, warum ihn nicht an den Rest der Familie weitergeben? Am liebsten hätte meine Mutter mir verboten, diesen Kartoffelstock zu essen, der ein Symbol des Reichtums und gegenseitiger Antipathie und Feindseligkeit ist. Sie mögen sich einfach nicht. Eigentlich haben wir zu Hause, als wir vom Dorf weggezogen sind, nur Margarine verwendet, denn Butter ist einfach zu teuer. Meine Mutter regt sich über die, für sie nur scheinbare Grosszügigkeit mir gegenüber fürchterlich auf, sie meint, es ist kein Liebesbeweis, sondern sie bestraft sie, weil sie ihr den Sohn gestohlen hat.

Aber ich liebte diese Grossmutter, die in der Küche lebte, für mich kochte, mir gefiel dieser Tanzsaal mit Kachelofen und übergrossem Tisch und einem Bett mit Baldachin, auf dem mindesten sechs dicke mit Gänsefedern gefüllte Bettdecken aufeinander gestapelt lagen und die mir die Glaubwürdigkeit der Erzählung über die auf der Erbse schlafenden Prinzessin bestätigten. Der Höhepunkt natürlich war, dass sie mir jedes Mal, wenn ich bei ihr war, heimlich 20 Kronen in die Tasche steckte. Nicht meinen Brüdern, nein, mir. Danke, Grossmutter. Ich ging natürlich sehr gerne zu ihr, nicht nur wegen des Geldes. Obwohl sie mich auch nie in die Arme nahm, so spürte ich, dass sie mich gernhatte. Meine Mutter vermied es, hinzugehen, ich hege den Verdacht, sie war dort nicht willkommen.
 
Mein Vater
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9.  Mein Vater

Wenn die selbstzerstörerischen Gedanken Übermacht über mich haben, bedeutet es nichts anderes, als dass etwas erledigt sein will. Durch mein Gehirn spazieren Läuse, die mich zum Handeln zwingen. Ich kann mich nicht ewig kratzen und schütteln oder diese Plage verneinen, denn die Dinge brauchen eine radikale Säuberung, eine Desinfektionskultur, im schlimmsten Fall eine Kopfrasur. Die Gedanken, die herrschen, schreien danach, gesehen und wahrgenommen zu werden, schreien nach Arbeit und Auseinandersetzung und vor allem nach Auferstehung. Ja klar, jetzt bin ich wieder bei diesem Etwas angelangt, das konkret benannt werden will. Aber es gibt immer noch irgendwelche Paradebeispiele als Übungsprojekte, mit denen ich weniger im Einklang bin, die ich nicht sehen, nicht hören will. Sie belasten mich und sie haben immer noch Macht über mich, obwohl sie schon einige Male rezykliert wurden. Die positive Gedankenarbeit ist in diesem Fall nur für kurze Zeit von Nutzen, mein vertrautes «negativ Denken» zieht mich in sich hinein, betäubt und ersäuft mich. Und wenn ich wieder den normalen Zustand erreiche und denke, es ist weg, taucht es wie eine Inkarnation wieder auf und alles in mir lechzt nach Rettung, die vielleicht in Demut oder in Vergebung liegt. Vergebens die Müh, ich bin noch zu weltlich und zu fremdbestimmt ...




Mein Vater Mikuláš, genannt Miko, wurde 1920 geboren. Eine Runde Zahl, die ich nicht vergesse. Er war ein schöner Mann wie der Schauspieler Clark Gable, dessen Foto meine Mutter in ihr Filmstarheft eingeklebt hatte. Neben Rita Hayworth und Marlene Dietrich. Als junger Mann ging er als Fremdarbeiter nach Deutschland, um Geld zu verdienen, weil der grosse Hof zusätzlich Geld brauchte. Dort erwischte ihn der Zweite Weltkrieg, er kam in Gefangenschaft und nach der Befreiung schaffte er es, nach Hause zu kommen, aber statt mit Geld fuhr er auf einer Jawa 250 vor, dem damals besten Motorrad der Welt, cool wie der Rowdy Marlon Brando im Film «Der Wilde». Mein junger Vater war wild, unzähmbar, eigenwillig und die Welt lag ihm zu Füssen. Damals lief gerade der Film «Vom Winde verweht» und mein Vater glich Clark Gable aufs Haar und den Schnauz. Ein wirklich schöner Mann, auch meine Mutter war schön, die auf einem von den wenigen Fotos, die ich von ihr habe, Vivien Leigh zu gleichen scheint. Vater hatte dunkles, dichtes, nach hinten gekämmtes, längeres Haar und eben diesen berühmten Schnauz, den er sein Leben lang wie ein Markenzeichen trug. Es blieb nicht ohne Wirkung auf mich, fast mein Leben lang war ich Männern mit Schnauz und dunklem, langem Haar verfallen, mein Vorstellungsbild des Mannes trug das Stigma meines Vaters. Sein Gesicht war braungebrannt, auf der hohen Stirn lagen horizontal drei tiefe Falten, wie frisch geackerte Erdfurchen. Als Kind glaubte ich, er sei mit ihnen zur Welt gekommen. Zwischen seinen dichten Augenbrauen liefen vertikal weitere wandlungsfähige Falten, zwei Ausrufezeichen, die heraustraten oder verschwanden, je nachdem, ob er sich freute oder ärgerte. An diesen vertikalen Furchen war seine emotionale Befindlichkeit erkennbar. Er hatte schön geformte, sinnliche Lippen und wenn er lächelte, wurde sein Gesicht weich. Sein Lachen war nie gerade heraus, es war eher das Schmunzeln eines Verbündeten. Seine Hände, das waren richtige, breite und schwere Arbeiterhände, die Fingerkuppen durch Schwielen gezeichnet und die Fingerspitzen der rechten Hand gelblich angeräuchert, wie auch die Zähne, er war ein starker Raucher, rauchte die billigsten slowakischen Zigaretten der Marke «Detvy». Seine Brust war behaart, was ihn sehr männlich machte, aber er hatte im Gegensatz zu seinen Bauernhänden einen gut gebauten, schlanken, aber nicht unbedingt grossen Körper. Es war eher ein Studentenkörper und nicht ein Holzfällerkörper. An Arbeitstagen trug er immer diese hellblauen Pilotenhemden, ohne die ich ihn mir nicht vorstellen kann, er sah in ihnen einfach fantastisch aus und sie gehörten zu ihm wie der Schnauz, wie ein farbiges Logo seiner Identität. Dazu trug er die dunkelblaue Busfahreruniform mit Schildkappe, in der er die letzten zwanzig Jahre seines Lebens seinen Beruf ausübte. An manchen Feiertagen zwang ihn die Mutter in einen eleganten, dunkelbraunen Anzug und in ein weisses Hemd mit Krawatte, aber man spürte, er fühlte sich darin überhaupt nicht wohl. Da der Vater nicht der Erst geborene und somit auch nicht als der zukünftige Bauer vorgesehen war, musste er etwas Handfestes erlernen. So machte er, wie schon erwähnt, eine Schreinerlehre, blieb aber nicht dabei. Das einzige, was er je geschreinert hat, war das Schlafzimmer für meine Mutter aus massivem Holz, welches beide überdauern sollte. Hatte es auch. Als ich nach dreissig Jahren wieder nach Hause kam, schlief ich auch in diesem, von seiner Hand gezimmerten Bett. Wie schon erwähnt, ging er als Gastarbeiter nach Deutschland, nicht nur um die Familie zu unterstützen, sondern auch um sich seinen Traum vom Motorrad zu erfüllen. Und das tat er auch. Er war ein leidenschaftlicher Fahrer und machte die Gegend und die Frauen unsicher. Aber nicht lange, er stürzte brutal mit der Maschine, brach sich beide Beine und zertrümmerte sich seine beiden Kniescheiben. Im Spital flickte man die Knie mit einer Schraube, und wenn er gutgelaunt war, zeigte er uns die Narben, die auf beiden Seiten des Knies sichtbar waren. Ich war stolz auf den Vater mit den Schrauben im Körper, weil er durch sie das Wetter wie ein Wetterfrosch vorhersagen konnte. Das Fahren und die Sehnsucht nach Weite blieben. Er stieg auf Lastwagen um und machte grosse Fahrtouren von Bierlager zu Bierlager durch ganze Europa.

Später, als wir Kinder auf der Welt waren, beschränkte er sich nur auf die Tschechoslowakei. Er roch so herrlich nach Öl und Benzin, wenn er nach Hause kam. Sein ganzer Körper, die Hände, Kleider und auch das Haar waren durchtränkt mit diesem schweren Duft der Ferne und des Fortschritts. Ich liebte und begehrte es. In seinen Augen spiegelten sich mit Regenbogenfarben glänzende Ölpfützen, in die man an Benzintankstellen oft hineintrat. Ich war süchtig nach seinen harten, rissigen Fingerspitzen und den Händen mit den dreckigen, breiten Fingernägeln, mit denen er meinen Kopf streichelte und berührte. Später in der Schweiz ging ich oft zu Tankstellen, blieb lange wie angewurzelt bei den Ölpfützen stehen und zog mir den Geruch wie ein Junkie gierig in die Nase, diesen so vertrauten Duft und Geruch der Motoren und des Vaters. Denn dort in diesem Geruch waren die Erinnerungen an das Zuhause und an meinen Vater unverwechselbar lebendig. Als ich etwas grösser war, nahm er mich manchmal auf seine Reisen mit. Das fand ich toll, nicht nur die Reise oder den vorderen Sitzplatz in der Kabine, sondern auch die grossen, dunklen, feuchten und kalten Lagerhallen mit den schmuddeligen, schweigenden Schattenmenschen, die zudem auch Hüter der schönen Bieretiketten und Zündholzschachteln waren, eine Quelle meiner Sammelleidenschaft, auch sie haben es mir angetan. Es war aber nicht immer angenehm, ich hatte meine erste Begegnung mit einem groben, alten, lüsternen Mann, der die Etiketten nur gegen einen Kuss auf seinen klebrigen, nach Bier schmeckenden Mund herausgab. Und ja, manchmal, obwohl angewidert, küsste ich ihn, weil ich die verdammt schönen Etiketten haben wollte. Dieser Mann, der früher Literaturprofessor war, jedoch wie andere Intellektuelle einem Resozialisierungsprozess zum Opfer fiel und seinen Beruf nicht mehr ausüben durfte, dieser kluge, dumme Mann, spukt wie ein Gespenst durch meine Erinnerung. Verdammt dazu, in dreckigen Hallen zu vegetieren und dankbar zu sein, dass er überhaupt in der Freiheit leben durfte, folgte er unbeirrt seinem Trieb und hatte keine Ahnung, was für wüste Landschaften der Berührung er hinterliess. Nach der Wende wurde er rehabilitiert und bekam im renommierten Hotel Jánošík*4) eine Stelle als Empfangschef, er sprach fliessend fünf Sprachen, war belesen und ein begnadeter Erzähler. Ich verspüre den Drang, ihm zu sagen, was für ein Schwein er eigentlich war und dass ich nichts vergessen habe, denn dieser Ekel, den ich in seiner Gegenwart als Kind verspürte, begleitet mich weiterhin, ist nicht wegzuwaschen. Zu meiner Enttäuschung erlaubte er sich, vorher zu sterben und ich kann meinen Ekel nicht mehr von Angesicht zu Angesicht aus mir herausschreien. Diese Drecksau, egal wie gescheit, egal, welche Ungnade und welche Ungerechtigkeit ihm wiederfahren war, er war ein widerlicher, grauslicher, alter, pädophiler Mann, den man einsperren musste, aber was wusste man damals darüber.
 
Das ist meine eigene Geschichte, nicht die meines Vaters, er hatte davon keine Ahnung. Und wenn er es gewusst hätte, weiss ich nicht, wen er geschlagen hätte, mich oder diesen erbärmlichen Mann. Vater wurde auf Wunsch seiner Eltern mit einer Nachbarstochter verlobt, einer Grossgrundbesitzerin, nach dem Motto, Land zu Land, wie das so üblich war. Auf einem Dorffest begegnete er aber meiner Mutter und diese junge Frau verliebte sich unsterblich in ihn und wollte ihn haben. «Wenn du wüsstest, was für ein Luder deine Mutter war, sie täuschte ihm eine Schwangerschaft vor und weil er ein anständiger Mensch war, heiratete er sie», erzählte mir seine Schwägerin, Tante Maria, vor paar Jahren, als ich sie nach meiner Mutter ausfragte. Ich weiss nicht mehr, was mich mehr schockierte, die Lüge einer Frau, die den Mann, den sie liebt, haben will, oder die Tatsache, dass meine Eltern ein voreheliches Sexualleben hatten. Aufgrund der Lebensphilosophie meines Vaters wäre mir dies nie in den Sinn gekommen.
 
Ich bin fast 50 Jahre alt, als ich das erfahre und muss das Bild meiner Eltern revidieren und anders zusammenbasteln. Meine Mutter ist in der Familie des Vaters nicht willkommen, sie geht auch selten zu Besuch hin. Lange Zeit glaube ich, gerade wegen dieser Geschichte sind an ihr die Hure und das Flittchen haften geblieben. Zu ihrer Verteidigung muss ich aber sagen, dass, seit ich mich erinnern kann, meine Eltern in grosser Harmonie gelebt haben, sie stritten nie, waren friedlich, aufmerksam und anständig zueinander. Und ich bin sicher, sie liebten und respektierten sich wirklich. Ihre Ehe funktionierte nach einer nicht ausgesprochenen oder defi1nierten hierarchischen Ordnung des Patriarchats, dem sich meine Mutter unterworfen hatte, nein, nicht einmal das, sie zelebrierte diese Unterwerfung als einzig richtigen Lebensentwurf einer Ehe. Sie stellte sich nie auf meine Seite oder nahm mich in Schutz, wenn ich mit dem Vater im Clinch lag. Das ging sie nichts an, das war eine Sache zwischen mir und meinem Vater. Mein älterer Bruder war aus einem anderen Grund als ich dem Vater auch ausgeliefert, über den jüngeren aber hielt sie ihre schützenden Engelsflügel.
 
Es gibt eine Lügengeschichte zwischen mir und meinem Vater, die erst jetzt im hohen Alter aufgetaucht ist und mir das zwölfjährige, pubertierende Mädchen vor Augen führt. Wenn ich sie heute erzähle, ist sie eigentlich komisch, wenn sie nicht so störrisch, beharrlich und lehr-reich wäre. In der Schule bin ich in einer Theatergruppe engagiert und jeden Samstag üben wir zwei bis drei Stunden ein Theaterstück für die nächste Saison. Welches es war, weiss ich nicht mehr, aber sicher etwas Moralisches und beispielhaft Gutes für den Pionier. Eines Samstags fällt die Probe aus und statt direkt nach Hause zu gehen, bleibe ich noch mit zwei Jungs an einer Strassenkreuzung stehen und wir quatschen. Es war vor einem Friedhof, das weiss ich genau, denn wir sprachen über das Sterben, die Begräbnisse und überhaupt über den Tod. Wir waren vierzehn Jahre alt und dieses Thema in unserem unsterblichen Alter betrifft uns noch nicht, macht uns keine Angst, bietet aber eine super Plattform, um Geschichten zu spinnen. Ein Junge erzählt, wie er sich manchmal vorstellt, wie er im Sarg liegt und der Sargdeckel sich über ihm schliesst und wie er entschlossen ist, sich mit Hand und Füssen dagegen zu wehren und er schreit «ich will nicht sterben!», egal ob die Zeit dafür da ist oder nicht. Wir sehen schon, wie seine Hände vom Sargdeckel zerquetscht werden und wir grölen und lachen, es ist lustig, dieses Szenario spielen wir nach, erfinden Monologe und Dialoge, die den Tod vergraulen, wir sind masslos frech und respektlos, weil der Tod uns sowieso nichts anhat. Es war einfach, die Toten mit ihrer Geduld hinter uns, die hektisch lebendigen Strassen vor uns und wir mittendrin in der stehengebliebenen Zeit und der Fantasie. Als ich dann fröhlich und ahnungslos nach Hause komme und den fragenden Blick meines Vaters erhasche, die Falten auf seiner Stirn, die sich hochstemmen und senken, weiss ich, dass dies nichts Gutes bedeutet. «Wo warst du? Wieso kommst du erst jetzt nach Hause?», ist seine erste Frage. «Ich war in der Schule, bei der Theaterprobe!», antworte ich. Er: «Ich frage nochmals, wo warst du?», « In der Schule, wir hatten Theaterprobe», antworte ich stur und denke mir, wieso fragt er das und was soll das? Aber mein Vater bohrte weiter: «Lüg doch nicht, ich will wissen, wo du wirklich warst!» Unser Dialog wiederholt sich einige Male, da ich natürlich bei meiner Theaterprobe dabei bleibe, nach so vielen Wiederholungen glaube ich schliesslich, dass ich tatsächlich auf der Probe war, bis ihm wirklich der Kragen platzt, als er realisiert, dass ich unerschrocken weiterhin wie gedruckt lügen werde. «Ich habe dich gesehen, jede halbe Stunde bin ich vorbeigefahren und sah, wie du dich mit den Jungs wie eine Verrückte benimmst. Ich habe mir schon überlegt, ob ich mit dem Bus dort anhalten und dich zusammenschlagen soll, damit ich mich für dich nicht schämen muss. Was meinst du, denken die Leute über dich, stundenlang mit zwei Jungs vor dem Friedhof stehend und lachend?» Natürlich war dieses Gespräch ein Horror, ich bekam Angst und doch war ich bereit, bis aufs Blut meine Theaterprobe zu verteidigen. Das ist Pubertät, auch wenn ich weiss, dass es nicht stimmt, was ich sage, beharre ich darauf. Wenn ich es heute meinen Enkelkindern erzähle, finde ich es doch irgendwie lustig, ich sehe meinen Vater, wie er kochend und wütend viele Male mit dem grossen Bus vorbeifährt, mich sieht und sich überlegt, was soll er mit der Tochter machen und noch schlimmer, was, wenn sie lügt und warum lügt sie? «Aber Ocko, ich habe doch nichts Schlimmes gemacht, du hast mich doch ständig gesehen und unter Kontrolle gehabt», versuchte ich zu argumentieren, was aber gar nicht gut ankam. Ich erinnere mich auch nicht mehr, wie er mich bestraft hat, ich weiss nur eines, ich versuchte bei ihm nie mehr zu lügen. Das war aber auch nicht so toll, denn wenn ich etwas wollte, z.B. irgendwo hingehen, war seine Antwort immer NEIN und ich fragte mich, ob das Sprichwort «Mit Wahrheit kommst du am weitesten» wirklich stimmte.
 
Einmal sagte meine Mutter zu mir, als mir wieder einmal Vater etwas verbot: «Eigentlich bist du dumm, du kannst alles, was du willst, von deinem Vater bekommen, sei doch etwas diplomatischer, schmeichle ihm, wie das andere Töchter machen». Diese Aussage meiner Mutter verblüffte mich, ich hätte nie gedacht, dass sie so etwas auch nur denken konnte. Aber sie beobachtete mich und meinen Vater sehr genau und wusste, wo unsere, meine und seine Schwachstellen lagen. Und klar, weil ich einen meinem Vater viel ähnlicheren Charakter habe, als ich es mir zugestehe, kommen für mich Schmeicheleien überhaupt nicht in Frage und Diplomatie ist auch später in meinem Leben nicht mein Ding. Und das verrückte ist, ich weiss, Mutter hat Recht, aber ich kann es nicht. Ist es die Anständigkeit und Ehrlichkeit in meinem Wesenszug, die es mir nicht erlauben, oder ist es einfach der zu grosse Respekt, oder zu viel Angst vor dem Vater? Schmeicheleien haben etwas mit Falschheit zu tun und Diplomatie ist mir nicht vertraut. In der Schule wird sie nicht gelehrt und zu Hause nicht praktiziert. Klar log ich als Kind, aber ich missbrauchte die Lüge nie als Mittel, um etwas zu erreichen, sondern wenn schon, dann nur als Schutzmassnahme. Das ist ein grosser Unterschied.
 
Als meine Cousine Olga heiratet, erlebe ich einen mir völlig unbekannten Vater. Auf slowakischen Hochzeiten wird gelacht, geweint, getratscht und masslos gesoffen, es wird geprügelt, geflucht und verflucht, aber nie war mein Vater in so etwas involviert, bis damals. Vielleicht war mir schlecht, vielleicht hatte ich getrunken, jedenfalls ging ich nach draussen, um frische Luft zu schnappen. Ich stehe so da und glotze in die dunkle Nacht, als ich im Garten unter den Bäumen zwei miteinander kämpfende, männliche Gestalten erblicke. Der eine, fette Grosse liegt am Boden und röchelt, der Kleinere sitzt auf ihm und würgt ihn mit seiner Krawatte. David und Goliath, sie schnaufen, röcheln und wälzen sich im Dreck und ich realisiere auf einmal, dass der kleine David mein eigener Vater ist. Ich im weissen geliehenen Kleid stürze mich auf den Vater und schreie ihn hysterisch an: «Hör auf, hör bitte auf, du bringst ihn um, du Mörder! Ich hasse dich!» Mein Vater steht auf, schaut mich an und verschwindet wortlos in der Dunkelheit. Ich bin mir sicher, ohne mein Eingreifen hätte er ihn erwürgt. Später erfahre ich, der Goliath, Tante Hannas Mann, habe meinem Vater eine hässliche Bemerkung über meine Mutter ins Gesicht geschleudert. «Sie war ein Flittchen und jeder, der es nur wollte, konnte sie haben». Wir, ich und mein Vater, sprachen nie darüber und ich weiss nicht, ob Mutter es je erfuhr. Er verteidigte nicht seine Ehre, er verteidigte sie. Aber meine Worte «Ich hasse dich» tönen noch jahrelang in meinen Ohren, ich kann sie nicht vergessen und die Tatsache, dass Vater zu früh starb und ich mich nicht entschuldigen konnte, macht mir Angst, weil die Worte dadurch bleiben.
 
Vater war nicht unbedingt jähzornig oder gewalttätig, auch wenn er uns ab und zu schlug, gut, er war manchmal unberechenbar, aber daran war ich gewöhnt. Er war sehr gerecht und von Grund auf anständig. Das Gotteswort meiner Mutter war «die Sauberkeit», das Gotteswort meines Vaters «die Anständigkeit» und ich bin die Tochter des Vaters. Er liebte mich abgöttisch, ich war sein Ein und Alles und er erwartete von mir, irgendwie mit Recht, totale Gehorsamkeit und Respekt ihm gegenüber, in dem ich seiner Vorstellung, was und wie ich sein solle, erfüllte. Er war nicht einer von diesen Vätern, die gesoffen und seine Familie terrorisiert haben, nur einmal im Jahr kam er betrunken und durchgedreht nach Hause und nur in diesem Zustand besinnt er sich auf seine erzieherische Pflicht, weckt mich, egal wie spät es ist, und versucht stundenlang, mich zu erziehen, in dem er mit gebrochener schwerer Zunge auf mich einredet: «Du sollst nicht saufen, du sollst nicht rauchen und du sollst nicht herumhuren und unterstehe dich, mit einem unehelichem Balg nach Hause zu kommen». Das waren die drei erzieherischen Mahngebote, nicht an meine Brüder, nur an mich gerichtet, die sich einmal im Jahr, dafür Jahr für Jahr wiederholten. Ich brach sie später alle und mein Vater brach mit mir. Sonst war er schweigsam, las gerne Krimis, begleitete meine Mutter ins Kino, das sie so liebte, und spielte nebenbei einige Jahre im Laientheater mit.
 
Er war durchaus ein Realist, im Gegensatz zu meiner verträumten Mutter. Mit ihm durchwanderte ich die Berge, wenn die Johannisbeeren und Heidelbeeren reif waren, gingen wir beide hoch hinaus, diese zu pflücken. Das war schön, der blaue Himmel, das Grün der Flora, die Aussicht auf die Täler und die wunderschöne Berglandschaft um uns herum und wir mittendrin und die totale Erschöpfung, dies alles machte mich schwindelig und glücklich. Und irgendwie erwachsen. Da war ich alleine mit dem geliebten und gefürchteten Vater, kein anderer Mensch weit und breit, nur einmal begegneten wir einem Bären, vor dem wir wie die Irren wegliefen, das war Abenteuer pur. Mutter erfuhr die Bärengeschichte nie, sie war unser Geheimnis. Mit ihm hatte ich nie Angst, mit ihm war ich wer. Als das Fernsehen auch endlich in unsere Stube einzog, sass ich gerne mit der Mutter vor dem Bildschirm und wir beide, emotional ergriffen, heulten sehr gerne und fürchterlich gemeinsam und es spielte keine Rolle, dass es nur Märchen waren, dieses gemeinsame Heulen war irgendwie schön und der einzige Moment, in dem ich mich meiner Mutter nah fühlte. An einem solchen Sonntag, als uns beiden so herrlich die Tränen herunter kullerten, kam Vater dazu und als er uns beide so heulen sah, da kippte etwas in ihm, er wurde zum leibhaftigen Zorn und haute mir eine sehr kräftige Ohrfeige, begleitet von den Worten «So, jetzt hast du Grund zu weinen und ich bin sicher, wenn ich sterbe, wirst du keine Tränen um mich vergiessen, nein, du wirst nicht einmal zu meinem Begräbnis kommen!» Ich habe den Verdacht, dass diese Ohrfeige aus irgend-einem mir noch unbekannten Grund eher der Mutter als mir galt. Die Ohrfeige kam so überraschend und unerwartet, das war heavy, brutal und er ahnte nicht, wie Recht er behalten sollte. Er starb drei Jahre nach meiner Mutter, 58 Jahre alt. Und seine Prophezeihung, «ich komme nicht einmal zu seinem Begräbnis», wird wahr, ich konnte und durfte damals, mit dem Status «politischer Flüchtling», nicht nach Hause gehen. In der Tschechoslowakei war ich wegen meiner Flucht verurteilt, wie alle anderen, die aus dem Land emigriert waren und falls ich doch nach Hause gehe, lande ich im Gefängnis und kann nie mehr zurück. In der Schweiz kann ich dafür meinen Flüchtlingsstatus verlieren und meinen Sohn dazu. In dieser Zeit werde ich fast wahnsinnig, ich höre immer wieder diese Worte, die mich wie ein Echo aus dem Totenreich einholen, mich umarmen und festhalten, es tut unglaublich weh, die Schuld wird überdimensional, körperlich schwer, sie bemächtigt sich meiner, nimmt mir den Atem und Verstand weg, ich höre auf, ich zu sein und versuche mich durch Suizid auszulöschen ...



(1) Mein Vater Mikuláš, geboren 1920

Mein Vater Mikuláš, geboren 1920

 

 


 

 

 

Vater und seine Geschwister
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10.  Vater und seine Geschwister
Ich fange zu verstehen, dass man im hohen Alter nicht Angst vor dem Tod, sondern vor Erinnerungen hat, vor diesen Abrechnungen und Hoffnungen auf den Zinseszins des Lebens. Darum diese Schlaflosigkeit, dieses Wachstarren der schwarzen Löcher, die einen verschlingen, durch schuldigsprechen belasten und zur Morgenstunde zerquetscht wieder ausspucken. Und vielleicht sind die Demenz und das Vergessen nichts anderes, als sich prophylaktisch einen erinnerungsfreien Raum zu schaffen, eine Gnade oder göttliche Erlösung? Die Alten erzählen nichts über ihre Angst vor Erinnerungen, sie schweigen, denn niemand wird ihnen glauben, dass das Purgatorium schon begonnen hat.

Viele meiner Freundinnen erzählen mir von ihrer Mutter, die lebenslang eine liebevolle Frau war und plötzlich im Alter sehr boshaft und unberechenbar wird. Eine Verwandlung, die sie nicht verstehen und die sie schockiert und heute mässe ich mir an zu wissen, was da passiert. Die Kraft des Verdrängens ist verbraucht, es gibt keine selbst auferlegte Grenze des Verhaltens, endlich ist die Mutter vom Kontrollzwang befreit und kann böse, sehr böse, diktatorisch, unberechenbar, verletzend und gemein sein. Und ich fürchte, dass mir das Gleiche widerfährt und auch ich zur bösen und unberechenbaren Mutter mutieren werde ...




Grossvater Josef (eigentlich heisst er Jano) und Grossmutter Maria, auch Träger biblischer Namen mit archaischer Symbolik und Verpflichtung in sich, genau wie die anderen Grosseltern Adam und Eva. Auch dieser Grossvater zeugt 16 Kinder, von denen nur sechs überleben. Onkel Jano, Onkel Willi, Onkel Slavo, Onkel Dušan, Tante Emilia, die lustigste der ganzen Familie und mein Vater Mikuláš, genannt Miko. Die anderen Kinder starben meistens bei der Geburt oder später im Krieg. Ein Onkel ist nach Amerika ausgewandert, aber niemand weiss wohin und ob er noch lebt und scheinbar haben auch beide Grosseltern dort einige Jahre gelebt.

Onkel Jano, der älteste Bruder meines Vaters, übernahm den Hof, wie das so üblich war. Selbstverständlich hatte auch er damals, in den 1956-Jahren, alles verloren, als das Land verstaatlich wurde. Komisch, wenn ich darüber nachdenke, dieser Verlust war nur ein symbolischer Akt der Veränderung des Begriffes «mein». Das Land gehörte ihm symbolisch und ideologisch weiter. Das Land dem Volk. Nur der Name hatte gewechselt. Er war nicht mehr der Bauer, sondern ein Genosse. In der neu gegründeten Genossenschaft bestellte er weiter seinen Acker, teilte sich mit anderen Genossen die Prämien, zerstörte die grosse, plötzlich zu nichts zu gebrauchende Scheune und baute zwanzig Meter weiter für seinen Sohn Miko ein neues Haus. Ich weiss nicht, was aus seinen zwei anderen Söhnen geworden ist, aber Miko, an den ich mich erinnere, lebt mit seiner Familie dort. Onkel Jano und seine Frau, die auch Maria heisst, leben weiter im alten Haus. Jetzt liegt Onkel Jano in Grossmutters Bett, die vielen Bettdecken sind verschwunden, vielleicht waren sie auch als Hochzeitaussteuer für jemanden gedacht. Tante Maria, ist so um die achtzig, noch sehr vital und gesprächig, macht alles selber und lacht über den kranken Ehemann. «Er ist gesund, er tut nur so, damit er nichts tun und sich auch an nichts erinnern muss», erzählt sie belustigend, «wenn ich aus dem Haus gehe, verstreue ich überall kleine Schokolade, die er so liebt und wenn ich zurückkomme, ist alles weg. Er steht heimlich auf, schleicht durch die Küche und isst alles, was er findet. Aber was soll ich mit ihm nur machen, ich tue so, als hätte ich keine Ahnung, was dieses grosse Kind, das sich für den Rest seines Lebens für das Bett entschlossen hat, machen soll. Er soll seine Freude haben, er hat sein Leben lang genug gekrampft». Und sie lacht herzlich, Männer! Tante Maria hat ein ausgeprägtes Langzeitgedächtnis, obwohl sie sich oft nicht mehr an das, was Gestern war, zu erinnern vermag. Sie war für mich eine gute Infoquelle, als ich nach der Geschichte meiner Eltern auf der Suche war. Sein Sohn und mein Cousin Miko arbeitet in der Stadt. Seine Frau, so etwa in meinem Alter, ist äusserlich schon jetzt eine sehr, sehr alte, durch das Leben und die schwere Arbeit gezeichnete Frau vom Land. Alt, verbraucht, schweigsam, geduldig, ergebend, gehorsam, wartend. Miko beklagt sich über die schlechte Zeit, über die steigende Arbeitslosigkeit und trinkt viel. Früher haben sie die Kommunisten und die Zeit verflucht, heute, nach der Wende, sehnen sie sich nach ihr zurück. Das waren noch Zeiten. Jeder hatte Recht auf Arbeit, stand in den Statuten der tschechoslowakischen sozialistischen Republik. Theoretisch gab es keine Arbeitslosigkeit, theoretisch gab es auch keine Armut, die Staatsform war die Garantie dafür.

Der jüngere Bruder meines Vaters, Onkel Dušan, an den ich als Kind eigentlich keine Erinnerungen habe, Elektroingenieur, lebt in Ruzomberok, einer Stadt, die bekannt war durch die Firma Tesla, die Radios und Fernsehen produzierte, mit denen alle Haushalte der Slowakei staatlich überflutet waren. Und so hörten wir alle das gleiche Programm, die gleiche Musik und zwar im ganzen Land. Wie erschreckend das ist, erlebte ich später im Kuba, als ich durch nächtliche Havanna spaziere und aus allen Häusern nur die Stimme von Fidel Castro höre, wie ein Echo, das nie aufhört. Als ich Onkel Dušan vor paar Jahren begegnet bin, staunte ich über die starke Ähnlichkeit mit meinem Vater. Er hatte volles schönes weisses Haar und sein Gesicht, das war das Gesicht meines Vaters, seine Art des Sprechens, das war mein Vater, oder er könnte es sein, wenn er noch leben würde. Onkel Dušan hat drei Töchter, zwei von ihnen, Kamilla und Stella, leben heute in Amerika. Kamilla studiert zuerst in Bratislava Atomphysik und begegnet dabei Rawi. Rawi ist Inder, studiert an der gleichen Universität, sie verlieben sich und heiraten sofort nach dem Uni-Abschluss. Onkel Dušan hat grosse Mühe mit dieser Heirat, wie überhaupt alle slowakischen Väter aus dem Liptov, ihre Töchter sollen keine Katholiken heiraten und keine hergelaufenen andersfarbigen Ausländer. Als Kamilla und Rawi den Entschluss fassen, aus der Slowakei legal auszuwandern, hat er grundsätzlich nichts dagegen. Es war klar, Kamilla brach das Herz ihres Vaters und brachte wie ich eine unausgesprochene Schande über das Haus. So ist er, dieser Stolz und die Würde der slowakischen Väter, lieber der Verlust eigener Tochter und der zukünftigen Enkelkinder auf sich nehmen, als die Schande zu ertragen.

In der Schweiz begegne ich einigen Frauen mit dem gleichen Schicksal – vom Vater verstossen, weil sie schwanger geworden sind oder den falschen Mann geheiratet haben, der nicht in das Vaterbild passte. Als sich eines Tages Kamilla bei mir meldet und sagt, sie würde vorbeikommen, habe ich keine Ahnung wer sie ist, ja ich hatte vergessen, dass ich überhaupt Cousinen habe. Dann kam sie mit Rawi. Sie eine schöne, gross gewachsene Frau, Rawi ein kleines quirliges Männchen neben ihr. Sie eher sprachkarg, zurückhaltend, überliess alles ihm, auch die Kommunikation. Rawi überraschte und beschämte mich zugleich mit seinem perfekten Slowakisch, er beherrscht meine Muttersprache und Liptov-Dialekt besser als ich. Er ist der Organisator und Initiator, aktiv, lebendig und witzig und ich verstand, warum sich Kamilla in ihn verliebt hat und entschlossen, ihm zu folgen. Sie lebten einige Jahre in Puerto Rico, wo ich sie auch besucht habe. Rawi unterrichtet an der Uni Atomphysik und Kamilla, obwohl sie auch Ingenieurin der Atomphysik ist, blieb zu Hause, gebar drei Kinder und hat es nicht nötig, arbeiten zu gehen. Sie verbringt die meiste Zeit mit Autofahren, in das nächste Einkaufszentrum, mit den Kindern in die Privatschule oder um Rawi abzuholen, so wie das Amerikanerinnen machen. Sie war damals noch keine begabte Hausfrau, auch die Hausarbeit erledigte nach der Uni Rawi. Inzwischen leben sie irgendwo in Amerika und von Jahr zu Jahr, an Weihnachten, bekomme ich regelmässig eine typische kitschige Weihnachtskarte und das neuste Foto von den Kindern. Sie sind wunderschön, dunkelhäutig, wie Rawi, alle haben dichtes schwarzes Haar und blicken einen mit ihren grossen dunklen Augen an. Diese Augen erinnern mich an die Augen meines älteren Bruders. Zwei Söhne und eine Tochter. Aber keine Fotos von Rawi und Kamilla. Wenn ich ihnen heute auf der Strasse begegnen würde, würde ich sie schwer erkennen. Über Stella, Kamilas Schwester weiss ich wie gar nichts, sie schrieb mir kürzlich aus Amerika, da sie ein Bedürfnis nach Familienhalt verspürt, was ich verstehe. Solche Sehnsucht entsteht nur ausserhalb des Geburtslandes. Dort in der Weite ist die Entfremdung seines Selbst am meisten spürbar, so stark, dass man nach Nähe schreit. Onkel Slavo starb sehr früh an einem Autounfall.

Die lustigste Person in meiner ganzen Verwandtschaft ist Tante Emilia, eine mollige, richtig weibliche Person und die einzige Frau, wie ich mich erinnern kann, die in der ganzen Frauen-Familientradition Mutter- und Vaterseite, einen Busen hat. Ihre Brüste sind gross, einladend, heimelig und sie bewegen sich im Rhythmus ihres Lachens. Sie trägt bunte blumige Kleider, ihr Haar ist stets offen, sie lacht und tanzt gern. Sie heiratete einen Förster, konnte aber keine Kinder bekommen. Sie war die einzige, bei der ich nie das Gefühl nie, dass das Leben nicht ein Drama, sondern eine lustige Angelegenheit sei. Als Kind verbringe ich viel Zeit bei ihr, vor allem dann, wenn meine Mutter im Spital ist. Ich durfte dann im grossen Gästezimmer, welches sich im Keller befand, schlafen. Es gab dort vier Messingbetten, wie im Ferienlager. Das Messing glänzte und die auf der Seite hellgrün angestrichen Grundflächen erzählten Jägergeschichten. Das Bett war sauber, weiss und hörbar. Die Bettwäsche aus Damast, ein Zauberwort meiner Mutter, knisterte wenn ich mich darin wälzte. In den Schränken mit Glastüren befanden sich viele Gewehre, an den Wänden kitschige Bilder mit röhrenden Hirschen und Jagdtrophäen, wie ausgestopfte Hirsch- und Wildschweinköpfe, die ihr Mann geschossen hatte, glotzen mich mit ihren glasigen Augen und offenen Mündern an. Manchmal, wenn ich in der Nacht erwachte und diese dunklen Gestalten plötzlich lebendig erschienen, hatte ich herrliche kribbelnde Angst. Gab es aber nie zu, denn ich wollte wiederkommen.

Neben dem Haus stand ein grosszügiges Plumpsklo, wie das damals üblich war und die Häuser waren ohne Wasserleitung und nicht einmal an die Kanalisation angeschlossen. Dieses Plumpsklo beklebte Tante Valika jedes Jahr mit den neuen Jahresplan-Plakaten der Partei und der Genossenschaft, in der sie arbeitete und die «Fünfjahresplan in drei Jahren!» forderten «so ein Blödsinn» meint sie und muntert mich jedes Mal, wenn ich auf die Toilette ging «Kacke mein Kind so viel du kannst, das wird uns helfen, den Plan so schnell wie möglich zu erfüllen». Das war so befreiend, diese Pietätlosigkeit und Freiheit, die sie auf allen Ebenen zelebrierte. Sie war entsetzlich ehrlich, was ihr auf dem Herzen sass, lag ihr auch unverzüglich unzensiert auf der Zunge und wurde mit Lust ausgespuckt.

Tante Emilia, das war nicht nur Emilia, die ständig in übergrossen dreckigen Gummistiefeln herumspazierte, das war auch ihr Mann im grünen Jägeranzug, mit Knöpfen aus Wildschweinzähnen, Hut mit Feder und Gewehr auf der Schulter. Sie arbeiteten in der Genossenschaft für Schweinezucht, es hatte viele Gebäude und Maschinen, und eine riesige Scheune, ein Spielparadies für Kinder, wir kletterten heimlich auf die Balken hoch, um wie Vögel jauchzend ins Heu herunterzuspringen. Das waren Mutproben und Freiheitsflüge, die wir so liebten. Noch etwas habe ich im Erinnerung: Im Hof der Genossenschaft standen zwei exotische Bäume, mit eigenartigen süssen Früchten, die wie kleine Trauben aussahen. Einer trug dunkelrote, der andere weissen Früchte. Ich weiss bis heute nicht, wie die Bäume heissen, ich habe sonst nirgendwo solche gesehen. Im Mai gab es ein Majales-Fest und wenn ich bei Tante Emilia war, bekam auch ich einen mit farbigen Schleifen geschmückten Maibaum vors Haus, der ausschliesslich der unverheirateten jungen Mädchen von einem heimlichen Verehrer gewidmet war. In der Mitte auf dem Genossenschaftsplatz stellte die Gemeinde den grössten Maibaum auf, vom Abend bis zum Morgen spielte die Musik, Leute tanzten, tranken, lachten und wir Kinder wurden meistens vergessen. Das ist gut so. Als ich vor paar Jahren Tante Emilia besuche, war sie schon lange Witwe. Aber das Lachen und den Humor hatte sie immer noch. «Jetzt wollen sie uns das Land wieder zurückgeben. Wozu? Die Leute haben verlernt zu arbeiten, die Scheunen sind alle abgebrochen und an ihren Stellen Autogaragen gebaut. Sag mir bitte, wer will da noch zurück?» und sie lacht laut und herzhaft und ihr Busen lacht mit. Sie starb vor einem Jahr und hinterliess auch mir eine Erbschaft. Das war ein komisches Gefühl. Ich und Erbschaft. Es ging um ein Stück Wald, das später alle Erben dann an Cousin Dusan übertreten haben, der uns ausbezahlt hat. Es war ein Betrag von 34’000 Kronen, das ist so ungefähr 1’800 Franken. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie liegen auf einem Konto auf meinem Namen in Bratislava. Die Rezension und die Flaute mindern es Tag für Tag. Es lohnt sich nicht, den Betrag in die Schweiz zu überwiesen, ich hätte wegen Gebührenkosten vielleicht nur 5 Franken bekommen. Also lass ich es dort. Man erschafft sich immer Gründe, zurückgehen zu müssen.

Auf der Mutterseite habe ich fast nur weibliche Cousinen, auf der Vaterseite sind es mehrheitlich männliche. Die Ausnahme ist Cousine Lubica, die Tochter von Onkel William, über den ich aber gar nichts weiss, die von allem wahnsinnig gehätschelt und umsorgt wird. Sie hat blaue Lippen und trägt immer weisse Strumpfhosen und ein weisses Haarband, das kunstvoll zu einer Masche in ihr wunderschönes schwarzes, langes Haar gebunden ist und nie, nie verrutscht. Unsere Lubka, wie wir sie nannten, wurde mit einem Herzfehler geboren und alle glaubten, dass sie jederzeit sterben könnte. Wir durften nie mit ihr spielen, wie Schneewittchen sass sie immer in unserer Nähe, dazu verurteilt, uns mit ihren dunklen Augen und ihrem blauen Lächeln aus Distanz beim Spiel zu beobachten. Für uns war es seltsam zu wissen, sie wird irgendwann bald sterben, denn wir selbst, wir waren unsterblich. Als ich nach dreissig Jahren zurückkam und auf der Suche nach meiner restlichen Familie bin, habe ich erfahren, dass Lubka doch das Erwachsenenalter erreicht hat, sie hat studiert, sich verliebt, geheiratet und sogar drei Kindern das Leben geschenkt. Sie starb mit 28 Jahren.

 

Meine Brüder
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11.  Meine Brüder

manchmal ist das leben
wie ein film mit schlecht übersetzten untertiteln
du fühlst nicht das was du aussprichst
und schon ist es eine andere geschichte

... aus meinem Gedichtband HERZ STILL STAND

 

Meine Kommunikation ist wahrscheinlich auf Lügen gebaut, weil mich nach aussen eine schlechte Übersetzerin vertritt, die meinen Kopf bewohnt. Wie ein Parasit hat sie mein Gehirn besetzt, meine Zunge beschlagnahmt und mich mit einer selbsterklärten Bevollmächtigung repräsentiert und zwar nicht so, wie ich bin, sondern wie ich sein könnte. Sie übersetzt bei mir alles, was ich sehe, spüre und fühle, mein Wissen, meine Erfahrungen und mein Gefühl, all das, was mich ausmacht, aber in eine Sprache, die nicht die meine ist und die ich manchmal selbst nicht verstehe. Sie nutzt meinen Sprachmangel, meine Sprachlosigkeit und Unsicherheit, kehrt und verfälscht (in guter Absicht) mein Inneres nach aussen und lässt mich selbst als eine Unbekannte erscheinen. Für meine Übersetzerin ist alles, was mich betrifft, nur eine Information und es ist nicht wichtig, ob diese anderen nützlich sein kann oder nicht, denn ihre Geschwätzigkeit ist grenzenlos. Sie ist nicht speziell geschult oder einmalig, arbeitet dafür intuitiv, spontan, ist kreativ, erfinderisch und fantasiereich, zudem besitzt sie eine gewisse Loyalität mir gegenüber und versucht, mich auf dieser Informationsbasis in die Sprache, die mir am nächsten ist, zu übersetzen, sei es durch die Sprache der Farben und Bilder, die Sprache des Körpers oder durch das Wort. Natürlich komme ich dabei nicht ohne Übertragungsverlust, Verfälschung, Verzerrung und Übertreibung sowie Selbstlügen aus, denn sie verpackt mich in verschiedene Geschichten und das so überzeugend, dass ich selbst daran glauben muss. Es geht ihr nicht um die Entdeckung der Welt, sondern um die selbsterfundene Individuation meiner Person. So erzeugt sie verschiedene Persönlichkeiten und die Geschichte dazu, sie erfindet die Worte nicht neu, egal welcher Muttersprache sie sich bedient, sie ist keine Wortfindungsakrobatin, sondern Sammlerin der per Zufall entstandenen Wortkombinationen, die sie wegen meines Sprach-Mangels als etwas selbständig Kreatives verkauft.

Dazu kommt, dass mein Kommunikationspartner einen eigenen Übersetzer mitbringt und schon sind wir auf der babylonischen Ebene und sprechen mit vielen Zungen. Und niemand da, der korrigieren und zu Recht die Worte und Gedanken geraderücken kann. Ich weiss, um das Alter zu überstehen, brauche ich Struktur und Perspektiven, die mit der Zeit immer weniger und kleiner werden. Es ist mir klar, dass ich die Übersetzerin nicht für jeden Wortabfall, der aus Zufall, Verlangen, Angst oder Diebstahl entsteht, schuldig sprechen kann, denn sie kommt aus der Menschheitsgeschichte des Homo Sapiens*5), der gerade darum überlebt und sich in der Evolution durchgesetzt hat, weil er ein Geschichtenerzähler ist. Mein Sohn sagt manchmal, wenn ich etwas aus meinem Leben erzähle, «oh Mami, du und deine Geschichte». Genau, ich und meine Geschichte, sie sind es, die mich am Leben erhalten, dank meiner manchmal ahnungslosen Übersetzerin in mir, die sie für mich schreibt und weitererzählt.




Meinen jüngeren Bruder Dušan haben die Engel auf ihren gebrochenen Flügeln auf die Erde getragen und direkt in das Herz meiner Mutter gelegt, den älteren Branislav haben die Zigeuner oder emigrierte Inder in der Furche des frisch gepflügten Ackers vergessen und ich fiel als Buchstabenkonstrukt aus Schuld und Sühne in einen Raum voller Äpfel, um mich zu bilden und ihn zu bebildern. So sehen wir auch aus. Branislav, der Erstgeborene, dunkel und verschlossen wie die Erde, schweigsam, einsam und geduldig, er klagt und weint nie. Er hat schwarzes, dichtes Haar, unglaublich kohlenschwarze Augen, in denen kleine Sterne aufblitzen und wie angenähte Knöpfe einer Puppe einen fremd und forschend anschauen. Seine Haut ist schön, weich und zart, wie dunkler Samt aus Tausendundeiner Nacht und in seinem Mund ist eine Perlenkette aus schneeweissen Zähnen. Das ganze Wesen des kleinen Kindes, verborgen in diesem Gebiss, lächelt einen ständig an, auch später, im Erwachsenenalter. Nein, kein lautes Lachen, sondern ein Lächeln ist seine Verteidigung, Entschuldigung und Forderung zugleich, die einzige Sprache, die er kennt und die er spricht. Dušan dagegen ist sein Pendant. Als ihn das Universum ausgespuckt hat, fällt ihm ein Stück hellblauen Himmels in die Augen, sie sind schön, klar wie das Wasser, transparent wie Luft, ständig in der Wandlung von dunkelblau, hellblau, königsblau bis türkisblau, ungewöhnlich für diese Gegend und dieses Land. Seine Haut ist weiss und wie chinesisches Porzellan, sehr dünn und zerbrechlich, in seinem Mund eine Kette aus Bergkristallen, das Haar schneeweiss wie von einem Greis und im Körper das Wesen eines Kindes, das man liebt, lieben will und lieben muss.

Meine Brüder, so unterschiedlich in Aussehen und Charakter. Black & White, Eigenbrötler und Muttersöhnchen, Wille und Hingabe und dazwischen ich, ein Bindesymbol, ohne besondere Merkmale, gewöhnlich, bäuerisch, farblos. Als Vermittlerin zwischen diesen zwei Wesen und zwischen ihnen und den Eltern, bestens geeignet, sie zu vertreten und zu beschützen. Da ich von ungewöhnlicher Eigenwilligkeit und ebensolchem Verantwortungssinn geprägt bin, überlässt mir Mutter ohne Bedenken die Aufsicht und Erziehung der beiden. Unsere unterschiedlichen Äusserlichkeiten schaffen die Grundlage für die Verteilung der elterlichen Zuneigung und somit auch der Weiterbildung der Charaktere. Dušan, ihr äusserliches Ebenbild und die Widerspiegelung ihrer Zerbrechlichkeit, wird das Lieblingskind der Mutter. Die beiden sind wie vom gleichen Planeten oder aus demselben Märchen, in dem der kleine Prinz und die Königin genauso aussehen wie die beiden. Ich selbst finde unerwarteter Weise Gnade beim Vater, vielleicht, weil ich ein Mädchen von schnellem Begriff und schneller Lernfähigkeit bin und ihm nicht nur eine wunderbare Projektionsfläche, sondern auch lebendiges Material, aus dem man «etwas» machen kann, biete. Branislav hat niemanden, der ihn in die Arme nimmt, er entwickelt sich zum schweigsamen, störrischen Einzelgänger, der niemanden braucht und der zufrieden in seiner Selbstgenügsamkeit sich selbst regiert. Wenn er etwas ausgefressen hat, verschwindet er für einige Tage im Nichts und keiner weiss, wo er ist und taucht erst dann wieder auf, wenn er sich sicher ist, dass Zorn und Wut von der Dankbarkeit, dass er überhaupt lebt, bei den Eltern abgelöst worden ist. Wir erfahren nie, wo er in der Zwischenzeit gewesen ist, er schweigt bockig und beharrlich und die Antwort ist sein Lächeln.

Ich liebe aber beide, den Älteren, mit seiner eigenartigen, introvertierten Genügsamkeit und den dunklen Geheimnissen, von denen ich annehme, dass er welche hat und ich liebe den Jüngeren, weil er so schutzbedürftig und unschuldig ist, wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Branislav ist der Baumstamm, dem man seine Geheimnisse anvertraut und sicher sein kann, dass sie bei ihm bleiben. Und wenn man unter uns Dreien nach irgendeinem Blödsinn einen Schuldigen gesucht hat, schweigt er wie ein Partisan, verrät niemanden und nimmt lieber die ganze Schuld auf sich, als wäre es seine Pflicht. Ich bewundere ihn, nicht weil er der ältere Bruder ist, sondern weil er eben diese unheimliche Gelassenheit, Ruhe und minimalistische Genügsamkeit in sich trägt, die mir fehlt. Dušan dagegen ist eine Klatschtante, die alles, aber wirklich alles für ein paar Streicheleinheiten der Mutter erzählt. Die beiden Brüder nehmen sich gegenseitig, glaube ich, nicht einmal so richtig wahr, keiner hat es nötig, den anderen besser kennenzulernen. Ich bin das Bindeglied, das sie vereint, entschuldigt, überwacht und motiviert. Am schönsten sind die Abende, wenn wir alleine zu Hause sind, gemeinsam im Bett kuscheln und im Märchenbuch lesen, oder uns selber Märchen ausdenken und erzählen. Diese Rolle ist mir auf den Leib geschrieben, ich liebe das Lesen, das Ausdenken und das Erzählen. Nacht für Nacht wandern wir alle drei aus, fliegen aus dem Haus in andere Geschichten, andere Leben, die wir uns erfinden und denen wir folgen.

1948, 1949 und 1950 Jahre, in denen wir geboren wurden. Das Schicksal hat für jeden von uns eine andere persönliche Geschichte geschrieben, mit einem gemeinsam Nenner, wir alle drei haben zur Flüchtlingen und inneren Auswanderer mutiert; Branislav bohrt und vesteckt sich unter der Erde, Dušan ertrinkt im Alkohol und ich, durch Grenzenüberschreitung verliere mein Zuhause und meine Sprache ...



(1) Das einzige gemeinsame Bild mit meiner Familie, 1956

Das einzige gemeinsame Bild mit meiner Familie, 1956

 

 

 


 
Namen sind Omen
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12.  Namen sind Omen
Ich mag den Spiegel nicht. Habe ihn nie gemocht. Es gibt Zeiten, in denen in meiner Wohnung kein Spiegel und keine Waage vorhanden sind. Sie sind tabu. Ich schaue mir die Frau im Spiegel an, die wie mir scheint, zurückschaut. Sie ist mir fremd und ich ihr wahrscheinlich auch. Wir kennen uns nicht. Sie trägt eine Brille, die ihre immer kleiner gewordenen Augen vergrössern und dem Gesicht eine andere Kontur und Form verleihen. Ich erinnere mich, wie sie in jüngeren Jahren, wenn sie sich mit einer unbekannten Person verabreden wollte und gefragt wurde, wie werde ich dich erkennen, geantwortet hatte: Ich habe ein «ausgeprägt ausgehungertes slawisches Gesicht». Die slawischen Züge sind verschwunden, das Gesicht plattgedrückt und nur die schmalen Lippen, die irgendwie verbissen einander liebkosen, blutrot, linear, wie eine Messerspitze, zeugen vom früheren Hunger. Lebens-Liebeshunger. Hart, scharf auch die Sucht-Rauchfalten darüber.
 
Ich bin zu schnell, zu unerwartet alt geworden und spüre, wie durch den Blick in den Spiegel etwas zerstört wird. Jedes Mal. Und es weh tut. Nicht körperlich, sondern irgendwo ausserhalb des Selbstbildnisses, das zersplittert und zu Staub wird. Biblisch, wörtlich. Die Vorstellung von mir selbst, das perfekte Bild, das ich in mir trage und das mich trägt, ist nicht das, was mich anschaut. Das Schlimmste, man ist gezwungen, live dem Körperrückbau beiwohnen zu müssen. Ich werde erinnernd zurückgehen, mir verblichene Bilder holen und sie in die Haut tätowieren lassen, den sichtbaren Wandel ignorierend, nicht anschauend, weil ich ihn kenne. Die kommenden Worte und Gedanken, die sich im Alter erbarmungslos ehrlicher Kindersprache bedienen, die töten kann. Bald bin ich soweit ...




Die Namen, die ich und mein älterer Bruder bekamen, waren in der Slowakei ein wenig unüblich. Der ältere Bruder bekommt seinen Namen, weil die Mutter gerade ein Buch von Brónislav Sienkiewicz liest. Sie liebt Liebes-Schundromane, in denen arme, aber von Grund auf anständige, in Demut lebende und arbeitende junge Frauen das Glück haben, dass sich ein reicher Mann in sie verliebt, sie heiratet und sie somit bis in alle Ewigkeit glücklich bleibt. Es sind Frauenbücher der sogenannten Roten Bibliothek, die vom System verboten sind. Die Bücher sind in rote Leinen gebunden, mit goldig aufgedrucktem Titel, daher der Name. Laut Kulturministerium sind sie von Ideologie und Inhalt her total unbrauchbar, verderblich, zum Verblöden da und für die neue kommunistische Generation ohne erzieherischen Wert. Sie verschwinden aus den öffentlichen Bibliotheken und Buchhandlungen und landen mit der Bibel unter Ehebettmatratzen und werden trotzdem weiterhin heimlich gelesen. Mein erstes Buch aus dieser Reihe, «Rebecca» von Daphne du Maurier, lese ich mit neun Jahren, als meine Mutter ein Jahr lang wegen Tuberkulose im Spital liegt und ich mich um den Haushalt kümmern muss. Ich finde das versteckte Buch und verschlinge es atemlos und begeistert vom ersten bis zum letzten Buchstaben, zum Entsetzen meiner Mutter. Erstens wegen des Verbots, zweitens weil ich so jung bin. Für die, die es nicht kennen: Dieses Buch handelt von einer jungen Frau, die als Gesellschafterin einer reichen Amerikanerin an der Côte d’Azur den wohlhabenden, verwitweten Aristokraten Maxim de Winter kennenlernt. Sie heiraten, und er nimmt sie mit sich auf seinen Landsitz Manderley. Dort muss sich die junge Frau mit dem Rätsel um Maxims erster, atemberaubender Frau Rebecca auseinandersetzen, die beim Segeln ums Leben gekommen ist. Liebesgeschichte und Krimi zugleich. Ich sehe Rebecca, Maxim und Manderley bildlich vor mir, ich liebe und zittere mit der Heldin und dieses Buch gehört zu der schönsten Zeit meiner Vorpubertät. Ich erinnere mich noch an andere solche Bücher, wie «Malomocná»*6) von Mniszkowna Helena, die legendäre Liebesgeschichte zwischen Stepania Rudecká und Valdemar Michorowskí in drei Bänden, voller Poesie, Verlangen und Schmerz. Ein reicher Fürst heiratet eine schöne, aber arme Landbesitzerin, die zwar gebildet, aber machtlos gegen die sozialen Vorurteile der oberen Gesellschaft ist, die sich weigert, sie zu akzeptieren. Sie ist eben die Machtlose und so stirbt sie. Mein Gott, habe ich da geweint. Oder «Jane Eyre» von Charlotte Bronté. Eigentlich Bücher der Weltliteratur, die ich später als Erwachsene von Neuem entdecke und verschlinge.

In unserem Kopf gibt es sicher so etwas wie einen Ort der Selbstverständlichkeiten, in dem ein Sammelsurium von flüchtigen Glaubenssätzen angehäuft wird, über die man sich nie Gedanken macht, oder an dessen Richtigkeit man nie zweifeln muss, wie an den fünf Fingern an der Hand. So war es mit meinem Namen. Er war zwar unüblich, ja sogar seltsam in dem kleinen Dorf hinter den sieben Bergen, aber es war ein Name, mein Name. Ich kam nie auf den Gedanken zu fragen, wie meine Eltern überhaupt dazu gekommen waren, mich so zu nennen. Erst später, als ich ein Buch mit dem Titel «Robinsonka» las, wurde ich neugierig. Robinsonka, (geschrieben von Marie Majerová), ist ein kleines Mädchen, das in Prag in einer grossen Wohnung nur mit ihrem Vater lebt, weil die Mutter gestorben ist. Dieses Mädchen verwandelt die ganze Wohnung in eine einsame Insel, auf der sie mit dem Vater gestrandet ist. Sie ist Robinson(ka), der Vater Freitag, der Tisch, über dem eine grosse Decke liegt, wird zum Schutzraum, wenn Naturgewalten wie die Nachbarin ihre Insel bedrohen. Und dieses Mädchen trägt den Namen «Blazenka». Wie ich. Bis dahin hatte ich noch niemanden gekannt, der so heisst, geschweige denn, dass die Heldin eines Buches meinem Namen trägt. So gesehen fühlte ich mich zu Recht wichtig, «jetzt bin ich an der Reihe». Das beeindruckte aber niemanden, nur mich. Die Tatsache, dass sie Tschechin war, scheint mir auch sehr interessant, ich empfand die tschechische Sprache nämlich schon sehr früh als spannend, schön, sie hat etwas Buntes, Blumiges und Niedliches. Auch der Humor und der grosse Wortschatz sagen mir zu. Vor allem ist sie melodisch, sie singt sich selbst und ist nicht wie die Sprache, die ich sprach. Ich liebte die Bücher in tschechischer Sprache, aber nicht nur wegen ihres Rhythmus und ihrer Tonalität, sondern weil die tschechischen Verlage sehr schnell mit Übersetzung und Veröffentlichung der aktuellen Weltliteratur waren.

Ich bildete mir ein, dass meine verliebten Eltern den Namen aus irgendeinem Liebesroman hatten, in dem die Heldin eine ergreifende tragische Rolle in einer Liebesgeschichte spielt. Das war mein Wunschdenken und mein Geheimnis. Als ich eines Tages tatsächlich meinen Vater danach fragte, wurde mein Geheimnis zu einer Banalität der Trunkenheit. Vater erzählte mir, wie er und Mutter lange überlegt hatten, was für einen Namen ich bekommen sollte, falls ich ein Mädchen würde. Vor allem meiner Mutter lag sehr viel dran, dass ich einen richtigen Namen bekam, aber was heisst das, ein richtiger Name? Als irgendwann später in meinem Leben auch ich tatsächlich zur Bäuerin mutiere und mit meinem Ehemann Milchschafe züchte, erfahre ich, dass es bei Schafen die Regel ist, dass jedes neugeborene männliche Schäffchen einen Namen mit dem ersten Buchstaben des Schafbocks haben muss, um die Zuchtlinie zu halten. Unser erstes männliches Schaf trägt den stolzen Namen Wotan. Wie viele Namen gibt es schon, die mit W anfangen und für Schafböcke geeignet sind? Werner, Wolfgang? Da haben später dann eben die germanische Götter herhalten müssen. Vater erzählt mir also, dass sie drei Namen auf der Liste für ein Mädchen gehabt haben. Drei Namen in einer bestimmten Reihenfolge. Aber wie das so ist, aus lauter Freude, dass es eine Tochter ist, betrinkt sich mein Vater. Als er am nächsten Tag, immer noch benebelt, das Büro der Immatrikulation betritt, hat er nicht nur die Reihenfolge, sondern überhaupt alle drei Namen vergessen. Es schweben zwar irgendwelche in seinem Kopf herum, aber er kann sich beim besten Willen nicht erinnern, welcher der richtige ist. Er weiss nur, zu Hause wird es mit Sicherheit Krach geben, egal, welchen dieser hüpfenden Namen er mir gibt. Die Matrikulantin, eine hübsche junge Frau, kennt das wahrscheinlich, hat Geduld und wartet auf die Erinnerungsrückkehr. Als sie zum dritten Mal fragt, «wie soll die Tochter denn heissen?», fragt er zurück «und wie heissen sie? Blazena? Blazena, Blazenka, Blazka! Sehr gut! Schreiben sie also diesen Namen, so wird dann auch meine Tochter heissen.» Er erzählt mir aber nicht, ob es dann mit der Mutter wirklich Krach gegeben hat und weil ich selbst über das alles etwas verblüfft, aber doch mit meinem Namen eigentlich zufrieden bin, vergesse ich, danach zu fragen.

Der Name meiner Mutter ist Bozena und Blazena tönt ähnlich, vielleicht hat sie das versöhnt. Wenn sie mir wohlgesinnt ist, nennt sie mich Blazenka oder Blazka, was sehr selten vorkommt, sonst bin ich nur Blazena, wenn sie diesen Namen ausspricht, zischt es um die Ohren wie ein Peitschenhieb. Wenn meine Brüder mich ärgern wollen, schreien sie mir wie ein Mantra nach: «Blazena, zlá zena, Blazena, zlá zena»*7), es reimt sich so schön und natürlich macht es mich wütend, denn erstens bin ich noch keine Frau und noch weniger eine schlechte Frau. Viele Jahre später als Emigrantin, die Ablehnung, Mobbing und Boshaftigkeit erlebt, fange ich an, mich nur als Blazenka vorzustellen und zwinge damit die Menschen um mich herum, mindestens auf diese Art zu mir nett zu sein. Etwas kindlich naiv, aber es hilft und der Name «Blazenka» bleibt. Ich erinnere mich auch, wie ich gerne in die Kirche gegangen bin und auch weiterhin gehe, schon nur um gregorianische Chöre in der Originalsprache zu hören. Es tut so gut, dreissig Mönchen aus Rumänien, Russland oder Bulgarien zuzuhören, die mich besingen. Das Wort «blazený»*8), kuschelt sich in der Kirche in mein Ohr und es ist selig, zu hören, «selig sei dein Name». Nur die Seligkeit erreicht man nicht durch Übersetzung, sondern durch Aufmerksamkeit, die man den Worten schenkt. Früher, als man sich gegenseitig Postkarten geschickt hat, wurde mein Name meistens verhunzt und oft werde ich als Plazenta angeschrieben. Ein Mutterkuchen, eine Nachgeburt! Das hat man davon, wenn man sich Zuneigung erzwingt und liebevoll genannt sein will ... 


PS: Wenn ich jetzt lese, was ich geschrieben habe, komme ich mir wie eine Betrügerin vor, denn dieses Schreibprogramm kennt den wichtigsten Buchstaben in meinem Name, die Buchstabe "z" mit kleinem "v" darauf nicht, und somit erübrigt sich der Titel dieses Kapitels, denn so geschrieben ist mein Name kein Omen. Oder doch? Nicht echt und unvollkommen, so wie ich mich selbst mein Leben lang wahrnehme ... 



Mein Schulparadies
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13.  Mein Schulparadies
Mein Sprachzentrum logiert in meinem Bauch, der fortwährend Gefühlswallungen produziert und sie dann an die Gehirnsynapsen oder Herznerven leitet, wo sie sich ordnen, definieren und in Worte verwandeln. Die Botschaft transformiert sich genau im Bauch, der uns weit vor der Geburt als Schutzraum dient, bevor wir den ersten Schrei ausstossen und die ersten Atemzüge machen. Dort gebärt die Gefühlswelt die Sprache, egal ob es um Liebe, oder Angst geht, deren innere Energie und Intensität sich gleichwohl schmerzhaft anfühlen, ob sie positiv oder negativ besetzt sind. Wir bedienen uns der Sprache der ersten Empfindungen, die später im Gehirn der Logik und den Gesetzen der Rechtschreibung unterworfen wird und uns als veredeltes Kommunikationsinstrument des Selbstausdruckes zur Verfügung steht. Die Sprache und das korrekt geschriebene Wort werden so unantastbar wie die Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, denn ohne Grammatik bist du tot, mindestens unterentwickelt und garantiert auf dem falschen Gleis unterwegs.
 
Hier ist meine Verwundbarkeit, ich bin ein Sprachkrüppel, der trotz Behinderung zu schreiben wagt. Es gab Zeiten, wo die Grammatik für mich kein Schreibhindernis war, mit der Zeit aber merkte ich sogar bei Gesprächen, wie es mich belastete und nervte, dieser Grammatikmangel und meine scheinbare Ignoranz der Sprachkorrektheit gegenüber. Im späten Alter besuche ich einige Grammatik-Seminare, aber nichts bleibt haften, die Grammatik prallt an mir ab, ich bin wütend auf mich, hilflos und beschämt, dass ich es nicht geschafft habe und nicht schaffe, nach so vielen Jahren korrektes Deutsch zu beherrschen. Ich bediene mich einer fehlerhaften, autodidaktischen deutschen Version, die ich mir selber beigebracht habe und die scheinbar unkorrigierbar ist. Ich befinde mich fortwährend im Strom meiner Ohnmacht, leide unter Sprachmangel, kämpfe gegen Minderwertigkeitsgefühle und die Angst, mich lächerlich zu machen und nicht ernst genommen zu werden. Ich besitze zwar einen grossen Wortschatz und es mangelt auch nicht an Fantasie, weder an Geschichten noch an Erzählkunst, ich scheitere an den Stolpersteinen der Grammatik.

Wenn ich aber manchmal daran denke, mit dem Schreiben aufzuhören, kommt mir der Kunstkritiker Dr. Fritz Billeter in den Sinn, der mir, als ich ihm vor vielen Jahren einige meiner selbstübersetzten Gedichte zu lesen gab, sagte: «Schreiben Sie einfach und vergessen Sie, dass so etwas wie Grammatik existiert, Sie kreieren fantastische Wortschöpfungen, die mir nie in den Sinn gekommen wären und denken Sie z.B. an Kafka oder Musil, auch slawischen Ursprungs, die unser Deutsch unheimlich bereichert haben, also kümmern Sie sich nicht um die Grammatik, schreiben Sie, wie Sie wollen oder können, für das andere gibt es einen extra Beruf, den Korrektor und das Korrektorat» ...




Ich bin ein aufgewecktes Kind, neugierig, altklug, angstlos, selbstbewusst und selbstredend. Ich bin gesund, quirlig und überall, wo man mich nicht erwartet. Bei meinen Grosseltern um die Ecke oder bei denen hinter den sieben Bergen, die wir heimlich besuchen, wie auf einer endlosen, unter der Führung meines älteren Bruders absolvierten Wanderung. Ich spiele nie mit Puppen, sondern habe schon als Dreijährige mein Lieblingsbuch, ein Geschenk von Onkel Vlado. Es ist ein russisches Kinderbuch über einen kranken Teddybär, dem ein Bein abgerissen wird, das das gute Mädchen wieder annäht und so den Teddybären heilt. Das Mädchen geht mit dem Teddybären durchs Dorf spazieren, zeigt ihm die Enten, die Hühner, den Fluss und erklärt ihm ihre kleine Welt. So irgendwie geht die Geschichte, die ich damals auswendig konnte, ich schleppte das Buch überall hin, als wäre es der grösste Schatz der Welt. Und ich könnte schwören, durch dieses einzige Buch, da wir uns kein zweites leisten konnten, erwachte meine grosse Leidenschaft und Gier nach Büchern, die bis heute andauert.

1956. Mein erstes Schuljahr. Ich bin wahnsinnig stolz und überglücklich, endlich in die Schule zu gehen. Es ist ein kleines Dorf mit wenigen Schulkindern. Die Dorfschule hat nur einen Lehrer, Herr Majduch, der schon meine Mutter unterrichtet hat, einen Klassenraum, in dem die ersten vier Schuljahrgänge zusammen lernen. Wir sind etwa 30 Kinder, eingepfercht in einem Raum und so absorbiere ich praktisch das Lernmaterial von vier Klassen in einem Jahr. Mein Unglück aber ist, dass ich keinen Schulranzen habe, meinen Eltern fehlt das Geld, mein Heft, Buch und Schreibzeug sind bei meinem Bruder, was für mich eine Katastrophe ist. Ich lamentiere fortwährend und gehe allen so auf die Nerven, dass ich zu Weihnachten doch noch eine Schultasche, wahrscheinlich von Onkel Vlado, bekomme. Ich bin glücklich, gehe mit ihr schlafen, trage sie auch am Wochenende, sie wird zu meiner zweiten Haut und jeden Morgen wird sie in der Schule dem Lehrer gezeigt, sowie jedem, der sie sehen will. Ich sitze in der ersten Reihe, da ich schlecht sehe, aber mir macht es nichts aus, die erste Reihe meine ich, die Augen verbessern sich innerhalb eines Jahres und die hässliche Brille verschwindet. Ich bin ein normales Kind, das schon lesen und schreiben kann, sich aber trotzdem nicht langweilt und die Schule super findet. Ich fühle mich erwachsen, ich habe Aufgaben, die ich ganz ernst und pflichtbewusst mache und ausserdem habe ich zu Hause oder den Nachbarn immer viel Aufregendes zu erzählen.

Mein Innenleben erweitert sich, ich bin reich und lernsüchtig und realisiere, wie plötzlich die Welt von aussen an mich herantritt und mich aus dem kleinen Dorf in den Kosmos der Erwachsenen hinauskatapultiert. Die Bilder und Worte verdrängen die Welt der Gerüche, Töne und Berührungen, die sinnliche Wahrnehmung transformiert und positioniert sich im Gehirn als Gedanke, das Abstrakte wird konkreter und etwas Neues, eine Art Bewusstsein modelliert sich in mir und um mich herum. Ich weiss nicht, ob bei uns die Verstaatlichung schon abgeschlossen oder erst angefangen hatte, aber an die ungarische Revolution, etwas ausserhalb meines Umfeldes, erinnere ich mich sehr genau. Vor allem an die berühmten Fotos von aufgehängten Kollaborateuren an den Strassenlaternen der Budapesterstrassen und die aus dem Staub dramatisch auftauchenden russischen Panzer, die in der Zeitung publiziert und zu Hause nur stumm und kopfschüttelnd angeschaut werden. Später werden wir mit holprigen, ungarischen Ikarus Bussen überschwemmt und mein Vater macht sich darüber lustig und spricht von Kadars*9) Rache. Er fährt jahrelang so einen.

Die zweite Klasse besuche ich schon in einem anderen Dorf. Palúdzka ist eine Art Vorstadt der Hauptstadt Liptovský Mikuláš. Wir wohnen zuerst in einem Stadtviertel, das unter dem Namen «kleines Rom» bekannt ist. Wahrscheinlich waren wir gezwungen, das Haus im Dorf, in dem wir wohnten, zu verlassen, oder die Mutter setzte sich endlich durch, ich weiss es nicht. Unsere neue Wohnung befindet sich im Keller eines Einfamilienhauses, das einem Arzt gehört und der uns aufnehmen musste. Noch eine andere Familie, auch mit zwei kleinen Kindern, lebt dort. Es sind sehr dunkle Räume, feucht und es riecht nach verfaulten Kartoffeln, Kohl und Heizkohle. Eigentlich ist es buchstäblich ein «Rattenloch». Ich erinnere mich, wie ich damals unsere Nachnahmen nicht gern ausgesprochen habe, denn wir waren nicht nur arm wie Kirchenmäuse, wir lebten auch so. Kostolná (weiblich) bedeutet so etwas wie «von der Kirche abstammend», dabei stammt der Kostolný (männlich) aus einem Raubritter-Geschlecht ab. Ich weiss nicht, wie glücklich, oder unglücklich meine Mutter an diesem Ort ist. Wir bewohnen zwei Kellerräume, der eine dient als Küche, der andere als Schlafzimmer. Im Gang ist ein Wasserhahn, aus dem nur kaltes Wasser fliesst, die Küche hat einen Herd, das Schlafzimmer ist nicht beheizbar. Ein Plumpsklo draussen hinterm Haus, extra für die Untermieter gebaut, die Arztfamilie hat ihr eigenes Klo im Haus. Im Garten stehen uns sechs Quadratmeter Garten zur Verfügung. Die Arztfamilie lebt oben und hat keinen Kontakt zu uns. Sie haben zwei Söhne, mit denen wir manchmal spielen, oder besser gesagt, uns gegenseitig bekämpfen. Bei einem Indianerspiel, in dem wir uns mit Pfeilen aus Mohnstiel bewerfen (wir lasen damals «Der letzte Mohikan» und «Winnetou»), trifft ein Pfeil unglücklicherweise meinen Bruder Dušan direkt ins Auge. Er verliert sein Augenlicht, das wunderschöne intensive Blau wird trüb und matt. Keine Operationen helfen und diese Trübheit und Mattheit bemächtigen sich seines Lebens, sie bestimmen sein zukünftiges Denken, seine Handlungen und werden sein unabänderliches Schicksal. Aber auch für meine Mutter ist diese Art des Lebens ein Verhängnis. Ihre Arbeit in der Gerbereifabrik, das feuchte und stinkende Klima begleiten sie 24 Stunden lang. Wie in der Fabrik so auch zu Hause. Sie wird krank, Befund Tuberkulose. Auch ich bleibe davon nicht verschont, habe jeden Winter eine heftige Lungenentzündung und man stellt fest, dass ich Schatten auf der Lunge habe. Ich bin höchst gefährdet und muss präventiv einige Winter im Sanatorium hoch in den Bergen in der Winterschule verbringen. Ich ging sehr gerne hin, was niemand verstehen konnte. Mir gefiel es aber an fremden Orten, ausserhalb der Familie zu leben, mir gefiel es, alleine zu sein, ein eigenes Zimmer zu haben und keine Verpflichtungen, abgesehen vom Lernen zu haben. Die Mutter findet eine Freundin mit Eigenheim, bei der sie jede zweite Woche in der Badewanne baden darf. Sie riecht dann so gut nach Sauberkeit und träumt von einem solchen Haus, oder mindestens einer eigenen Wohnung. Das ist ihr Glück, dass sie diesen Lebensabschnitt erleben darf.

Meistens erinnern wir uns entweder an superglückliche Tage oder an Erlebnisse, die einen bitteren Geschmack oder Schock hinterlassen haben. Eine gefährliche Kellergeschichte, wie ein Thriller in Zeitlupentempo, spielt sich noch heute in meinen Träumen ab. Die Eltern sind am Abend ausgegangen, was eine Seltenheit war und wir Kinder bleiben uns selbst überlassen. Natürlich versprachen wir hoch und heilig, keinen Blödsinn zu machen, die Eltern sollen sorgenlos ausgehen und die Zeit ohne uns geniessen. Die Küche ist sehr heiss, die Herdplatte glüht rot, das Licht ist gedämpft und wir alle drei, im Pyjama und zum Schlafen bereit, hüpfen und springen übermütig auf dem Divan herum, der sich neben dem Herd befindet. Plötzlich verliert der jüngere Bruder das Gleichgewicht, er fällt auf den glühenden Herd und wie auf Glatteis gleitet sein Körper Kopf voran darüber hinweg, bis er auf den Boden fällt. Wir hören das Zischen und Spritzen der Haut und riechen das verbrannte Fleisch und, ich weiss nicht, woher wir die Idee haben, aber wir schmieren den verbrannten Körper sofort mit rohen Eiern ein, so dass er wie ein Kuchen, bereit zum Backen, aussieht. Es ist fürchterlich, überall hängen die Hautfetzen, der Geruch, und der vom Schmerz geplagte, schreiende und weinende Bruder, unsere Hilflosigkeit und natürlich die Angst, was sagen die Eltern und was für eine Strafe gibt es. Aber es war irgendwie richtig, was wir da taten. Er hatte später keine Narben und die Haut heilte sehr schnell. Die Strafe vergass ich, aber vielleicht nur wegen der Schuld, die sich die Eltern selber gaben, weil sie uns alleine gelassen hatten.

Aus dieser Zeit, als der Winter noch viel länger dauerte als heute, erinnere mich genau an die Lungenentzündungen, die ich jeden Winter bekomme, vor allem aber an das Gefühl, aus dem Nirgendwo wieder auf die Welt zu kommen, dass sich durch Hunger und Appetit manifestiert. Die Lust nach Kartoffelstock mit Tomatensauce ist ein Zeichen, bei dem meine Mutter aufatmen kann. Sie weiss, das Kind ist wieder da, alles wird gut. Zwei Jahre leben wir in diesem Kellerloch, ohne Aussicht auf eine andere Wohnung. Mutter rackert sich ab, die Wohnung sauber zu halten und in meiner Erinnerung gelingt es ihr auch irgendwie. Die Mäuse und Ratten flitzen zwar im Winter durch den Gang, im Sommer sind es ganze Völker von Ameisen, Kakerlaken, Schaben, Spinnen und anderem Ungeziefer, die aus dem Kartoffelkeller hervorkriechen. Ich weiss nicht, wie sie es aushält, sie, die Sauberkeitsfanatikerin und Schöngeistträumerin. Natürlich besuche ich auch diesen Ort, als ich nach 35 Jahren zum ersten Mal zurückkomme. Ich finde das Haus nicht sofort, in meiner Erinnerung ist es viel grösser. An der Hauswand ist eine Strassentafel angebracht und es steht mein Name drauf. Kostolná Strasse. Ich kann es nicht glauben, aber steht dort wirklich mein Name und ich denke mir: «Was? Bin ich schon so bekannt, dass die Strasse nach mir benannt wurde?» Es gibt dafür sicher eine plausible Erklärung, wie eine andere, berühmte Persönlichkeit mit dem gleichen Namen. Aber der Gedanke, dass die Strasse meinen Namen trägt, ist schon ein Hammer. Vor allem, dass die Tafel genau an dem Haus angebracht ist, in dem wir gewohnt haben. Ich stehe also da, betrachte die Tafel und staune, als eine Frau aus dem Haus kommt und zu mir sagt: «Ich kenne dich». Nein, es ist nicht die Frau des Arztes, sondern eine Frau aus dem Dorf, in dem ich geboren bin, sie kannte meine Eltern sehr gut und uns Kinder auch. Ich frage, ob ich das Haus von innen sehen darf, vor allem die Kellerräumlichkeiten, die wir damals bewohnten und als sie ja sagt, gehe ich in den Keller und erst dort wird mir bewusst, in welch totalem Elend und welcher Trostlosigkeit wir gelebt haben. Es war ein Rattenloch, ein feuchter, stinkender Keller für Gerümpel, in dem man nicht einmal Kartoffeln lagern durfte. Die Räume und das Haus sind viel kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte, aber der Geruch ist geblieben. Es schrumpft alles, ich weiss nicht, ob deswegen, weil ich gross geworden bin, aber die Erinnerungen und die Bilder nehmen eine Dimension an, der ich nicht gewachsen bin. Ich stehe da, entwaffnet, sprachlos, denke an meine arme Mutter und weine.

1958. Wir sind mitten in einer Naturkatastrophe, die uns buchstäblich aus dem Rattenloch herausschwemmt und rettet. Der heilige Regen. Es regnet in Strömen, ohne Unterbruch, der unbedeutende Fluss «Váh» steigt fünf Meter hoch über seine Ufer hinaus und überschwemmt mit gewaltiger Wucht alles, die Felder, die Strassen, die Häuser und auch uns. Es ist das erste Mal, dass wir die Wohnung des Arztes betreten dürfen. Das viele Wasser fliesst die Strasse entlang, direkt in die Keller hinein und wir, über diese Wucht und unglaubliche Zerstörung des dicken braunen Wassers staunend, das uns alles wegnimmt, stehen auf den obersten Treppen und schauen zu. Für uns Kinder ist diese neue Angst, die sich unserer bemächtigt, faszinierend, für die Eltern aber bricht die Welt zusammen. Ihr ganzes Hab und Gut verschwindet unter dreckigem Schlamm, geht kaputt und verloren. Gegen Abend werden wir und andere mit dem gleichen Schicksal von grossen Militärlastwagen abgeholt und vorübergehend in den nächstgelegenen Kasernen einquartiert. Ich vergesse nie, wie wir über die Brücke fahren, die auch schon fast unter Wasser steht. Auf der rechten Uferseite, wo früher eine Zigeuner-siedlung war, ist nichts mehr zu sehen. Auf dem wild gewordenen braunen Fluss schwimmen ganze Bäume, Schweine und Häuser mit Menschen drauf, die Häuser zerbrechen, als sie mit der Brücke zusammenstossen und die Menschen verschwinden in den Fluten. Auf der einen Seite der Brücke hört man sie noch um Hilfe zu rufen, auf der anderen Seite der Brücke hört man nur das Geröll und Gebrüll des Wassers. Und da habe ich wirklich Angst, dass die Brücke genau in dem Moment, als wir mit dem Lastwagen drüber fahren, mitgerissen wird. Ich bete inbrünstig und verspreche Gehorsam, wenn alles gut wird. Es geht gut. Eine ganze Woche verbringen wir in den Kasernen, bis der Wasserstand des Flusses sinkt und sich reguliert. Inzwischen ist Vater aktiv und findet ein leeres, unbewohntes Haus, in das wir eines Nachts einbrechen und es besetzen. Wir mutieren zu Hausbesetzern und das schon lange, bevor die in der Schweiz aktiv sind. Wir haben Glück, schliesslich leben wir in einer sozialistischen Gesellschaft und haben Anrecht auf eine leerstehende Wohnung. Man darf das Wohnrecht einer Familie mit drei kleinen Kindern nicht verweigern und sie rausschmeissen. Das Haus gehört einer Forstwirtschaftsgenossenschaft, die natürlich über die Hausbesetzung nicht begeistert ist, aber sie kann nichts dagegen unternehmen, es gibt kein Gesetz, das ihr zu Seite steht.

Das Gebäude steht auf einer Halbinsel, rundum fliessen zwei kleine Bächlein. Das Haus hat einen Garten und eine grosse Wiese. Eine mächtige Linde überdeckt die Hälfte des Hauses und die selbstgebastelten Käfige für Hasen, Hühner und Enten. Gegenüber dem Haus steht ein imposantes Lagerhaus und eine Schreinerei mit einem stillgelegten, riesigen Wasserrad, mit dem früher die Maschinen angetrieben wurden. Auf der linken Seite, ganz nah beim Fluss, befinden sich einige sehr gut ausgebaute Container, die als Wohnungen für die Arbeiter dienen. Für uns Kinder ist es ein Paradies und für die Mutter endlich menschenwürdiges Wohnen, eine Art Beruhigung, aber da ist sie schon im Würgegriff der Tuberkulose (TBC). Das Haus ist länglich gebaut, ein Teil gilt als Wohnraum, ein anderer Teil beherbergt Büroräumlichkeiten. In der Küche fliessendes Wasser und es stehen uns drei Zimmer zu Verfügung. Das ist herrlich, unglaublich, was für ein Luxus. Nach drei Jahren müssen wir in die gegenüberliegenden, als Büro gedachten Räume umziehen, da für unsere Wohnung jetzt Eigenbedarf geltend gemacht wird. Die Familie, die da einzieht, ist nicht gerade das, was sich Mutter als Nachbarn wünscht. Eine mürrische, schlecht gelaunte Frau mit kaputten Zähnen, die nie zurück grüsst, drei genauso ungepflegte Kinder und ein Mann, den wir nie sehen. Als Mutter realisiert, dass die Kinder ständig verlaust sind, verbiet sie uns jeglichen Kontakt mit ihnen. Läuse, das ist ein No-Go! Die neue Wohnung ist aber kleiner, jetzt haben wir nur noch zwei Zimmer zur Verfügung, die Küche ist wieder ohne fliessendes Wasser und das Plumpsklo weit draussen. Eine Wasserpumpe steht vor dem Haus, im Sommer kein Problem, im Winter gefroren und man muss sie mit heissem Wasser auftauen. Aber auch das kennen wir schon, es ist nichts Neues. Der Eingang ist so etwas wie ein kleiner Wintergarten, die Wände aus vielen kleinen Glasfenstern und mein Vater, der Schreiner unterteilt diesen Raum in eine winzige Speisekammer und in ein Atelier oder einen Arbeitsraum, den ich fast dreiviertel der Jahreszeit benutzen kann. Er schreinert einen Holztisch, der die ganze Wand entlang läuft und ich bekomme sogar meinen eigenen Stuhl. Dort mache ich meine Schulaufgaben und male meine ersten Bilder mit Anilinfarben, später mit Tempera. Wie eine Grosse. Ich habe Ausblick auf den Hof, meine spielenden Brüder im Blick, die Sonne scheint hinein, so dass ich den Raum sogar manchmal auch im Winter benutzen kann. Wir können dort leben, umso mehr, da die Eltern schon die Vision eines Eigenheims haben.

Sechs Jahre leben wir auf der Halbinsel, bis wir endlich unsere eigene Eigentumswohnung in der Bezirkshauptstadt beziehen. Diese sechs Jahre verbringt meine Mutter entweder in der Gerberei oder zeitweise im Spital, in der Tuberkulose-Abteilung. Den Vater sehen wir auch nur selten, er arbeitet jetzt als Busschauffeur, steht morgens um vier Uhr auf und kommt erst nach der letzter Bussfahrt um Mitternacht nach Hause. Wir sind sehr knapp mit dem Geld, da der Verdienst meiner Mutter dieses Jahr entfällt, weil sie ein ganzes Jahr im Spital bleiben muss. Sie ernährt sich praktisch nur von Pillen, bis 80 Stück am Tag, wir dürfen sie nicht besuchen und sehen sie kaum, aber manchmal klettert sie über den Zaun, kommt schnell vorbei, um zu schauen, wie es uns geht, ob alles in Ordnung ist. Eines Nachts im Winter, es ist sehr kalt und schneit, die einzige Strassenlampe beleuchtet den Weg zwischen Scheune und dem aufgestapelten Holz der Forstwirtschaft, das unter diesen weissen schrägen Linien, wie der Schnee fällt, wie ein gemaltes Bild von Romantik und Melancholie aussieht. Und da sehe ich plötzlich und unerwartet meinen Vater mit dem älteren Bruder, wie sie mit geklautem Holz auf den Armen zu unserem Haus rennen. Ich bin fassungslos und sehr erschrocken, ich realisiere zwei Tatsachen, erstens, dass ich das mit der Ehrlichkeit und den guten Taten eines Pioniers nicht vereinbaren kann und zweitens unsere Wirklichkeit der Armut. In der Schule lesen und besprechen wir gerade ein Buch über den tapferen Pionier «Pawlik Morosow», der uns sozialistischer Jugend «als ein Vorbild und Held» präsentiert wird, wie sich ein echter Pionier zu verhalten hat. Der Junge Pawlik Morosow denunziert seinen eigenen Vater als Kulaken*10) und wird daraufhin angeblich von Verwandten ermordet. Lenin-Pioniere wurden an seinem Beispiel aufgefordert, selbst ihre Eltern zu überwachen und Verdächtiges den Behörden zu melden. Mein Leben ist nach dieser Nacht nicht mehr wie vorher, in dieser Zeit lebe ich in Angst, dass dieser Diebstahl entdeckt wird und ich werde zudem geplagt von schlechtem Gewissen, der Pionierpflicht und der Akzeptanz von dem, was ist. Mein kleines Herz rast wie verrückt unter meinem Schweigen und dem seltsamen Schuldgefühl, denn ich will eine vorbildliche Pionierin, aber auch eine liebende Tochter sein. Mir wird zum ersten Mal klar, wie wir wirklich dran sind und dass Vater aus der Notwendigkeit, damit wir in der kalten Wohnung nicht erfrieren, zum Dieb geworden ist. Ich erinnere mich, wie froh ich bin, die Mutter im Spital zu wissen, es bleibt ihr erspart, sich für unser armgenössiges Dasein zu schämen. Aber ich fange an darüber nachzudenken. Wie ist das möglich, wie lässt sich das mit dem sozialistischen System vereinbaren, das ein gutes und anständiges Leben für alle verspricht?

Ich liebe Samstage, da wird im grossen Kessel Wasser gekocht, eine Zinkbadewanne geholt und wir Kinder im gleichem Wasser eins nach dem anderen gebadet, mit Kernseife eingeseift, mit harter Bürste geschrubbt und in Pyjamas gesteckt. Die Küche riecht nach Bohnensuppe und Plazerka, ein Gericht aus fein geraffelten Kartoffeln, etwas Mehl und Eier dazu, gewürzt mit Salz, Pfeffer und Kümmel, auf dem grossen Backblech verteilt und wie Pizza im Ofen knusprig gebacken. Und auch wir Kinder lieben es, diese Sauberkeit und die Düfte der Seife und der Bohnensuppe, es ist so stimmig und atmosphärisch und es hat etwas Friedliches und Familiäres an sich. Wenn Vater nach Hause kommt, leert er seine Arbeitstasche auf den Tisch und es liegen plötzlich sehr viele Münzen drauf, das Kleingeld muss sortiert und zusammengezählt werden, und ich bin die einzige, die helfen darf. 5, 10, 25 Haliere, 1 und 2 Kronen, alles getrennt auf einen Extrahaufen. Hundert Stück pro Beige, die er mit seinen schweren Arbeiterhänden in ein spezielles Papier einrollt und zuklebt. Er ist nicht nur Busschauffeur, sondern auch Kondukteur, der die Buchhaltung selbst macht. Es ist eine grosse Verantwortung, denn das Geld muss mit den verkauften Tickets übereinstimmen. Ich liebe es, diese Arbeit und diese Zeit mit ihm, wenn alles sauber in ein spezielles Büchlein aufgeschrieben und zusammengezählt ist und alles stimmt, dann nimmt er mich auf seinen Schoss, küsst mich mit seinem Schnauz und lobt mich: «Danke, das hast du gut gemacht.» Sonst leben wir Kinder frei, unbeaufsichtigt unsere eigenen Leben, gehen zur Schule, essen in der Kantine und verbringen die Nachmittage entweder unter Aufsicht im Schulhort oder ganz alleine zu Hause. Ich vermisse die Liebe meiner Mutter nicht, habe ihre Abwesenheit akzeptiert, bin vom Verlangen oder Fordern nach ihrer Zärtlichkeit befreit, weil ich sie nie gekannt und nie welche von ihr bekommen habe. Mein älterer Bruder genauso und für uns beide ist es gut und in Ordnung so. Wenn Mutter nicht da ist, hängt der kleine Bruder Dušan an mir wie eine Klette, er vermisst sie sehr. Dafür absorbiere ich Bücher und nutze das Lesen, mich aus der Wirklichkeit wegzulesen. Das ist meine Rettung, denn in diesen Jahren wächst die Kraft, alles auszuhalten, aus der ich später im Leben zehren kann.

Ich gehe leidenschaftlich gern in die Schule, bin süchtig danach. Die Schule ist mein Heim und mein Paradiesort, im Gegensatz zu meinen Brüdern. Ich lerne und begreife schnell, nicht dass ich speziell intelligent oder begabt bin, sondern weil meine Begeisterung für die Schule so offensichtlich sichtbar ist, dass sie mir den Umgang mit Lehrern und Lernmaterial leichter macht und sie mich unterstützen, wo sie nur können, denn ich bin ihr Ergebnis. Das Schulhaus, das ich besuche, früher eine katholische Schule, liegt neben der Gerbereifabrik, in der meine Mutter arbeitet. Beide Brüder gehen dagegen in eine protestantische Schule, fragt mich nicht, warum die Schulen so benannt sind, keine von beiden steht neben einer katholischen oder protestantischen Kirche. Die Namen der Schulen haben nichts mit einem Glaubensbekenntnis zu tun, es waren Begriffe aus früherer Zeit. Ich kann mich sehr gut an meinen ersten Lehrer erinnern, Professor Matucha, den ich sehr bewunderte. Seine Erscheinung, eine Figur aus einem englischen Roman, irgendwie ist er dem System durch die Maschen gerutscht, denn er repräsentiert den Prototypen des Bourgeois der früheren weltlichen Oberschicht. Er hat dichtes, langes, nach hinten gekämmtes, graues Haar, einen voluminösen Schnauz und beleibten Körper, trägt nur Knickerbockerhosen mit Hosenträgern, karierte Kniesocken und dementsprechend dazu passende, mit englischen Mustern karierte Pullover. Seine Schuhe sind von tadelloser italienischer Qualität. An seinem Hosengürtel hängt an einer dicken Silberkette die Uhr, die in der Hosentasche verschwindet. Eigentlich hat er seine Hände immer in den Hosentaschen, beim Gehen wie beim Unterrichten. Seine Wohnung befindet sich im gleichen Gebäude. Ich erinnere mich, als ich zum ersten Mal diese Wohnung betrete, wie ich geblendet und sprachlos bin. Das, was ich sehe, das ist eine andere Wirklichkeit, das ist Kino. Die Räume angenehm dunkel und kühl, überall brennen diese kleinen, aus dem Film bekannten grüne Leselampen, die man im englischen Lesesaal findet. Alle drei Zimmer sind vollgestopft mit Büchern, nicht nur in Bücherregalen, sie liegen überall, auf den barocken Stühlen und Tischen, auf dem Boden, sogar das Bett ist eine Bücherhalde. Bücher, Antiquitäten, Bilder und das Licht. Das ist fantastisch, ich kann nicht glauben, zu viele, nicht nur offiziell erlaubte, sondern auch verbotene Bücher und zu viel Geschichte in einer Wohnung, wie ist es möglich, dass das alles unberührt und unentdeckt geblieben ist?

Er ist Witwer und hat eine Tochter namens Magda. Magda heiratet einen Arzt, gebiert zwei Kinder, wohnt in einer prächtigen Villa und gibt Schulunterricht an der gleichen Schule wie er. Nur diese Magda sieht neben ihrem klassischen Vater unglaublich billig aus. Wie ein Flittchen. Sie ist etwas mollig, klein, mit einem enormen, prallen Busen, den sie mit grossen Ausschnitten noch mehr betont und schamlos zur Schau trägt. Sie ist übertrieben geschminkt, ihre sinnlich grossen Lippen sind über die Konturen hinaus bemalt, blutig, knallrot, klaffen auf wie eine offene Wunde, die Augen, wie bei heutigen Gruftis schwarz umrahmt, die Augenbrauen in dünne, hochgezogene Linien gezupft und das hochtoupierte Haar natürlich knallrot gefärbt. Sie betont ihre Körperrundungen mit hautengen Kleidern und ist wirklich eine Karikatur des schlechten Geschmacks. Aber sie schert sich kein bisschen darum, was die Leute über sie denken, sie findet sich gut, erotisch und sinnlich, hat ein ausgesprochen starkes Selbstbewusstsein, ist unbeirrbar und immer fröhlich. Ich glaube, sie ist sowieso die erste geschminkte und modisch (wenn auch schlecht) aufgedonnerte Frau, die ich bis dahin gesehen habe. Aber egal wie sie aussah, eines musste man ihr lassen, sie war eine hervorragende, unkomplizierte, engagierte und emotional geladene Lehrerin. Sie weint hemmungslos vor der ganzen Klasse, als sie uns die Nachricht bringt, dass Kennedy*11) erschossen wurde, klagt über seinen Nachfolger Johnson*12), den sie als eine politische Weltkatastrophe prophezeit, sie hat ein etwas gestörtes politisches Bewusstsein und sympathisiert mit beiden Seiten. Sie stürmt in den Unterricht ihres Vaters, als die Sowjets die Rakete Sputnik 2 mit dem Hund Laika in das All schiessen, dann wieder weint sie vor Freude, als Jurij Gagarin*13) um die Erde kreist und sie jubelt, als Valentina Tereschkowa*14), die erste Kosmonautin, die Welt in Atem hält, sie ist eine wandernde Emotion und somit auch eine leidenschaftliche Begeisterin und Motivatorin für manche Schüler. Sie gründet die erste Theatergruppe, zu der auch ich gehöre und sie spielt selbst leidenschaftlich mit.

Magda fördert und unterstützt mich, wenn sie nur einen Hauch irgendeins Talents bei mir entdeckt. Wir üben manchmal monatelang Gedichte für die Rezitationswettbewerbe, die jedes Jahr stattfinden. Sie ist echt und kann einen wirklich davon überzeugen, dass alles im Leben möglich ist. Bei ihr und mit ihr ist es das auch. Und ich greife nach allem, was sie mir anbietet, ich mache bei jedem nationalen Malwettbewerb mit, gewinne zwar nie den ersten Preis, aber manchmal schaffe ich es unter die Glücklichen zu kommen, deren Bilder im Prag ausgestellt werden. Das Lernen fällt mir nicht schwer, ich lerne sehr gerne und das nicht unbedingt nur aus Wissensdurst, sondern, weil die besten Schüler zweimal im Jahr mit Bücher belohnt werden. Und ich, gierig nach Büchern, die sich meine Eltern nicht leisten können, bekomme sie auch und das Jahr für Jahr. Diese Bücher sind ganz neu, unberührt und für meine Eltern sehr wichtig, denn sie sind mit der begehrenswerten Widmung «Für ausgezeichnete Leistung» versehen. Zu Hause wird das Wort «sparen» ein Amen, täglich höre ich «wir können es uns nicht leisten», auf der einen Seite verstehe ich es, die Eltern sparen auf eine Eigentumswohnung, auf der anderen Seite empfinde ich es als katastrophal, dass die Startbedingungen für das Leben in meinem sozialistischen Land so ungerecht verteilt sind. Dieser Satz «wir können es uns nicht leisten», wie ich ihn hasse und mich doch mein Leben lang mit ihm auseinandersetzen muss. Dieser Satz ist eine lebendige Zensur in meinem Gehirn, ein mütterliches Sprachrohr, Vertrauter und Feind zugleich und er wirkt. Ich erwische mich, wie er immer wieder zum Amen aufsteigt, zu etwas, vor dem ich mich mein Leben lang fürchte und vor dem ich flüchte. Und doch, im Nachhinein, wenn ich darüber nachdenke, waren die Eltern trotz dieser Sparmassen bewundernswert, weil ich zu Weihnachten und an Geburtstagen immer das bekam, was ich mir von ganzem Herzen wünschte. Nicht Kleider, nicht Schuhe, nicht Puppen, nur ein Buch und wenn möglich, Malfarben dazu.

Die Bildung und Kultur dem Volk, nach diesem Motto schossen wie Pilze nach Regen Kulturhäuser in der ganzen Republik hervor. In jedem noch so kleinem Kaff wurden architektonisch hässliche, aber nutzungsfreundliche, nüchterne Kathedralen gebaut. Statt in die Kirche geht man ins Kulturhaus, es ist das Zentrum, das pochende Herz für das geistige Leben des Dorfes. Universal, für alles und jeden zugänglich. Den Kern des Kulturhauses bildet ein grosser Saal mit Parkettboden, der als Kino, Theater, Tanzsaal und Turnhalle dient und einige kleinere Räumlichkeiten, die für verschiedene Kurse oder Vereinen zur Verfügung stehen. Hier trifft sich die Gemeinde, hier wird getanzt, Theater gespielt, geturnt, Politische Reden werden gehalten, Informationsveranstaltungen durchgeführt und sogar Hochzeiten gefeiert. Und Väterchen Staat finanziert und unterstützt alles, die Idee der Gemeinnutzung ist gut und sie funktioniert und mit ihr auch die Sozialisierung des Volkes. Und natürlich hat unsere Schule auch ein Theaterzirkel, Jahr für Jahr spielen wir begeistert politisch und pädagogisch wichtige, erzieherische Theaterstücke, gehen wie die Grossen auf Tournee und spielen in allen anderen Kulturhäusern, die rund um die Stadt erreichbar sind. Das ist toll und echt, wir Kinder lieben es. Das theatralische Spiel, Schminken, Reisen, wir sind die kleinen Erwachsenen, wir sind die Stars. Ich erinnere mich, wie meine Mutter einen Kurs für Russisch, für uns damals wirklich die «zukünftige Weltsprache», besucht und wie es mich stolz macht, so eine fortschrittliche Mutter zu haben. Ich weiss nicht, wie die Häuser heute genutzt werden, ob überhaupt. Der Staat hat kein Geld.

Nach der Wende kam die Privatisierung, die in Grössenwahn ausartete und in der vieles in die Brüche ging. Ex-Kommunisten rissen sich alles unter die Nägel, nicht nur das Land und die Häuser, sondern die ganze Industrie und die Institutionen. Die Fabriken wurden an Privatpersonen, die keine Ahnung von der Materie hatten, geschweige denn von Marketing und Führung, spotbillig verscherbelt. So ist es z.B. auch dem Filmstudio Koliba, in der Nähe vom Bratislava ergangen. Dieses riesige, erfolgreiche Filmstudio, kaufte die 28-jährige Tochter von Meciar, dem ersten Präsidenten der neuen Slowakischen Republik, für ein paar Kronen, und seitdem gibt es keine Filmindustrie mehr. Sie verkaufte die ganze Infrastruktur und die Gebäude stehen seitdem leer, dem Zahn der Zeit überlassen. Ihr Verfalldatum ist längst überschritten. Unvorstellbar, aber wahr. Es ist nicht nur, dass ein Teil des Kulturgutes verloren ging, sondern auch, dass viele Menschen, die dort gearbeitet hatten, plötzlich ihre Lebensexistenz verloren. Und das Volk? Es akzeptierte alles, weil Akzeptanz etwas war, was es sehr gut kannte und es inzwischen gelernt hatte, damit zu leben. Sonst kann ich es mir nicht anders erklären. Letztes Jahr traf ich in Italien einen jungen Strassenmaler aus der Slowakei und er erzählte mir, dass in der Ostslowakei viele Filme für das deutsche Fernsehen gedreht würden. Die Produktionsfirmen mieteten für zwei, drei Jahre ganze Fabrikgelände inklusive Gebäude an, die sie dann als Drehorte nutzten. Fabriken, in denen noch gearbeitet werde, würden gedankenlos geschlossen. Für den Fabrikbesitzer spielt es keine Rolle, ein gutes Einkommen für die nächsten Jahre ist ihm sicher, die Fabrikarbeiter gehen aber leer aus. Die Filmcrews heuern nicht nur billige Arbeitskräfte an wie etwa Hilfsarbeiter, sondern auch renommierte Künstler, die für einen lächerlichen Lohn für sie arbeiten. So wurde dort die TV-Serie «Fantagiro» gedreht, die vor zwei Jahren im Fernsehen lief. Der junge Künstler, der die Kunstakademie als hochbegabter Bildhauer abgeschlossen hatte, arbeitete bei einer solchen Produktion als Kulissenmaler und das für einen Drittel des Lohns seines deutschen Kollegen. Wenn die Filme gedreht sind, zieht die ganze Filmcrew weiter und es bleibt nur gähnende Leere der Fabriken zurück und die frühere Arbeit wird nicht mehr aufgenommen. Auch dieser junge Künstler musste gehen. Jetzt verdient er seinen Lebensunterhalt im Sommer als Strassenmaler in einem rege besuchten Ferienort am Meer in Italien und im Winter als Skilehrer in der Hohen Tatra.

Die Ostslowakei ist bekannt als einer der ärmsten Teile unseres Landes, da es sehr wenig Industrie gibt. Früher gab es dort vereinzelt Fabriken, die für die Rüstungsindustrie produzierten, aber auch das ist vorbei. In einem dieser Dörfer besann man sich plötzlich, dass der weltberühmte amerikanische Künstler Andy Warhol ursprünglich Slowake war, und so beschlossen ein paar Kreative, aus dem Kulturhaus ein Museum für ihn einzurichten. Nicht nur in der Hoffnung, dass damit der Tourismus angekurbelt werden würde, sondern auch zur Aufwertung des Selbstbewusstseins dieses Landesteiles. Das Kulturhaus sollte ein personifiziertes Kulturgut manifestieren. Andy Warhol war ein Slowake, einer von uns, auf den wir stolz sind, schaut nur her, welche Söhne unser Land hervorgebracht hat. Und da kommt wieder dieser slowakisch masslose Grössenwahn zum Vorschein, man hat eine Idee, der man folgt und merkt nicht, dass sie nicht richtig durchdacht ist. Und es passiert, was passieren muss, das früher so von Menschen wirklich richtig genutzte Kulturhaus wird ein Museum mit ein paar vergilbten Fotos aus der Familienchronik und ein paar Siebdrucken von Andy Warhol und steht praktisch leer, es kommen keine Scharen von Besuchern und Kunstsüchtigen, weder aus dem eigenen Land, noch aus dem Ausland, es interessiert nämlich niemanden, dass Andy ein Slowake war. Das slowakische Nationalbewusstsein und sein Stolz, wie eine Hure tanzen sie auf allen möglichen und unmöglichen Hochzeiten. Unter dem kommunistischen Regime hätte so ein ketzerischer Gedanke, ein Museum für Andy Warhol zu machen, nie das Licht der Welt erblickt. Für einen Schwulen, ein typisches Produkt der kapitalistischen Welt, der ein provokantes und degeneriertes Leben führt, nie und nimmer. Dem genialen Egomanen und Narzissten Andy ist es sowieso egal, ich glaube nicht, dass er selbst je seine slowakischen Wurzeln erwähnt hat. Es ist eher wahrscheinlich, dass er sie absichtlich vergass. Und ich bin sicher, ihm selber wäre der ursprüngliche Gedanke der Nutzung des Kulturhauses viel näher und sympathischer gewesen, als ein lächerliches Museum, welches ihn ehrt und das niemand besucht.

Und überhaupt, das mit dem Nationalbewusstsein oder der Zugehörigkeit ist eine komische Sache. Obwohl ich schon 51 Jahre in der Schweiz lebe und 35 Jahre Schweizerin bin, im tiefsten Innern fühle ich mich aber immer noch als Slowakin und habe ehrlich gesagt keine Ahnung warum. Ich fühle mich dem Volk sehr nah, obwohl mir dieses Volk in seiner Absurdität vollkommen fremd ist. Als ich eine Ausstellung in meiner Heimatstadt mache, lasse ich einen Prospekt über mich und meine Arbeit vor Ort in slowakischer Sprache drucken. Einen Tag vor der Ausstellung entdecke ich im Text einen makabren Druckfehler, statt – vraciam sa k svojmu «pôvodu» (ich kehre zu meinen Ursprung zurück) steht – vraciam sa k svojmu «podvodu» (ich kehre zu meinem Betrug zurück). Als ich darauf hinweise und beharre, es unbedingt zu korrigieren, sagt mir Kurator Uhel: «Ach was, das merkt doch bei uns keiner und ausserdem ist es im Prinzip sowieso das Gleiche». Pôvod gleich podvod (Ursprung gleich Betrug). Mit Schulterzucken und Phlegma werden gemachte Fehler erklärt und wie schon bekannt, wird durch Akzeptanz das Problem gelöst. Es merkt sowieso niemand und wenn schon, die Bedeutung ist unbedeutend, denn auch das Falsche kann als alternative Möglichkeit wahr und richtig sein. Natürlich weiss ich nicht, soll ich darüber lachen oder weinen und ausserdem habe ich noch ein anderes Problem, in ganz Liptov gibt es nämlich keine Stahlnägel zu kaufen, die ich zum Aufhängen meiner Bilder brauche. Das Leben dort ist nichts anderes als eine Improvisation, aufgebaut auf dem tiefen Glauben «reg dich nicht auf, irgendwie wird es schon gehen» ...




(1) 8. Klasse: ich rechts neben der Lehrerin

8. Klasse: ich rechts neben der Lehrerin

 

(2) Präsidententreffen: ich vorne liegend

Präsidententreffen: ich vorne liegend

 

 

 

Glaubensbekenntnisse
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14.  Glaubensbekenntnisse
Eine slawische Seele tendiert zu Übertreibung, Masslosigkeit und Grössenwahn. Im Kopf und im Blut, in Gedanken und Emotionen, im Kleinen wie auch Grossen, ob es um Liebe, Leidenschaft, Hass und Verachtung, oder um persönliche Macht und Selbstverherrlichung geht. Es spielt keine Rolle, um was es geht, die Grenzen werden gesprengt, alles wird überdimensional, himmlisch, höllisch, schwarz-weiss ohne Grau, ohne Flow, nur grosse Rettungsversuche mit einatmen und ausatmen, mit euphorischen Flügen und schmerzhaftem Fallen, man hört die Knochen, Haut, Nervenbahnen und Synapsen auseinanderbrechen und freut sich, weil sie eine eigene Melodie kreieren, in der das Sammelsurium von Gefühlen und Gedanken in einem persönlichen Drama wirkt, den Raum von innen wie aussen einnimmt und ausdehnt, verblendet, begeistert und in Abhängigkeitswahn treibt. Das ist die Selbstverständlichkeit des Lebens, diese Übertreibungssucht, eine Art des Eskapismus in die ich flüchte, damit das Leben ein wenig Sinn im Unsinn bekommt.
 
Beim Aufbau einer gleichberechtigten Gesellschaft sammelt sich und brodelt die kriminelle Energie, die als Nebenprodukt alles Unmögliche ermöglicht wie Reichtum, Protektion, Betrug, Mobbing, Diebstahl und Korruption. Ich bin noch ahnungslos, auch wenn ich sehe, dass sich meine Mutter nicht traut, zum Zahnarzt zu gehen, bevor sie ihm unter dem Tisch ein paar Geldscheine zugeschoben hat. Und nicht nur dem Zahnarzt. Ich bin noch zu jung, habe keine Ahnung, was Leben ist und sowieso kein Recht, etwas das für Erwachsene üblich und normal ist zu verurteilen. Ich bin Pionierin, Produkt einer Ideologie und glaube an das, was mich die Schule und der Staat lehren. Und das bedingungslos. Mein Gehirn ist gut präpariert, vollgestopft mit Kreationen des Guten, der Gnade und Dankbarkeit für die Möglichkeit, in einem sozialistischen Land zu leben.

Ich bin kein Individuum, keine Einzelperson, aber es stört mich nicht, denn ich weiss noch nicht, was es bedeutet, dass ICH, ich weiss nur, ich bin Teil der Zukunftsgeneration in Mehrzahl, die Masse, auf die man bauen und sich verlassen kann. Was für ein Glaube, denn ja, ich glaube das alles, es ist in meinem Blut und Gehirn eingeimpft. Der Virus hat mich voll und ganz. Was für eine perfekte Täuschung, was für ein Irrtum und was für eine Überraschung, als sich das Leben mir anders offenbart. Die Wirklichkeit, die die Filmleinwand übertrifft ...





Dieser unerschütterliche Glaube. Nicht dass es gut wird, sondern dass es besser wird. Die Schule und die Bildung funktionieren nach diesem Glaubensbekenntnis. Und natürlich nach der Ideologie. Vor und nach dem Unterricht werden Loblieder an die Arbeit gesungen. «Sei gegrüsst, du edle Arbeit, Mutter des Fortschritts». Wir hätten auch aus dem Gebetbuch singen können, «gebenedeit seist du, du edle Arbeit», es wäre wahrscheinlich niemanden aufgefallen.

Einige Jahre trugen wir Mädchen nach sowjetischem Vorbild eine Schuluniform, ein aus dunkelblauem Satin hochgeschlossenes Oberkleid mit weissem Kragen. So waren wir alle gleich. Es gab auch eine feierliche Schulbekleidung, dunkelblauer Faltenrock, weisse Bluse und das Wichtigste, ein rotes Pionierhalstuch. Begehrt waren die Pionierhalstücher aus der Sowjetunion, aus feinster Seide und in einem speziell leuchtenden Rot, das Gegenteil von unseren armseligen, schnell verbleichten Leinenhalstüchern und die russische zerknitterten nämlich nie. Und überhaupt, die Sowjetunion, unser grosser Bruder und unerschütterliches Vorbild.

In allem Ernst, ich bin gläubig und glaube wirklich daran. An das Gute, an den Fortschritt und an den Kommunismus als die einzig richtige Form, in dem Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit des menschlichen Zusammenlebens und des Geistes herrschen. Und natürlich glaube ich an die Diktatur des Proletariats. Warum auch nicht, ich kenne nichts anderes, denn meinen Eltern geht es wirklich besser als in dem Leben, das sie vorher kannten und führten. An der Peripherie unseres Blickes, irgendwo am unsichtbaren Horizont, der eiserne Vorhang, als etwas von dem wir wissen, dass es das gibt, wir aber nicht kennen. Er existiert ganz real und nicht als Fiktion, aber in meiner Fantasie sehe ich eine chinesische Mauer, allerdings aus Eisen, so wie sie jetzt Trump an der Grenze zu Mexiko bauen will, die uns schützt. Vor was, ist mir nicht ganz klar, aber ich stelle mir vor, wie hinter diesem hundert Meter hohen eisernen Zaun ein armes, ausgehungertes und ausgebeutetes Proletariat lebt, demonstriert und kämpft, um solche Lebensbedingungen, wie wir sie hier geniessen zu erreichen und dass es ein Privileg ist, in diesem Land zu leben.

Sogar meine Eltern glauben an den Kommunismus, denn auch ihr Lebensstandard verbessert sich allmählich. Eines Tages beim Weihnachtsessen sagt Vater, der für das Dankesgebet zuständig ist, «es spielt keine Rolle, ob man gläubig oder nicht gläubig ist, ab jetzt hören wir auf zu beten, Jesus war sowieso einer von uns, er war der erste wirkliche Kommunist». Das grosse heilige Bild mit Jesus im blauen Gewand, im Niederknien betend, verlässt die Schlafzimmerwand und wird ersetzt mit einem kolorierten Hochzeitsbild meiner Eltern. Der Hochzeitsstrauss meiner Mutter ist aus Calla-Blumen, später erfahre ich, dass sie eigentlich Friedhofsblumen sind. Somit verselbständigt sich die Erziehung und wir mutieren zu Atheisten. Eine beschlossene Sache, über die nie mehr gesprochen wird.

Wir gehen nicht in die Kirche, die sowieso verboten ist, wir lesen nicht die Bibel und wir beten nicht zu Gott. In der Schule lernen wir, dass die Religion nur der Verblödung und Verdunkelung des Geistes dient, den Menschen seines Willens beraubt und ihn manipuliert. Es ist auch ganz klar, dass keiner von uns Kindern die Konfirmation mitmacht, obwohl es immer noch heimlich üblich ist. Man macht es einfach an einem anderen Ort. Auf der einen Seite ist es sehr reizvoll, wegen des schönen weissen Kleides, in dem die Mädchen wie Bräute aussehen und den Geschenken, die man von der Patin bekommt. Meistens ist es eine Uhr oder mindestens eine Goldkette mit drei Anhängern, Herz, Anker und Kreuz, die christlichen Symbole für Liebe, Glaube und Hoffnung. Vor allem ist eine Konfirmation eine Aufnahme in die Welt der Erwachsenen. Mindestens bei den Protestanten. Alles, was ich über Gott und das Christentum erfahren habe, weiss ich von meinen zwei Grossmüttern.

Ich vergesse nie meinen ersten Kulturschock mit neun Jahren, als ich heimlich in eine katholische Kirche zur ersten Kommunion meines Schulschatzes schleiche. Natürlich fühle ich mich dabei wie eine Verräterin, das ist das eine Ding. Das andere aber, was mich umhaut, ist dass ich beschämend überwältigt von den Ritualen und der Kirche bin. Ich sehe und erlebe zum ersten Mal dieses monumentale und wunderschöne kirchliche Innenleben, welches sich mir durch Gold, Bilder, Heiligenstatuen, Reliquien, Weihrauch und Gewänder der Priester wie aus Tausendundeiner Nacht auf einer Theaterbühne offenbart. Da windet, wuchert und lebt alles, die barocken Säulen, die runde Kuppel, aus der Lichtstrahlen auf den Altar fallen, die Sitzbänke, die dicken Engel und leidenden Märtyrer, Maria und Jesus am Kreuz, dies alles in einer mir nie gekannten Ekstase, Schönheit und einer Lebendigkeit raubt mir den Atem. Die sparsame, mystische Beleuchtung, die vielen Kerzen, die dröhnende Orgelmusik und der wunderschöne Gesang, die sich in die Länge ziehende Stimme des Dekans beim Lesen der Predigt und der, mit einem fantastischen, violetten Gewand bekleidet, durch den Gang schreitet und die Messe auf Latein zelebriert. Dann die Ministranten und natürlich die Gläubigen. Das ist mehr als ein Traum, das ist eine mir unbekannte und entsagte Wirklichkeit, die ausserhalb meiner Vorstellung existiert. Das ist bombastisch, das ist zu viel. Ich sehe und höre diesen unvorstellbar ungerecht verteilten Reichtum an Kreationen, Visionen, symbolischen Handlungen und Gedankengut einer mir total verbotener Welt. Und noch etwas wird mir bewusst, nämlich dass wir Protestanten auch im Glauben zu den Armen gehören.

Wir haben nichts, nur den Kommunismus, der uns statt Gebote Verbote aufdrängt und uns sogar aller zuckersüssen Illusionen beraubt. Ich bin, wie ich kürzlich erfahren habe, Protestantin, weil ich fünf Tage nach meiner Geburt – also noch rasch vor meinem wahrscheinlichen Tod – in einer protestantischen Kirche von Pfarrer Ján Cajka, der schon meine Mutter getauft hat, das Sakrament erhielt. Diese meine erste, alte Kirche ist zwar mit Bildern behängt, aber das ist kein Vergleich, es sind keine ikonografische Bilder, sondern nur Pflanzen- und Figurenbilder, auf denen die Gewänder der Bürger und der Adligen des 17. und 18. Jahrhunderts zu sehen sind.

Ich besuche nach diesem Kulturschock dann später auch heimlich die protestantische Kirche an diesem neuen Ort, ich will sehen und vergleichen und erlebe einen zweiten Schock. Unsere Kirche ist kahl und kalt, nur mit weissem Kalk gestrichen, ohne Bilder, ohne farbige Fenster, die warmes Sonnenlicht in Regenbogenstrahlen verwandeln und den Raum erwärmen, nur ein Kreuz über dem einfachen Tischaltar, sogar ohne Jesus, das ist einfach zu viel. Jedes Kreuz muss doch einen Jesus haben! Nicht einmal für den reichte es. Der Pfarrer trägt immer das gleiche, lange, schwarze Kleid mit einem weissen, schmalen Streifen um den Hals, als wären wir auf einem ewigen Begräbnis und ständig im Trauer. Die Predigt slowakisch, kein lateinisches geheimnisvolles Gemurmel und keine Zauberformeln. Alles auf das Minimum reduziert, es hat keinen Platz für Bildersprache, Symbolik und Visionen, keinen Platz für Wunschdenken, nichts, was beflügelt und die Seele tröstet. Das einzige, was den Kirchenraum füllt, ist die Hoffnung und das Bitten darum, «das Leben wie es ist, zu ertragen». Trotzdem erscheint mir das Leben nicht als Geschenk, sondern als reine Zumutung. Da ist es endgültig mit der Religion vorbei. Denn die Welt hat mehr zu bieten, sie ist eine Wundertüte voller Versprechungen und Möglichkeiten, die mir zustehen und um die ich nicht bitten muss. Ich muss nur diesen Versprechungen folgen, denn ich bin die, die die Macht hat, alles zu verändern. Und das tue ich, folge Versprechungen und verliere die Selbstbestimmung.

Zu viel Bescheidenheit, zu viel Askese, zu viel Armut und zu viel Scham. Deswegen. Mir geht durch den Kopf, dass wir seit Ewigkeit zu denen gehören, die aus der Not eine Tugend machen. Durch Verzicht und Akzeptanz versuchen wir die Seele von Neid und Hass zu befreien und sie mit Nächstenliebe zu füllen. Das nutzt aber gar nichts, denn in diesem Moment und in dieser Kirche ist das neunjährige Mädchen so neidisch, verletzt und entsetzt, dass es wehtut. Im Gegenteil, diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, die ihr so bewusst wird, «sogar in unserem Glaubensbekenntnis zu denen zu gehören, die nichts haben und nie was haben werden», das wollte ich meiner Familie nicht verzeihen. Ich gehöre zum Proletariat, zur Arbeiterklasse, zu den Armen, auch wenn in der Aussenwelt, in der ich lebe, dieser Status «Arbeiterkind» hochgeschätzt wird, es ist ein illusorisches Privileg. Die Welt des Lernens steht mir offen, die Kirchen sind mir verschlossen. In diesem Moment aber, in dieser katholischen Kirche, ist mir dieses Privileg keinen Rappen wert, eher beschämend. Ich will eine pompöse Kirche und ein weisses langes Kleid, mit einer Krone aus weissen Blumen auf dem Haar und einer goldigen Kette mit Herz um den Hals. Ich will eine Weltsprache hören, die anders ist als die, welche wir in der Schule lernen, die so anders, melodisch, in die Länge gezogen die Kuppel berührt und wie der Engelsflügelschlag sanft auf die gebeugte Rücken der Betenden fällt und ihnen die Antworten in den Mund legt. Ich will den versprochenen Gottessegen!

Freundschaften
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15.  Freundschaften

Man sagt, dass man im hohen Alter nur aus und in Erinnerungen weiterlebt. Es ist eine Wahrheit, fürchterlich und bedrohlich, wenn das Alter aus Erinnerungen nicht die schönsten und glücklichsten Momente, sondern die schlimmsten Erfahrungen und Entscheidungen herausfiltert, die man im Leben getroffen hat und die jetzt Nacht für Nacht an der Bettkante sitzen und Gespräche führen wollen. Es bedeutet nicht, dass man irgendwelche schweren und verdrängten kriminellen Energien und Taten in der Vergangenheit begangen hat, sondern nur, dass man wenige schöne und glückliche Erinnerungen hat, die jetzt wie Zusatzfragen auftauchen: Was wäre wenn; wenn ich das gesagt hätte, wenn ich das entschieden hätte, wenn ich das gemacht hätte. Diese Fragen vermehren sich wie die Motten, sie holen sich aus meinem gelebten Tagebuch nur das Unfassbare, vielleicht Gedachte, aber nie Ausgesprochene. Es sind die Zwischenräume unter geschriebenen Sätzen, die als alternative Fakten in Erscheinung treten und sich als Begriffe – Gewissen, Scham und Schuld – zu erkennen geben! Sie sind nicht auszuhalten und immer mehr frage ich mich, wie zum Teufel habe ich gelebt und überlebt, war ich je glücklich, wurde ich je geliebt? Das ist die Hölle auf Erden, das ist die Alterswirklichkeit. Ich schleppe sie wie einen Berg den ganzen Körper entlang, diese Fassungslosigkeit der verpassten Möglichkeiten, gesammelt wie ein Messie unterwegs zum Glücklichsein.





Die Schule ist für mich ein guter und begnadeter Ort, die elterliche Abwesenheit zu Hause erlaubt mir, das zu machen, «was ich will», es gibt keine Kontrolle, solange ich das mir von den Eltern auferlegte Tagesprogramm erledige. Das heisst, Schulaufgaben machen, Tiere füttern, Wohnung in Ordnung halten, auf beide Brüder aufpassen, Einkaufen, Abendessen kochen und all solche Kleinigkeiten, die erledigt sein müssen, solange Mutter im Spital liegt. Ich bin neun Jahre alt und bereit. Ich bin sportlich, mache aktiv und wettbewerbsmässig bei Sportgymnastik und Leichtathletik mit, spiele Theater, im Pionierhaus besuche ich Astronomie- und Mineralogiekurse, nutze die Bibliothek und ausserdem, als Luxushobby, besuche ich jeden Samstag die Volks-Kunstschule und absolviere einen Mal- und Zeichenkurs, der nicht gratis ist. Aber erstaunlicherweise zahlen meine Eltern ohne Widerstand, trotz aller Sparmassnahmen, die sie sich auferlegt haben. Erst viele Jahre später wird mir bewusst, was es für sie und für mich bedeutete.

Zudem bin ich eine aktive und vorbildliche Pionierin, werde oft in der Schule freigestellt, um an Samstagen im Rathaus die Neugeborenen oder Hochzeitspaare mit Gedicht-Rezitationen herzlich willkommen zu heissen. In der achten Klasse werde ich als beste Schülerin ausgewählt, mit einigen anderen «besten» slowakischen Schülern aus der Region in die Tschechien zu fahren, um an einer Begegnung mit unserem damaligen Präsidenten Novotny*15) teilzunehmen. In der neunten Klasse trage ich nicht mehr die Pionier-Uniform, sondern das blaue Hemd des Komsomol*16), was eine Hierarchiestufe höher auf dem Weg zur Kommunistin bedeutet. Werde unerwartet zur Chefin von mehr als tausend Pionieren der Region gewählt und nehme ihnen feierlich das Versprechen ab, gehorsam und im Dienst der Regierung «für immer bereit zu sein», dies an der jährlich abgehaltenen grossen Feier am Soldatendenkmal Nicovo. Ausserdem führe ich einen Sommer lang ein Pionier-Zeltlager in der Niedrigen Tatra. Ich werde von allen gestützt und unterstützt, als wäre ich ein Garant für ein Versprechen, welches die Erwachsenen irgendwann gemacht haben.

Mit 15, als ich in Bratislava die Kunstgewerbeschule besuche, steige ich aus diesem Zirkel aus. Manchmal, bei nostalgischen Anwandlungen, frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wäre ich zu Hause in Liptov geblieben. Schon in der zweiten Klasse habe ich meine «beste Freundin Hanka» gefunden, die meiner Mutter gefallen, aber auch nicht gefallen hat. Hanka ist eine kleine, zerbrechliche Prinzessin, sie ist nicht nur schön und gescheit, sondern künstlerisch begabt, sie hat Talent und ist mit der Aura eines vornehmen Hauses umgeben. Und ich, das Arbeiterkind, bin vernarrt in sie, bewundere und beneide sie, aber mein Neid bezieht sich vor allem auf ihre wunderschöne Mutter. Sie wohnen in einem schönen, grossen Haus mit Marmorboden, im Sommer an genehm kühl, im Winter warm, es hat ein richtiges WC mit Spülkasten, ein Badezimmer und Hanka besitzt nicht nur einen eigenen Schreibtisch, sondern auch ein eigenes Zimmer! Hankas Mutter ist die schönste und aufmerksamste Mutter der Welt. Sie muss nicht arbeiten und es umgibt sie etwas Anrüchiges, denn sie hat einen offiziellen Freund, einen Liebhaber, den Künstler Mociliak, der uns an der Kunstvolksschule unterrichtet. Ihr Vater, Forstwirtschaftsingenieur, der fast nie zu Hause ist, erlaubt es. Natürlich wird überall darüber getuschelt, aber Hankas Mutter berührt es nicht, sie steht dazu wie eine Königin, ist unverletzbar und souverän.

Mein Respekt und meine Bewunderung gehören ihr, so dass ich mir heimlich wünsche, sie wäre meine Mutter. Sie ist es, die mir sagt, du bist gut so wie du bist, sie ist es, die mich überzeugt, mich künstlerisch zu bilden, sie ist es, die uns beide, mich und Hanka, zu Mociliak in die Ausbildung schickt und die uns auf die Prüfung für die Kunstgewerbeschule in Bratislava vorbereitet und motiviert und sie ist die, die mich immer Blazenka nennt. Es geschieht etwas Unvorhergesehenes, Hanka entscheidet sich im letzten Moment, nicht zur Prüfung zu gehen, sie will zu Hause bei ihrer Mutter bleiben, sie traut sich nicht, sie zu verlassen. Als Hanka ihren zwölften Geburtstag feiert, pflanzt ihre Mutter zwei Birken im Garten, eine für sie und die andere für mich! Als ich dann nach vielen Jahren auf der Suche nach Hanka bin, orientiere ich mich im Dorf nach grossen Birken, und tatsächlich, ich finde es aber nicht so vor, wie ich es mir vorgestellt habe. In Hankas Haus wohnen fremde Menschen, die es gekauft haben und im Garten steht nur eine einzige, grossgewachsene, aber einsame Birke. Mein erster Gedanke ist, durch die Emigration ausgerissen, bin ich hier gemeint, oder ist es die Hanka, die womöglich nicht mehr am Leben ist?

Meine zweitbeste Freundin ist Ruzena, eine Tschechin, mit der ich Abend für Abend in der Turnhalle Sportgymnastik trainiere, da wir unsere Region wettbewerbsmässig an Sportveranstaltungen vertreten. Ruzena ist klein, aber sehr lustig und ich liebe sie, weil sie so herrlich unbekümmert durch die Welt geht. Ich habe natürlich noch andere Schulfreundinnen, aber es gibt nur wenige, an die ich mich erinnern kann. Da ist Daniela, ein hübsches, pummeliges Mädchen, das man gerne knuddeln möchte, mit dicken Zöpfen und eingeflochtenen farbigen Schleifen, immer perfekt angezogen, immer korrekt, was die Aussprache betrifft, bis auf den Tag, als ich sie nur in Strumpfhosen frühmorgens weinend in der Schule antreffe, ihre Eltern, beide Ärzte im Spital, wollen sich scheiden lassen. Sie ist intelligent und politisch als einzige der Klasse auf dem Laufenden, sie kennt sich wahrscheinlich durchs Zuhören der Elterngespräche gut aus. Ich erinnere mich, wie sie weint, als Kennedy 1963 erschossen wird und wie sie vor Angst zittert, weil ein gewisser Johnson der nächste amerikanische Präsident sein soll. Als ich fragte, was ist an ihm so schlimm, «weil er kein schöner Mann ist, nur schöne Menschen sind gut, schau dir doch den Kennedy an!» Mir wird durch sie bewusst, dass eine andere Welt, von der ich keine Ahnung habe, existiert. Daniela ist die ganze Schulzeit eher scheu und zurückhaltend, nicht unbedingt unbeschwert kommunikativ, wie halt Einzelkinder aus besseren Häusern manchmal sind, sie erscheint uns gezwungenermassen abgehoben und elitär, das heisst als Freundin unerreichbar. Und sie hat auch keine Freundinnen. Später wird sie eine bekannte Fernsehansagerin.

Vierka, auch ein Arbeiterkind, ihre Mutter eine Witwe mit sechs Kindern, hat es nicht leicht, obwohl sie im eigenen Haus wohnen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir enge Freundinnen waren, obwohl ich oft mit ihr gespielt habe, in meinem Gedächtnis hat sich aber etwas intensiv eingeprägt, nämlich dass ich durch ihren Schulaufsatz meine Freude und mein Talent am Schreiben in Frage gestellt habe. Es war ein Aufsatz über einen Winterspaziergang, ich weiss bis heute nicht, ob sie ihn selber schrieb, ob er wirklich von ihr stammte, sie war nie als speziell sprachbegabt aufgefallen, aber dieser Aufsatz war genial, ich sehe noch jetzt die Bilder vor mir, die, angeregt durch die Beschreibung vor meinem inneren Auge entstanden und geblieben sind, so wollte ich auch einmal schreiben können. Ich habe vergessen, was sie heute beruflich macht, aber eine Journalistin oder Schriftstellerin ist sie nicht geworden. Als ich sie einmal treffe, erzähle ich ihr, wie beeindruckt ich von diesem Aufsatz bin, aber sie kann sich an ihn überhaupt nicht erinnern. Zuzka, ein anderes, speziell hübsches Kind, mit schwarzen, langen Haaren und einem auffällig grossen schwarzen Muttermal über der rechten Augenbraue, sie hat etwas zigeunerhaftes an sich. Sie beschliesst plötzlich, auch an die Kunstgewerbeschule zu gehen, obwohl sie die ganze Schulzeit nie Interesse am Zeichnen gezeigt hat. Keine Ahnung woher sie die Idee hatte, aber schlussendlich wurde sie Krankenschwester.

Und dann ist hier Jana aus der Parallelklasse, sie ist so etwas wie meine Konkurrentin, vor allem was Rezitation-Wettbewerb betrifft. Sie ist etwas pummelig, bekommt als erste einen richtigen Busen, hat schwarzes, struppiges Haar, ist unsportlich und zudem ständig verschnupft, dafür aber ehrgeizig, will die Beste sein. Ich begegne Jana 30 Jahre später, sie kommt zu meiner Vernissage und stellt sich als Frau Doktor vor, vom Doktor sowieso. Ihre Erscheinung ist klischeehaft perfekt, gefärbtes blondes Haar, knallrote Lippen, behängt mit goldigen Ketten und Armreifen, im weissen Armani Kostüm und wird begleitet von zwei fast erwachsenen Söhnen. Ich bin überrascht, freue mich sie zu sehen und frage mich, womit ich diesen Besuch verdient habe. Ich erfahre es sehr schnell durch einen einzigen Satz, den sie mir sagt: «Weisst du, ich habe mir Zeit gelassen, den richtigen Mann zu bekommen und mich nicht auf den ersten geschmissen, der sich für mich interessiert hat». Wow, da stehe ich etwas blöd da, ich weiss nicht, was sie über mich und mein Leben weiss, aber eines weiss ich, sie kam nur, um mir diesen einen Satz zu sagen und dieser Satz sitzt und ihr Ziel, mich zu treffen hat sie erreicht. Es wirkt. Sie erzählt mir, dass sie eine Ausbildung als Architektin absolviert hat, später einen reichen Juden geheiratet, Kinder bekommen und nie mehr auf ihrem Beruf gearbeitet hat. Sie prahlt mit exklusiven Reisen, die sie schon gemacht hat und die sie noch vor hat zu machen, sie prahlt mit ihren Söhnen und dem tollen Leben, das sie führt, aber mit keinem einzigen Wort fragt sie mich, was machst du, wie geht es dir, wie war dein Leben, sie ist 54 Jahre alt und schon in Pension, wie alle anderen Frauen in dem Alter in der Slowakei. Mir stehen noch zehn Jahre Arbeit bevor und ich bekomme Lust, ihr in das perfekt geschminkte Gesicht zu schlagen.

Die Jungs aus der Schulzeit haben keinen Platz in meiner Erinnerung, sie waren in dieser Zeit für mich nicht so wichtig, aber an einen, den wir Málaga nannten, kann ich mich erinnern. Er ist schon damals als Alkoholiker bekannt, trinkt sehr früh diesen billigen Fusel und ab und zu erscheint er angetrunken in der Schule. Dann ist es irgendwie lustig, es verjagt ihn fast vor Lachen, wenn der Musiklehrer seine Geige herausholt und uns Klassik vorspielt, um zu zeigen, wie schön das ist. Für den angeheiterten Málaga ist diese Fidlerei ein Grund zum grölen, was den Lehrer aus der Fassung bringt, so dass er wie von Sinnen mit dem Geigenbogen zuschlägt, manchmal trifft er, manchmal nicht, einige Bogen und musikalische Erziehung zerbrechen so an Málagas Rücken, es sind eben Zeiten, wo das Schlagen der Schüler noch üblich ist und abgesehen davon, für uns alle anderen ist es einfach lustig, da es ein unterhaltende Wert hat. Málaga stirbt an einer Alkoholvergiftung, nicht einmal zwanzig Jahre alt.

Und endlich, Igor, meine erste Liebe. Er ist schlank, hat etwas längeres Haar, schöne Zähne, ein wunderschönes Lächeln und er kann genau wie ich, nicht singen. Er hat noch einen Bruder, der eine Klasse höher ist, die auch mein Bruder besucht. Die Mutter ist Witwe und Lehrerin, sie leitet die Schulkantine und betreut am Nachmittag Kinder, deren Eltern den ganzen Tag arbeiten. Sie wohnen auch im eigenen Haus. Jetzt fällt mir auf, wie mich das immer beeindruckt, Familien mit eigenem Haus, wahrscheinlich, weil es ein Traum meiner Eltern war. Igor ist ein guter Schüler und geschwätzig wie ich, weswegen unsere Lehrerin uns beide in die erste Schulbank verdammt, um uns besser unter Aufsicht zu haben, damit wir den Unterricht weniger stören. Natürlich gehören wir nicht dorthin, die ersten Schulbänke sind meistens für die schlechten Schüler reserviert, doch durch diese Ungerechtigkeit sind wir heimlich verbunden. Ich bin verliebt und freue mich tagtäglich nicht nur wegen der Bücher, sondern auch wegen ihm, in die Schule zu kommen.

So vergehen drei Jahre einer wunderbaren Spannung und Erwartung und eines Tages, nicht zu glauben, bekomme ich tatsächlich einen Zettel von ihm, er möchte sich mit mir treffen. Treffpunkt ein hohler Weidenbaum in der Nähe, wo ich wohne. Ich bin sehr aufgeregt, kleide mich sorgfältig an, wasche mein Haar, putze die Fingernägel, die Zähne und die Füsse und mit pochendem Herzen warte ich oben in der Weide. Ja er kommt, klettert zu mir hoch und als erstes sagt er: «Ich wollte nur wissen, was die Hanka, deine beste Freundin, über mich denkt!» Ach du heiliger Bimbam, der Himmel stürzt auf mich zu, die Weide zerbricht entzwei, ich falle zum ersten Mal, ohne den Boden zu erreichen, es ist Hanka, nicht ich, die ihn interessiert und gegen Hanka, nein, gegen Hanka habe ich keine Chance! Hanka ist ein Hammer, sie hat alles, was ich nicht habe, sie ist alles, was ich nicht bin. Als Igor kurz danach geht, bleibe ich dort noch lange sitzen, erstarrt, atemlos, mein Herz ganz still, spüre die Füsse ohne Statik nicht und noch weniger die verblendeten Augen ohne Wasser, etwas in mir ist zerbrochen, hat mich gezeichnet und ich spüre es genau, wie ein Teil in mir langsam stirbt und für ein Moment das ganze Universum stehen bleibt. Und trotz allem, Igor ist und bleibt meine «unendliche Liebes-Geschichte», taucht einige Male in meinem Leben auf und verschwindet weiterhin nach Hanka lechzend und suchend.

In der siebten Klasse ziehen wir in ein neues Schulgebäude um, bekommen zwei neue junge Lehrerinnen und spannende Fächer wie Chemie, Physik, mit einem richtigen Labor für Experimente dazu, wir lernen in Handwerksstunden auch praktische Dinge wie Sägen, Hobeln, elektrische Geräte reparieren etc. und das von einem coolen Lehrer, der nur eine Hand hat. Es ist eine herrliche Zeit, in der Igor untergeht und das ist gut. Ich verliebe mich dann fortwährend immer von neuem, erstaunt, wie mir plötzlich ein Junge, den ich schon seit Ewigkeiten kenne, plötzlich in einem neuen, mir unbekannten Licht erscheint, das zwar schnell erlischt, aber dieses Aufleuchten ist so etwas Spontanes und Unerwartetes, das man nie vergisst und im Lauf des Lebens vermisst, weil man nie mehr erlebt, wie eine Person aus dem Nichts plötzlich zu einem wunderschönen, unbekannten Wesen wird, das man lieben will. Hanka habe ich natürlich nicht erzählt, dass sie für Igor dieses Wesen ist, nicht aus Eifersucht, denn ich verstand, Hanka muss man lieben, ich liebte sie schliesslich auch, ich verschwieg es aus Angst, sie zu verlieren.

Ich weiss, man kann sich fragen, was haben all diese Schulkollegen und Kolleginnen in meiner Biografie zu suchen, sie waren doch nur Nebenfiguren, Statisten, aber ohne diese Wegbegleiter wäre ich nicht die, die ich heute bin. Sie haben mich geprägt und wachgerüttelt, belehrt und beeindruckt – wegen ihrer Schönheit, ihrem Wissen oder Talent, sie waren ein wichtiger Teil meines Lebens, manche mehr, manche weniger. Sie sind heute die Füller meiner Erinnerung, sie ergänzen meine Geschichte, oder sie erzählen mir eine ganz neue, und machen mir ihre Wichtigkeit bewusst.


 
Eingesperrt und entsperrt
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16.  Eingesperrt und entsperrt

Eine junge Frau bittet mich, sie vor dem grossen Engel zu fotografieren, aber so, dass sie und er ganz sichtbar sind. In ihrem Arm ein grosser Strauss mit Rosen. Nach dem Foto schenkt sie mir eine, «als Dank für die Chance, ein neues Leben beginnen zu dürfen», wie sie sagt. Ich bin neugierig und bitte sie, mir dies etwas näher zu erläutern. Und weil sie sehr mitteilungsbedürftig ist, erzählt sie: «Samstagnacht fuhr ich im Üetliberg-Tunnel voll in die Tunnelwand (Sekundenschlaf) und erwachte erst im Spital, aus dem ich gerade entlassen worden bin. Unversehrt und gesund. Mir ist Gott sei Dank nichts passiert, ich hatte einen Schutzengel an meiner Seite und Glück, dass keine weiteren Autos unterwegs waren.» Sie strahlt, lacht und tanzt. «Und jetzt feiern sie ausgerechnet hier auf dem Friedhof?», frage ich. «Ja schon, aber nicht absichtlich, es ist Zufall, ich dachte, es wäre ein Park!» Aber wie sind Sie überhaupt hierhergekommen? «Ich habe mir um die Ecke eine Wohnung angeschaut, da ich aus Deutschland nach Zürich umziehen will», und ich denke mir, wieso eigentlich nicht ein Friedhof, es gibt keinen besseren Ort, die eigene Wiedergeburt zu feiern und eine Wohnung zu beziehen...




Ich war ständig mit etwas beschäftigt, hatte keine Zeit, mich in pubertären Ausbrüchen und Unsicherheiten zu verlieren, die Eltern mussten sich keine Sorgen machen. Mit dem Umzug an den neuen Wohnort war ich gezwungen, die Schule zu wechseln und die neunte Abschlussklasse am Gymnasium Liptovský Mikuláš zu absolvieren. Alles ist anders, ich bin fremd, kenne niemanden und weiss nicht, wie die Lehrer und die Schüler funktionieren, ich habe keine Freunde und bin nicht willkommen.
 
Unsere Eigentumswohnung, schwer erspart und erarbeitet*17) sowie ersehnt, wird zum Paradies. Drei Zimmer mit einer sogenannten individuellen Zentralheizung (in der Wohnstube werden die Radiatoren durch einen kleinen Ofen beheizt), Parkettboden, die Küche mit eingebautem elektrischem Herd und fliessendem Wasser. Die Mutter überglücklich, streicht die Wände in der Küche lindengrün, in der Stube rollt sie einen Perserteppich aus, im Hintergrund läuft nonstop das staatliche Tesla-Radio, das in allen Haushalten automatisch installiert ist, man kann es nicht ausschalten, wir alle hören die gleiche Musik, die gleichen Nachrichten und das gleiche Kulturangebot, Fernsehen gibt es erst drei Jahre später. An den Abenden hört Mutter in der Küche in der Dunkelheit Theaterstücke, ihre kleine Welt ist perfekt. Vor dem Haus ein kleiner Blumengarten, hinter dem Haus zehn Quadratmeter Gemüseparzelle, die intensiv zur Selbstversorgung genutzt wird. Jeden Samstag steht die ganze Familie ab vier Uhr morgens abwechslungsweise (Schichtwechsel) vor der Metzgerei, um etwas Fleisch fürs Wochenende zu ergattern. Das obligatorische Schlangenstehen findet aber auch vor der Molkerei und Bäckerei statt, man gewöhnt sich dran und freut sich, wenn man das bekommen hat, was man wollte, vorausgesetzt, es gab es als Ware überhaupt. Es braucht sehr wenig, um das Volk glücklich zu machen, so einfach funktioniert die Welt. Wahrscheinlich bin ich auch im Gymnasium eine gute Schülerin, ich absolviere die neunte Klasse mit Auszeichnung und ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie ich es geschafft habe.
 
In dieser Zeit spricht mich meine Mutter zum ersten Mal auf unsere Mutter-Tochter-Beziehung an. Sie wirft mir vor, dass ich nicht wie alle anderen Töchter bin, dass ich sie nicht umarme, ihr nichts erzähle, sie nicht in mein Vertrauen einbeziehe, dass ich sie ablehne und vor allem, dass ich keine Dankbarkeit kenne. Ich bin sprachlos und mehr erschrocken als überrascht, woher kommt diese plötzliche Sehnsucht nach einer Mutter-Tochter-Beziehung, diese Liebesanwandlung und die Forderung, ich solle eine liebevolle Tochter sein? Es war doch okay so wie es war. In all den Jahren, immer mir selbst überlassen und ohne, dass ich etwas anderes kenne, nicht die Zuwendung und nicht die Mutter, die wie andere Mütter für ihr Kind da ist, nur in den Kleidern, die sie für mich näht und mich wie eine Puppe, die sie nie hatte, einkleidet. Sie zeigt mir nicht, wie sich Liebe anfühlt, sie umarmt mich nicht, sie streichelt mich nicht, sie schimpft und schlägt mich nie, und trotzdem weiss ich nicht, wie Liebe schmeckt und riecht, sie gibt mir keine richtungsweisenden Ratschläge und klärt mich nicht auf, auch hier muss Vater einspringen und mir, dem neunjährigen Mädchen, erklären, dass alles OK ist, als ich mich wegen Bauchschmerzen kugelrund krümme und das Blut meine Oberschenkel runterläuft und ich vor Angst gelähmt mir einrede, dass ich sterben muss, oder noch schlimmer, dass ich schwanger bin. Es ist der Vater, der peinlich berührt und beschämt mich beruhigt und erklärt, dass es nicht so ist, dass ich nur «Besuch»*18) bekommen habe, dass es ganz normal ist und ich nur einen Schritt von einer richtigen Frau entfernt bin.
 
Davon hat meine Mutter keine Ahnung, oder sie will es einfach nicht wissen. Total überfordert versuche ich mich zu wehren, indem ich sie schuldig spreche. Ich weiss, es ist nicht richtig, aber wie soll ich dieses Gefühlsmanko ihr gegenüber mir selbst erklären? «Wie soll ich sie umarmen, wenn sie es nicht tst und nie getan hat, wie soll ich ihr sagen, dass ich sie liebe, wo sie es mir selbst nie sagt und all das, was sie von mir erwartet, nicht kenne, wie soll ich ihr etwas anvertrauen, wenn sie gegen mich bist?» Ich bin 15 und Mutter 39. Es ist das erste Mal, dass wir versuchen darüber zu sprechen, es fühlt sich alles so falsch an, wie ein unreifes Bühnenstück, in dem wir uns gegenseitig die Vorwurfskataloge zuwerfen, umarmen können wir uns trotzdem nicht. Wir beide kennen die Streitkultur nicht, wie sie meine Enkelin mit ihrer Mutter pflegt, ohne Angst zu haben, dass die Liebe zwischen ihnen verschwindet. Ich bin sicher, solche Streitgespräche sind Reinigungsrituale, dort entsteht das Vertrauen, ich kann dir alles sagen und du verstösst mich nicht, weil ich deine Tochter bin und du meine Mutter bist. Eigentlich ist unsere Beziehung eine Tragödie, die ich aber damals in meinem rasenden Entwicklungsprozess nicht so empfinde und dass es eine nachhaltige Wirkung auf mein Leben hat, wird mir erst viel später bewusst, als ich das Alter, das sie selber erlebt hat, längst überschritten habe. Wir kennen uns nicht, sind uns das Leben lang fremd geblieben, pflegen aber Respekt voreinander und halten uns auf Distanz. Manchmal habe ich den Verdacht, dass meine Mutter heimlich stolz auf mich ist, zugleich aber Angst vor mir hat, weil sie sich mir nicht gewachsen fühlt, diesem gesunden, sportlichen, selbstständigen und selbstbewussten kleinen Monster, diesem Kind, das sie nicht braucht. Vor allem hat sie Angst, dass ich etwas falsch mache und damit nicht nur mich, sondern auch die ganze Familie und den Vater blamiere und verärgere.
 
Aber ich habe ja alles, was ich brauche, ich habe Hanka und ihre Mutter Atka. Gemeinsam bereiten wir uns auf die Aufnahmeprüfung für die Kunstgewerbeschule in Bratislava vor. 700 Kilometer von zu Hause entfernt und ich will dahin. Weg von dem Mittelmass und der Begrenztheit, weg von der Familie und der Stadt, in der ich niemanden kenne, ich will in die Weite ohne Ende und in eine andere Wirklichkeit, in der die Wörter «sparen» und «arm» aus dem Vokabular gestrichen sind. Dass ich etwas, das mit Kunst zu tun hat studieren will, ist bei mir schon ab dem ersten Wort, das ich aussprechen kann, klar. Ich weiss es und meine Familie auch, so bin ich frei von Nachdenken und überlegen, was ich so studieren könnte, denn dass ich studieren muss, ist unbestritten. Es ist eine vorgegebene Verpflichtung meiner Familie gegenüber, weil ich als Einzige gute Voraussetzungen mitbringe und Lust dazu habe. Mein älterer Bruder ist kein Freund des Lernens, eingehüllt in Schweigen flieht er in seine Einsamkeit, die er nach Aussen als absolute Verweigerung manifestiert. Für ihn ist es auch die einzige Möglichkeit, sich von seiner «gescheiten» Schwester zu distanzieren, weil sie nervt und sie ihm ständig als gutes Beispiel von seinem Klassenlehrer vorgeführt wird. Später, als ich dann weg bin, macht er die Abendmatura und fängt ein Studium an der technischen Hochschule an. Für den jüngeren Bruder Dušan, der sich mit seinem blinden Auge als leicht Behinderter die Liebe der Mutter noch mehr sichert, hat man noch keine grossen beruflichen Zukunftspläne, weil man auch entdeckt hat, dass er sich mit seinen zehn Jahren heimlich mit Alkohol betäubt und langsam, aber sicher zum Alkoholiker hochtrinkt.
 
Dass es gerade Kunst sein muss, will eigentlich niemand so recht akzeptieren. Nach dem Wunsch meiner Mutter soll ich Ärztin, Krankenschwester oder mindestens Lehrerin werden, mit dem Hintergedanken, bessere Chancen zu haben, um einen Doktor zu heiraten. Trotzdem haben mir die Eltern erlaubt, dass ich an die Prüfung gehen darf, sie hoffen insgeheim, dass ich sie nicht bestehe und dann den Weg, den sie sich für mich ausgedacht haben, ohne Widerstand gehen werde. Die Einzige, die nicht sicher ist, ob sie wirklich Talent hat, bin ich. Gesundes Selbstvertrauen und Mut habe ich. Auch ohne Hanka, die mich einen Tag vor der Abreise im Stich lässt, sie weigert sich mitzukommen, die grosse Entfernung ängstigt sie, sie will lieber bei der Mutter bleiben. Was mich selbst nicht abschreckt oder hindert, irgendwie verstehe ich sie, man verlässt nicht das Beste, das man hat. Die Prüfung besteht aus zwei Teilen, zuerst ist es das praktische perspektivische Zeichnen, abstraktes Vorstellungsvermögen, Farbenlehre und Komposition. Wir sind 800 Bewerber, davon werden 120 später zur weiteren theoretischen Prüfung (Sprache, Chemie, politische Ökonomie und Russisch) eingeladen und von diesen 120 Bewerbern bleiben nur 60, die auf Fachklassen wie Grafik, Dekoration/Bühnenbild, Fotografie, Textil, Steinhauerei und Keramik aufgeteilt werden. Ich komme in die Fachklasse Fotografie, ohne eine Fotokamera zu besitzen und je ein Foto vorher gemacht zu haben. Ich muss mich managen und das nicht nur organisatorisch, muss planen, die Zeit einteilen und schauen, wie ich es finanziell bewältigen will. Anstelle von Ferien arbeite ich während der Schulausbildung den ganzen Sommer lang, um mir das Geld für die Fotoausrüstung und alles Notwendige, das ich zur Ausbildung benötige zu verdienen.
 
Heute wundere ich mich im Nachhinein, wie dieses Studium für mich überhaupt möglich war, denn wie ich schon erwähnt habe, Geld war praktisch keines vorhanden. Die Ausbildung war gratis, aber das Internat und die Schulbücher mussten bezahlt werden. Als gute Schülerin bekomme ich zwar ein Stipendium, das reicht aber nicht, der Rest geht auf das Konto meiner Eltern und meiner Ferien. Schon als Schülerin finde ich einen Sommerjob, um die Eltern zu entlasten. Hankas Vater vermittelt uns beide zwei Sommer lang als Strassenarbeiterinnen ans Strassenamt, wir müssen die Erde um die Kirschbäume, die entlang der Strassen gepflanzt waren im Halbkreis auflockern und von Unkraut befreien, ein Jahr später sind wir hoch in den Bergen damit beschäftigt Wanderwege abzusichern und sie zu putzen und einen Sommer lang verkaufe ich am Bahnhofstand Gemüse.
 
Erst als Studentin der Kunstgewerbeschule finde ich spannende Jobs, zwei Jahre arbeite ich im Restaurationsatelier hinter der Synagoge der Stadt, wo ich eine uralte, mehrmals übermalte Madonna restauriere, indem ich sie vorsichtig Millimeter für Millimeter von einer dicken Farbenschicht befreie und ihr so ihre ursprüngliche Form und Aussehen wiedergebe. Das Restaurieren ist eine geduldige und langsame Entdeckungsarbeit, sie macht mich glücklich und es gefällt mir, mit schönen und geheimnisvollen Dingen beschäftigt zu sein. Als Fotografin dokumentiere ich zudem die Renovationsarbeiten einer alten romanischen Kirche, die der Restaurator gerade in Auftrag hat. Einen Sommer lang melde ich mich zur freiwilligen Studentengruppe, die Forschungsarbeit für das nationale Volksmuseum betreibt und auf der Suche nach unbekannten Märchen, Mythen und Ritualen ist. Wir wandern tagelang durch die Berge auf der Suche nach einsamen und verlotterten Berghütten oder Ruinen, befragen übrig gebliebene Bewohner, die oft gemeinsam mit den Tieren im gleichen Raum leben, wir zeichnen, fotografieren, schreiben auf, um später im Tal angekommen den Flöhen und Läusen hinterherzujagen, die wir als Zugabe eingesammelt haben.

 

(1) Grossbild: 17 Jahre alt / Kleinbild: 16 Jahre alt, Bratislava

Grossbild: 17 Jahre alt / Kleinbild: 16 Jahre alt, Bratislava

 

Kulturschock
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17.  Kulturschock
In einem Jubiläumsbuch «Geschichte der Swissair» finde ich ein seltsames, für meine Begriffe klärungsbedürftiges Bild. Es ist eine uralte Zeichnung mit dem Titel «Jakobsleiter». Ein gewisser Jakob liegt, tief im Schlaf versunken, unter einem Felsen und träumt von Horden von Engeln, die auf einer Leiter in den Himmel hinaufklettern. So weit so gut. Nur diese Engel haben alle wunderschöne, grosse Flügel und sie klettern und klettern und ich frage mich, ja warum klettern sie, wenn sie fliegen können? Später weiss ich, dass es wirklich egal ist, ob man ein biblisches Wesen oder ein ganz gewöhnlicher Erdenmensch ist, dass man den Verstand und die Logik zur Problemlösung nicht nutzen kann, wenn man sich im Trauma befindet.
 
Nun, was will mir diese Symbolik sagen? Wie oben so unten? Wie soll dieses pythagoreisch mathematische Gleichnis aufgehen? Und was soll diese idiotische Kletterpartie, «statt die eigenen Flügel zu benutzen?» Nicht, dass ich die Engel für Idioten hielt, aber da ich in dieser Zeit selbst dran war, über meine Lebenssituation zu klettern, fühlte ich mich wie eine von denen, die auch oft den schwierigeren Weg wählen, statt aus eigener Kraft zu fliegen. Mindestens in die Welt der Visionen. Von diesem Gesichtspunkt aus fand ich das Bild tatsächlich für mein irdisches Verhalten einleuchtend und begriff es als Warnung.
 
Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass mir dieses Bild noch öfter in die Quere kommen und dass der Himmel mir fortwährend Hinweise und Informationen schicken würde, für die ich einfach nicht empfänglich bin. Zuerst glaube ich, na ja, Zufall, aber die Zufälle vermehren sich wie Kaninchen, die ernährt sein wollen und mich zwingen, mir einiges bewusster anzuschauen. Und was ich dabei entdecke, erschreckt mich. Es ist nicht nur mein irrational surreales Verhalten, sondern ich glaube tatsächlich, das Universum kommuniziere mit mir, nur mein innerer Übersetzter ist mit der Übersetzung überfordert. Und so besinne ich mich dann auf die Jakobsleiter-Zeichnung und beschliesse, doch meine Flügel zu benutzen.




Meine Unterkunft für die nächsten vier Jahre in Bratislava ist ein uraltes Ursulinenkloster*19) mit eigener Kirche, 1695 erbaut. Das Kloster ist alt, bescheiden gebaut, die Mauern dick, die Fenster klein und vergittert, auf jedem Stock ein oder zwei grosse Gemeinschaftsräume zum Wohnen oder als Lernzimmer gedacht und viele kleine Wohnzellen, in welchen bis zu vier Studentinnen auf kleinstem Raum wohnen. Links und rechts zwei Doppelbetten, dazwischen vor dem vergitterten Fenster zwei kleine, aufeinander gestapelte Nachttischli, eine grelle Lampe an der Decke, die pünktlich um 22 Uhr gelöscht wird. Die Kleiderschränke auf dem langen, verwinkelten und düsteren, Gang, knisternde Holzboden und Bodenwachsgeruch betören durch eine eigene atmosphärische Lebendigkeit, auf jedem Stock in noch so kleinen Winkeln steht ein Harmonium, das mit Gotteshilfe noch nicht auseinandergefallen ist, die Wände weiss gestrichen, ohne Bilder oder Bemalung, nur den Festsaal schmückt eine Bildergalerie wichtiger Ursulinen, die aus unbekanntem Grund nicht übermalt sind.

Es gibt kein Informationsbüchlein über die Geschichte und über das Wirken dieser streng schauenden Nonnen, die uns beim Essen Gesellschaft leisten. Da dieses Internat ausschliesslich für Studentinnen verschiedener Künste reserviert ist, strahlt es eine spezielle Aura aus und verspricht ein faszinierend geheimnisvolles Leben der Schöpfungen und Kreationen. Es kann sein, dass plötzlich eine Balletttänzerin auf den Fussspitzen wie eine Märchenfee vorbei flitzt, dass aus verschiedenen Stockwerken ein gequältes Harmonium heult oder eine schreiende Sängerin, die ihre Stimm-Tonleiter hin und her durch die Kehle rollt, Ohren und Geduld strapaziert und uns, die zukünftigen Künstlerinnen, in den Duschräumen erreicht, wo wir noch unbeholfen, aber ernsthaft versuchen, die Körper der nackten Mädchen und Frauen im Nebel zu erkennen und zu zeichnen. Ich weiss nicht, bis wann dieses Kloster als Mädcheninternat gedient hat, als nämlich im Jahr 1995 der damalige polnische Papst Johannes Paul II, einfach Wojtyla genannt, in die Slowakei reist und selbstverständlich auch die Hauptstadt Bratislava besucht, wird für ihn das schöne Ursulinenkloster als Erholungsort ausgesucht. Als ich das letzte Mal das Kloster besuchen will, ist dort die Matrika*20) heimisch und der geheimnisvolle und spirituelle Duft der Künste einem sterilen Büroleben gewichen.

Das erste Jahr bewohne ich mit elf anderen Mädchen einen der grösseren Räume. Sechs Doppelbetten, in der Mitte sogar ein grosser Arbeitstisch, das Zimmer mit Aussicht auf die Strasse, vis-à-vis der Franziskanerkeller, ein Restaurant, aus dem Betrunkene zur Morgenstunde heraustorkeln und eine Kirche, die schweigt. Die ersten Nächte hängen wir wie Trauben an den vergitterten Fenstern und beobachten fasziniert das sündige Leben, welches sich uns unverschämt präsentiert. Es sind Exhibitionisten. Natürlich wissen wir am Anfang nicht, wer sie sind und um was es geht, wir staunen und wundern uns, denn niemand klärt uns auf, unsere Fantasie und Vorstellungskraft sind frei. Mit der Zeit kennen wir sie langsam alle, ihre Auftrittsstunden, ihre Mäntel und Hüte, ihre Schritte und Bewegungen, wir kennen die Unterschiede zwischen ihnen, wir schubladisieren und teilen sie in Aggressive und Schüchterne, Perverse und Schamhafte ein. Nach einem halben Jahr verschwindet die Neugier, das Treiben hinter den Fenstern wird uninteressant und wir kehren zu Schlaf und Flüstern zurück. Wir sind beliebig zusammengewürfelt, Mädchen aus allen Regionen der Slowakei, kleine Persönlichkeiten, die gezwungen sind, die Ausbildungsjahre gemeinsam auf engstem Raum zu verbringen. Man könnte meinen, diese Mitbewohnerinnen würden tiefe Spuren hinterlassen. Dem ist aber nicht so, zu schnell verschwinden sie aus dem Gedächtnis. Und doch weiss ich, dass sie irgendwo an der Peripherie meiner Entwicklung in diesem Alter doch etwas Wichtiges waren, wie Stützpunkte, an denen ich mich orientieren und bilden konnte. An manche von diesen Zimmermädchen kann ich mich überhaupt nicht erinnern und wenn, dann kann ich sie mit einem Satz beschreiben.

Da ist Dagika mit ihrem kindlich naiven Gehabe, die man einfach gern haben musste, Daca, mit ihren Diva-Allüren, die ständig nach ihren gescheiterten Liebesgeschichten getröstet sein will, Boda, ein altkluges Mädchen, die nichts mit uns zu tun haben will und uns meidet, Zuzka, gesegnet mit der Weisheit alter Dorfweiber und unser Moralapostel, Vera, ein hübsches, lautes Mädchen mit gebrochener Wirbelsäule, die die ganze Zeit in einem Ganz-Körper-Korsett steckt, ohne sich zu beklagen, und nicht zu vergessen Anka, das kleine, einfache Dorfmädchen mit der wunderschönen Stimme, ich schenke ihr meine Gitarre, die ich mir einmal blödsinniger weise gekauft habe, weil ich in einen Musiker verliebt war, sie lernt schnell autodidaktisch zu spielen und singt uns in den Schlaf und dann sind da noch die Geizkragen, zwei Mädchen aus der Bratislava-Region, die jedes Wochenende Fresspakete mit frischen Früchten bekommen und diese lieber in ihren Kleiderschränken verfaulen lassen, als sie mit uns zu teilen. Und so fressen Würmer die Trauben, Pfirsiche, Nüsse und Tomaten, von denen wir nur träumen können.

Jetzt wo ich dies schreibe, frage ich mich, wie würden sie mich mit einem Satz beschreiben? Ich weiss es nicht. Ich weiss aber noch, was wir ganz gross teilen, sind unsere Kleider, sodass man am Schluss den Überblick, was mein und was dein ist, verliert. Keine von uns hat eine grosse Garderobe, aber durch das Teilen oder Ausleihen wird sie erweitert und weitergeleitet, bis das Kleidungsstück verschwindet. Viele von uns können wegen den grossen Entfernungen nur dreimal im Jahr nach Hause fahren, an Weihnachten, Ostern und in den Sommerferien. Und da ich weiss, dass ich von meinen Eltern kein Taschengeld erwarten, geschweige denn verlangen kann, verkaufe ich für einen Spottpreis meine Bons für das Mittagessen an andere Studenten, die auch hier zum Mittagessen kommen, so habe ich etwas Geld für Kino, Theater oder Filmmaterial, und das Abendessen reicht mir auch.

Ich komme nach Bratislava als ein selbstsicheres und selbstbewusstes Mädchen, nach einem halben Jahr ist alles weg, im Nu entwickle ich einen Minderwertigkeitskomplex, mit allem, was dazu gehört. Ich erlebe meinen ersten Kulturschock. Ein starkes Bedauern und Scham übermannen mich, ich finde mich peinlich, dumm, untalentiert, hässlich, sogar meine Sprache ist keine Sprache der Stadt, sie ist ein lächerlicher Dialekt und zum ersten Mal erfahre ich richtig, was Neid ist, weil er mich fast auffrisst. Ich realisiere, dass viele meiner Mitschüler und -innen einen intellektuellen Hintergrund haben, sie stammen aus Familien, die mir kulturell weit voraus sind, die meisten Eltern sind Lehrer, Journalisten, Musiker, Schriftsteller, Schauspieler, Filmemacher und so weiter und schon ist das in meinen Augen ein Garant für mehr Wissen. Meistens sind es Elite-Kinder, die Kultur nicht nur mit der Muttermilch getrunken, sondern darin gebadet haben und somit einem beneidenswerteren Vorsprung des allumfassenden Wissens, was Kunst, Bestimmung und Persönlichkeitsentwicklung betrifft, haben. Bis dahin war ich ohne Furcht, ich hatte Vertrauen in die Schule, die Lehrer, mich und das, was ich tat und dachte, was richtig ist. Dann kam die Angst. Dass ich nichts kann, dass ich nicht gut und nicht genug schön für diese Welt bin. Und diese Angst bin ich nie losgeworden, sie begleitet mich mein Leben lang wie ein langer Schatten, solange die Sonne scheint. Und sie wird länger scheinen als mein bedürftiges Wesen. Und manchmal frage ich mich, wie bin ich die geworden, die ich bin?

Meine Schulkollegen an der Šupka*21) kennen Geldprobleme nicht und seltsamerweise besitzen sie auch eine gewisse politische Reife und angeborene Fähigkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden, die mir zwar wie Gotteslästerung vorkommt, denn sie belächeln die Sozialisierung, das Staatsregime, die Pioniere und das Komsomol, ohne darüber nur ein Wort zu verlieren, sie besitzen ein geheimes Wissen, zu dem ich keinen Zugang habe. Und sie haben eine Meinung, die mir offensichtlich fehlt, oder anders gesagt, falls ich eine habe, ist es eine falsche! Der kommunistische Geist berührt sie nicht, sie wissen mehr als ich, sie sind im Bilde und das zwingt mich auf die Knie, mir die Welt auch anders anzuschauen, um mir eine andere Lebenshaltung und ein anderes Verständnis anzueignen. Nur weiss ich nicht welche. Ich fange an, mich an Schülern und Schülerinnen zu orientieren, die talentiert und meiner Meinung nach hochintelligent sind, was das auch immer sein mag.

Ich bin das Kind eines einfachen Volkes aus den Bergen, welches von nichts eine Ahnung hat und mittendrin im Nichtwissen steht. Um zu lernen, beobachte ich und wähle mit Sorgfalt Freundinnen, die sich selbst genügen und ein eigenes Königreich um sich selbst bilden, ohne es zu wollen. Zum Beispiel Zora, aus einer Musikerfamilie, sie kommt gerade aus Paris, gescheit, talentiert, die grösste in der Klasse, äusserlich farblos, blasser Teint, kurz geschorenes Haar, langsames Sprechen und Bewegen, sie belächelt und verachtet jede Anstrengung und jeden Ehrgeiz. Vier Wochen vor der Matura organisiert mir die Schwiegermutter ein Haus in den Bergen, wo ich mich vorbereiten kann, Zora kommt mit, sie liegt die ganzen Tage eingewickelt in einer Decke auf einem dicken Ast und schläft und findet es absoluten Blödsinn, in vier Wochen einholen zu versuchen, was man die vier Jahre verpasst hat. Heute belächelt sie alle, die sich noch mit Kunst beschäftigen, ist Mitglied der Hare-Krishna-Bewegung und latscht singend und musizierend durch Bratislavas Strassen. Luba, unser Supertalent, mit den grossen Augen und der lustigen Zahnlücke zwischen den vorderen Zähnen, klein, eher zurückhaltend und kontaktscheu, lebt mit der Mutter, einer Witwe und Lehrerin, und meidet Freundschaften. Sie studiert später an der Filmakademie Prag Fotografie, wird anerkannte Fotografin, heiratet, lässt sich scheiden, zieht zu ihrer Mutter zurück und versinkt immer mehr in Depressionen und krankhaften Angstzuständen. Ich bin die einzige, die sie noch sehen und sprechen will, später erfahre ich, sie begeht Suizid, in dem sie sich mit dem Fotoapparat auf die Zugschienen stellt und den auf sie zukommenden Zug fotografiert. Diese zwei Frauen, die eine supergescheit, die andere supertalentiert, faszinierten mich auch später durch ihre radikale Haltung, die sie nie aufgaben. In der Klasse haben wir viele andere Persönlichkeiten, die sich mit der Zeit herauskristallisieren, wie zum Beispiel Judith und Verena, die eine Jüdin, eine dunkle matronenhafte Schönheit, die andere das klischeehafte Abbild eines arischen Mädchens, blond, blauäugig, schlank und auffallend attraktiv. Diese zwei entwickeln vom ersten Moment an einen leidenschaftlichen Hass aufeinander, welcher Jahre überdauert, wie wir bei unserem ersten und letzten Maturatreffen nach dreissig Jahren feststellen.

Dann ist da noch ein Junge, ich weiss nicht mehr, wie er heisst, der mich zu sich nach Hause einlädt, mein erstes Rendezvous. Die Wohnung befindet sich in einer Villa und das Interieur ist wie aus einem russischen Film, grosszügige Räumlichkeiten, das Innendekor später Barock, üppig, goldig, einfach phänomenal unwirklich und er, Sohn eines Dirigenten, spielt mir auf der Geige etwas vor. Natürlich habe ich keine Ahnung, mit welchem Musikstück ich da beglückt werde, vielleicht war es Paganini, denn dieser Junge hat unglaublich lange, schlanke Finger und als er mir ein Glas Kofola*22) anbietet, schaut er meine Hände an und sagt: «Mein Gott, hast du aber hässliche dicke Finger» und mich so für mein zukünftiges Leben paralysiert, so dass ich meine Hände zu verstecken versuche und Einladungen ins Restaurant meide, damit ich den Leuten den Anblick meiner dicken Wurstfinger erspare, denn diese dicken Finger entblössen den Bauerntölpel in mir, der noch lange an mir haften bleibt.

Das einfache Bäuerische in mir kann ich auch nicht verbergen, wahrscheinlich wie meine Mutter, die es nie losgeworden ist, taucht es manchmal im Gestalterischen auf, wenn es ums Abstrahieren geht (mein schwächster Punkt bei der Prüfung), ich weiss, um was es geht, ich kann trotzdem nicht statt einer Kartoffel nur einen braunen Fleck auf das Papier malen, sondern es muss eine wirklichkeitsnah und originalgetreu gemalte Kartoffel sein. So nach dem Motto, ich glaube nur das, was ich sehe und beweisen kann und hege den Verdacht, dass das Abstrakte nur aus und im Überfluss entstehen kann. In dieser Zeit entdecke ich aber die Surrealisten, nicht nur die Maler (Salvador Dali, René Magritte), sondern vor allem die Dichter (Jacques Prévert, Paul Éluard, Guillaume Apollinaire), mache erste Versuche im automatischen Schreiben und entdecke Sigmund Freud. Es waren also nicht nur die Mitschüler und Lehrer, die mich formten, es war meine Neugier. Unsere Kunstgeschichtelehrerin, von der man dachte, sie könnte die auferstandene Nofretete*23) sein, trug einen grossen, türkisblauen Skarabäus auf ihrer schön gewölbten Brust, sie hatte ein wunderschönes Gesicht, sinnliche Lippen, mit schwarzem Kajal umrandete Augen und kurze, etwas dickere Beine, über die man aber hinwegsah und ich war bereit, nur ihretwegen Archäologie zu studieren und irgendwo in der ägyptischen Wüste zu graben.

Mein Professor für Fotografie, Absolon, ein kleiner, dicker, glatzköpfiger Ungar, sein Markenzeichen war eine grosse Warze auf der linke Backe, sehr gut zum Karikieren, ein sturer, harter Brocken, ist unserer Sprache nicht so mächtig, terrorisiert uns ständig und meint, ich stehe ihm als Laborantin auch in meiner Freizeit zur Verfügung, eben ein absoluter Absolon, und wenn ich die Flucht ergreife, schreit er mir nach, dass ich «historisch», statt «hysterisch» bin. Er ist der einzige, der Mühe hat, meine Matura-Arbeit zu bewerten, weil ich sie im modernen Pop-Art-Stil kreiere, der gerade in ist, seiner Meinung nach ist es keine richtige Fotografie und ich bin den anderen Professoren dankbar, die sich über ihn lustig machen und ihm empfehlen, er soll sich doch lieber weiterbilden und lernen, was Werbefotografie eigentlich ist. Er ist alte Schule, eher für Chemie zuständig statt für kreatives Visualisieren, er vergisst, dass unserer Hauptfach Werbefotografie ist. Thema meiner Diplomarbeit, ein Filmplakat zu Jakubiskos*24) neustem Film «Kristove roky» (Die Christus Jahre), damals unser bester Film und unser bester Filmregisseur.

Eine andere Professorin in den Wechseljahren, mit ständigen Hitzewallungen, macht es uns auch nicht leicht, sie unterrichtet «Politische Ökonomie»*25), wir alle haben keine Ahnung, was uns da mit Gewalt ins Gehirn eingehämmert wird und für was es gut sein soll, wir haben keine Anwendung dafür, nicht in der Ausbildungszeit und nicht im weiteren Leben. Etwas muss ich bei dieser politischen Wirtschafts-Ökonomie erwähnen. Die Schule befand sich in einem prachtvollen Gebäude, welches aber in einem bedenklichen Zustand war, es hätte jederzeit auseinanderbrechen können. Die Decke wurde in den meisten Klassenzimmern von Holzbalken gestützt, so auch unsere, damit sie uns nicht auf den Kopf herunterfällt, 35 Jahre später, bei unserem Matura-Treffen, sind die Holzbalken immer noch da. War es das Ergebnis einer schlechten oder guten Ökonomie? Schlecht, weil die Klassenzimmer in dieser langen Zeit nicht renoviert waren, oder gut, weil dieselben Holzbalken immer noch tapfer Stand hielten und die Decke nicht herunterfällt?




(1) Pavel und ich, 1968

Pavel und ich, 1968

 

 

 

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18.  Pavel und seine Welt
Mein neuster Feind ist der Schlaf. Ja richtig, der Schlaf, der mich ignoriert, mir nicht dient, sich störrisch wie ein pubertierendes Kind verhält, über mich wacht und dafür sorgt, dass ich mich nicht fallen lassen kann, dass die Erlösung, für die er eigentlich zuständig ist, mir verweigert wird und die Sehnsucht, sich einem Traum anzuvertrauen, eine Sehnsucht bleibt. Meine Schlafverweigerung blockiert mir den Zugang zum Ort des Vergessens, zum Tal der Lethe und zum Tor der Dunkelheit. Er beobachtet meinen sich fortwährend wie im Wind drehenden Körper, überhäuft mich mit Bildern und Erinnerungen, die ich nicht will und wenn er mir die Tür endlich öffnet, überwältigt er mich mit Träumen, die erschrecken, beschämen, mich schuldig sprechen und nur manchmal, ja wirklich nur manchmal, keine Ahnung aus welchem Grund, mich glücklich machen. Damit ich ja nicht durchdrehe und mich von neuem, wenn die Zeit da ist, doch wieder hingebungsvoll an ihn wende. Er terrorisiert mich, er spielt ein Spiel mit mir, testet meine Geduld und Gelassenheit. Die Nacht hat Macht.
 
Ich beobachte ihn natürlich auch, seine Taktik und sein Vorgehen, manchmal überliste ich ihn mit Chemie und entziehe mich seiner Kontrolle, dafür aber bestraft mich der Tag, der mich lähmt und nicht richtig wach werden lässt. Wer kennt es nicht? Da liegt man endlich im Bett und spürt, wie der Körper von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen schwer wie ein Betonsarg wird, der Kopf sich entleert, die Zunge erschöpft im Zahnbecken liegt und nur die Augen, ja, die Augen wach sind, offen wie geschlossene Fenster ohne Vorhang, hinter denen sich schwarze Wolken in Zeitlupentempo hin und her schieben, sich wallen und quellen und es helfen keine Schafe, keine Zahlen und keine Imagination, weil diese schwarze Pupillen, diese zwei mit Schwärze gefüllten Löcher offen sind, in das Nichts schauen und sehen. Es ist nicht das unermüdlich parlierende Gehirn, es sind diese verdammten Augen eines Aliens, die sich nie und nimmer schliessen, obwohl die Augenlider wie bleierne Leichentücher über ihnen hängen. Hier wird die Anziehungskraft ignoriert, sabotiert und ich wundere mich über das neuentdeckte Geheimnis des Körpers und seine Schlaflosigkeit und rätsle, ist es eine Schwäche oder eine Stärke, die ich nutzen kann?




Meine erste Begegnung mit Pavel ist unspektakulär, nicht die erhoffte Liebe auf den ersten Blick, die mich umgehauen hätte. In der Nähe von Michalská Brána spricht er mich zum ersten Mal an, ob ich ihm sagen könne, wie spät es sei.«Schau doch auf die Turmuhr, dort siehst du es», antworte ich und denke, was für eine einfallslose Anmache! «Ich möchte lieber dich anschauen», sagt er und erzählt mir, ich gefalle ihm schon längere Zeit, er sehe mich bei seinem Haus vorbeigehen und erst jetzt traue er sich endlich, mich anzusprechen. Das erste, was mich erstaunt, sind seine hellblauen Augen, ich bin bis dahin noch keinem Mann mit blauen Augen begegnet, dann das blonde, schulterlange Haar und eine platte Boxernase in seinem ovalen Gesicht. Er ist nicht gross und, seiner Figur nach, wahrscheinlich kein Bewegungsliebhaber. Die Nase hat er sich gebrochen, als er als Kind das Fallschirmspringen übt, aus dem ersten Stock herunterspringt und auf der Nase landet. Er ist überhaupt nicht mein Typ, denn meine Vorstellung, wie ein Mann aussehen soll, ist mein unbewusstes Vaterbild und das bedeutet schwarze Augen, schwarze Haare und ein Schnauz. Ein Bild, das mir erst im Laufe des Lebens und nach Erfahrungen mit Männern bewusst wird. Pavel entspricht überhaupt nicht der Vorstellung, die meine Eltern über meinen zukünftigen Mann haben, meiner eigentlich auch nicht, er hat keine sogenannte richtige Ausbildung, nicht einmal Matura, ist ausgebildeter Werkzeugmacher, was das auch sein mag. Trotzdem, er ist eloquent, witzig, sprachbegabt, kann interessant und gut reden. Er ist ein faszinierender Geschichtenerzähler, ich komme nicht dahinter, ob die Geschichten, die er erzählt Fake oder wahr sind und staune über sein Wissen über alles, was, bei meiner Aufklärungsbedürftigkeit und meinem Nachholbedarf nicht verwunderlich ist. Ich glaube fast alles, was er da von sich gibt und indirekt bediene ich mich seiner als mein eigenes lebendiges Lexikon. Aber meine misstrauische Bergnatur sendet mir Warnsignale, auf der einen Seite ist er höchst interessant und auf der anderen irgendwie verdächtig. Ich weiss nicht warum, ich kann es nicht einordnen, aber die Skepsis bleibt. Da ich mir eine unklare Vorstellung vom Leben mit Gesetzen, Strukturen und Pflichten und wie das alles funktionieren soll zusammengebastelt habe, aus dem, was ich bis dahin kannte und gesehen hatte, erschienen mir auch meine Gefühle und die Intuition genauso diffus wie er. Zudem bewegt sich Pavel in der Untergrundszene, die es natürlich auch gab, kennt viele spannende Menschen und so wird mein Ego hellhörig. Dazu kommt, dass ich endlich und unerwartet jemandem habe, der sich wirklich für mich interessiert und mich mit Streichel- und Schmeichel-einheiten überhäuft. Er findet mich «gut», ich schreibe nicht «schön», so etwas hat er mir in unsere Ehe auch nie gesagt.

Ich bin 17 Jahre alt, habe plötzlich einen festen Freund, bin zwar nicht unbedingt blind verliebt, aber ich mag ihn und seine Verliebtheit berührt mich und schmeichelt mir. Meine Schulkollegen finden ihn super, vor allem, weil er der Bruder von Peter, dem Drummer der besten slowakischen Boygroup «Beatmen», ist. Von Peter höre ich noch, bevor ich Pavel kennenlerne, er ist der Schwarm aller Mädchen, ein hübscher Mann und Achtung, mit Schnauz! Als er in der Blauen Kirche heiratet, bin ich auch als Zuschauerin dabei, zusammen mit anderen Teenies. Nicht nur um die Zeremonie mitzuerleben (ich bin total verwundert, dass er den kirchlichen Segen braucht), sondern vor allem, um die Braut Sonja*26), die ihn gekriegt hat, anzuschauen. Peter ist intelligent, studiert zuerst English und Spanisch, seinen ersten Sohn nennt er nach James Joyces’ «Ulysses». Peter wird zu einer bekannten Persönlichkeit und mit Leichtigkeit kommt er selbst an berühmte Leute heran, wie z.B. Allen Ginsberg, ein US-Amerikanischer Dichter der Beat-Generation, den er nach Hause mitnimmt, mit ihm Wein trinkt und bis zum Morgengrauen diskutiert. Später emigriert er als erster der drei Söhne nach Kanada, studiert weiter Russisch, wird Professor für Slawistik an der Uni Vancouver und schreibt einige Bücher über die russische Literatur. 

Später lerne ich auch den jüngeren Bruder Fedor, mit Kosenamen Cuc, wegen eines Muttermals am Hals, das wie ein Knutschfleck aussieht, kennen. Er ist immer gut gelaunt und im Gegensatz zu Pavel beherbergt er viel mehr aktive und kreative Energie in sich. Er bewohnt allein ein kleines Zimmer mit Blick auf den Innenhof, früher eine Rumpelkammer, die er mit Freunden ausmistet, renoviert und bewohnbar macht. Auf dem Balkon trocknet er Bananenschalen, die wir versuchen, wie einen Joint zu rauchen, dreht im Weinkeller Kurzfilme, unbeholfene Nachahmungen der psychedelischen Szenen aus dem Kultfilm Easy Rider, der gerade mit Verspätung endlich auch bei uns im Kino läuft. Fedor ist der zweite der Söhne, der in die USA emigriert und der einzige, der nach der Wende nach Bratislava zurückkehrt, eine 30 Jahre jüngere Frau heiratet und eine Tochter bekommt. Nach ein paar Jahren geht die Ehe in Brüche und er verliert alles, was er hat, an die Frau. Er geht wieder nach Kanada zurück, da er in der Slowakei mit 45 Euro, die er als Pension bekommt, nicht leben kann. Seine Tochter Elisabeth studiert Anthropologie und besucht ihn oft.

Meine Bewunderung für Pavel rutscht ziemlich in den Keller, als ich sein Zuhause kennen lerne, das ungewöhnlich und ganz anders ist als alles, was ich bis dahin kenne. Der erste Eindruck, den ich habe, irritiert mich und ich weiss nicht, welche Gefühle in mir toben, soll ich mich freuen und das alles akzeptieren oder darüber, was ich empfinde, sprechen? Aber wie, ohne zu verletzen? Sie bewohnen ein von aussen klein wirkendes, unscheinbares Gebäude im Zentrum der Stadt. Das Haus, einst im Besitz der Familie, wird vom Staat konfisziert, der ihnen erlaubt, darin als Mieter zu wohnen, unter der Bedingung, dass sie die Nachbarschaft ausspionieren. Das war der grosse Clou der Partei, den lebendigen Big Brother zu züchten und zu Verrat zu verpflichten. Ob es funktioniert hat, weiss ich nicht. Wenn man durch das grosse, grüne Holztor eintritt, befindet man sich zuerst in einem offenen Innenhof, wie es in heissen Städten am Meer üblich ist. Im Parterre ist eine Wohnung, deren Bewohner ich nie sehe, ausser der Frau, die im Haushalt mithilft. Sie ist Alkoholikerin, kommt jeden Morgen, bevor sie zur Arbeit geht, schnell in die Küche, wenn alle noch am Schlafen sind und trinkt einige Gläser Wein, erzählt mir später Fedor. Sie hat drei Kinder, eines davon unehelich, so richtig kitschig, vom Pöstler, arbeitet als Putzfrau und spioniert tatsächlich der Familie nach, nur mit dem Unterschied, dass die Familie es weiss. Warum auch nicht, jeder spioniert jeden aus.

Der nächste Raum im Parterre ist eine offene, grosse Laube und man erblickt sofort eine unglaublich monströse Weinpresse aus dickem, dunklem Holz. Wie aus der Geschichte des Hauses hervorgeht, hat man zuerst diese gezimmert und erst dann die Gebäude um sie herum gebaut. Aus diesem Raum gelangt man in den Keller, einem architektonischen Wunderwerk, aus Ziegelsteinen gebaut, der drei Stockwerke tief unter die Erde reicht. Es sind vier bis fünf Meter hohe, im Arkadenbogen gebaute Räume, die riesengrosse, oval in die Höhe gezogene Weinfässer, die von 320 bis 1800 Liter Wein fassen können, beherbergen. Hier ist alles irgendwie von den Dimensionen her übertrieben. Im Herbst wird tatsächlich die Weinpresse in Bewegung gesetzt, Wein produziert und in diese Fässer gefüllt. Auch ich stampfe barfuss im runden, grossen Holzkessel die Trauben platt und frage mich, was das wohl für ein Wein sein wird.

Zum oberen Stock, wo die Familie wohnt, führt eine schmale Wendeltreppe, darunter ein Mini-Raum, von einem Herrn Engler bewohnt. Pavels Vater Jano brachte ihn einmal quasi zum einmaligen Übernachten mit, doch dieser blieb auf Ewigkeit und Amen bei ihnen. Von seiner Zimmerdecke hängen viele Knoblauch-Zöpfe, so dass ich zuerst denke, er sei ein Mystiker oder irgendein spiritueller Vampir-Meister. Ich werde dann aber belehrt, dass Knoblauch seine Hauptnahrung sei. Der Herr Engler ist ein kleines, älteres, unscheinbares, mageres Männlein, das erstaunlicherweise oft von jungen Studentinnen und schönen Frauen gesucht wird. Ich erinnere mich, eines Tages erschien eine stämmige Russin, scheinbar hat er in Kriegszeiten mit ihr Kinder gezeugt und verlangt nach ihm. Er liess sich verleugnen und so blieb er der Russin, den Kindern und seiner Verpflichtung ihnen gegenüber fern und frei. Mit 50 hat er eine 20-jährige Freundin Helena, die später aber einen anderen Gast heiratet. Er lebte lange in Marseille, kannte alle Bordelle, lernte perfekt Französisch, arbeitete als Tagelöhner in den Weinbergen und war ein richtiger Fachmann, was Rebenpflege und Weinherstellung betrifft. Das ist für Jano ein Gottesgeschenk, denn Jano hat wirklich keine Ahnung, was Weinbergpflege, Züchtung und Weinproduzieren heisst. Und überhaupt, was richtige Körperarbeit ist. Dieser Knoblauch-Mann arbeitet in seinen Weinbergen und hilft bei der Ernte und Weinproduktion mit, im Winter verschwindet er irgendwo hin, bleibt einfach unsichtbar, manchmal denke ich, er hält seinen Winterschlaf. Sonst weiss ich über Herrn Engler nur, dass er die Familie, wahrscheinlich dank Knoblauch, um viele Jahre überlebt.

Heute existiert das Haus nicht mehr, eine Autobahn ist darüber gebaut worden, die Weinpresse vom Museum konfisziert und zum staatlichem Eigentum erklärt. Da war Jano, als das Haus abgerissen worden ist, schon im Himmel und Elsula herausgerissen aus dem Zentrum der Stadt, sie bekam irgendwo an der Peripherie eine Mini-Wohnung. Ich frage mich aber, ob die drei Stöcke des Kellers zugeschüttet worden sind oder ob das Risiko besteht, dass eines Tages unter den donnernden Autos das ganze Kellergewölbe zusammenbricht?

Meine damals für mich noch potenzielle Schwiegermutter «Elisabeth», kurz Elsula genannt, ist die dickste Frau, die ich bis dahin überhaupt je gesehen habe. Sie trägt meistens geblümte Sommerkleider, ist immer perfekt frisiert und auf ihrer grossen Brust schmiegt sich, wie ein Liebhaber, eine Goldkette mit Brosche an, die einen auffällig grossen Edelstein trägt, der beim wechselnden Licht wie ein Chamäleon die Farbe ändert. Sie raucht und ich habe sie nie ohne Zigarette gesehen. Geboren und aufgewachsen in der österreichisch-ungarischen Monarchie, spricht perfekt Ungarisch und Deutsch, dafür schlecht Slowakisch und besitzt viele Weinberge in der Umgebung von Bratislava. Damit sie nach Kriegsende und der Bildung des sozialistischen Staates Tschechoslowakei nicht alles verliert, heiratet sie einen echten Slowaken, eben Jano, aus der Hohen Tatra. Zudem überschreibt sie einige Weinberge auf verschiedene Familienmitglieder oder Bekannte, damit sie nicht als Grossgrund-besitzerin eingestuft und ihr alles konfisziert wird. Sie ist 33, als sie dem Slowaken Jano, 38, in der Druckerei, in der er Direktor ist und wo auch sie als Köchin arbeitet hat, begegnet. Jano liebt nicht nur ihre Poulet-Schenkel, er liebt auch Elsula. Sie heiraten und für Elsula ist es die zweite Ehe, sie war schon einmal kurz verheiratet, ihr erster Mann stirbt an Lungenentzündung und vererbt ihr die Weinberge. Und weil Jano kein Kommunist ist und sich auch weigert, einer zu werden, verliert er seinen Direktorenposten und arbeitet später als Grafiker. Da er aber ein Weinliebhaber ist, wird er zum Weinbauer, mindestens auf dem Papier. Nach dem Krieg ist es eine optimale Lösung, da Elsula eben keine waschechte Slowakin ist, sonst wären alle Weinberge dem Staat anheimgefallen. Das erste Kind, das sie gemeinsam haben, stirbt bei der Geburt, da sie zu spät ins Spital kommt, es ist ja noch Krieg. Jano ist total unpolitisch, oder vielleicht doch, denn er hasst die Kommunisten und das ganze sozialistische System, das ihn seiner Freiheit beraubt. Nicht einmal die Redefreiheit kann er zelebrieren, er ist wie sein Sohn Pavel auch ein eloquenter Besserwisser.

Elsulas Mutter Julia, wie jeder von uns, hat auch sie ihre eigene Geschichte, sie soll nach Amerika mit der Titanic reisen, die sie zum Glück verpasst. Sie nimmt ein anderes Schiff, um dort den Ingenieur zu heiraten, der für die Schokoladenfabrik Stollwerk Maschinen nach Europa gebracht hat und der sie jetzt mitnimmt. Dieser Mann stirbt aber unterwegs und als sie endlich in Amerika ankommt, schickt seine amerikanische Familie die junge Frau wieder in die Slowakei zurück, obwohl sie schon schwanger ist. Sie gebiert 1912 das Mädchen Elisabeth. Sie heiratet dann doch, bekommt die Tochter Katka, die 15 Jahre jünger ist als Elsula, wird schnell Witwe und heiratet wieder, diesmal einen Russen, von dem sie Tochter Olga bekommt. Sie wird uralt und lebt bei ihrer Schwester. Als ich sie kennenlerne, leidet sie schon an Demenz und lebt in der ständigen Angst, nichts zu essen zu haben. Sie glaubt, es ist wieder Krieg. Was sie zum Essen bekommt, isst sie nicht, sondern versteckt es unter dem Bett oder im Schrank für schlechtere Zeiten, die noch kommen. Das Essen verfault und muss weggeworfen werden. Manchmal schleicht sie sich aus der Wohnung raus und im langem Nachthemd, bettelt an verschiedenen Strassenecken um etwas Essen und erzählt allen, man lasse sie verhungern. Sie ist eine sehr schöne alte Frau mit schneeweisem Haar, welches zu einem Zopf geflochten so lang ist, dass sie ihn hinter sich herzieht, wenn er nicht zur Schnecke gerollt auf dem Kopf befestigt ist.

Mein potenzieller Schwiegervater Jano, Jahrgang 1908, ist ein geborener Lebenskünstler und entspricht dem Klischeebild eines Zurückgebliebenen aus dem kleinem Bergdorf Šumiac pod Královovou Holou, überhaupt nicht. Wahrscheinlich kleben die freiheitsliebenden Eigenschaften eines Lebenskünstlers an seinen geerbten Genen. Sein Vater, also Pavels Grossvater, dient jahrelang beim Zaren von Bulgarien, Ferdinand I.*27) als Kastelan auf dessen Schloss. Als die Zeit kommt, das Land zu verlassen, bekommt er als Abfindung sehr viel Geld, mit dem er seinem Dorf das erste Kino schenken will. Ein genialer und progressiver Gedanke. Freude herrscht, aber wie sie gekommen ist, verschwindet sie auch wieder, denn als Pavels Grossvater nach Hause kommt und seine Wiederkehr wochenlang mit dem ganzen Dorf feiert, wird das ganze Geld versoffen, ausgetanzt und verfressen.

Pavel erinnert sich nur sehr wenig an ihn, als er starb, war er sechsjährig, er weiss aber genau, dass man ihn auf der Tramhaltestelle stehen liess, als er auch mit Vater und dem älteren Bruder ans Begräbnis mitgehen will. Aus Erzählungen der Mutter erfährt er, dass Grossvater ein sturer Bock und später nicht mehr richtig im Kopf war. Es kursieren lustige und seltsame Geschichten über ihn, wie er mit einer Ladung Schrot im Arsch von der Jagd nach Hause kommt und man weiss nicht, war es selbstverschuldet oder war er per Zufall getroffen worden? Es gibt auch eine Geschichte, wie er auf der Toilette eine Zigarette anzündet und alles um ihn herum explodiert, weil eine Gasleitung kaputt ist, es gibt ein Foto vom bandagierten Grossvater, auf dem sein Gesicht demjenigen meines Sohns Henrik ähnelt. Grossmutter Julia war scheinbar wiederum sehr hochnäsig, sie war schliesslich eine Gouvernante im Palast des Zaren, wo die beide Eheleute sehr lange gedient und gelebt hatten. Als sie dann vier Jahre später als Grossvater auch stirbt, da darf Pavel endlich auch auf sein erstes Begräbnis gehen. Aber nicht nur Grossvater, sondern auch sein Bruder arbeitet am Hof, er ist des Zaren persönlicher Berater und Reisebegleiter. Nach dessen Tod bekommt er eine Rente und einen Mercedes, ein solches Auto zu haben war damals, in der Slowakei der Fünfzigerjahre, eine Rarität und nur wenigen vorbehalten. Schwiegervater Jano hat noch vier Geschwister: Juraj, Fero, Anna und Viera. Der älteste Bruder Juraj wird ein überzeugter Kommunist, der jüngere Fero stirbt ziemlich jung, Schwester Anna macht Schreibarbeiten für Schwester Viera, einer Professorin für russische Sprache. Später arbeitet Viera als Übersetzerin, da sie aber gegen die Russen ist, verliert sie die Stellung, macht aber inkognito Übersetzungen weiter, schliesslich muss sie von etwas leben, und die Sprache ist das, was sie am besten kann. Ich kannte Tante Viera persönlich, sie half mir einmal, als ich eine Besprechung über den Roman Anna Karenina auf Russisch schreiben sollte und ich keine Zeit hatte es überhaupt zu lesen, kam nicht gut raus, der Text war zu gut durchgedacht, analytisch und intellektuell verfasst, als dass er von mir hätte stammen können. Viera stirbt mit 91 Jahren.

Elsula und Jano haben sich ihre Leben auf zwei verschiedenen Ebenen eingerichtet. Jano hat seine Werbewelt und Elsula ihren privaten Begegnungsort. Beide pflegen ihre sozialen Netzwerke, beide sind selbständige Personen, die für sich selbst sorgen, was nicht einfach ist, denn Jano kennt das Wort «Verantwortung» nicht und überlässt die Erziehung sowie die Finanzierung der Kinder seiner Frau. Elsulas Leben spielt sich somit in einer kleinen Küche ab, ihrem Königreich, eigentlich einer kleinen privaten Beiz, wo sie Gäste empfängt, Wein verkauft und für sie kocht, denn eine hervorragende Köchin ist sie geblieben. Jeden Abend treffen sich hier alte Ehepaare, der Rest der kapitalistischen Intelligenzija, Ex-Fabrikbesitzer, Professoren, Direktoren und Richter aus früheren Zeiten, denen der Staat Hab und Gut, inklusive Beruf, konfisziert, sie zu Feinden der Republik erklärt und ohne Urteil ins Gefängnis gesteckt hat, so dass einigen von ihnen ihr halbes Leben gestohlen worden ist.

Am Anfang bin ich wirklich entsetzt und schockiert. Erstens von der mir unbekannten Gesellschaftsschicht sowie dem Schicksal dieser Menschen, aus deren Erzählungen die Verachtung und der Hass auf den Staat klar hörbar wird und mich wie ein Phänomen aus der Dunkelheit voll trifft. Zweitens die Art, sich seinen Lebensunterhalt auf diese Weise zu verdienen, hat für meine Begriffe etwas Ungesundes, Unehrliches und Betrügerisches in sich, das ich nicht richtig einordnen kann. Im Prinzip gibt es keine Privatiers, keine eigene Beiz und überhaupt irgendwelche aus dem Rahmen fallenden Besitztümer, die unterscheiden und bereichern. Was ich kenne, sind nur Kolchosen und Genossenschaften im Gemeinwohl, denn alles gehört dem Volk. Es ist eine quirlige und spannende Gesellschaft, die sich in Elsulas Küche trifft. Da sitzen Geschichten nebeneinander, die besser sind als unsere Pflichtlektüren in der Schule, sie sind echt, diese persönlichen, meinst ungewollten Schicksale, durch die politische Ausrichtung des Staates gesteuert und bestimmt und auch wenn sie mir fast unglaublich erscheinen, werde ich mit einer unfassbaren Schrecklichkeit mit der Wirklichkeit konfrontiert. Sie alle erscheinen mir wie aus einer anderen Welt (was eigentlich auch wahr ist), einer Welt der verbotenen Bücher.

Ein Stammgast, bekannt nur als Professor, früher Dirigent der Philharmonie in Bratislava und ein virtuoser Geigenspieler, später degradiert zum Arbeiter bei der Bahn, ist schwer in Elsula verliebt und verbringt seine ganze Zeit in der verrauchten und nach Besoffenen stinkenden Küche. Ein anderes Ehepaar, die Hatalas, tauchen jetzt bei mir auf, die wie der Professor auch ewige Stammgäste und mir ans Herz gewachsen sind. Herr Hatala, ein Tscheche, früher stinkreich, Fabrikant, der in Afrika auf Löwenjagd ging, dem haben sie alles konfisziert und ihn zu schwerer Arbeit verpflichtet, so arbeitet er viele Jahre in einer Gruppe, die grosse Elektromasten gegen Korrosion streicht und später für den Staat die Häuser renoviert und eines Tages schenkt er mir und Pavel ein grosses, aber wunderschönes Barock-Buffet aus Ebenholz für unser Zimmer, das er aus irgendeiner Wohnung, die gerade aufgelöst wurde, mitgenommen hat. An sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern, aber an Frau Hatala schon. Sie war ein kleines, rundes Frauchen, wie ein Grosi aus einem Märchenbuch, eine von den Guten. Sie trägt gerne seltsam lustige Hüte aus den Zwanzigern, ihre sinnlichen Lippen sind knallrot geschminkt, die Hände auf dem Schoss zum Gebet gefaltet, sie hört konzentriert zu, mischt sich nie ins Gespräch ein, schlürft still ihren Wein und lächelt. Als ihr Mann stirbt, will sie seine Kleiderschränke von Kleidern befreien, untersucht alle Jacken- und Hosensäcke, ob eventuell noch vergessenes Geld zu finden ist, aber statt Geld findet sie den Liebesbrief einer fremden Frau, persönlich an Herrn Hatala gerichtet. Von Wut gepackt marschiert sie mit der Enkelin zum Friedhof, um den Hatala zu beschimpfen und ihm zu sagen, dass er ein grosses Arschloch ist. Da steht sie also vor einem Urnengrab, redet und beschimpft wutentbrannt den armen Hatala, sie muss die Schande der betrogenen und belogenen Ehefrau loswerden, bis ihre kleine Enkelin sie am Rock zieht und darauf aufmerksam macht, dass sie vor einem fremden Urnengrab steht und dass sie nur mit dem Wind geredet hat, der vorbeigeflogen ist. Sie entschuldigt sich bei der Urne und dem Fremden, sie wollte ihn nicht beleidigen und wüst beschimpfen, bittet um Verzeihung und schämt sich, dass sie so etwas auf die alten Knochen erleben muss. Aber als sie dann vor dem richtigen Grab steht, ist alles verflogen, die Wut, der Schmerz und die Enttäuschung, Ruhe kehrt wieder in ihren runden Körper ein und die Erschöpfung macht sie stumm. Sie nimmt die Urne des Hatala an sich, will ihn überwachen, damit er sie nicht mehr betrügen kann. Sie lebt ziemlich lange und glücklich unberührt in Elsulas Küche weiter, denn die Urne mit seiner Asche ist immer dabei.

Doktor Szabo, ein bekannter Herz-Chirurg, der auch bei Elsula verkehrt und der einzige hier, der seinen Beruf noch ausüben kann, kommt gerade aus Japan und bringt das erste Transistorradio mit. Es wird zum Ereignis der Woche, bis er von jemandem verraten und das Radio konfisziert wird. Manchmal konnte man die Gäste auch um Hilfe bitten, denn sie waren weiterhin sehr gut vernetzt, hatten ihre eigenen Verbindungen und konnten echt behilflich sein. Als Pavel seine Einberufung zum Militärdienst erhält, wendet er sich an Doktor Szabo und bittet ihn, ihm eine Unfähigkeitsbescheinigung zu schreiben. Selbstverständlich ist Doktor Szabo sofort behilflich, aber als Vater Jano besoffen nach Hause kommt und dies erfährt, regt er sich fürchterlich auf, «das gibt’s nicht, meine Söhne sind keine Schwächlinge, sie sind diensttauglich und müssen zum Militär!» Er telefoniert sofort mit dem Doktor und zwingt ihn, die Unfähigkeitsbescheinigung zu widerrufen. Und macht damit Pavel in den Augen seines Vaters wieder zum richtigen Mann. Pavel hat aber eine andere Meinung und damit bekräftigt sich sein Entschluss, dieses Land so schnell wie möglich zu verlassen.

Ich habe einmal meinen älteren Bruder, als er Militärdienst in Tschechien leistet, am Tag der offenen Tür besucht und bin erschrocken, wie die 18-jährigen Jungs gedrillt wurden und das zwei Jahre lang. Das war Terror auf höchster Ebene. Ich sehe noch jetzt vor mir sein super-perfektes Bett, wie er es hergerichtet hat, das war Präzision, Mathematik und Physik zugleich. Wie hat er es nur geschafft, die Decke so spiegelglatt zu strecken, das Kissen zu einem Zylinder zu rollen, als wäre es aus Metall und die quadratische Einwicklung des Leintuches um die Matratze, wie geht das? «Durch Übung», sagt mein Bruder und schaut mich mit seinem Verlegenheitslächeln an. Und ausserdem, es ist wahr, die jungen Männer hatten keinen Bock auf den Militärdienst, nicht nur weil es nichts anderes als Folter war, sondern weil es zwei verlorene Jahre bedeutete.

Ich erinnere mich an meinen Schulfreund Otis*28), der mich bat, ihm bei seinem Suizid-Versuch behilflich zu sein, mit dem er sich der Einberufung entziehen konnte. Sein Plan war einfach, in der Nacht in einem Park Tabletten oder was weiss ich was zu schlucken und wenn ich merke, dass er wegdriftet, soll ich sofort zur nächsten Telefonzelle laufen, den Notruf wählen und sagen, dass da jemanden im Park liegt, der grosse Schmerzen hat, sie sollen schnell vorbeikommen und ihn retten. Wenn die Sanität aber da ist, soll ich verschwinden, sonst bekomme auch ich Schwierigkeiten. Hilfe bei Selbstmord war schon damals strafbar und bei Betrug des Systems sowieso. Ich will aber helfen. In dieser Nacht sitze ich neben Otis auf der Bank im Park Janka Krála und warte, bis er nicht mehr ansprechbar ist. Das Konzept der Rettung scheint einfach zu sein. Als es so weit ist, renne ich zur nächsten Telefonzelle, wähle den Notruf, die Verbindung kommt, was für ein Wunder, sofort zu Stande. Natürlich haben wir uns vorher abgesichert und getestet, ob die Telefonzelle nicht demoliert ist und ob sie funktioniert. Alles wird gut, denke ich, der Krankenwagen kommt, fährt um den Park herum, bleibt an einer Ecke stehen, aber kein Mensch steigt aus, um nach Otis zu suchen. Nach einer kurzen Zeit fährt er einfach weg. Unglaublich! Ich gerate in Panik und bekomme Angst, das darf doch nicht wahr sein, sind sie zu faul, zu blöd, oder was soll das? Ich renne wieder zur Telefonzelle und weiss nicht, ob sie nicht schon besetzt ist und ausserdem fällt mir ein, dass ich keine Ahnung habe, ob ich noch eine Münze (eine Krone) zum Telefonieren finde, wer rechnet schon mit so etwas. Was mache ich dann, kein Mensch weit und breit, nur ich und der mit Medikamenten vollgepumpte Otis, wird er vielleicht wirklich sterben? Ich leere meine Tasche auf die Strasse und da ist sie, pures Gold, die Krone, im Mondlicht leuchtet sie wie ein Heiligenschein, danke, danke, rufe ich für mich laut, werfe die Münze in den Schlitz und weinend schreie ich die Muschel an: «Bitte, bitte, kommen Sie, der Junge liegt im Sterben!» Und gottseidank, sie kommen wieder, diesmal steigen sie aus dem Auto, gehen in den Park, ich schreie ihnen von weitem zu, «hier ist er, hier liegt er» und als ich sehe, sie gehen in meine Richtung, laufe ich weg, durch den Park an der Donau entlang, dann über die Brücke und bei jedem vorbeifahrenden Auto galoppiert mein Herz neben mir, die Sanität fährt hupend vorbei, es wird alles gut, der Otis liegt drin. Und plötzlich: Bin ich mir dessen sicher? Ich habe nicht gesehen, ob sie ihn gefunden und mitgenommen haben, ich bin weggerannt, ohne zurückzuschauen. Mir wird schlecht, ich muss in den Park zurück, zurück zu jeder Bank, denn ich weiss nicht mehr, wo er lag. Irgendwann kann ich nicht mehr, bleibe an einer heulend sitzen und, übermannt von Müdigkeit, schlafe ich dort ein. Und auch der Morgen und die Tage danach bringen keine Erleichterung, ich lese tagtäglich die Rubrik Unfälle und Verbrechen, ob dort nicht etwas über eine gefundene Leiche geschrieben wird, und nein, es steht nichts dergleichen. Ich fühle mich schuldig, ein ganzes Jahr weiss ich nicht, ob er überlebt hat, und falls ja, wo er ist und wie es ihm geht. Wie Sisyphos rolle ich meinen Stein aus vielen Fragen vor mir her, ohne jemandem davon zu erzählen, ich versprach Otis zu schweigen und ein Jahr lang nicht nach ihm zu suchen. Ich habe nicht gewusst, dass ein Jahr so lange dauern kann. Dazu gesellte sich auch die Frage, wieso hat er gerade mich um Hilfe gebeten und nicht seine Freundin und wieso habe ich mitgemacht? Weil ich allem glaube, oder war es ein Teenager-Blödsinn, Rebellion, Protest? Später habe ich erfahren, dass er ein Jahr lang in der Psychiatrie eingesperrt war, ohne Kontakt zur Aussenwelt zu haben und als psychisch krank bekam er das Untauglichkeitszeugnis. Erst viele Jahre später wird mir bewusst, welcher Gefahr sich ein verzweifelter Mensch ausliefert, um seiner Überzeugung zu folgen. Natürlich habe ich diese Episode aus der Schulzeit vergessen, aber als ich vor zwei Jahren Otis in Bratislava traf, sagte er zu mir: «Du weisst, dass du mir damals das Leben gerettet hast?» Da wird mir erst bewusst, was wir da eigentlich getan hatten. Waren wir dumm oder mutig?

Schwiegervater Jano ist nicht nur Lebenskünstler, er ist auch künstlerisch sehr begabt. Als Grafiker kreiert er die ersten Briefmarken für die slowakische Republik und viel später malt er riesengrosse Kinomarkisen, die Filmgeschichten erzählen und über den Eingängen aller Kinos hängen. Als ich ihm zum ersten Mal begegne, ich schüchtern und ängstlich, er betrunken und laut, fragt er mich direkt nach dem Wesentlichen: «Hast du Geld? Meine Söhne heiraten nur jemanden, der Geld hat!» Pavel antwortet für mich: «Sie hat kein Geld Vater, aber dafür kann sie Bohnensuppe kochen, wie du es gerne hast» und somit bin ich, die armgenössige Kirchenmaus, akzeptiert, denn Mutter Elsula kocht nur elitär wienerisch und ungarisch und ist mit der slowakischen Küche, die Jano begehrt, nicht so vertraut. Gegenüber ihrer Wohnung steht ein modernes, fünfstöckiges Hochhaus, nur für Kommunisten gebaut und wenn Jano in seinem Kopf mehr Alkohol als Gehirn hat, öffnet er alle Fenster, beugt sich mit dem ganzen Körper hinaus, schreit und droht dem Haus, dem Himmel und dem Staat: «Ihr verdammten Schweine, Sau-Kommunisten, Betrüger und Verräter, in die Hölle mit euch», bis ihn jemand zurückzieht. In diesem Haus lebte auch ein Freund von uns (sein Vater eingefleischter Kommunist), der später, ein halbes Jahr vor der Samtrevolution von der Polizei erschossen wird, die behauptet, er selbst habe das getan.

Jano verdient gut, aber Elsula bekommt davon keinen Rappen, nicht für sie, nicht für die Kinder, aber es macht ihr nichts aus, sie hat ihn längst akzeptiert, so wie er eben ist. Es gab Zeiten in der Ehe, in denen sie versucht hat, ihn zu ändern und als sie realisierte, dass dies vergebene Mühe ist, lässt sie ihn los und behandelt ihn als unmündiges Kind. Sie ist Geschäftsfrau, Kellnerin, Buchhalterin und Ernährerin, verdient mit Weinverkauf genug Geld, auch um die Kommunisten gegenüber zu bestechen, damit man sie nicht anzeigt und vor allem, sie ist nicht auf Jano angewiesen. Sie liebt ihre Söhne abgöttisch und würde für sie alles tun. Sie erzählt mir, dass sie als richtige Weinbäuerin ihnen jeden Tag einen Deziliter Wein zu trinken gibt, um sie gegenüber Alkohol widerstandsfähig zu machen. Ich weiss nicht, ob dies genutzt hat, jedenfalls wird keiner von den Söhnen später Alkoholiker. Als Jano seinen sechzigsten Geburtstag in der Firma feiert und zu Elsula sagt, «Du musst heute nicht kochen, ich bringe am Abend ein halbes Ferkel mit», winkt sie ab, sie kennt solche Sprüche zur Genüge und kocht unbeirrt für die Gäste und Söhne, so wie immer. Der Abend neigt sich zur Nacht, der Morgen bricht an, der nächste und der übernächste und alle anderen Tage galoppieren vorbei und endlich, nach mehr als einer Woche, erscheint der immer noch angeheiterte Jano mit einem Ferkelkopf mit Zitronenschnitz im Maul unter dem Arm.

Zurück zu Pavel. Mit der Zeit mutieren wir zum Liebespaar und durch ihn entdecke ich eine andere Seite des Lebens, von der ich nie gedacht hätte, dass es sie gibt. Wir gehen oft zweimal am Tag ins Kino, lauschen in der für die Öffentlichkeit geschlossenen Kirche*29) seinem Freund, einem Theologiestudenten, der dort heimlich übt und ein hervorragender Organist ist und ich wundere mich, dass man bei uns überhaupt noch Theologie studieren darf. Wir schleichen mit Vorliebe durch Friedhöfe und manchmal, in warmen Sommernächten, übernachten wir auf liegenden Grabsteinen, bedeckt nur mit der Tageszeitung «Prawda»*30) und ich frage mich, ob das auch seine Interessen sind, ob er nicht nur darauf aus ist, mich zu erobern und mit allen möglichen Versuchsvarianten meine Wünsche zu erfüllen. Ich verdiene mir zusätzlich durch Nähen etwas Geld und nähe für ihn und seine Freunde diese schrecklich modernen, bunten Hemden mit hohem Kragen und Manschetten, obwohl Pavel, wie es sich für einen richtigen Farmar*31) gehört, nur Jeans und ein dunkles T-Shirt oder einen Pulli trägt und ich sowieso im Schwarz der Existenzialisten unterwegs, unbeholfene Versuche einer modischen Nachahmung, slowakische Beatniks zu sein. In der Schule lernen wir, wie Farbfotografie entsteht, stehen ganze Tage im Labor und produzieren mit verschiedenen Farbstichen untermalte Fotografien. Dafür besuchen wir mit Pavel verbotene Konzerte, gehen ins Astorka, eine Studentendisco, Twist und Rock’n’Roll tanzen und alle, die mir wichtig sind, lieben ihn, es gab also keinen Grund, wieso ich es nicht auch tun sollte.

Ich rauche meine erste Zigarette und trinke mein erstes Glas Wein. Wir sind fast unzertrennlich, er weiss, dass ich meine Esskarten fürs Mittagessen verkaufe und beliefert mich mit Poulet-Schenkeln, die er der Mutter direkt aus der Pfanne stiehlt. So werden bestimmte Sachen durch ihn für mich zur Selbstverständlichkeit, wie etwa mein plötzliches Musikinteresse. Ich habe mich nie in der modernen Musikwelt bewegt, bei meinem Vater ein Ding der Unmöglichkeit, und wenn ich so zurückdenke, als die neue Musikszene explodiert, bin ich schon weit von zu Hause weg und höre die Beatles, Rolling Stones, Elvis Presley und alles was so nach und nach kommt. Es ist aber nicht nur die westliche Musik, die mich erreicht, sondern auch die Mode, wie die Jeansmarke Levi-Strauss, eine begehrte Schmuggelware aus Wien und Kleider, wie Sandie Shaw*32) oder das Model Twiggi*33) sie tragen. Eines Tages habe ich endlich auch meine Jeans, als ich aber zu Hause im Liptov auf Besuch komme, wird sie mir von meinem jüngeren Bruder gestohlen. Die Miniröcke nähe ich mir selbst und meine Mutter näht mir einen wunderschönen Mantel, den Sandie Shaw auf einem Foto in einer Frauenzeitschrift trägt, den ich Sonja, als sie das Land verlässt, schenke.

Es gibt aber Momente, in denen mir Pavel unakzeptabel erscheint. Seine Sorglosigkeit, Risikobereitschaft und Verantwortungslosigkeit, die oft wie unkontrollierbare Spielereien wirken, sowie seine Beharrlichkeit und Rechthaberei und sein angeblich unfehlbares Wissen und Leidenschaft für das Wetten, «wetten, dass ich Recht habe»,weil ich nicht beurteilen kann, ob was er gerade behauptet, wahr ist oder ob er blufft. Er ist grosszügig, hat immer Geld bei sich, welches er bei Touristen gegen Dollar zu günstigen Konditionen wechselt, da er seinem grössten Traum, «die Welt zu bereisen» folgt. Sein Spitzname ist «Farmár» und er benimmt sich auch so, als gehöre die Stadt ihm. Er ist aber, wie er selber sagt, ein miserabler, schlechter Schüler, ohne jeglichen Ehrgeiz und zu faul zu arbeiten und zum Lernen.




(1) Cover der Zeitschrift FOTOGRAFIE zur Thema «Die Liebenden» 1968 (Selfie mit Pavel)

Cover der Zeitschrift FOTOGRAFIE zur Thema «Die Liebenden» 1968 (Selfie mit Pavel)

 

 

 

Das Erwachen
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19.  Das Erwachen

Ich bin bald siebzig. Das bedeutet, ich hätte die Fragen, die jeden irgendwann wie ein Hexenschuss befallen wie «wer bin ich, woher komme ich und wohin gehe ich?» schon längst mit Tamiflu beantwortet und geheilt. Habe ich aber nicht. Und manchmal fragt etwas in mir: Habe ich die ganze Lebensschulung verschlafen oder die Schulaufgaben nicht gemacht? Irrte ich taub, blind und verwirrt, ohne es zu merken?

Aufgewachsen und im Geiste des Kommunismus erzogen, in einer Zeitepoche, in der Gott zwar scheinbar «nicht vorhanden», doch als Schattengestalt eines unsinnigen Verbots existiert, auf der Lauer ist und tatsächlich im Alter an meine Gedächtnistür klopft? Schon als Kind war meine Frage, «warum muss man etwas verbieten, was nicht existiert?» berechtigt. Ist ER wirklich so präsent und mächtig, dass sich die Regierung von ihm bedroht fühlt und deswegen dieses Verbot ausspricht? Und ist er nicht nur im Kopf der Menschheit, sondern schon in den Genen als Kulturgut in irgendeinem der Chromosomen programmiert? Als eine Option für die Menschheit, die ständigem Leid, Ungerechtigkeit und Schicksal ausgeliefert, eine Hoffnung auf Erlösung dringend braucht? Der Tod ist sicher eine Erlösung, aber nur zu sterben reicht nicht. Vielleicht ist gerade dies die Erklärung, weil der Tod kein Trost ist und nicht ausreicht, um das Leben zu rechtfertigen oder ihm gerecht werden. In meiner Todesanzeige, falls es eine gibt, soll geschrieben werden: «War das alles?» Indem wir den Anspruch erheben, es muss doch mehr geben, als nur dieses Leben, erheben wir uns zu einem göttlichen Wesen und bekennen uns zur Unsterblichkeit der Seele oder der Materie. Und ist dieser ER dann nicht nur Symbol unserer Kultur, sondern auch Alibiübung für das Leben? Eine Romangestalt aus der Bibel, die wie die rote Bibliothek meiner Mutter Liebe, Glück und Trost verspricht und so Garant für das seelische Gleichgewicht ist? Aber was soll man mit einem, der nur ein abstraktes Wortgebilde ist und uns eher ein Jenseits-Leben als eine Zukunft auf dieser Erde, in diesem Leben bietet? Aber auch das ist nicht ganz sicher. Hat er darum keine Berechtigung bei der Bewusstwerdung, nicht einmal als Gedanke, nicht als Wort?

«Gott ist was für die Dummen, weil man mit ihm den Menschen manipulieren kann», werde ich in der Schule belehrt und wer will schon dumm sein? Ich sicher nicht. Aber selbst ich, trotz Aufklärung, traue mich nicht, ihn aus meinem Cortex ganz auszulöschen, was wenn, was wenn er doch irgendwo auf Wolke sieben sitzt?





Irgendwann bricht die Zeit an, in der die Sexualität zum Hauptthema wird. Man ist neugierig, traut sich, will es wissen, verdrängt tief im Innern deponierte Anfänge, bastelt herum und probiert «das erste Mal», welches nicht nur zum Erlebnis und zur Erfahrung, sondern mehr zur Erkenntnis seiner selbst wird. Natürlich ist man erstaunt, welcher Peinlichkeit oder Lächerlichkeit die eigene Befindlichkeit ausgesetzt ist und wie diese zu tragen und ertragen eine Mutprobe des «Erwachsenseins» wird. Die Schamgrenze wird ausgedehnt und die Konfrontation zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, die eigentlich keine ist, weil sie aus der Hoffnung konstruiert ist, holt einen auf die Erde zurück. Ich merke zu schnell, dass das nicht mein Ding ist, eine seltsame Gewissheit in mir sagt, ich kann auch ohne Sex leben und lieben. Heute wissen wir, dass es asexuelle Menschen gibt und natürlich taucht der Gedanke auf, «hätte ich es gewusst, wären mir einige freiwillige Vergewaltigungen aus Liebe erspart geblieben». Ich war mir sicher, dass mein Körper beschädigt und unvollständig ist, dass ich keine richtige Frau bin und nie eine sein werde. Ich nahm es als Strafe für eine unbegründet aufgebürdete Schuld, vielleicht, weil ich Pavel nicht aufrichtig leidenschaftlich liebte, wie er es verdient hätte. Ich weiss, es war nicht seine Schuld, auch nicht die meine, denn irgendwann viel später im Leben besinnt sich mein Körper doch auf seine Weiblichkeit.

Es gab keine Aufklärung, nicht in der Schule, nicht zu Hause. Die Pille gab es zwar schon, aber nicht für Jugendliche, so wurde ich nach dem Schöpfungsgesetz beim ersten Mal sofort schwanger. Ich hatte plötzlich das Gefühl, irgendwo anders hin weggetragen worden zu sein, wollte die Realität nicht anschauen und wahrnehmen, ignorierte alle Zeichen der Schwangerschaft. Mir geht es gut, ich schweige und beobachtete, wie alle um mich plötzlich aktiv werden, um mich vor Unbedachtem zu bewahren. Ich selbst denke nicht daran, es ist nicht eine Sache von JA oder NEIN meinerseits, sondern es ist eine Sache der Beziehung zwischen mir und meinem Vater. Wie wird er entscheiden, wird er für oder gegen mich sein? «Was sagt mein Vater dazu?», ist die Angst, die ich habe und die mich antreibt, einige Entscheidungen zu treffen.

Ich bin im letzten Schuljahr, will unbedingt die Matura machen und weiter studieren, mache noch Prüfungen für die Filmakademie in Prag und ignoriere die Tatsache, dass ich ein Kind bekomme. Warum auch, die Möglichkeit auch als Mutter zu studieren ist da, der Staat hat gut vorgesorgt und gute Bedingungen geschaffen. Es gab damals den Kindergarten schon für viermonatige Babys und Internate mit kleinen Wohnungen für Studentenfamilien und so war für mich ein Kind zu kriegen kein Hindernis, um studieren zu können. Und weil das Leben nicht immer selbstbestimmt und oft vom Schicksal gesteuert wird, wird die Kindfrage nicht von mir beantwortet, sondern vom Kind selbst. Als mein Frauenarzt die Schwangerschaft feststellt und fragt, «na Fräulein, willst du es behalten, oder sollen wir es gleich auskratzen?» Dieser Satz haut mich um. Die Frage ist so brutal, so unerwartet, es ist ein gewaltiger Tritt in den Bauch, der weh tut und gerade deswegen eine Kraft und eine Stimme aktiviert, die nicht die meine, sondern des Kindes in mir ist, die aus mir ausbricht und für sich selbst spricht: «selbstverständlich behalten». Was mich nicht nur erstaunt, sondern befreit, denn ab diesem Moment weiss ich, «ich bin schwanger», wirklich und unwiderruflich.

Dieses Wissen berührt mich, «klar, das Kind ist wie ich, hat meine Kraft des Wollens und Willens geerbt und beharrt auf sein Recht zu leben». Eine Welle der Zuversicht, dass alles gut wird, breitet sich nicht nur im Körper aus, sie dehnt sich bis zum Himmel hoch weiter, bohrt sich in die Erde hinein und lässt mich spüren, «Ich bin» und signalisiert zugleich, dass sich dieses «Ich» irgendwann teilen wird und ich nie mehr die gleiche und vor allem nie alleine sein werde. Bis heute bin ich mir sicher, dass nicht ich es war, die die Entscheidung getroffen hat, sondern das noch nicht geborene Wesen in mir. Niemand weiss von dieser Entscheidung, ich stehe plötzlich im Mittelpunkt der Familie, die mir zu Abtreibung rät, argumentiert, dass wir beide zu jung sind und nichts mehr vom Leben haben werden. Die Schwiegermutter organisiert schon alles im Voraus, Pavel schweigt und wartet. Auf meine Entscheidung, die schon längst im Himmel gefällt war. Es bleibt noch etwas Unerledigtes, was ausgesprochen sein muss, aber «wie sage ich es dem Vater?» Mit Angst vollgeladenen Lastwagen auf dem Rücken fahre ich mit Pavel zu meiner Familie und teile ihr mit, dass ich schwanger bin. Der Vater schweigt, die Mutter weint, ich habe es gewusst!!! Pavel ist kein Arzt, kein Direktor, kein Studierter und somit kein richtiger Mann für mich und noch weniger ein Schwiegersohn für meinen Vater. Ich, die mit Hoffnungen beladene Tochter, habe enttäuscht und versagt. In der Nacht schleicht mein Vater in unser Zimmer, beobachtet den schlafenden Pavel und ich hoffe, dass er nicht zuschlägt. Seit ich denken kann, bin ich Vater gegenüber nie angstlos, sehr früh schwappt die Angst meiner Mutter auf mich über, ich denke gerade an den Pony-Haar-Schnitt, den mir Mutter nach meinem Drängen endlich schnitt, weil ich wie meine schöne Freundin Hanka aussehen will und wie wir beide zittern und uns fragen, wie Vater darauf reagiert, da er prinzipiell dagegen war. Ich war etwas aufgehübscht und er schaut mich etwas verwundert an und sagt tatsächlich kein Wort.

Die Angst vor dem Vater und die Schuldgefühle wachsen von Tag zu Tag, sowie der Druck der Schule, denn ich bin fest entschlossen, den Matura-Abschluss zu machen, nur um ihm zu beweisen, dass ich es kann, dass ich nicht leichtsinnig bin, dass ich weiter studieren kann und dass noch nicht alles an mir verloren ist, wie er meint. Um den Vater zu besänftigen, beschliessen wir auf die Schnelle zu heiraten, aber an dem 17. März, dem Tag meiner Hochzeit, verweigert er sich mir und er kommt nicht. Meine Mutter und Brüder sind da. Ich kann mich nicht erinnern, ob die Sonne schien oder der Himmel bedeckt war, ich sehe mich im geliehenen, etwas zu grossen, langen, weissen Kleid, einen Blumenkranz aus weissen, künstlichen Blumen auf dem Kopf, wie ich mit Pavel, den ich nicht erkenne, weil er plötzlich wie ein geschorenes Schaf, mit ganz kurzem Haar erscheint und wie ein vierjähriges Kind aussieht, ich sehe uns, wie wir gemeinsam in den Hochzeitsaal schreiten. Die Zeremonie dauert fünf Minuten, ich höre mich zwar das Ja sagen, aber meine Hintergedanken flüstern mir, «aber nicht lang». Es gibt keinen Schleier und keine Hochzeit in der Blauen Kirche, kein Festessen im Restaurant und kein Hochzeits-Fotoalbum, welches mein Glück dokumentiert. Es gibt zwar ein paar Bilder von uns, zwei Kinder, die Heirat spielen, wo ich mir was vorspiele und weiss, das Spiel ist falsch. Es gibt wirklich nichts, woran ich mich mit Freude später erinnern kann, sondern nur das, was ich am liebsten vergessen möchte. Mein glücklichster Tag wird zum Desaster. Meine Mutter, durch die Abwesenheit des Vaters sichtlich schockiert, verfällt einer abgrundtiefen Traurigkeit. Sie tut mir schrecklich leid und ich finde keine tröstenden Worte, die sie annehmen kann. Sie trinkt zu viel, sie weint zu viel, entsetzt über alles, die Hochzeitsumstände, den Familienbetrieb und die Wohnung, in der ich wohnen soll und auch die Tatsache, dass sie mir kein Hochzeitskleid nähen durfte. Sie betrinkt sich, erbricht, weint, ist verletzt und verletzt auch mich, da sie wie ein Automat die fürchterlichen Sätze wiederholt, die mir Vater ausrichten lässt: «Sag meiner Tochter, dass sie eine Hure und ein Flittchen ist, sag ihr, dass sie für mich gestorben ist und dass ich ab jetzt keine Tochter mehr habe!»

Aber auch der schrecklichste Tag geht zu Ende. Ich ziehe aus dem Internat zu Pavel und wir beziehen das in Arkadenbögen gebaute Zimmer von Peter, Sonja und Ulysses, die jetzt in eine kleine Wohnung im Nebengebäude umziehen. Pavel hat nämlich bis dahin im elterlichen Schlafzimmer geschlafen und schon das empfand ich als katastrophalen und, für einen 18-Jährigen, beschämenden Zustand. Unser neues Zimmer ist lang und dunkel, es hat keine Heizung und die Wände, wie eine Klostermauer einen Meter dick, schützen vor Kälte im Winter und kühlen im Sommer. Vor dem einzigen Fenster steht ein grosser schwarzer Flügel, auf dem Pavel ab und zu klimpert, hinter dem Fenster gegenüber im Kommunistenhaus sitzt den ganzen Tag eine alte Spionin am Fenster, die uns beobachtet und in unser Zimmer schaut. Im Innenhof, auf dem Balkon, links vor dem Eingang zu unserem Zimmer, das WC, welches auch von den zu oft besoffenen Gästen mitbenutzt wird. Es stinkt nach Pisse, Knoblauch und Kotze, ich putze es jeden Morgen, manchmal übergebe ich mich auch dabei, ich bin schwanger, sonst gesund und jung, kann aber weder Dreck noch ätzende Gerüche ertragen, aber auch nicht dagegen klagen. Für Pavel ist alles in Ordnung, er merkt gar nichts, wieso auch, so ist er aufgewachsen, ich bin es, die in einer Falle sitzt.

Wie ich schon erwähnte, Pavel will raus aus dem kommunistischen Humus. Als er eine Fluchterkundungsreise Moskau-Leningrad-Helsinki-Stockholm-Oslo absolviert, stellt er fest, wenn ein Kind in Schweden oder Norwegen geboren wird, es automatisch eingebürgert wird. Halleluja, das ist genial, das ist genau das, was er will, denn wenn nicht er, so soll mindestens sein Kind eine zweite Nationalität und einen zweiten Reisepass besitzen, welcher ihm die Tür zur ganzen Welt öffnet. Als wir den Geburtstermin erfahren, buchen wir im Reisebüro sofort diese gleiche Reiseroute und das so, dass ich mich genau zum Geburtstermin entweder in Schweden oder Norwegen befinde und unser Kind unter den schönsten Polarlichtern und Möglichkeiten die Welt erblickt. Natürlich bin ich bereit mitzumachen, was kann schon passieren. Von meiner Seite gibt es niemanden, der mir das verbieten kann und von seiner Seite haben wir totale Unterstützung. Als Pavel aber den Visa-Antrag stellt, verschwindet er zuerst für ein paar Tage und erst später erfahre ich, dass er von der Polizei abgeführt, verhört und zur politisch unzuverlässigen Person erklärt wird und somit auch in Zukunft keine Chance auf eine Ausreise hat. Die Polizei ist sicher, dass er ins Ausland fliehen will, ein Ordner mit Informationen über ihn ist schon angelegt. Sie wissen, dass er mir aus Moskau eine Postkarte vom Lenin-Mausoleum mit dem Text geschickt hat: «Du lachst dich zu Tode, wenn du sehen könntest, wie ausgedörrt Lenins Ohren durch die Mumifizierung sind». Das ist Gotteslästerung, das ist Blasphemie und ein Grund zum Einsperren.

Sie wissen alles, auch dass wir seinem Freund Cic*34) englische und italienische Wörterbücher geschickt haben, die sie Seite für Seite und Wort für Wort mit dickem Filzstift durchgestrichen haben und die dadurch unbrauchbar bei ihm ankommen. Die Zensurabteilung hat wirklich gute Arbeit geleistet. In den Akten über Pavel ist auch dokumentiert, wie wir versuchten, die Štátna Bezpecnost, kurz ŠtB (den Staatssicherheitsdienst) zu überlisten, in dem wir die Schuhe und Socken, die Cic dringend brauchte, ihm so unauffällig wie möglich schickten – zuerst eine Schachtel mit einem Schuh und einer Socke, dann eine Woche später die zweite Schachtel mit dem zweitem Schuh und der zweiten Socke, von denen aber eine Schachtel nie ankam. Die Päckli nämlich, die weniger als ein Kilo wogen, sollten ungeöffnet, zollfrei und problemlos verschickt werden. Das war die offizielle Postinformation, aber was für ein Irrtum. Wir wussten nicht, ob er überhaupt etwas von uns erhalten hat, wir bekamen keine Briefe oder Postkarten, scheinbar war die Post an uns bei der Polizei am besten aufgehoben. Trotzdem erfuhren wir auf anderen Umwegen, dass er doch Amerika erreicht hatte und irgendwo in Los Angeles lebte. Als wir dann vier Jahre später tatsächlich in Los Angeles ankamen (wir fuhren aus Vancouver mit einem VW-Bus die ganze kalifornische Küste bis nach San Diego entlang), setzten wir uns in die erste Beiz, die wir fanden, um eine Pause zu machen, etwas zu trinken und die Telefonbücher zu studieren, vielleicht würden wir so Cic finden. Telefonbücher waren damals die beste Quelle auf der Suche nach Personen und ihren Adressen, der «Persönlichkeitsschutz» war noch nicht erfunden. So fand ich auch in Toronto einen Schulkollegen aus meiner Foto-Klasse, den wir auch schnell besuchten. Und wie es eben Wunder gibt oder der Zufall es will, der Kellner, der uns bedienen soll, ist Cic und das erste, was er Pavel statt einer Begrüssung zuruft, ist: «Hergott Farmár, du verdammte Arschloch, warst du bekifft oder was, was soll ich mit nur einer Socke und einem Schuh?»

Eigentlich sehr komisch, wenn es nicht so tragisch wäre. Der Staatssicherheitsdienst wusste alles, auch, dass ich allein die Reise nicht machen würde, weshalb ich als Witz das Visum trotzdem bekam. Anhand dieser Reiseplanung aber bekam unser Sohn seinen Namen «Henrik», den schönen Namen des Nordens und des norwegischen Schriftstellers Henrik Ibsen.







Die bewegte Welt
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20.  Die bewegte Welt
Im Tagi-Interview mit David Hesse über ihr neustes Buch «Jakobsleiter» antwortet Ludmila Ulitzkaja auf die Frage, haben sie nie Angst: «Jeder Mensch hat eine andere Angstschwelle, so wie er eine individuelle Schmerzgrenze hat. Natalja Gorbanewskaja war eine von sieben Personen, die 1968 auf dem Roten Platz gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei demonstrierten. Sie schob einen Kinderwagen, ihr drei Monate altes Kind lag darin. Verglichen mit Natalja ist meine Angstschwelle sehr, sehr niedrig.»
 
Diese Aussage hat mich sehr erstaunt, zugleich innig berührt, denn von dieser Aktion habe ich verständlicherweise in der Tschechoslowakei nichts gehört und später in der Schweiz war ich der deutschen Sprache noch nicht mächtig, um darüber lesen zu können. Auch in ihren Büchern schweigt Ulitzkaja, denn sie beschreibt solche Aktivisten und Proteste nicht. Sie kritisiert zwar nicht direkt, aber durch das genaue Beschreiben einzelner Schicksale, was und wie der Protagonist lebt, kann man einiges herauslesen, wenn man solche Lebensweisen kennt. Das Denken ihrer Protagonisten ist nie rebellisch, nie kritisch, sie haben keine Wut, sie motzen und beklagen sich nicht, sogar wenn die Liebe zerbricht, als hätte der russische Mensch sein Inneres ausgeleert und als Persona resigniert. Was sie beschreibt, ist meistens das intellektuelle Leben, ihre Heroen sind in der Kunst verwurzelt, egal ob Theater, Musik, Literatur, oder Malerei, dort ist ihr politisches und rebellisches Bewusstsein – in schweigenden Bildnissen einer von Kultur durchdrungenen Seele. Es ist die Kunst, die das Dulden und Ertragen erträglich und den kleinsten Raum zum Universum macht. Und ich merke beim Lesen, soviel Duldsamkeit und Genügsamkeit kann ich manchmal nicht ertragen, sie nervt, sie reizt, weil sie erinnert ...




Eigentlich haben wir geglaubt, dass alles lockerer werden würde, wir haben eine neue, offene Regierung, die danach strebt, ein Liberalisierungs- und Demokratisierungsprogramm durchzusetzen und den Sozialismus grundsätzlich zu reformieren. Ausländische Journalisten erfinden den Begriff des «Prager Frühling», darunter versteht man den Versuch, einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu schaffen. In den Schulen und der öffentlichen Verwaltung verschwinden plötzlich ohne Kommentar die Bilder des alten Präsidenten*35) und werden durch neue Gesichter ersetzt. Dubcek und Svoboda lächeln uns von den Wänden entgegen und wir alle sind angesteckt mit euphorischem Fieber der Hoffnung. Das Menschenland belebt sich, bewegt sich, brodelt und traut sich. Für die einen ein Segen, für die anderen eine Seuche.

Wir schreiben das Jahr 1968, in Paris revoltieren Studenten und Protestbewegungen der neuen radikalen Linken, die Bewegung ergreift halb Europa. Die Namen: Rudi Dutschke, Joschka Fischer, Günter Wallraff und Daniel Cohn-Bendit, Fürsprecher und Begriffe dieser Bewegung aller Jugendlichen, Pubertierenden und politisch Interessierten. Wir hören kein staatliches Radio, sondern das verbotene «Radio Free Europe»*36), dessen Ziel es ist, den Hörern in den ehemals kommunistisch regierten Ländern freien Nachrichtenzugang und unverfälschte Informationen über alle Bewegungen, die hinter dem Eisernen Vorhang stattfinden, zu ermöglichen. Natürlich sehen die Sowjetunion und ihre Verbündeten dies als feindliches Propagandainstrument, weshalb es unter Verbot steht. Die Welt ist gross und zugleich zu klein, bünzlig und begrenzt, wenn irgendein Bürolist-Idiot sich selbst ermächtigt, das Visum zu verweigern, nur schon wegen des Verdachts, «er könnte die Jakobsleiter verlassen und fliehen»

Aber ich bin immer noch die Schülerin, die etwas zu Ende bringen will und muss, die von Politik keine Ahnung hat und doch mitten in einer unaufhaltsamen Umwandlung steht, zwar einiges mitbekommt, sich auch Fragen stellt, oder zumindest im Hinterkopf als Zeitdokument speichert. Ich, als beispielhaft erzogenes Kind dieses politischen Systems, an der Peripherie meines Bewusstseins, nehme doch irgendwie wahr, wie die Ideologie und das ganze Gedankengut meiner bisherigen Zeit vor dem Zusammenbruch stehen. Da ich aber gerade in einem Individuationsprozess bin – raus aus der Masse, rein zum Individuum, zum Ego – gehört mein Hauptinteresse in dieser Zeit der Kunstgeschichte, Fotografie und Chemie. Da ich geheiratet habe und schwanger bin, mache ich beim Schuldirektor davon Meldung und bitte um Erlaubnis, weiter studieren zu dürfen. Der Professor, eine grossartige Persönlichkeit, wundert sich, dass ich überhaupt frage, seiner Meinung nach ist es mein Problem und nicht seins und wenn ich es mir zutraue, liegt es nicht in seinem Interesse, dies zu verhindern. Natürlich traue ich es mir zu und auch mein Kind zeigt sich solidarisch und hält sich in dieser Zeit der Prüfungen im Wachstum zurück, mein Bauch ist klein gewölbt, als hätte ich nur ein paar Kilo zugenommen. Ende Juni, im siebten Monat schwanger, mache ich die Matura und bin eine von den Strebern, die am besten abschliessen. Stolz und voller Hoffnung auf Vergebung telefoniere ich mit meiner Familie, meine Noten können aber die Narben nicht glätten, zu verletzt das Vaterherz, zu beschmutzt der slowakische Stolz, die Hure und die verstossene Tochter wird mir von neuem zugeschrieben und bleibt mein Kainsmal. Meine Mutter näht mir noch das letzte Kleid für die Maturafeier, zum ersten Mal kein Rot, sondern Dunkelblau, ein Abschiedskleid.

Die Welt meiner Eltern hat sich vor mir zurückgezogen und verschlossen, ich versuche meine Enttäuschung und Schuldlast zu verdrängen, sie dem Schweigen und Gott, der irgendwo vielleicht doch da sein soll zu überlassen. Ich will nichts spüren, nichts denken, mein neuer Anfang soll ein Buch mit weissen Blättern, ohne vorgedruckte Linien, die richtungsweisend und bestimmend sind, sein. Ich kann nicht einmal sagen, dass alles so «plötzlich» gekommen ist, ich habe es gewusst, geahnt, dass dieses Verbindungsseil zwischen mir und meinem Vater diese Zerreissprobe nicht überstehen wird, nichts geschieht plötzlich, denn jedes neue Ereignis entsteht als Kettenreaktion verschiedener Entscheidungen und Handlungen, die überlegt oder spontan, sich gegenseitig anziehen oder wegstossen und nur das Wort «plötzlich» ist es, welches plötzlich entsteht. Und auch Pavels Familie bietet mir keinen Trost, sie bleibt für mich ein Niemandsland, egal wie nachhaltig die Heirat ist und das an sie Angebundene auf mein Schicksal wirken wird.


 

(1) Mein Hochzeitsbild, fotografiert von Luba Laufová, 1968

Mein Hochzeitsbild, fotografiert von Luba Laufová, 1968

 

 

Die Nacht der Ohnmacht
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21.  Die Nacht der Ohnmacht

Und dann erkennt man sich selbst, die Meisterin der Verdrängung und der Verzeihung. Das geübte und perfektionierte Vergessen, dass mich jetzt mit meinen eigenen Waffen bekriegt und all die ungenutzten Energien der Wut entflammt, die ich lebenslang zurückhielt. Aus Vernunftgründen verhielt ich mich oft gegen meinem Willen gut und anständig, Anständig dem anderen gegenüber, weil ich mir sicher war, ich habe die Kraft dazu. Und so das Gute in und an mir, offenbart sich neu als Opferhaltung und Tathandlung zugleich. Es sind Kleinigkeiten, Nebensächlichkeiten, banale Entscheidungen, Erfahrungen und Verletzungen, die mir zugefügt, oder die ich anderen zugefügt habe. Sie überfallen mich in der Nacht, aufgeblasen und vervielfältigt, wie glorifizierte Monster, die mich ausschliesslich an meine Verfehlungen und vergeudeten Chancen erinnern. Immer wieder. Diese Erinnerungen vermehren sich wie die Motten, sie holen sich aus meinem Lebens-Lesebuch nur das Unfassbare, vielleicht gedachte aber nie ausgesprochene. Es sind die Zwischenräume unter geschriebenen Sätzen, die abstrakt als alternative Fakten in Erscheinung treten und sich als Begriffe – Gewissen, Scham und Schuld – transformieren! Sie sind nicht auszuhalten und immer mehr, im Zustand des Erschreckens, frage mich, wie zum Teufel habe ich gelebt und überlebt, war ich je glücklich, fröhlich, geschweige denn geliebt gewesen?


 

Die Nacht auf den 21. August 1968, eine Apokalypse Now, Coppola hatte das Vietnamepos noch nicht gedreht, aber als ich den Film zum ersten Mal sehe, vor allem höre, wird mir bewusst, dass ich diese Geräusche und den Tanz der Helikopter auf der Leinwand, die nichts Gutes bedeuten, dass ich die gut kenne. Sie sind mir vertraut, wie aus einem wiederkehrenden Albtraum, sie erschrecken mich genauso wie in dieser Nacht, die schon längst der Vergangenheit angehört. Aber jetzt bin ich immer noch in Bratislava und wache auf durch diesen seltsam aufdringlichen Lärm und horche: diesen unheimlich tönenden, bedrohlichen Geräuschen der Strasse und seltsamen Lichter am Himmel, die wie in einem Science-Fiction ganz nah über die Dächer fliegen, sie fast berühren, sich entfernen, um wieder zurückzukommen, sie werfen Lichtstrahlen auf die Häuser, Strassen, Menschen, die Luft vibriert, lärmt, donnert, stöhnt, ja genau, sie stöhnt wie ein Greis, der nach Atem ringt. Ich wache als Erste auf, die Fenster des Kommunistenhauses vis-à-vis leuchten wie ein Weihnachtskalender, dahinter springen Schatten einer Laterna Magica, da pulsiert das Leben, wie ich es noch nie gesehen habe. Ein Stich ins Wespennetz? Meine Stalkerin hält sich am Fensterrahmen fest und glotzt zum ersten Mal nicht zu mir, nicht in mein Zimmer, sondern schaut zum Himmel, ihr Gesicht, das Gesicht einer Atheistin, die gerade ein Wunder erlebt und eine Heilige erblickt, die auf einem Lichtspot herunterfährt. Das rote Fensterkissen, auf das sie meistens ihre Arme stützt, liegt auf der Strasse, in der Dunkelheit trampeln Leute darauf, barfuss oder mit Schuhen, es ist Sommer, es ist warm und sie alle eilen zum Platz des slowakischen Nationalaufstands um die Ecke. Ich wecke meinen Mann Pavel aus seinem tiefen, herrlich unbekümmerten Schlaf: «Pavel, Paveeel, wach auf! Hörst du es? Da tut sich was! Verdammt, steh endlich auf!» Aber er dreht sich nur auf die andere Seite, murmelt etwas wie «Reg dich nicht auf, das sind nur Ausserirdische» und schläft weiter.

Es dauert eine Weile, bis ich ihn auf die Beine bringe und er auch wahrnimmt, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Mit einem Blick nach draussen erfasst auch er sofort die brennenden Lichter in den Fenstern des Kommunistenhauses, die kreisenden Helikopter am Himmel und manche noch im Pyjama auf die Strasserennenden Menschen. Und dann geht es sehr schnell. Es ist nicht nur die Neugier, sondern auch Angst, die uns nach Draussen drängt und schon stehen wir mit anderen Nachbarn auf dem Gehsteig vor der russischen Buchhandlung und schauen dem Unglaublichen zu. Hundert, Tausend oder, was weiss ich, Millionen Panzer, leicht slowakisch übertrieben. Wie eine Schlammlawine, ohne Unterbruch rasselt und rattert sie daher, unvorstellbar, gespenstisch, keine Science-Fiction, kein Film Dreh, sondern ein wache Albtraum, ein Wahnsinn, den wir nicht verstehen und es nicht glauben wollen, dass dies wirklich geschieht. Ein Panzer nach dem anderen rollt vorbei, stundenlang, vielleicht fahren sie im Kreis herum, wir wissen es nicht. Ich habe nicht gewusst, dass Panzer so gross sind und vielleicht war es auch das Lichtschimmern der Morgenstunde, das sie noch grösser, noch wuchtiger und bedrohlicher erscheinen lässt.

Wir alle, die hier stehen, sind irritiert. Was geschieht da, was sehen wir und was hören wir ausser diesem donnernden, gespenstischen Fluss aus Eisen? Es gibt noch keine Informationen, keine Erklärung, die Leute rätseln: «Die Deutschen haben uns überfallen! Nein, es sind die Russen, siehst du nicht die roten Sterne?Ach woher, das sind sicher die Deutschen, das kann nur eine Finte sein! Nein sicher nicht, es sind die Russen ... nein die Deutsche ... nein die Russen... und so weiter. Sprachfetzen wie aus dem Hörspiel «Krieg der Welten» von Orson Wells, einer fiktiven Reportage, die er 1938 (also genau vor 30 Jahren), als ein glaubwürdiges Katastrophen-Szenario eines Angriffs von Ausserirdischen auf die Menschheit inszenierte. Nur dies hier war kein Hörspiel und keine Ausserirdischen, das musste auch Pavel eingestehen. Tatsache ist, dass auf jedem Panzer und auch auf den Mützen der Soldaten dieser bekannte rote Stern, der wie eine Freundschafts-Logo für sich wirbt und uns zugleich droht. Die Soldaten schauen uns genauso misstrauisch und verdächtig an, wie wir sie. Einfach gesagt, wir bestaunen uns gegenseitig. Da läuft etwas grundsätzlich falsch. Es gibt keine Nachrichten, die uns aufklären, wie wissen nicht was ist mit Dubcek und Svoboda, und warum schweigen sie. Und erst irgendwann am Morgen, als jemand Kaffee in einer Thermosflasche vorbeibringt, erfahren wir von «Radio Free Europe», dass wir gerade von unseren Brüdern und Freunden aus der Sowjetunion okkupiert worden sind und dass unserer Traum von Sozialismus mit menschlichen Antlitz wirklich nur ein Traum war und auch bleibt. Und wie ein Damoklesschwert hängt über uns alle die Frage der Fragen – wer ist hier verrückt geworden?

Aus der Presse: In der Nacht zum 21. August 1968 marschierten etwa eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens in die Tschechoslowakei ein und besetzten innerhalb von wenigen Stunden alle strategisch wichtigen Positionen des Landes. Es ist die grösste Militäroperation in Europa seit 1945. Rumänien beteiligt sich demonstrativ nicht an der Invasion, die Ost-Deutschen auch nicht. Vermutlich sollte die Bevölkerung der Tschechoslowakei durch den Anblick von Invasoren in deutscher Uniform nicht noch zusätzlich irritiert werden. 

Sind wir trotzdem. Die nächsten Tage sind die Strassen überall mit Panzer blockiert und da wir alle Russisch sprechen, versuchen wir mit diesen jungen, fast Kinder-Soldaten, die sicher so alt waren wie wir, zu kommunizieren. Hey, junge, was willst du hier? Warum bist du gekommen, wir haben dich nicht gerufen, geh nach Hause, du hast hier nichts zu suchen, wir brauchen deine Hilfe nicht, es gibt keine Konterrevolution, man hat dich angelogen, schau uns an, uns geht gut. Es sind Gespräche, die nicht aus Wut und Ohnmacht entstehen, sie sind leidenschaftlich, freundlich, ruhig, manchmal aber auch aggressiv und ungeduldig, man ergattert zwischendurch ein Lächeln oder Tränen und manchmal auch eine Entschuldigung. Sorry, das habe ich nicht gewusst, ich schäme mich so ... Es geschieht auch das Unausweichliche und Panikschiessereien gehören dazu, denn auch sie, diese ahnungslosen Soldaten, die scheinbar schon wochenlang um unsere Grenzen herumgeschlichen sind, haben wenig Ahnung, worum es geht und noch mehr Angst als wir. Die Geschäfte sind sehr schnell leer und ausverkauft, man bereitet sich für eine längere ungewisse Zeit vor.  Die erste Toten kommen aus Bratislava, ich selbst bin Zeugin, wie vor einem Geschäft ein junger Lastwagenchauffeur erschossen wird, scheinbar hat er mit seiner Fahne auf dem Auto provoziert, er bleibt blutüberströmt auf dem Gehsteig liegen und wir alle versuchen uns zu verstecken, denn wir wissen nicht, woher der Schuss kam. Später hören wir von 4 erschossenen Studenten, die vor der Komensky Universität demonstrierten. Es wird aber auch anderswo geschossen, alle Gebäude und Kirchen rund um den H’viezdoslav Platz, gerade neu renoviert, wurden mit Kugeln wie ein Sieb durchlöchert und es bleibt ein Rätsel, warum dass gerade hier sich der Tod zurückgehalten hat. Und so bleibt der Platz auch einige Jahre lang, man hat kein Geld für die Renovation. Die durchlöcherte Architektur wird unabsichtlich zum Mahnmal und als ich nach vielen Jahren endlich nach Hause gehen darf, sind die Löcher immer noch da.  

Aber dazwischen ist alles da, das Unbehagen und die Angst der Nacht und des Tages danach, in der unsere neu erwachte Welt zerbricht, nur der Mensch selbst nicht. Ab 20.00 Uhr gibt es ein Kriegsrecht ähnliches Ausgehverbot «zu unserem Schutz», das so paradox ist, weil wir nach der Meinung der Regierung von gepanzerten Schutzengeln umzingelt sind. Am Tag schlendere ich durch die Strassen, fotografiere, beobachte, noch habe ich keine Angst, noch spreche ich mit Soldaten, stelle Fragen und gebe Antworten. Dann berührt mich etwas innerlich, und ich frage mich, ob auch mein langjähriger russischer Brieffreund Wolodja, der mich überraschend letztes Jahr hier besucht hat, ob er unter ihnen ist. Ich erinnere mich sehr gut an ihn, wir sassen am Abend am Donauufer unter Birken, ein leuchtende Mond über uns, so richtig zufälliger Kitsch, als er, von plötzlicher Leidenschaft befallen, sich auf mich stürzte, umarmte und küsste und das so intensiv und stark, dass ich dachte, er bricht mir alle Knochen und saugt mir die Zunge und die Lunge heraus. Als ich aus der Umarmung befreit, ihn gefragt habe, ob er mich umbringen will, sagt er «Hey, Blazenka, wir Russen, wir sind so, unsere Seele wird durch die Leidenschaft navigiert. Wir sterben entweder im Krieg oder in der Liebesumarmung». Ich war damals froh, aus diesem Date lebendig herauszukommen, aber in diesen Tagen musste ich automatisch an ihn denken, ob er auch hier in Bratislava, oder irgendwo in Prag in einem Panzer sitzt und sich fragt, ob er in einer Kriegs- oder Liebesmission unterwegs ist. Was in der russischen Seele gleichgestellt, eigentlich egal ist. Es wird mir zum ersten Mal bewusst, wie nah die Liebe und der Tod miteinander verknüpft sind. Die ganze Zeit lauert dieser Gedanke in meinem Kopf und ich habe den Wunsch, falls ich ihm begegnen sollte, ihn in die Arme zu nehmen und fest an mich zu drücken, ohne ihm die Knochen zu brechen, obwohl jetzt hätte ich einen Grund dafür.  

Ich bin jung und alt zugleich, mit 18 bin ich so etwas, wie volljährig und so fühle ich mich auch. Erwachsen. Von einer Unbekümmertheit durch die Strassen getragen, ignoriere ich die Gefahr, ich bin geschützt in der Menge, die sich genauso anfühlt wie ich. Bis ich eines Tages in eine heikle Situation gerate und von einem Soldaten aus der Mongolei, dem mein Fotografieren missfällt, trotzt meiner sichtbaren Schwangerschaft angegriffen werde. Mit dem Gewehrkolben schlägt er mir den Fotoapparat aus der Hand und zwar mit einer solchen Wucht, dass ich selber auch zu Boden gehe. Wie eine Schildkröte auf dem Rücken liege ich da, ein Menschenkreis um mich herum, aber keiner traut sich mir zu helfen, alle starren auf meinen Bauch, auch der kleine Soldat, mit noch kleineren, fast geschlossenen schrägen Augen, er zielt weiter auf mich und zittert, aus Angst oder aus Wut. Für mich sieht er genauso aus wie einer von den sehr begabten Austauschstudenten Narancacral und Bajarbatar aus der Mongolei, die in unsere Klasse Holzplastik und Malerei studiert haben. Die ganzen vier Jahre sprachen sie kein Slowakisch, wozu auch, bei den schriftlichen Maturaprüfungen zeichneten und skizzierten sie alles, was sie sahen, die Lehrer, Schüler, Tische, Stühle, uns, sich selbst und bestanden die Matura weiss Gott wie und warum.  Ich weiss nicht, ob die beiden noch da oder schon zu Hause sind und ob sie auf den Rücken ihrer Pferde durch die unendliche Steppe galoppieren, wie sie uns, als vom grössten Glück, erzählt haben. Ihre Pferdezeichnungen waren genial. Später wird mir Bewusst, ich hatte Glück, dass dieser Mongole nicht durchgedreht ist und nicht geschossen hat. Es war vielleicht mehr ein Wunder als Glück, denn es geschah vor der katholischen Dreieinigkeits-Kirche, und irgendjemand hielt seine Flügel über mich.

Ich höre auf zu fotografieren, die Regierung bittet uns, die Bevölkerung, Ruhe zu bewahren und keinen Widerstand zu leisten, sie glaubt an Diplomatie und Kommunikation und wir auch, glauben und vertrauen dem, was uns gesagt wird, trotzdem aber beteiligen wir uns heimlich an einem seltsam aktiven Widerstand: So wurden alle Ortstafeln und Strassenschilder verdreht, oder mit dem Slogan «Richtung Moskau» übermalt oder abmontiert, so dass ortsunkundige Besatzer in falsche Richtungen geschickt wurden und das nicht nur in den grossen Städten, sondern im ganzen Land. Eisenbahner leiteten Nachschubzüge für die Rote Armee auf Abstellgleise, tausende, zumeist selbstgezeichnete oder selbstgedruckte Plakate, die die Besatzer verspotteten, wie z.B. «Lenin wach auf, Breschnew ist verrückt geworden!» werden an den Hauswänden angebracht und wir alle machen mit. Die Stadt ohne Richtungstafeln wird für die, die sich nicht auskennen, zum Labyrinth und für die Einheimischen zum herrlichen Erlebnis, sich in der eigenen, plötzlich namenlosen Stadt so zu bewegen, als sei jeder von uns zum Geheimnisträger einer wichtigen Botschaft ernannt worden.

Wenn ich jetzt darüber schreibe, wird mir bewusst, was für eine aufregende, bewegte und ereignisreiche Zeit das Jahr 1968 war. In den USA beginnt die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner, Martin Luther King und Robert Kennedy werden erschossen, das Foto des nackten, von Napalmbomben verbrannten Mädchens, löst weltweit Proteste gegen den Vietnamkrieg aus, die ausgehungerte Biafra Kinder mit ihren aufgeblähten Bäuchlein und den dünnen Beinchen erschüttern Europa, der ehemalige deutsche Kanzler Kiesinger wird von Beate Klarsfeld geohrfeigt und öffentlich Nazi genannt, die junge deutsche Generation stellt Fragen zum Holocaust und verlangt Antworten, erste Farbfernseher und Tiefkühltruhen sind da, Sexualkunde wird zum Schulfach, es entstehen erste Kommunen als neue Form des Zusammenlebens und es ist die Zeit des Beatles, Rolling Stones und langen Haaren, der Hippiebewegung und Studentenrevolten, Slogans wie «es ist verboten zu verbieten» und «macht liebe statt Krieg (make love not war)» wurden zur Motto der Generation 68, ebenso wie die kleine rote Mao Bibel. Der Film Easy Rider mit Henry Fonda und die psychodelische Droge LSD erreichen auch uns, sowie die Frauenbewegung, an den Olympischen Spielen in Mexiko sorgen die afroamerikanischen Sprinter Smith und Carlos mit ihrem «Black-Power-Gruss» für einen Skandal, die erste Computermaus wird erfunden und Apollo 8 bringt uns den Mond fotografisch näher. Dies alles betrifft irgendwie auch mich, denn diese Zeit zeigt mir, wie schnell sich die Weltordnung und Lebenshaltung innerhalb eines Jahres verändern und einen derart beeinflussen können, dass sogar das Denken wie ein lebendiger Organismus erscheint, der wächst, sich verändert, weiterentwickelt und alle Phasen menschlichen Daseins durchwandert, ohne dem Tod anheim zu fallen. Alles, was jetzt geschieht, ist für mich irgendwie richtungsweisend, keine Ahnung wohin, wenn ich aber diese Ereignisse, ohne sie ganz bewusst wahrgenommen zu haben, doch im Kopf oder im Herz behalte und mich zudem genau erinnern kann, was und wie sich all das angefühlt hat, muss es einen tieferen Sinn haben.

Und wie nach jedem Erdbeben eine Tsunami Flutwelle entsteht, die alles mit sich mitreisst, so auch hier, von einem Tag auf den anderen, werden auch wir durch eine Fluchtwelle mitgerissen, die uns in das weite Meer der Welt und die Ungewissheit hinaustragen wird. Die ersten, die gehen, ist Pavels älterer Bruder Peter mit seiner Frau Sonja und Sohn Ulysses. Die Schwiegermutter ist glücklich, ihr grösster Wunsch geht in Erfüllung. Sie will, dass die Kinder in die Welt hinausgehen und eine Chance auf ein besseres Leben haben. Sie beantragen in Wien beim kanadischen Konsulat Asyl, kommen zuerst in ein Auffanglager, wo sie mindestens vier Monate in Quarantäne bleiben müssen, die eine präventive Schutzmassnahme gegen ansteckende Krankheiten ist, bevor sie nach Vancouver fliegen. Eine Woche danach ist es Fedor, der jüngere Bruder, der das Haus verlässt.

Ich weiss nicht, wie sich Pavel fühlt, er beklagt sich nicht, aber ich bin mir sicher, er leidet wie ein Hund. Pavels grösste Angst aber ist der zweijährige Militärdienst, irgendwo in Tschechien, der ihm bevorsteht und den er demnächst antreten soll. Für ihn eine Horrorvorstellung und das Schlimmste, das ihm droht. Das kann und will er nicht und zudem ist es auch das Einzige, was die Schwiegermutter mit all ihren Verbindungen nicht verhindern kann. Pavel ist total ungeeignet für Disziplinierungen in Gehorsamkeit, Ordnung, Anpassung und Pflichterfüllung und auch Sport, ausgenommen das Schwimmen, ist kein Freund von ihm. Er kann kein Dienstverweigerer sein, das gibt es bei uns nicht, Pazifist hin oder her, er landet entweder im Gefängnis, oder kann höchstens als Student einer Hochschule den Dienst auf später verschieben, aber ein Student ist er nicht. Dem Militärdienst zu entkommen ist eigentlich sein Hauptgrund, um wegzugehen. Wenn es nicht so tragisch wäre, könnte man darüber lachen, wegen einer unüberlegten Bemerkung, dass Lenin durch die Mumifizierung ganz kleine ausgedörrte Ohren hat, schreibt er mir aus Moskau auf einer Postkarte, so wird er als politisch unzuverlässig gebrandmarkt und mit Ausreiseverbot bestraft. Man macht keine Witze über Gott und noch weniger über die Welt des realen Sozialismus, die für ihn zu einem Albtraum wird, aus dem es kein rettendes Erwachen gibt. Er muss bleiben und für einen neunzehnjährigen, der meint alles schon über das Leben zu wissen, eine Katastrophe. Wenn es in meiner Macht wäre, würde ich ihn auch alleine und ohne mich auf die Reise in die Welt schicken, denn ich weiss, was es für ihn bedeutet.

Als Termin für die Geburt unseres Kindes ist der 4. September vorgesehen. Und genau an diesen Tag kommt Pavel ganz aufgeregt nach Hause und wedelt überglücklich mit seinem Pass, in dem ein dreitägiges Visum nach Wien steht. Ich weiss nicht, wie er das geschafft hat, oder es ist wahr, was sich herumgesprochen hat, dass die Büroangestellten seit der Besatzung sehr viel grosszügiger mit der Visa-Vergabe umgehen und jeder, der eins haben will, es auch ohne Schwierigkeiten bekommt. «Geht nur», ist die Devise. Pavel, das Glückskind, hat also auch endlich die Erlaubnis zum Verreisen, ich werde nicht gefragt, die Flucht ist eine beschlossene Sache. Die Schwiegermutter übernimmt sofort die Logistik und befragt mich: «Hast du schon Wehen? Nein? Das ist gut, das ist sehr gut, packt deinen Koffer, in vier Stunden habt ihr einen Zug und in sieben Stunden seid ihr in Wien. Die erste Geburt dauert sowieso siebzehn Stunden und bis dahin bist du dort und es wird dir sicher geholfen. Bis jetzt hast du Gottseidank keine Komplikationen, das ist gut und das wird auch so bleiben. Glaube mir. Und falls das Kind im Zug zu Welt kommen sollte, das ist auch gut, dann kann es sein Leben lang gratis Zug fahren. Ich bestelle das Taxi, welches euch zum Bahnhof fährt, wir werden uns nicht gross verabschieden, ich will nicht, dass die Gäste Verdacht schöpfen, ihr geht wie immer bei der Küche vorbei und tschüss ...»

Ich widerspreche nicht, ich befolge blind alles was sie sagt, ich vertraue ihr. Sie drückt mir 400 Schilling in die Hand, mehr konnte sie auf die Schnelle nicht auftreiben. Sie muss keine Angst um ihren Sohn haben, sie weiss, bei mir wird er nicht verloren gehen, ich bin das Arbeiterkind, die Fleissige und praktisch Denkende, die Bodenständige und die Verlässliche. Ich muss nicht viel packen, denn meinen Koffer für die Klinik habe ich schon seit einer Woche bereit, ich renne noch schnell in die russische Buchhandlung um die Ecke, kaufe das Buch «Wie bringe ich selbständig mein Kind auf die Welt» und von Dostojewski «Die Brüder Karamasow» in drei Teilen. Sie stehen bis heute in meiner Bibliothek. Den Koffer zu ergänzen geht schnell, ein Kleid, drei Unterhosen, zwei Paar Socken, ein paar Schuhe, Pullover und Jeans, Kulturbeutel mit Zahnpasta, Zahnbürste, Seife, Kamm, Shampoo, Waschmittel und zwei Handtücher. Zum Essen vier Thunfischkonserven, eine Flasche Mineral und sonst eben alles für das Baby: 2 Bodys, Strampler, Pullover, Nuggi, Baby-Pflegeprodukte und vier Packungen Stoffwindeln, der Koffer muss klein, aber gross genug für das Notwendigste sein. Wir gehen schliesslich offiziell nur für drei Tage nach Wien. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich noch alles für Pavel in seinen Koffer eingepackt habe, er verschwand nämlich für die ganze Zeit, wollte sich noch von Freunden verabschieden und kam erst im letzten Moment an, als das Taxi schon da war.

Ich telefoniere vorher noch nach Hause, will mich von den Eltern verabschieden, egal ob es sie interessiert oder nicht, erfahre aber, dass sie in Jugoslawien, irgendwo am Meer, ihre überhaupt ersten Ferien verbringen, verabschiede mich vom jüngeren Bruder Dusan, ohne zu sagen warum, bringe noch unser Zimmer in Ordnung, begiesse die einzige Pflanze, ein Farn auf dem Fenstersims, winke meiner Stalkerin gegenüber zu und dann ist das Taxi da, die Schwiegermutter macht uns unauffällig aus der Küche ein Abschiedshandzeichen und erst als ich im Zug sitze und der langsam in Fahrt kommt, wird mir bewusst: ich, gerade knapp Volljährig, mit frischerworbenem Maturazeugnis in der Tasche, aber nur mit einer Fremdsprache (Russisch) auf der Zunge, hochschwanger und jeden Moment gebärfähig, mit einem Koffer voll Windeln und einem Ehemann, ohne Geld und ohne Reiseziel, weiss nicht wohin, ich weiss auch nicht, ist es Mut oder Dummheit, die Ungewissheit als Zukunft zu wählen, ich lasse mich fallen in das was ist, in der Hoffnung, als Nichtschwimmerin im Fluss dieser Welt mitgetragen zu werden, aus dem Unglück in das Glück, oder umgekehrt. Alles wird gut. Ich sehe, wie die Stadt sich von mir entfernt und bei jeder Bahnschwelle, über die die Räder des Zuges hüpfen, galoppiert mein Herz, immer schneller und schneller und obwohl ich es nicht kann, fange ich an zu beten ...

Anmerkungen
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22.  Anmerkungen

KAPITEL 3.

*1) Nach den ältesten verfügbaren Aufzeichnungen wurde das Dorf Ende des 13. Jahrhunderts auf dem Gebiet von Paludza gegründet. Im Jahre 1297 stiftete König Andreas III. das Grundstück, auf dem das Dorf später gegründet wird, aus dem Besitz der königlichen Falkner. Es war ein gewisser John Galicius, der sein Anwesen auf dem gespendeten Grundstück baute und das Dorf Galovany gründete. Dieses Dorf gehörte zur Gruppe der einsamen Siedlungen der Land-Edelmänner, darum sind nicht viele Galovany-Dokumente erhalten geblieben (www.galovany.sk

KAPITEL 5.

*2) Diese Artikulárkirche, so bezeichnet man die evangelischen Holzkirchen in der Slowakei, wurde im 17. Jahrhundert nur aus Holz und ohne Eisennägel von Schreinermeister Josef Lang gebaut, ein Analphabet, der sich beim Bau ausschliesslich auf sein Wissen und seine Erfahrung verliess. Die Articuli schrieben vor, dass diese Kirchen nur an der Ortsgrenze und in Städten ausserhalb der Stadtmauern erbaut werden konnten. Zum Bau durfte kein hartes Material verwendet werden, die Kirchen durften weder Turm noch Glocke haben, und der Haupteingang musste seitlich, vom Wege abgewandt, gelegen sein. Diese Artikulárkirche ist eines der grössten Holzgebäude in der Slowakei und auch in Mitteleuropa. Der Grundriss ist in Form eines griechischen Kreuzes, mit zweigeschossigen Sockeln, die auf dicken Holzpfeilern ruhen, konzipiert. Die Kirche diente der Bevölkerung von drei Dörfern. Die obersten Emporen waren für Frauen reserviert und der gesamte Raum bietet bis zu 6000 Personen Platz. Der hölzerne Glockenturm wurde der Kirche nach der Veröffentlichung des Toleranzpatents von Joseph I. im Jahre 1781 hinzugefügt (www.museum.sk)

*3) Liptovská Mara, zu Deutsch «Liptauer Stausee» am Fluss Váh nahe dem Ort Liptovský Mikuláš in Liptov gebaut. Der Stausee entstand zwischen 1965 und 1975. Die Wasserfläche beträgt 22 km², seine maximale Tiefe beträgt 45 Meter. Es ist der grösste Wasserspeicher (nach Volumen) der Slowakei. Für den Bau wurden elf Dörfer überflutet, einige Gebäude dieser Dörfer, u. a. die frühgotische Kirche von Liptovská Mara, in das Dorfmuseum Liptov in Pribilina übertragen (wikipedia)

KAPITEL 9.

*4) Juraj Jánošík verkörpert eine slowakische Version von Robin Hood oder Wilhelm Tell, er war ein slowakischer Räuberführer und trat für die Rechte der mittellosen Bergbevölkerung ein, so wurde er zu einem Nationalhelden der Slowaken. Im Frühling 1713 wurde er verhaftet und in Liptovský Mikuláš inhaftiert. Laut Legende wurde er von seiner Geliebten an die Gendarmerie verraten, sie verhinderte zudem seine Flucht, indem sie unter seine Füsse getrocknete Erbsen streute. Am Tag nach seiner Gerichtsverhandlung wurde er durch Aufhängen an einem Haken, der durch seine Rippen gebohrt wurde, exekutiert. Er soll drei Tage am Haken gehangen und seine Pfeife geraucht haben, als die kaiserliche Begnadigung kam, war es zu spät. (wikipedia)

KAPITEL 11.

*5) Y. N. Harari «Eine kurze Geschichte der Menschheit»

KAPITEL 12.

*6) übersetzt «Die Machtlose»
*7) übersetzt «Blazena, eine schlechte Frau»
*8) übersetzt «selig» 

KAPITEL 13.

*9) János Kádár, als ungarischer Ministerpräsident an der Spitze der Macht nach der Niederschlagung des Volksaufstandes von 1956 in Ungarn. Bereits zu Lebzeiten wurde der Zeitraum seiner politischen Vormachtstellung im In-und Ausland als Ära Kádár bezeichnet. János Kádárs Mutter war slowakisch-ungarischer Abstammung und arbeitete als Dienstmädchen. Sie heiratete den Vater Kádárs nicht und zog ihren Sohn alleine auf. Kádár wurde katholisch getauft und trug den Familiennamen seiner Mutter. (wikipedia)

*10) Der Begriff «Kulak» war im Russischen eine seit dem 19. Jahrhundert verwendete Bezeichnung für relativ wohlhabende Bauern. Nach der Oktoberrevolution von 1917 und im Rahmen der Kollektivierung der Landwirtschaft von 1928 bis 1933 unter Josef Stalin wurde die Bedeutung des Begriffs «Kulak» in der Agitation der Bolschewiki mehr und mehr auf alle selbständigen Bauern ausgedehnt. Diese Personen und ihre Angehörigen wurden im Rahmen der Entkulakisierung der Jahre 1929 bis 1932 als Klassenfeinde in Arbeitslager deportiert oder erschossen. (wikipedia)

*11) John Fitzgerald Kennedy, (ermordet am 22. November 1963 in Dallas, Texas), häufig auch nur bei seinen Initialen JFK genannt, war von 1961 bis 1963 der 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Das gute Aussehen des jungen Präsidenten, sein gewaltsamer Tod und der Glanz, der ihn und den gesamten Kennedy-Clan umgab, trugen dazu bei, dass sich ein regelrechter Kennedy-Mythos bildete. Auch seine jüngeren Brüder Robert, der 1968 ebenfalls einem Attentat zum Opfer fiel und Edward spielten in der amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts als Politiker eine wesentliche Rolle. 

*12) Lyndon B. Johnson bekleidete ab 1961 das Amt des Vizepräsidenten unter John F. Kennedy. Noch am Tag von dessen Ermordung, 1963, wurde Johnson als neuer US-Präsident vereidigt. Johnson führte die verbleibenden 14 Monate von Kennedys Amtsperiode zu Ende und wurde bei der Präsidentschaftswahl im November 1964 mit der grössten Mehrheit der US-Geschichte im Amt bestätigt. Das Kernstück seiner Innenpolitik war die «Great Society», ein grossangelegtes, sozialpolitisches Reformprogramm. Dazu gehörte die Gleichberechtigung der Afroamerikaner voranzutreiben, die aber erst 1968 verfassungsrechtlich zugesprochen wird, die Zahl der in Armut lebenden US-Bürger um etwa die Hälfte zu senken und die «Krankenversicherung» für breite Schichten zugänglich zu machen. Zudem setzte sich Johnson stark für Verbesserungen im Bildungssystem, beim Umweltschutz, bei Waffenkontrollen und beim Verbraucherschutz ein. Aussenpolitisch dominiert vor allem der Vietnamkrieg seine Amtszeit. (wikipedia) 

*13) Juri Alexejewitsch Gagarin wurde am 9. März 1934 als Sohn einer russischen Bauernfamilie geboren. Er wurde 1960 vor allem wegen seines ruhigen Temperaments aus den 20 möglichen Kandidaten zum Kosmonauten ausgewählt. Am 12. April 1961 absolvierte der 1,57 m grosse Pilot mit dem Raumschiff «Wostok 1» einen spektakulären Raumflug und umrundete dabei nach ofiziellen Angaben in 108 Minuten einmal die Erde. Er war der erste Mensch im Weltraum und trug die Auszeichnung «Held der Sowjetunion». 1968 verunglückte Gagarin bei einem Übungsflug mit einer MiG 15, einem UdSSR-Kampfflugzeug, welches bis dahin die geringste Absturzquote verzeichnete. (wikipedia)

*14) Walentina Wladimirowna Tereschkowa, geboren am 6. März1937, war im Jahre 1963 nicht nur die erste Frau im Weltraum, sondern auch die einzige Frau in der Raumfluggeschichte, die allein flog, das heisst ohne Begleitung männlicher Kollegen. Am Bord von «Wostok 6» startete sie zu einer fast drei Tage dauernden Reise ins All und umkreiste die Erde 48-mal. Ihr Funkrufname war Tschaika (Möwe). (wikipedia)

*15) Antonín Novotný übernahm 1957 das Amt des Staatspräsidenten. Mit seinem Namen verbindet sich die harte Repressionspolitik der frühen 50er Jahre, vor allem auch die Fortsetzung der stalinistischen Linie bis weit in die 60er Jahre hinein. (wikipedia) 

*16) Hier muss ich die Bedeutung von Pionier und Komsomol erklären. Beide Begriffe kamen aus der Sowjetunion, die unser Staat wie ein braver und treuer Hund eins zu eins übernommen hatte. Nicht nur den Namen, sondern auch die Ideologie, Organisation und Ziele. Die Organisation Pionier entstand zuerst als Derivat bzw. Abspaltung der russischen Pfadfinderbewegung nach der Oktoberrevolution 1918. Die Grussformel der Pioniere verdeutlicht das Erziehungsziel der Organisation: «Zum Kampf für die Sache der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, seid bereit!», und die Antwort der Pioniere: «Immer bereit!» Sie war auf die Herausbildung eines kommunistisch erzogenen Bürgers ausgerichtet. Die Pionierorganisation war in drei Altersstufen eingeteilt. Mit 15 Jahren konnten die Mitglieder mit Empfehlung der Pionierorganisation in den «Komsomol» (kommunistischer Jugendverband) wechseln. Die wichtigste Aufgabe des Komsomol war die Organisation der Jugend bei der Transformation aus einer Ausbeutergesellschaft in eine moderne, sozialistische und kommunistische Gesellschaft. Schnell entwickelte sich diese Jugendbewegung in eine Massenbewegung aus über 140 Ländern, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg und der Europaaufteilung in Ost- und Westeuropa. Nachdem sich der Komsomol und die mit ihm verbundene Pionierorganisation im Rahmen von Glasnost und Perestroika neue Strukturen gegeben hatten, brachen beide Organisationen schnell zusammen. Die Pionierorganisation wurde gemeinsam mit dem Komsomol nach dem gescheiterten Augustputsch 1991 sogar verboten. Nach der Auflösung der Sowjetunion und ihrer Retransformation in eine kapitalistische Räuberwirtschaft wurde auch der Komsomol aufgelöst und viele seiner Führungskader beteiligten sich am Raub des Volkseigentums und bereicherten sich masslos am neu entstandenen Staatssystem. Und das nicht nur in Russland, sondern auch bei uns. Mit den Vorstellungen, die Lenin einst über die revolutionäre Rolle des Komsomol beim Weg in den Kommunismus vertrat, hatte das alles jetzt nichts mehr zu tun. (wikipedia) 

KAPITEL 16.

*17) Damit die Eigentumswohnungen schneller und günstiger gebaut wurden, verpflichteten sich die Familien, jede freie Zeit beim Bau mitzuhelfen nach dem sogenannten «Hilf-Dir-Selbst-System». So wussten wir alle, die Erwachsenen sowie Kinder, was wir am Wocheneden zu tun hatten, nämlich beim Eigenheim aktiv mitzubauen ...

*18) die Menstruation

*19) Die «kleine» Kirche Pressburger Protestanten (1659) wurde für Slowaken und Ungaren auf dem Platz des mittelalterliches Ghettos erbaut. Auch diese Kirche wurde auf dem Höhepunkt der Gegenreformation den Evangelischen im Jahre 1672 abgenommen und den Ursulinen gegeben. Die Ursulinen waren eine katholische Ordensgemeinschaft, deren Hauptanliegen die Erziehung und Bildung von Mädchen war (www.bratislava.sk)

*20) Standesamt der Stadt

*21) Abkürzung (ŠUP) für die Kunstgewerbeschule. Vorbild und Inspiration für die Gründung der Kunstgewerbeschule in Bratislava im Jahr 1928 war das Bauhaus – heute ein Synonym für Architektur und Design der klassischen Moderne – wurde 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründet. Zu den Mitgliedern zählten Wassily Kandinsky, Paul Klee, Oskar Schlemmer und Ludwig Mies van der Rohe. Ähnlich wie das Bauhaus sollte die Schule moderne Gestalter für Handwerk, Industrie und Reklame ausbilden und damit die beginnende Modernisierung der Slowakei fördern. Heute ist in dem Gebäude die «Deutsche Schule Bratislava (DSB)» untergebracht. Sie ist eine deutsch-slowakische Begegnungsschule, von der Bundesrepublik Deutschland sowie vom Bildungsministerium der Slowakei geförderte und anerkannte Deutsche Auslandsschule.

*22) Kofola: Für Tschechen und Slowaken ein alter Bekannter, für Fremde eine Überraschung – das ist Kofola. Dieses nichtalkoholische, etwas an Cola erinnernde, kohlensäure- und koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk gehört in der Tschechischen sowie in der Slowakischen Republik traditionell zu den bekanntesten und äusserst beliebten Getränken. Kofola wurde Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts entwickelt. Auf höchster politischer Ebene der ehemaligen Tschechoslowakei wurde damals entschieden, dass es eine Alternative zu den im Lande nicht erhältlichen Coca-Cola und Pepsi-Cola geben sollte (wikipedia)

*23) Nofretete war die Hauptgemahlin des Königs Echnaton und lebte im 14. Jahrhundert v. Chr. Bekannt wurde die Königin durch ihre Büste aus Kalkstein und Gips, die im Ägyptischen Museum im Nordkuppelsaal des Neuen Museums in Berlin ausgestellt ist.

*24) Juraj Jakubisko, ein slowakischer Regisseur, Szenarist und Kameramann, geboren am 30. April 1938 in Kojšov, Tschechoslowakei, heute Slowakei. Er studierte Regie an der FAMU in Prag und debütierte mit dem Spielfilm «Kristove roky» im Jahr 1967, nachdem er schon mehrere Kurzfilme gedreht hatte. In den 70er Jahren konnte er aufgrund der Zensur nur Dokumentarfilme drehen, nachdem seine Filme «Zbehovia a pútnici», «Vtáckovia, siroty a blázni» (Läufer und Pilger, Vögel, Waisen und Narren) und «Dovidenia v pekle, priatelia!» (Auf Wiedersehen in der Hölle, Freunde!) verboten worden waren. Erst Ende der 70er Jahre drehte er den Spielfilm «Postav dom, zasad strom» (Baue ein Haus, pflanze einen Baum), bevor er später mit den Filmen «Tisícrocná vcela» (Tausendjährige Biene) und «Perinbaba» (Frau Holle) seinen Höhepunkt erreichte. Jakubisko in Prag, ist Mitglied der Europäischen Filmakademie und seit 2001 Dozent an der FAMU (www.osobnosti.sk

*25) Die «politische Ökonomie» untersucht die Gesetze, denen die Produktion und die Verteilung der materiellen Güter in der Gesellschaft auf ihren unterschiedlichen Entwicklungsstufen unterworfen sind. Eine klare Definition aber für «politische Ökonomie» gibt es nicht. (wikipedia) 

KAPITEL 18.

*26) Sonja kam aus einer Künstlerfamilie, der Vater hatte ein Bilder-Rahmengeschäft und war im Besitz vieler originaler Bilder, die er, wenn der Künstler nicht zahlen konnte, als Bezahlung behielt. Seine Wände in der Wohnung waren voller Bilder behängt, ich war davon fasziniert und schwor mir, wenn ich gross bin, will ich es auch so haben. Von den Geschwistern kenne ich nur die Schwester Zlatica, die schönste Frau, die ich bis dahin gesehen habe, auch eine Künstlerin, sie war verheiratet mit dem fantastischen Surrealisten Štepan, dem besten Freund vom Vaclav Havel. Er starb bei einem Autounfall, Trunkenheit am Steuer.

*27) Ferdinand I. Zar von Bulgarien, geboren 1861, gestorben 1948, seine Eltern waren der österreichische General August von Sachsen-Coburg und Gotha und Clémentine von Orléans, Tochter des französischen Königs Ludwig Philipp. Nachdem der bulgarische Fürst Alexander I. von Battenberg nach dem Putsch hatte abdanken müssen, wählte eine Regentschaft Ferdinand zu dessen Nachfolger. Dieser wurde vom bulgarischen Parlament im Amt des Prinzregenten im formell dem Osmanischen Reich unterstehenden Land bestätigt. Zum Zeitpunkt seiner Wahl zum bulgarischen König war Ferdinand österreichisch-ungarischer Offzier. Die politische Schwäche des Osmanischen Reiches zu Beginn der Bosnischen Annexionskrise ausnutzend, erklärte Ferdinand 1908 die Unabhängigkeit seines Landes. Zugleich nahm er den Titel eines «Zaren von Bulgarien» an. In den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges war es sein Ziel, bei der Aufteilung des osmanischen Besitzes in Europa Bulgarien einen möglichst grossen Anteil zu sichern und das Land so zur regionalen Vormacht auf dem Balkan zu machen. (wikipedia)

*28) Otis Laubert, heute ein sehr bekannter slowakische Künstler und mein einziger Freund aus dieser Zeit, mit dem ich heute noch in Kontakt stehe.

*29) «Protestantische Kirche an Veternej», auch diese Kirche musste, wie unser Haus, der neuen Autobahn weichen. Der Staat merkt, dass man die Kirchen nicht ignorieren soll, an der Uni darf man Theologie studieren und unserer Theologiestudent ist verpflichtet, Militärdienst zu leisten. 

*30) «Die Wahrheit»

*31) Pavels Spitzname ist «Farmár» wegen der Weinberge, die im Besitz seiner Familie waren

*32) Sandie Shaw, eine britische Pop-Sängerin; ihr Markenzeichen war, dass sie barfuss auftrat

*33) Mit ihrem Pixie-Kurzhaarschnitt, ihren ultrakurzen Miniröcken, den ausladenden Wimpern und ihrem Bambi-Blick prägte die Londonerin Twiggy in den 60er-Jahren das Frauenbild ihrer Zeit. Ihre androgyne, kindliche Figur verschaffte ihr den Spitznamen «Twiggy», was übersetzt so viel bedeutet wie «dünner Zweig», im übertragenen Sinne: Bohnenstange. Ihr Look schockierte und faszinierte zugleich, und Twiggy wurde mit ihrer wachsenden Popularität durch Shootings für die Vogue sowie Fotografen wie Helmut Newton oder Richard Avedon zum Hype. 

KAPITEL 19.

*34) Cic flüchtet 1967 mit einem Gummiboot aus Jugoslawien nach Italien, dort lebt er einige Zeit bei Mönchen in einem Kloster, als er auf das Visum für die USA warten muss; er will zu seinem Onkel, der in Minnesota auf einer Uni als Professor tätig ist. Cic lebt heute in Los Angeles, ist verheiratet und hat ein Kind aus dem Libanon adoptiert. Mit Pavel ist er bis heute in Kontakt.

*35) Im Zuge der Liberalisierung ab 1964 nahm die Kritik an Präsident Novotný immer stärker zu, bis er dann zu Beginn des Prager Frühlings am 22. März zum Rücktritt als Präsident gezwungen wurde. In der ersten Funktion folgte ihm Alexander Dubcek nach, in der zweiten Ludvík Svoboda. (wikipedia)

*36) «Radio Free Europe», kurz RFE, wurde vom Nationalkomitee für ein freies Europa gegründet. Die Station nahm ihren Sendebetrieb 1950 von ihrer Hauptgeschäftsstelle in München aus auf. Am 1. Mai 1951 begannen die regelmässigen Sendungen für die Tschechoslowakei. «Radio Free Europe» wandte sich an Hörer in mittel- und osteuropäischen Ländern ausserhalb der ehemaligen Sowjetunion. RFE hat nach eigenen Angaben das Ziel, Hörern in den ehemals kommunistisch regierten Ländern demokratische Werte zu vermitteln und das Menschenrecht auf freien Nachrichtenzugang zu ermöglichen. (wikipedia)


Herzlichen Dank
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23.  Herzlichen Dank
Ein grosser Dank geht an meinen Sohn Henrik für seine Unterstützung, Geduld, Ausdauer, Präzision und Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen, um die Geschichte verständlicher zu machen. Mit seiner Arbeit als Korrektor hat er mir nicht nur einen grossartigen Dienst erwiesen, sondern mich als Coach motiviert, dranzubleiben.
 
So geht auch meine tiefste Dankbarkeit an meine Enkelkinder, die mit ihrer ständigen Bitte «Babka, erzähl uns etwas von damals, als du selbst ein Kind warst», mein Gedächtnis und Erinnerungsvermögen im Trainingsmodus hielten, was sich beim Schreiben als sehr nützlich erwiesen hat. Ihrem Wunsch, ihre Lieblingsgeschichte aus meiner Jugend, die ich ihnen immer wieder erzählt habe, unbedingt in dieses Buch aufzunehmen, bin ich gefolgt und hoffe, sie haben auch noch Freude daran, wenn sie sie als Erwachsene lesen. 

Ich bedanke mich auch bei meinem Freund Hans Durrer (Schriftsteller), der mich durch meinen ganzen Schreibprozess hindurch begleitet und unterstützt hat. Meine Dankbarkeit gilt auch meinem slowakischen Freund Ivan Štípala (Reporter bei Free Europe), ein Zeitzeuge und Informant, der mich später mit seinen Augen durch Liptov geführt und mich um viele Geschichten bereichert hat. Genauso bedanke ich mich bei meinem Ex-Schwager Fedor Petro, der mir die Familiengeschichte meines Ex-Mannes bestätigt und sie bereichert hat.  

Sowie ein grosses Dankeschön an die Lebensgeschichten meiner Familie und an alle, die mir dabei geholfen haben, mir mein Gedächtnis aufzufrischen oder zu bestätigen.
Copyright
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24.  Copyright

Dieses Buch ist meiner Familie gewidmet und nur für privates Gebrauch gedacht.

Das Copyright liegt bei mir, später bei meinem Sohn Henrik Petro. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne meine schriftliche Genehmigung reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
 

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